Iny Lorentz

Die Goldhändlerin

Roman

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Iny Lorentz

Iny Lorentz wurde in Köln geboren und hat in verschiedenen Berufen gearbeitet, bevor sie als Programmiererin in einer Münchner Versicherung begann, wo sie noch heute tätig ist. Seit den frühen achtziger Jahren hat sie mehrere Kurzgeschichten veröffentlicht.

Impressum

Originalausgabe 2004

Copyright © 2004 Knaur Taschenbuch.

Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Redaktion: Regine Weisbrod

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung: FinePic®, München

ISBN 978-3-426-40331-0

Hinweise des Verlags

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.


Noch mehr eBook-Programmhighlights & Aktionen finden Sie auf
www.droemer-knaur.de/ebooks.


Sie wollen über spannende Neuerscheinungen aus Ihrem Lieblingsgenre auf dem Laufenden gehalten werden? Abonnieren Sie hier unseren Newsletter.


Sie wollen selbst Autor werden? Publizieren Sie Ihre eBooks auf unserer Akquise-Plattform www.neobooks.com und werden Sie von Droemer Knaur oder Rowohlt als Verlagsautor entdeckt. Auf eBook-Leser warten viele neue Autorentalente.


Wir freuen uns auf Sie!

Erster Teil

Das Pogrom
1485

   

1.

Je näher sie ihrem Ziel kamen, umso stärker wirkten die Bäume rechts und links der Straße wie ein Spalier aus Dämonen, die jeden Moment erwachen und über die Reisenden herfallen konnten. Lea war bewusst, dass nur ihre Ängste aus den verkrümmten Stämmen und den mit langen Moosbärten behangenen Ästen Körper machten, die in Qualen erstarrt auf ahnungslose Opfer ihres Zorns warteten. Seit sie zu Hause in die Kutsche gestiegen war, plagte sie eine böse Vorahnung, so als würde die erste Reise ihres Lebens auch ihre letzte sein. Sie drückte sich tiefer in die Polster, um den unangenehmen Lichtblitzen zu entgehen, die die grelle Sonne durch das Blätterdach warf, und musterte die Gesichter ihres Vaters und ihrer Geschwister, doch keiner von ihnen schien sich ebenso unbehaglich zu fühlen wie sie.

Jakob ben Jehuda, den man in Hartenburg Jakob Goldstaub nannte, blickte versonnen lächelnd zum Fenster heraus, als genieße er die Fahrt in dem stickigen, rumpelnden Wagenkasten, während Samuel, Leas älterer Bruder, die Hände vor der Brust verschränkt hatte und sichtlich gelangweilt vor sich hinstarrte. Elieser, der zwischen ihr und ihrer Schwester saß, schien zu schlafen, und Rachel spielte mit einem Stück Faden, das sie sich um die Finger der rechten Hand wickelte. Trotz all der Gefahren, mit denen das Reisen in diesen Zeiten – insbesondere für Juden – verbunden war, schien es niemanden außer ihr zu beunruhigen, dass sie zum ersten Mal gemeinsam unterwegs waren und nur die Dienstboten das Haus hüteten. Wenn ihnen etwas zustieß, würde es keine Familie Goldstaub mehr geben.

Um ihre düsteren Ahnungen zu verscheuchen, versuchte Lea an etwas Schönes zu denken, doch ihr Blick wanderte unwillkürlich wieder nach draußen, und ihr war, als würden Schatten zwischen den Bäumen heranschleichen, um sie zu erschrecken – oder zu warnen. Sie schloss die Augen und presste die Hände vors Gesicht, um nichts mehr sehen zu müssen, doch im gleichen Moment drang grelles Licht zwischen ihren Fingern hindurch. Sie ließ die Arme wieder sinken und sah, dass der Wald zurückgetreten war und einer offenen Bauernlandschaft Platz gemacht hatte. Erleichtert seufzte sie auf, und als sie den Kopf aus dem Kutschenfenster streckte, entdeckte sie die Mauern von Sarningen.

Lea hielt überrascht den Atem an. Verglichen mit dem heimatlichen Hartenburg war die Stadt riesig. Es gab gleich vier hoch über die Stadtmauer ragende Kirchtürme, deren Kappen mit geschliffenen Schieferplatten in geometrischen Mustern geschmückt waren, und die hinter der Mauerkrone sichtbaren Dächer waren ebenso wie die Kirchen und die Türme in der Stadtmauer mit vielfarbenem Schiefer gedeckt.

Die Kutsche fuhr nun über eine gewölbte Brücke, unter der die Sarn floss, und als sie den höchsten Punkt erreicht hatte, konnte Lea die blank polierten Rüstungen mehrerer Torwächter, die vor dem Südtor standen und die Reisenden kontrollierten, in der Sonne aufblitzen sehen. Anders als die Menschen zu Hause waren die Sarninger Bürger keinem Markgrafen untertan, der wie Ernst Ludwig von Hartenburg als unumschränkter Souverän tun konnte, was ihm beliebte. Das hatte Lea Gesprächen zwischen ihrem Vater und ihren Brüdern entnommen, und sie hätte gern mehr über die Stadt erfahren. Sie sah ihren Vater fragend an, in der Hoffnung, er würde ihr erlauben, ihn anzusprechen. Sein Blick wanderte zwar ein paarmal über sie hinweg, aber er reagierte nicht auf ihre bittende Miene, sondern strich sich nur gedankenverloren über seinen langen, grauen Bart und betrachtete seine beiden Söhne mit sichtlichem Stolz.

Jakob ben Jehuda war in diesen Stunden mit sich und der Welt so zufrieden, wie es ein gläubiger Jude in dieser Zeit sein durfte. Als Hoffaktor und Bankier des Markgrafen Ernst Ludwig von Hartenburg konnte er es sich erlauben, mit einem eigenen Wagen zu reisen, auch wenn sein Gefährt die meisten Leute zu Spott und Gelächter reizte. Von außen wirkte der Wagenkasten nämlich wie eine lieblos zusammengezimmerte Holzkiste auf vier Rädern, aber er war gut ausgepolstert, und die Lederbänder, in denen er hing, waren so geschickt angebracht, dass sie die Unebenheiten der Straße besser abfingen als die Aufhängungen der meisten anderen Kutschen.

Mit der gleichen Sorgfalt, mit der Jakob ben Jehuda diese Karikatur eines Reisewagens hatte anfertigen lassen, waren auch die Pferde ausgesucht worden. Jeder, der die beiden schwerknochigen Tiere mit ihren durchhängenden Rücken und ihren schadhaften Fellen erblickte, musste davon überzeugt sein, dass die elenden Geschöpfe jeden Augenblick zusammenbrechen konnten, aber es steckte genug Kraft in ihnen, den Wagen tagelang von Ort zu Ort zu ziehen.

Jakob Goldstaub war reicher als die meisten Reisenden, die in prachtvollen Kaleschen mit Sitzkissen aus Brokat und goldverzierten Wappenbildern an ihm vorbeizogen, stolz auf ihre Vierergespanne aus gemütlich trabenden Brabantern oder windschnellen spanischen Rossen, doch ein Jude, der halbwegs unbehelligt bleiben wollte, durfte nichts von seinem Wohlstand zur Schau stellen.

Gerschom, der Leibdiener, der auch als Kutscher fungierte, klopfte auf das Wagendach. »Wir sind gleich da, Herr!«

Die Ankündigung weckte Jakob Goldstaubs jüngeren Sohn Elieser. Er schreckte hoch, entdeckte die Stadtmauern vor sich und versuchte sofort, Lea von ihrem Platz zu verdrängen, um mehr sehen zu können. Der schlanke Knabe mit großen, dunklen Augen und zierlichen Schläfenlöckchen, die noch keine Schere berührt hatte, war drei Jahre jünger als Lea. Er platzte beinahe vor Stolz, weil sein Vater die Reise seinetwegen unternahm, und wollte sich von seiner älteren Schwester, die lange Zeit Mutterstelle an ihm vertreten hatte, nichts mehr sagen lassen. Er würde bald ein Mann sein, das hatte er ihr vor der Abreise deutlich gemacht, und weil sie nur ein Mädchen war, hatte sie ihm zu gehorchen.

Da Lea ihm den Platz am Fenster nicht sofort abtrat, versetzte er ihr einen Schlag. Es juckte ihr in den Fingern, ihm dafür eine Ohrfeige zu verpassen, aber sie traute sich nicht, denn ihr Vater würde sie heftig tadeln und einen Satz aus den heiligen Schriften zitieren, der Elieser in seinen Unarten eher noch bestärkte. Daher glitt sie mit verbissener Miene in die Mitte der Bank, um Elieser die Aussicht zu überlassen, und fragte sich bitter, warum sie immer hinter ihren Brüdern zurückstehen musste. Um ihretwillen, dachte sie verärgert, würde ihr Vater keine Reise antreten.

Da die jüdische Gemeinde in Hartenburg zu klein war, um das Bar-Mizwa-Fest für Elieser so feiern zu können, wie es vorgeschrieben war, musste Jakob Goldstaub ihn nach Sarningen bringen, denn die Judengemeinde dieser Stadt besaß eine Synagoge und war groß genug, um jederzeit die vorgeschriebene Mindestzahl von elf erwachsenen Männern zusammenbringen zu können. Seit Jakob Goldstaubs Vater sich in Hartenburg angesiedelt und das erste Mal die Synagoge in Sarningen besucht hatte, zählten die dortigen Juden die Familie Goldstaub zu ihrer Gemeinde, und das Familienoberhaupt nutzte jede Gelegenheit, seine Glaubensbrüder dort aufzusuchen und mit ihnen zu beten.

Samuel, Jakob Goldstaubs ältester Sohn, begleitete seinen Vater seit seiner Bar-Mizwa regelmäßig nach Sarningen und interessierte sich kaum noch für die Aussicht aus dem Fenster. Daher amüsierte ihn der Streit zwischen Lea und Elieser, während Rachel, die jetzt schon versprach, eine Schönheit zu werden und sich wie eine empfindliche Pflanze gab, die Nase rümpfte und den beiden den Rücken zuwandte. Von ihrem Platz aus hatte sie einen weiten Blick über die von Pappeln gesäumte Sarn und die Weizenfelder, deren Grün bereits dem ersten goldenen Schein des reifenden Getreides wich.

Als die Straße eine weitere Kurve machte, zeigte Rachel hinaus. »Gleich sind wir beim Tor. Ich kann schon die Gasse dahinter erkennen.«

Elieser rutschte unruhig auf seinem Platz herum. »Ist das riesig! Viel größer als die Hartenburger Tore. Seht ihr den schwarzen Vogel auf goldenem Grund dort oben in der Mitte?«

»Das ist der Reichsadler. Er zeigt an, dass Sarningen als freie Reichsstadt nur dem Kaiser allein verantwortlich ist«, klärte Jakob ben Jehuda seinen jüngeren Sohn lächelnd auf.

Lea kniff die Lippen zusammen. Wenn sie etwas wissen wollte, überhörte der Vater zumeist ihre Fragen oder tadelte sie sogar, weil es sich nicht gehörte, dass ein Mädchen Wissbegier zeigte, Elieser hingegen erhielt jedes Mal eine Antwort. Lea fragte im Stillen Gott, warum sie als Mädchen so wenig galt, beantwortete sich das jedoch wie gewohnt selbst. Gott hatte Adam als Erstes geschaffen und Eva nur aus dessen Rippe gemacht. Deswegen war es eine Sünde, wenn sie sich über die Bevorzugung ihrer Brüder beklagte. Gerade als ihr Vater Elieser eine weitere Erklärung geben wollte, hielt der Wagen an.

Ein Torwächter steckte den Kopf herein. »Wer seid ihr?«

Seine Stimme klang so rau und unfreundlich, dass Lea zusammenzuckte, aber ihr Vater lächelte, als wäre er herzlich willkommen geheißen worden. »Ihr kennt mich doch. Ich bin Jakob, der Jude aus Hartenburg. Ich war schon oft in Eurer Stadt.«

»Ach so, du bist es.« Die Stimme des Torwächters klang um keinen Deut freundlicher.

Er trat einen Schritt zurück und klopfte mit dem Stiel seiner Hellebarde gegen den Wagenkasten. »Herauskommen! Kein Jude fährt vierspännig in Sarningen ein, als wäre er ein großer Herr.«

Elieser warf den Kopf hoch. »Wir haben doch nur zwei Gäule vorgespannt, und was für elende!«

»Ein Jude fährt auch nicht zweispännig ein. Also, raus aus dem Wagen, sonst helfe ich nach.«

Der Soldat hob drohend die Hellebarde, aber Jakob Goldstaub hatte bereits den Schlag geöffnet und kletterte hinaus, seine Kinder folgten ihm. Er war auf seinen Reisen schon oft das Opfer von Schikanen geworden und wusste, dass es besser war, die Leute nicht zu reizen, wollte man sich nicht ein paar derbe Hiebe oder Schlimmeres einhandeln. Ein Jude galt nun einmal weniger als ein Hund, das hatte er schon oft erfahren müssen.

Es gab kein Land auf der Welt, in dem das Volk Israels frei nach seinen Sitten und Gebräuchen leben konnte, nicht hier im Heiligen Römischen Reich und noch weniger in Frankreich, wo die Christen erst vor kurzem die Talmudschriften vieler Gemeinden verbrannt hatten und die dagegen protestierenden Juden gleich mit dazu. Selbst in den Ländern des Islam, der ebenso wie das Christentum die Erzväter Abraham, Isaak und Jakob als große Propheten pries und viele seiner Weisheiten aus der Thora bezogen hatte, wurden Juden nur geduldet und galten oft genug als Ärgernis.

Jakob Goldstaub verdrängte die düsteren Gedanken schnell, denn Bitterkeit verwirrte nur die Sinne. Die Torwächter sahen so aus, als lauerten sie auf einen Grund, ihn samt seinen Kindern niederzuschlagen, doch er lächelte den Männern nach alter Gewohnheit so freundlich zu, als hätten sie ihn wie einen hochgestellten Gast begrüßt, holte einige Kreuzer aus seiner Tasche und drückte sie ihnen mit einer Verbeugung in die Hände. »Nach dem langen Dienst am Tor werdet ihr gewiss Durst haben.«

Die Torwächter grinsten, und einer klopfte Goldstaub sogar auf die Schulter. »Das kannst du laut sagen, Jude. Wir werden heute Abend einen Krug auf deine Gesundheit trinken!«

Sein Kamerad hielt sich den Bauch vor Lachen. »Auf seine Gesundheit, das ist gut! Ja, wirklich!«

Dann aber setzte er wieder eine grimmige Miene auf und hob drohend die Hellebarde. »Los, macht, dass ihr in die Stadt kommt! Ihr versperrt anständigen Christenmenschen den Weg.«

Gerschom beugte sich vom Bock. »Und was wird mit dem Wagen?«

»Du kannst vorausfahren.« Der Torwächter gab dem linken Pferd einen rüden Schlag auf die Kruppe, so dass Gerschom Mühe hatte, das wiehernde Tier unter Kontrolle zu bringen. Dann trieb er beide Pferde mit einem Zungenschnalzen an und ließ den Wagen durch das Tor rollen.

Goldstaub verneigte sich noch einmal so tief, als hätte er statt einfacher Stadtbüttel hohe Herren vor sich, und folgte mit seinen Kindern gemächlich dem Wagen. Der spitze, gelbe, durch vielen Gebrauch schon bräunlich verfärbte Hut, den er als erwachsener Mann mosaischen Glaubens tragen musste, schien ihn zur Erde zu drücken, während sich der handtellergroße, gelbe Ring, den auch seine Kinder auf der Kleidung tragen mussten, grell von dem billigen, braunen Stoff des Mantels abhob.

Erst als die kleine Gruppe das Tor passiert hatte, wandte sich Jakob Goldstaub besorgt zu seinen Kindern um. Samuels Gesicht war vor Zorn gerötet, und seine Augen blitzten kriegerisch. Ihm fiel es immer noch schwer, die ständigen Kränkungen gleichmütig hinzunehmen. Leas Augen funkelten genauso wild wie die ihres Bruders, und ihr trotzig vorgeschobenes Kinn zeigte, wie es in ihr tobte. Elieser und Rachel aber hielten die Köpfe gesenkt und drängten sich wie verängstigte Schafe an ihre älteren Geschwister.

Goldstaub drehte sich um und schüttelte ratlos den Kopf, denn er hatte nie begreifen können, dass seine Nachkommen so unterschiedlich geraten waren. In Samuel glühte der Mut eines Judas Makkabäus, den er, wenn er als Jude überleben wollte, bald würde bezähmen müssen, und zu ihrem Unglück glich Lea ihrem älteren Bruder in Aussehen und Charakter. Beide hatten ein schmales, energisches Gesicht mit einer leicht gebogenen Nase, die für ein Mädchen jedoch etwas zu lang war, einen festen Mund und dunkelblaue Augen, die Feuer sprühten, wenn ihnen etwas nicht passte. Das aufbrausende Temperament der beiden spiegelte sich in ihren rötlichen Haaren wider, doch während Samuel als hübscher, wohlgeratener Junge galt, gereichten Lea mit ihren sechzehn Jahren weder ihr Aussehen noch ihr Wesen zum Vorteil.

Im Gegensatz zu der älteren Schwester waren Elieser und Rachel ausnehmend hübsch. Beide waren von anmutiger Gestalt, hatten dunkle Augen und schwarze Haare, die durch Mütze und Kopftuch nur unvollständig verdeckt wurden. Anders als ihre jüngere Schwester verbarg Lea ihr Haar sorgfältig unter einem Tuch und trug auch schon die Tracht einer verheirateten Frau, denn sie führte an Stelle ihrer verstorbenen Mutter den Haushalt. Sie und Samuel hingen enger zusammen, als es Bruder und Schwester in Jakob ben Jehudas Augen gut tat, daher war er froh, dass das Mädchen nicht mehr lange unter seinem Dach weilen würde.

Weder Samuel noch seinen anderen Kindern hatte er verraten, dass er nicht nur wegen Eliesers Bar-Mizwa nach Sarningen gekommen war. Es wurde allmählich Zeit, seine beiden Ältesten zu vermählen, und er hoffte, in der hiesigen Gemeinde eine Braut für Samuel und einen Gatten für Lea zu finden. Für Samuels Verlobung und Heirat benötigte er ein Privileg, das er seinem Landesherrn für teures Geld abkaufen musste, und wahrscheinlich würde er auch die Heiratserlaubnis des Jünglings bezahlen müssen, der bereit war, mit Lea unter den Traubaldachin zu treten. Doch die Sorge um die Summen, die er würde aufbringen müssen, durfte ihn nicht davon abhalten, dem Gesetz Israels zu gehorchen und die wichtigsten Schritte im Leben seiner älteren Kinder in die Wege zu leiten.

Der Einzug der Juden blieb nicht unbemerkt. Die Leute drehten sich auf der Straße nach ihnen um, zeigten mit den Fingern auf sie und starrten sie an, als brächten sie unheilvolle Omen über die Stadt. Ein paar alte Frauen schlugen das Kreuz, so als müssten sie sich beim Anblick der gelben Hüte, die die männlichen Juden trugen, gegen höllische Mächte schützen. Gassenjungen liefen der Familie nach, verspotteten sie mit rüden Versen und bewarfen sie mit allem, was sie auf der gepflasterten Straße fanden. Meist waren es nur kleine Steine oder Schmutz, der von den Rädern der Fuhrwerke abgefallen war. Doch mehr als einmal wurde Jakob Goldstaub auch von den Exkrementen eines Hundes getroffen.

So viel Feindseligkeit war ihm in dieser Stadt noch nie begegnet, und er nahm sich vor, seinen Schwager Esra ben Nachum, den Vorsteher der hiesigen Gemeinde, darauf anzusprechen und ihn zu warnen, denn hier braute sich etwas zusammen. Die Situation wurde ihm so unheimlich, dass er gegen alle Gewohnheit rascher ausschritt und auch seinen Kindern winkte, sich zu beeilen. Als sie die Judengasse der Stadt erreicht hatten, drängte ihn alles, das Tor in der mehr als mannshohen Mauer, die das Wohnviertel der jüdischen Gemeinde von den übrigen Straßen trennte, so schnell wie möglich zu passieren, doch der Zugang war so schmal, dass er warten musste, bis Gerschom den Wagen hindurchmanövriert hatte. Dann erst konnte er seine Kinder durch die Öffnung schieben und ihnen folgen. Als er schon aufatmen wollte, traf ihn als letzter Gruß der Gassenjungen ein Lehmbatzen am linken Ohr.

2.

Esra ben Nachum empfing Jakob Goldstaub vor seinem Haus. Er umarmte den Gast und wischte eigenhändig einige Schmutzspuren von dessen Mantel ab. »Friede sei mit dir und deinen Kindern, Jakob ben Jehuda. Ich wünschte, ihr wärt zu einer besseren Zeit gekommen. Nun aber schüttelt den Staub der Reise von euren Kleidern und erfrischt euch.«

»Friede sei auch mit dir, Esra, und den Deinen«, erwiderte Jakob Goldstaub den Gruß. Dann drehte er sich um und zeigte auf das mittlerweile geschlossene Tor der Judengasse. »Was geht in Sarningen vor? Als ich das letzte Mal hier war, erschienen mir die Leute viel freundlicher.«

Der Hausherr hob die Augen zum Himmel und breitete die Arme aus. »Morgen ist Zinstag, und viele unserer Schuldner haben ihren Unmut über unsere berechtigten Forderungen lautstark unter die Leute getragen. Andere, meist Fremde, haben das ausgenützt, um unsere christlichen Mitbewohner gegen uns aufzuhetzen. Aber du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Es kommt an einem solchen Tag immer wieder zu gewissen Missstimmungen, wenn es diesmal auch schlimmer ist als sonst. Die Leute werden sich schon bald beruhigt haben, und dann können wir wieder in Frieden leben.«

Lea vernahm die Angst, die in der Stimme ihres Onkels mitschwang, und es kam ihr so vor, als wolle er sich selbst Mut zusprechen. »In Hartenburg haben wir doch auch Zinstage. Aber dort sind die Leute nie so aggressiv geworden wie hier.«

Samuel ballte die Fäuste. »Lea hat Recht. Die Christen benehmen sich ganz anders als bei meinen früheren Besuchen. Bist du sicher, Onkel, dass sie keinen Überfall planen?«

»In einer großen Stadt wie hier gibt es immer Aufrührer und Schreihälse. Daran gewöhnt man sich, mein Junge«, erklärte Esra ben Nachum mit einer hilflosen Geste. »Wir können nichts anderes tun als abzuwarten, bis das Geschrei verstummt und die Leute andere Dinge im Kopf haben. Da uns die meisten Berufe verwehrt sind und nicht jeder von uns ein erfolgreicher Fernhandelskaufmann sein kann, verdienen wir unseren Lebensunterhalt hauptsächlich als Pfandleiher und Kreditgeber, und das bringt nun einmal solche Probleme mit sich. Schau, Samuel, die Menschen, die zu uns kommen, können nicht die Sicherheiten bieten, welche die Fugger in Augsburg oder die Lombarden von ihren Schuldnern fordern, und so gehen wir mit jedem Geschäft, das wir mit Christen abschließen, ein Risiko ein. Du wirst auch noch begreifen, dass es nicht jedem Juden so gut geht wie deinem Vater, der eine sichere Position als Hoffaktor eines Herzogs hat und seinen Geschäften ohne große Sorgen nachgehen kann.«

Lea hob die Hand. »Ernst Ludwig von Hartenstein ist kein Herzog, er trägt nur den Titel eines Markgrafen, Onkel.«

Esra ben Nachum warf ihr einen irritierten Blick zu und wandte sich mit einem verkniffenen Lächeln an seinen Schwager. »Deine Lea scheint mir immer noch ein wenig vorlaut zu sein.«

Lea fand diesen Vorwurf ungerecht und ärgerte sich gleich noch einmal, denn ihr Vater stimmte seinem Schwager entschuldigend zu. »Sie war noch sehr jung, als sie den Platz ihrer Mutter einnehmen musste. Daher hat sie nicht gelernt zu schweigen, wie es die Sitte von einer Frau verlangt.«

»Mirjam wird sich um sie kümmern.« Esra Ben Nachum führte die Gäste in sein Haus, einen niedrigen Fachwerkbau, der von außen windschief und heruntergekommen wirkte, sich innen aber als stabil und wohlgepflegt erwies.

Jakob ben Jehudas Schwester Mirjam erwartete die Gäste in der Wohnstube. Sie war gekleidet, als bereite sie sich auf eine weite Reise vor, und trug, wie ein leises Klingeln beim Gehen verriet, wohl ihren gesamten Schmuck bei sich. Das machte Lea hellhörig. Rachel und sie trugen ebenfalls einige Schmuckstücke von Wert unter ihrer Kleidung, die bei Bedarf in gemünztes Gold umgetauscht werden konnten. Doch wenn die Tante ihren Schmuck schon im Haus unter ihren Röcken verbarg, war die Gefahr größer, als ihr Onkel zugeben wollte.

»Habt ihr Angst, aus der Stadt vertrieben zu werden, weil du deinen Schmuck bei dir trägst?«, fragte sie besorgt. »Dann solltest du aber darauf achten, dass er beim Gehen nicht klirrt. Oder willst du die Leute darauf aufmerksam machen, was du unter deinem Kleid verbirgst?«

Mirjam hob erschrocken ihre Schürze und betastete den Rock. Nun vernahm sie es ebenfalls. »Du hast gute Ohren, Lea. Mir ist nichts aufgefallen. Aber keine Sorge, es wird schon nichts passieren. Ich bin nur etwas nervös und habe deswegen meine Sachen an mich genommen. Schau, unsere Sippe lebt schon seit mehr als zweihundert Jahren in Sarningen, und außer einem Mord an einem ortsfremden Juden ist hier noch nie etwas vorgefallen.«

Zu Hause hatte Lea etwas ganz anderes gehört, aber da die Kritik ihres Vaters noch an ihr nagte, nahm sie Mirjams Erklärung mit einem skeptischen Nicken zur Kenntnis. »Bestimmt hast du Recht. Aber habt ihr denn schon herausgefunden, was die Christen so gegen euch aufgebracht hat?«

Mirjam zuckte hilflos mit den Achseln. »Esra ist schon beim kaiserlichen Vogt vorstellig geworden, doch Rittlage hat ihn ausgelacht und gesagt, ein paar unserer Schuldner hätten im Wirtshaus Drohungen gegen uns ausgestoßen. Wir müssten uns jedoch keine Sorgen machen, denn mit betrunkenem Kopf redeten die Leute halt viel dummes Zeug.«

»Sie tun auch viel, wenn sie betrunken sind, und kennen dann kein Maß und keine Hemmungen.« Leas Stimme klang schärfer als beabsichtigt.

Mirjam winkte ab und wollte ihrer Nichte schon sagen, dass sie alles viel zu schwarz sehe, aber Lea vergaß schon wieder die ihr gebotene Zurückhaltung und ließ sie nicht zu Wort kommen. »Ich finde es jedenfalls gut, dass du deinen Schmuck bei dir trägst, denn dann kannst du auf der Stelle davonlaufen, wenn die Leute euer Viertel stürmen.«

Mirjam nickte bedrückt, Rachel aber schürzte unwillig die Lippen. »Was redest du da für dummes Zeug? Wenn uns in dieser Stadt Gefahr drohen würde, hätte Vater uns gewiss nicht hierher gebracht.«

»Das ist kein Unsinn! Ein Jude ist immer und überall in Gefahr«, fuhr Lea sie an und biss sich auf die Lippen, als sie die mitleidig-verächtlichen Mienen ihrer Schwester und ihrer Tante auf sich gerichtet sah.

Die beiden mochten die üblen Vorzeichen nicht ernst nehmen und sich in trügerischer Sicherheit wiegen, bis es zu spät war, Lea zog es jedoch vor, Augen und Ohren offen zu halten. Nicht umsonst hatte sie stundenlang mit einer der ihr verhassten Handarbeiten in einer Zimmerecke gehockt und den Lehrern zugehört, die ihr Vater für Samuel und später auch für Elieser zu Gast geladen hatte. Auf diese Weise hatte sie nicht nur gelernt, was in der Thora stand und wie man sie auslegen musste, sondern auch viel über das Leben des jüdischen Volkes und seiner Gemeinden erfahren.

Sie lächelte ihrer Schwester besänftigend zu. »Eine gewisse Vorsicht ist für uns Juden überlebenswichtig. Wenn Onkel Esra und Tante Mirjam fliehen müssen, wird es ihnen der gerettete Schmuck ermöglichen, sich in einer anderen Stadt einzukaufen. Ein Jude ist nämlich nur dann willkommen, wenn er zahlen kann, Bettler haben die Christen selbst genug.«

Mirjams herabgezogene Mundwinkel verrieten, wie sehr es ihr gegen den Strich ging, ihre Nichte wie einen Mann reden zu hören. »Sprechen wir von erfreulicheren Dingen, Lea. Soviel ich weiß, will dein Vater unter unseren jungen Männern einen Bräutigam für dich aussuchen.«

Lea wurde rot, aber anstatt verschämt den Blick zu senken, straffte sie die Schultern und hob das Kinn. »Davon weiß ich nichts. Vater hat nur einmal erwähnt, dass er sich bald nach einer Braut für Samuel umschauen muss.«

Mirjam hob den Zeigefinger. »Du bist schon seit fast einem Jahr heiratsmündig, und wenn dein Vater noch lange wartet, wird man sich fragen, ob mit dir etwas nicht stimmt. Aber keine Angst, wir werden schon einen geeigneten Bräutigam für dich finden.«

Man konnte ihr ansehen, dass sie die Vorzüge der jungen Männer ihrer Sippe gegeneinander abwog. »Es ist schier unmöglich, einen Mann zu finden, der nicht zu dir aufblicken muss. Aber der eine oder andere dürfte über deine Körpergröße hinwegsehen, wenn er hört, wie hoch die Mitgift ist, mit der dein Vater dich ausstatten kann.«

Mirjams skeptischer Blick strafte ihre Worte jedoch Lügen. Lea war größer als alle Männer der Sarninger Gemeinde mit Ausnahme ihres älteren Bruders, und schon die Art, wie sie sich bewegte, deutete darauf hin, dass sie eine herrische Frau werden würde. Daher würde es trotz des Reichtums ihres Vaters schwer werden, sie zu verheiraten.

»Samuel ist ja auch recht hoch aufgeschossen, aber bei ihm mache ich mir keine Sorgen. Er ist ein hübscher junger Mann und wird als ältester Sohn und Erbe eures Vaters gewiss einmal dessen Stelle als Hoffaktor eures Herzogs einnehmen.«

»Ernst Ludwig von Hartenburg ist Markgraf, nicht Herzog, Tante.«

Mirjam hob in einer verzweifelten Geste die Hände zum Himmel. »Man merkt dir an, dass du ohne Mutter aufgewachsen bist. Dein Vater hätte sich eine zweite Frau nehmen sollen.«

Lea lachte hart auf. »Er wollte dem Markgrafen nicht das viele Geld für die Erlaubnis in den Rachen stopfen. Es wird schon teuer genug werden, uns vier zu verheiraten.«

»Du tust so klug und bist doch noch so unverständig wie ein kleines Kind. Ein Mann braucht nun einmal ein Weib, so ist es von Gott beschlossen. Eine willige Magd kann keine Ehefrau ersetzen.«

Lea wollte gegen die Unterstellung protestieren, dass es in ihrem Haushalt willige Mägde gebe. Ihr Vater war über das Alter hinaus, in dem er sich noch viel aus Frauen machte. Mit dieser Erklärung hätte sie ihn jedoch vor der Verwandten beschämt, und deswegen wechselte sie schnell das Thema.

»Lebt hier in Sarningen nicht eine junge Frau, die aus Hartenburg stammt? Sie heißt Gretchen und hat einen Sarninger Magistratsbeamten namens Peter Pfeiffer geheiratet.«

»Die kenne ich. Sie wohnt keinen Steinwurf von hier entfernt in einer Nebengasse. Eine der Pforten in der Mauer, die unser Viertel umgibt, führt direkt zu ihrem Haus. Was willst du von ihr?«

»Ich soll ihr Nachrichten von ihrer Familie und Grüße von ihren Verwandten überbringen. Ihre Eltern sind unsere Nachbarn und gut mit uns bekannt. Am liebsten würde ich noch heute Abend zu ihr gehen, denn man hat mich dringend um den Besuch gebeten.«

Das entsprach nicht ganz der Wahrheit. Lea hatte Gretchens Mutter zwar versprochen, ihre Tochter bei Gelegenheit aufzusuchen, doch sie hatte ihr erst Botschaft schicken und anfragen wollen, ob sie in ihrem Haus willkommen war. Die christliche Familie, in die Gretchen eingeheiratet hatte, war möglicherweise nicht bereit, eine Jüdin über ihre Schwelle treten zu lassen. Jetzt aber bot Lea der Besuch bei Gretchen eine Chance, für eine Weile der Tante und deren Heiratsplänen zu entkommen. Am nächsten Morgen, das nahm sie sich fest vor, würde sie ihren Vater fragen, ob er sie tatsächlich hier in Sarningen an den Nächstbesten verschachern wollte, der an ihrer Mitgift interessiert war.

Lea war sich sicher, dass Gretchen im Gegensatz zu ihrer Tante Verständnis für sie haben würde, denn sie war mit ihr und ihrer Familie immer gut ausgekommen, besser sogar, als es den christlichen Predigern in Hartenburg gefallen hatte. Ihr Vater hatte seinen Nachbarn mit einem großzügigen Kredit vor dem Schuldturm bewahrt und ihm später Gretchens Mitgift vorgestreckt, damit sie den jungen Peter Pfeiffer heiraten konnte. Deswegen hoffte Lea, Gretchens Familie würde ihr einen Schwatz mit ihrer Freundin erlauben, bei dem sie den unangenehmen Empfang in Sarningen für eine Weile vergessen konnte.

Sie blickte durch das winzige Fenster ins Freie und sah, dass die Sonne nur noch eine Handbreit über den Dächern der umliegenden Häuser stand. »Wenn du nichts dagegen hast, werde ich jetzt gleich zu Gretchen hinübergehen, Tante.«

»Ich komme mit.« Rachels Gesicht zeigte deutlich, dass sie keine Lust hatte, allein der Neugier und der nörgelnden Art ihrer Tante ausgesetzt zu sein.

Mirjam überlegte kurz und nickte dann. »Geht ruhig. Noomi wird euch hinauslassen. Ich bereite unterdessen das Abendessen vor.« Sie rief nach ihrer Tochter, die schon fleißig in der Küche werkelte, und wies sie an, Lea und Rachel zur westlichen Pforte zu bringen.

Noomi war ein mageres Mädchen in Rachels Alter, das sich nervös die Hände an der Schürze abtrocknete und seine Mutter kaum anzusehen wagte. »Soll ich auf sie warten?«

»Das ist nicht nötig. Wenn Lea laut genug gegen die Pforte klopft, hört sie schon jemand und macht ihr auf.«

Als sie durch den Hintereingang des Hauses ins Freie traten, blickte Noomi Lea besorgt an. »Wollt ihr wirklich in die Stadt hinaus? Bei der schlechten Stimmung unter den Christen würde ich mich nicht aus dem Viertel hinauswagen.«

Lea winkte ab. »Mach dir um uns keine Sorgen. Bei Gretchen Pfeifferin wird uns nichts zustoßen, denn sie ist unsere Freundin.«

Sie hatte keine Lust, ihrer verhuschten Base zu erklären, dass sie den Besuch auch dazu nutzen wollte, von Gretchen etwas über den wahren Grund für die aggressive Spannung in der Stadt zu erfahren. Daher lächelte sie ihr nur aufmunternd zu und folgte ihr mit Rachel durch eine Reihe winziger, aber liebevoll gepflegter Gärten, die die Juden direkt hinter ihren Häusern angelegt hatten, bis zu einer ungewöhnlich stabil wirkenden Pforte aus eisenbeschlagenen Eichenbohlen.

Noomi bemerkte Leas Stirnrunzeln und deutete auf die massiven Türangeln. »Mein Vater hat ein festeres Tor einsetzen lassen, nachdem es vor zwei Wochen schon einmal Unruhen gegeben hat. Damals haben ein paar böse Menschen behauptet, unsere Brüder in Mainz hätten ein Christenkind geschlachtet und sein Blut getrunken, und den Leuten hier weisgemacht, wir würden auch so etwas tun.«

Lea zog unbehaglich die Schultern hoch. »Auf diese Weise haben schon etliche Massaker an unserem Volk ihren Anfang genommen.«

Noomi hob beschwichtigend die Hand. »Es ist ja nichts Schlimmes passiert. Die Leute haben nur herumgeschrien und Steine gegen unsere Mauer geworfen, aber als Alban von Rittlage seine Soldaten aufmarschieren ließ, haben sie sich sofort wieder beruhigt. Der Kaiser hat ihn hier eingesetzt, damit er in unserer Stadt für Recht und Ordnung sorgt, und er wird uns auch morgen beschützen, das hat er meinem Vater ausdrücklich versichert. Also lasst euch nicht von Mama erschrecken. Sie hat sich die Gehässigkeit der Leute zu Herzen genommen und hält es für ihre Pflicht, auf alles vorbereitet zu sein. In unserem Viertel kann uns jedoch nichts passieren.«

Lea ließ sich von der Zuversicht ihrer Base anstecken und stieß ihre Anspannung mit einem Seufzer aus. Von ihrem Bruder Samuel, der immer auf ihre Fragen einging und ihr viel erzählte, wusste sie, dass Kaiser Friedrich III. den Juden wohl gesonnen war und sie unter seinen Schutz gestellt hatte. Des Kaisers Wort mochte in einer Herrschaft wie Hartenburg nicht viel gelten, doch in einer freien Reichsstadt wie Sarningen besaß es großes Gewicht. Wahrscheinlich waren die Leute nur deshalb so unfreundlich, weil der Zinstag so knapp auf das dumme Gerede von einem ermordeten Christenkind folgte. Noomi zog den Riegel zurück und öffnete die Pforte. »Dort drüben ist das Haus der Familie Pfeiffer.«

Sie zeigte auf die Rückseite eines ansehnlichen Gebäudes, das durch eine schmale Gasse und einen üppig grünenden Garten vom Judenviertel getrennt war. Da es keinen Durchgang zwischen Gretchens Haus und der langen Reihe der Nachbarhäuser gab und Lea nicht weit durch die Stadt laufen wollte, um die Vordertür zu erreichen, beschloss sie, durch den Garten zu gehen und am Hintereingang zu klopfen.

Noomi versprach Lea noch, den Leuten, die innen neben der Pforte wohnten, Bescheid zu geben, damit sie auf ihre und Rachels Rückkehr Acht gaben, verabschiedete sich dann mit einem scheuen Lächeln und drückte das Tor hinter ihnen zu. Als Lea das Geräusch des sich schließenden Riegels hörte, fühlte sie ein Kribbeln im Magen. Ihr war, als wäre sie aus der Sicherheit der hohen Mauern in eine unbekannte, gefährliche Welt gestoßen worden.

Für einen Augenblick überlegte sie, zu klopfen und reumütig zu Tante Mirjam zurückzukehren, doch ihr Widerwille gegen diese Vorstellung gab ihr Kraft, sich zusammenzureißen, Rachel bei der Hand zu nehmen und auf Gretchens Heim zuzugehen. Der Garten, den sie nun durchquerten, war größer als alle Gärten der Judengasse zusammen, aber ebenso gut gepflegt. Zwischen den Beeten hatte man niedrige Zierhecken angepflanzt, die ein paar blühende Büsche voneinander trennten, an der Hauswand rankte sich Spalierobst hoch, und ein paar Schalen an der Hauswand enthielten bunte Frühlingsblumen, die bereits am Verblühen waren.

Als Lea vor der Hintertür stand, musste sie vor Aufregung schlucken, denn die Reaktion der Christen auf die Ankunft ihrer Familie stand ihr noch deutlich vor Augen. Dann aber hob sie die Hand und klopfte kräftig. Einige Augenblicke lang tat sich nichts, aber als sie sich enttäuscht abwenden wollte, öffnete sich die Tür und eine junge, etwas füllige Frau mit einem hübschen Gesicht sah neugierig hinaus. Beim Anblick der beiden Judenmädchen erschrak sie sichtlich und warf abwehrend die Hände hoch. »Lea, Rachel, was macht ihr denn hier?«

So einen unfreundlichen Empfang hatte Lea von Gretchen nicht erwartet, und daher fiel ihre Antwort eher vorwurfsvoll aus. »Wir sind mit Vater nach Sarningen gekommen und sollen dir Grüße von deinen Eltern überbringen.«

Da Gretchens Gesicht nicht freundlicher wurde, machte sie auf dem Absatz kehrt, doch ihre frühere Freundin hielt sie fest und zog sie und Rachel nach einem ängstlichen Blick in die Nachbarschaft ins Haus.

»Kommt schnell herein, bevor man euch hier sieht!« Ihre Stimme klang panikerfüllt.

Lea ließ sich in den dunklen Flur zerren, blieb dort aber stocksteif stehen und starrte Gretchen verärgert an. »Was ist los? Ich dachte, du würdest dich freuen, uns zu sehen.«

Gretchens Hände zitterten, und sie schien den Tränen nahe zu sein. »Ihr hättet nicht kommen sollen. Heute Abend werden die hiesigen Juden überfallen und aus der Stadt gejagt.«

Lea schüttelte den Kopf. »Das wird der kaiserliche Vogt nicht zulassen. Der Kaiser hat befohlen, die Juden zu beschützen, und das hat Herr von Rittlage ja auch schon vor zwei Wochen getan.«

»Das ist richtig. Aber hinterher ist ihm klar geworden, dass er eine Gelegenheit verpasst hat, seine Gläubiger unter den einheimischen Juden billig loszuwerden. Mein Peter steht in seinen Diensten und hat mir erzählt, dass Alban von Rittlage den bevorstehenden Zinstag und den immer noch nicht ganz verrauchten Zorn der Leute ausnutzen will, um alle Juden vertreiben zu lassen. Was für ein Unglück, dass ihr ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt hierher kommen musstet.«

Sie drängte die beiden Besucherinnen weiter ins Haus. »Ich werde euch bei uns verstecken. Es sind schlechte Leute in der Stadt, die die jüdischen Männer umbringen und ihren Frauen schreckliche Dinge antun wollen.«

Lea versuchte, sich Gretchens Griff zu entziehen. »Ich muss Vater warnen.«

Gretchen warf einen abwehrenden Blick auf ihre jüdische Tracht. »So darfst du nicht mehr hinaus. Wartet, ich gebe euch Kleider von mir, damit man euch nicht als Judas Töchter erkennt.«

»Aber …«, begann Rachel, doch da zerrte Gretchen schon an ihrer Kleidung. Lea besann sich einen Moment und nickte.

»Es ist besser so. Wartet, ich …« Zu mehr kam sie nicht, denn in diesem Augenblick steckte eine alte Frau in schwarzer Witwenkleidung den Kopf zur Küchentür heraus.

»Wer ist denn gekommen, Gretchen?« Dann erblickte sie die beiden Judenmädchen und stieß einen schrillen Schrei aus. »Bist du übergeschnappt, diese Teufelshuren ins Haus zu lassen?«

»Schwiegermutter, das sind Lea und Rachel, die Töchter Jakob Goldstaubs aus Hartenburg, desselben Mannes, der meine Mitgift bezahlt hat. Wir müssen sie bei uns verbergen und Meister Jakob warnen.«

Das Gesicht der Alten verzog sich zu einer höhnischen Grimasse. »Einen Dreck werden wir tun! Wenn die Nachbarn mitbekommen, dass du Israels sündhafte Brut ins Haus gelassen hast, stecken sie uns das Dach über den Kopf an.«

Gretchen hob beschwichtigend die Hände. »Es hat niemand etwas gesehen. Aber wenn du die beiden jetzt aus dem Haus treibst, werden die Leute sie gewiss fragen, was sie hier zu suchen hatten.«

Die alte Pfeifferin nickte widerwillig. »Das ist wohl richtig. Da sie schon einmal im Haus sind, müssen sie auch hier bleiben. Aber die heidnischen Fetzen, die sie jetzt anhaben, kommen herunter.«

»Ich bin schon dabei, ihnen Kleider von mir zu holen«, rief Gretchen eilfertig.

Lea sah, wie viel Angst die Freundin vor ihrer Schwiegermutter hatte, doch da ihr das Schicksal ihres Vater und ihrer Brüder mehr am Herzen lag als Gretchens Wohlergehen, hielt sie sie kurzerhand zurück.

»Ich muss hinaus und meinen Vater warnen!«

Ihre Worte veranlassten die Alte zu einem weiteren Wutausbruch. »Oh nein! Glaubst du, ich lasse zu, dass du die Leute provozierst? Wenn sie dich hier herauskommen sehen, werden sie unser Haus plündern und uns Frauen Gewalt antun! Macht, dass ihr in den Keller kommt und euch umzieht. Die Lumpen, die ihr auf dem Leib habt, müssen sofort verbrannt werden, damit man keine Spur davon bei uns findet. Und wenn euch jemand anspricht, antwortet gefälligst mit ›Gelobt sei Jesus Christus!‹, und sagt kein Wort in eurer heidnischen Sprache, habt ihr mich verstanden?«

Die Frau sah so aus, als würde sie mit den Kleidern auch gleich die unwillkommenen Gäste verbrennen wollen, aber Lea ließ sich nicht einschüchtern.

»Bitte gebt mir ein anderes Gewand und lasst mich hinaus. Ich kann nicht hier herumstehen, während meine Verwandten in Gefahr sind.«

Gretchen umklammerte ihren Arm. »Dafür ist es schon zu spät! Los, versteckt euch in unserem früheren Weinkeller. Dort wird euch niemand suchen.« Dann brachte sie ihren Mund an Leas Ohr, damit die alte Frau ihre nächsten Worte nicht hören konnte. »Ich laufe hinüber und warne deinen Vater. Er ist ein guter Mensch.«

Sie drängte die beiden Schwestern in einen dunklen Winkel, hob eine Falltür an und wies nach unten.

Lea schenkte Gretchen einen dankbaren Blick und stieg vorsichtig die schmalen Stufen hinab, die steil in ein diffuses Halbdunkel führten, in dem man kaum die Hand vor Augen sehen konnte. Es gab nur ein winziges, vergittertes Fenster, welches sich an der höchsten Stelle des tonnenförmig gewölbten Raumes befand und so wenig Licht durchließ, dass der untere Teil des Raumes in tintiger Schwärze lag. Lea hörte Rachel über sich jammern und trat einen Schritt beiseite, damit ihre Schwester von der wackligen Treppe auf den Boden treten konnte. Dabei stieß ihr Schienbein gegen ein Holzgestell, das krachend umfiel. Vor Schreck und Schmerz verlor sie das Gleichgewicht und landete mit den Händen in etwas Fauligem. Angeekelt richtete sie sich auf und sah zu Gretchen hinauf.

»Bitte zieht alles aus, was euch verraten könnte. Ich bringe euch gleich andere Kleider«, hörte sie die Freundin rufen, während sich ihre Schritte entfernten.

Rachel zerrte an Leas Ärmel. »Hier stinkt es. Außerdem kann ich nichts sehen! Wie soll ich da die Bänder an meinen Sachen aufknoten?«

Lea kniff die Lider zusammen, bis sich ihre Augen so weit an die Dunkelheit gewöhnt hatten, dass sie Konturen erkennen konnte. »Hab einen Augenblick Geduld. Gleich geht es besser.«

Als Rachel nicht antwortete, löste sie die Hand der Schwester von ihrem Ärmel und begann sich mit müden Bewegungen auszuziehen. Für einen Augenblick überlegte sie, wenigstens das Hemd anzubehalten, doch die Webart des Leinens und die Stickereien würden sie genauso verraten, als wenn sie den gelben Kreis darauf trüge. Also nahm sie auch das letzte Kleidungsstück auf den Arm.

Kurz darauf stieg Gretchen die Treppe herab, in der einen Hand ein Bündel Kleider, in der anderen eine Laterne. Als sie ihre Freundin und deren Schwester nackt auf dem lehmigen Fußboden stehen sah, wandte sie verschämt den Blick ab. »Hier, zieht das an. Ich bringe das andere inzwischen weg.«

Mit einem gewissen Bedauern reichte Lea Gretchen ihre und Rachels Sachen und nahm die anderen Kleidungsstücke entgegen. Da Gretchen die Lampe wieder mit nach oben nahm, mussten die beiden Schwestern warten, bis sich ihre durch das Licht geblendeten Augen wieder an das Dunkel gewöhnt hatten. Um sie herum herrschten Schmutz und Moder, und alles, was sie anfassten, fühlte sich kalt und glitschig an, so als liefe das Gewölbe immer wieder voll Wasser.

Es dauerte eine gewisse Zeit, bis sie die ungewohnten Kleider angezogen hatten, und noch eine Weile danach zupften sie unglücklich an ihnen herum. Rachels Rock schleifte am Boden, Lea hingegen reichte das Gewand nur bis zu den Knien, war aber so weit, dass sie mindestens zweimal hineingepasst hätte.

Rachel schimpfte vor sich hin und zeigte dann anklagend auf Lea. »Mit dem Zeug fallen wir viel eher auf als in unserer eigenen Tracht.«

Lea zuckte mit den Schultern und griff unwillkürlich an ihre Brust, wo unterhalb ihres noch wenig ausgeprägten Busens ein harter Klumpen hätte hängen sollen. Aber da war nichts. In der Aufregung hatte sie vergessen, den Beutel mit dem Schmuck aus ihrem Kleid zu nehmen. Als sie Rachel fragte, musste auch ihre Schwester zugeben, dass sie die Wertsachen wie gewohnt mit dem Kleid abgelegt hatte.

»Ich muss mit Gretchen reden, bevor sie unsere Sachen verbrennt«, rief Lea erschrocken und kletterte vorsichtig tastend die wacklige Stiege hoch. Kaum hatte sie die Hälfte geschafft, hörte sie die keifende Stimme der Alten. Gretchens Antwort klang schrill und nervös, war aber durch das Holz nicht zu verstehen. Im nächsten Moment wurde die Falltür aufgerissen, und Lea sah, wie die Schwiegermutter Gretchen über die Kante stieß, so dass die junge Frau hilflos die Stiege hinunterschlitterte. Lea konnte ihre Freundin gerade noch auffangen und verhindern, dass sie beide kopfüber zu Boden stürzten. Die Alte schimpfte immer noch wüst, aber die zuschlagende Klappe ließ ihren Wortschwall unverständlich werden.

Gretchen löste sich aus Leas Armen, zog sich am Geländer hoch und stemmte sich gegen die Falltür. »Schnell, hilf mir«, rief sie Lea zu. »Ich wollte eben aus dem Haus, um deinen Vater zu warnen, aber die alte Hexe hat mir aufgelauert und mich ins Haus zurückgezerrt.«

Lea schob sich an ihre Seite und wollte sich mit dem Rücken gegen das Holz stemmen, da hörten sie, wie ein schwerer Gegenstand über den Boden gezogen wurde. Panikerfüllt versuchten sie, die Falltür aufzustoßen, aber es war zu spät.

»Gott, der Gerechte, was sollen wir jetzt tun? Mein Vater ist nicht mehr der Jüngste und kann nicht so schnell laufen. Sie werden ihn totschlagen!«

Lea schluckte ihre Tränen hinunter und sah sich um, aber hier gab es nichts, mit dem sie sich hätte befreien können. In ihrer Verzweiflung schob sie eines der Gestelle gegen die Wand, in der sich die kleine Öffnung befand, stieg darauf und untersuchte das Gitter. Es war rostig, aber noch fest verankert. Auch war das Fensterloch sogar für die zierliche Rachel zu klein. Da der Blick nicht von hohen Pflanzen behindert wurde, konnte Lea den Garten, die Gasse dahinter und die Mauer zum Judenviertel mit der Pforte darin erkennen.

Sie blickte Gretchen an und deutete mit dem Kinn nach draußen. »Vielleicht hört man uns, wenn wir schreien.«

Die junge Frau schüttelte den Kopf. »Das würde die Falschen auf euch aufmerksam machen. Horch, sie kommen schon, um das Judenviertel zu stürmen. Wenn einer von denen mitbekommt, dass ich euch beide versteckt halte, bringen sie uns alle um.«

»Aber wir können doch nicht die Hände in den Schoß legen!« Lea klammerte sich an das Gitter und weinte vor Verzweiflung.

Gretchen lehnte sich gegen das schwankende Gestell und hielt ihre Freundin fest. »Wir können nur noch beten. So, wie die Leute da draußen schreien, hört man sie in der ganzen Stadt, und das gibt deinen Angehörigen Zeit wegzulaufen. Wenn sie den Weg über den Markt nehmen, dürfen sie sich freikaufen, so hat es jedenfalls der Vogt bestimmt. Nur wer sich wehrt, soll erschlagen werden.«

Lea hörte das Trampeln vieler Füße und verstand jetzt auch einzelne Worte. Rufe wie »Schlagt die Juden tot!« und »Verbrennt das Teufelsgezücht!« gellten durch die Gasse. An das Fenstergitter gepresst sah sie, wie sich eine große Menschenmenge heranwälzte, an ihrer Spitze einige kräftige Männer, die einen Baumstamm mit sich schleppten. Sie blieben vor der Pforte stehen und ließen ihn wie einen Rammbock gegen das Holz krachen, während die anderen sie johlend anfeuerten.

Plötzlich wurde die Pforte geöffnet, und ein alter Jude trat heraus. »Liebe Leute, Friede sei mit euch …!«

Weiter kam er nicht, denn zwei vierschrötige Kerle in buntscheckiger Tracht packten ihn und stießen ihn in die Menge, die ihn mit Schlägen und Knüffen empfing.

Gretchen hatte ein weiteres Gestell herangezogen und kletterte darauf, um ebenfalls hinausschauen zu können. Oben angekommen klammerte sie sich mit der einen Hand an das Gitter und hielt mit der anderen Lea fest. »Die Männer mit dem Baumstamm sind Soldaten des Vogts, die andere Kleider angezogen haben, damit man sie nicht gleich erkennt. Ich habe dir doch gesagt, dass Alban von Rittlage das Ganze geplant hat, um die Juden auszuplündern. Die Leute, die morgen ihre Zinsen zahlen müssten, helfen ihm dabei, und die anderen machen mit, um plündern zu können oder weil die Hetzreden der Fremden ihnen den Kopf verdreht haben.«