Tobias Elsäßer
Für Niemand
FISCHER E-Books
Tobias Elsäßer, geboren 1973, arbeitet als freier Journalist, Autor und Gesangslehrer. Darüber hinaus leitet er Schreibwerkstätten und Songwriter-Workshops für Jugendliche und schreibt Drehbücher. Seine Kinder- und Jugendbücher wurden bereits mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Außerdem ist Tobias Elsäßer Gewinner des Kranichsteiner Literaturstipendiums 2010. Er lebt in der Nähe von Stuttgart.
Covergestaltung: Init GmbH Kommunikationsdesign
Zuerst erschienen bei Sauerländer 2011
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2013
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
Weitere Informationen, auch zu E-Book-Ausgaben, finden Sie bei www.fischerverlage.de
ISBN 978-3-7336-0036-5
Für alle Verrückten
Niemand, niemand kennt mich wie du
Unbedingt, ich geb alles zu
Keine Enttäuschung, kein einziges Mal
Aber dir ist eh alles egal
Sophie Hunger I Walzer für Niemand
Du bist, wie du bist.
LIEBER BESUCHER,
DU BIST DABEI, EINEN GESCHÜTZTEN BEREICH ZU BETRETEN. BEANTWORTE DIE FOLGENDEN FRAGEN INNERHALB DER VORGEGEBENEN ZEIT. SOLLTE DICH DER ADMINISTRATOR FÜR WÜRDIG HALTEN, WIRD DIR INNERHALB VON 24 STUNDEN EIN NEUER NICKNAME ZUGEWIESEN UND EIN PASSWORT, MIT DEM DU DEN CHATROOM IN ZUKUNFT BETRETEN KANNST. DIESES PASSWORT IST NICHT FÜR DRITTE BESTIMMT. BEI MISSBRAUCH ODER FEHLVERHALTEN WIRD DER PRIVATE CHATROOM UMGEHEND GESCHLOSSEN.
Yoshua könnte ein Held sein. Ein Retter. Er weiß es noch nicht. Das Schicksal, Gott, der Zufall, wer auch immer, hat ihn auserwählt. Ohne Casting. Für diese Rolle musste er nicht vorsprechen. Yoshua ist erstaunlich dünn für einen Helden. Aber klug. Seine Gesichtszüge sind fein. Aber nicht so fein, dass es für eine Karriere als Model reichen würde. An dem Job wäre er aber ohnehin nicht interessiert. Zu banal. Zu oberflächlich. Nicht sein Ding.
Er steht an der Tafel. Sein Lehrer nickt ihm zu. Es läuft gut. Erleichtert legt er seine Notizen aus der Hand. Er biegt ein. Auf die Zielgerade. Was jetzt kommt, kann er auswendig. »Google will nicht nur Fotos von Straßenzügen und Häusern machen, sondern scannt die Umgebung nach WLAN-Netzen ab und speichert die Daten. Was Google damit vorhat, weiß keiner.«
Beifall. Keine Verbeugung. Ein entschlossener Zug um die Lippen, der sich zu einem Lächeln erhebt. Dann der Schulgong. Ein gebrochener Dur-Akkord. Elektronisch. Ohne Störgeräusche. Die Schüler springen auf. Yoshua bleibt zurück. Zufrieden. Glücklich. Stolz. Sein Pulsschlag pendelt sich ein. Das Blut rauscht zurück in seine Finger. Der Augenblick der Verletzlichkeit liegt hinter ihm.
»Das war gut.« Der Lehrer öffnet die Fenster. »Wenn du das nächste Mal langsamer sprichst, kann ich dir eine Eins geben.
Inhaltlich gibt es nichts auszusetzen.« Warme Luft strömt herein. »Was ist eigentlich aus deinem Programm geworden? Hast du es eingeschickt?«
Yoshua schaltet den Beamer aus. »Ist noch nicht so weit.«
»Hat nicht zufällig etwas mit deinem Referat zu tun?«
»Nein.« Yoshua blickt auf die Uhr und schultert seinen Rucksack. »Ich muss leider los. Der Bus.«
»Ist es dir gelungen, die Rechenzeit zu verkürzen?«
»Drei Sekunden.« Ein Lächeln huscht über Yoshuas Gesicht.
»Dann zeigt es alle …« Er stockt. Ein unkontrolliertes Blinzeln.
»Alle Chatrooms, die zu der Suchanfrage passen.«
»Auch die geschützten?«
»Manchmal.«
»Hast du es dabei?«
Yoshua steht in der Tür. Ein Luftzug wirbelt seine dunklen Locken umher. »Ist noch in der Testphase. Zu viele Fehlermeldungen.«
Ein Blick durch die Balkontür in ein großes Zimmer. Der erste Eindruck: ein wenig kitschig, ein wenig mädchenhaft. Wenigstens stehen nirgendwo Puppen herum. Nicht mehr. Die Zeiten sind vorbei. Keine Poster an den Wänden. Keine Stars, die angehimmelt werden wollen. Stattdessen eine gelbe Couch, ein Glasschreibtisch und ein MacBook. Im Regal ein paar Bilder von Freunden, Schnappschüsse. Jedes in einem anderen Rahmen. Jedes in einer anderen Größe. Auf dem Flatscreen perfekte Aufnahmen von computergenerierten Landschaften. Herr der Ringe. Eine ausufernde Kampfszene. Auf Leben und Tod. Marie schaut nicht hin. Sie kennt den Film. Sie kennt die Musik. Und sie weiß, dass es diese andere Welt nicht gibt. Leider. Es gibt sie nicht. Kapier es endlich! Sie fragt sich, warum Fantasie nicht Wirklichkeit werden kann. Niemals. Kein Tor, das sich öffnet, kein gleißend helles Licht, das sie hinüberführt auf diese andere Seite.
Sie liegt ausgestreckt auf dem Sofa. Sie badet in einem Meer aus glänzenden Kissen. Die Sonne streift ihre nackten Füße. Der Rest liegt im Schatten. Die Augen des Betrachters müssen sich an den Helligkeitsunterschied gewöhnen. Es vergehen Sekunden. Der Nebel lichtet sich. Ein Ellenbogen ist aufgestützt, die Hand klemmt unterm Kinn. Ein Mädchen mit langen braunen Haaren, bronzener Haut und pausbäckigem Gesicht kommt zum Vorschein. Marie starrt sorgenvoll auf ein Blatt Papier. Die Buchstaben neigen sich nach Westen. Dorthin, wo sie jetzt gerne sein würde. Luftlinie nur zehn Kilometer, aber in Wirklichkeit unerreichbar.
Liebe Emma,
vielleicht wirst Du diesen Brief niemals bekommen. Vielleicht wirst Du ihn auch nicht brauchen. Bestimmt ist das so. Deshalb werde ich ihn wohl auch nicht abschicken. Manchmal reicht es, etwas aufzuschreiben, um sich besser zu fühlen. Früher hat das jedenfalls geklappt, aber jetzt, jetzt ist alles anders. War eben doch nur Kinderquatsch, damals. Ich würde gerne wissen, wie Du Dich fühlst. Ob Du mich vermisst, oder ob es keine Rolle spielt, wer dich in den Armen hält. Ja, wahrscheinlich spielt es keine Rolle und vielleicht ist es das Beste, wenn ich Dich in Ruhe lasse. Du sollst nicht denken, dass ich Dich nicht liebe. Das tue ich. Manchmal glaube ich, dass alles ein großer Fehler war. Aber die Scheißangst. Ich hab Dir das ja schon mal erklärt. Die Scheißangst macht alles kaputt. Und ich hatte keine Wahl. Wirklich. Es tut mir leid, schrecklich leid –
Marie legt den Stift aus der Hand. Mitten im Satz. Ihre Kehle ist wie zugeschnürt. Sie erhebt sich, geht hinüber zum Schreibtisch und loggt sich ein. Tränen glitzern in ihren Augen. Sie zieht ein Taschentuch aus der Pappbox und tupft ihre Wangen, bevor sich ihr Blick wieder der Startseite des Chatrooms zuwendet. Hier kann sie alles sagen, alles so meinen. Oder auch nicht. Keiner wird vorbeikommen und nachgucken, was tatsächlich in ihrem Leben passiert. Aber manchmal ist das auch schade. Manchmal wünscht sie sich, dass jemand vorbeikommt. So wie jetzt. Eine Stimme, denkt Marie, wenigstens eine Stimme. Jemand, der nur für sie da ist und nicht mit drei Leuten gleichzeitig chattet. Deshalb greift sie zum Telefon und tippt die Nummer von dem gelben Flyer ab. Den hat ihr ein Mädchen nach dem letzten Gottesdienst in die Hand gedrückt. Wenn der Pfarrer rangeht, legt sie auf. Es tutet. Einmal, zweimal. Sie räuspert sich. Dann meldet sich die sonore Stimme einer Frau.
Nidal ist ein lässiger Typ. Normalerweise. Nur jetzt nicht. Jetzt ist er wütend. Und traurig. Und beides zugleich. Er hockt auf dem Klo. Weiße Trennwände. Dumme Sprüche. Telefonnummern. Das übliche Gekritzel. Seine kakifarbene Hose ist runtergerutscht. Sie liegt zusammengeknüllt um seine Knöchel. Wie eine Fußfessel. Die Muskeln an seinen Beinen sind angespannt. Er sucht nach einer Erklärung. Für sich. Für sein Leben. Für alles. Wahrscheinlich hat man ihn als Kind zu sehr verwöhnt. Das muss es sein. »Schwächlinge braucht die Welt nicht« hat sein Vater immer gesagt und ihn fest an sich gedrückt. Schlagen hätte er ihn sollen. In den Bauch treten. Auspeitschen, bis das Blut spritzt.
Vielleicht wäre dann alles anders. Nicht dieses Gefängnis. Sogar seinen Gedanken verbietet er, zu entfliehen. Er fängt sie ein, bevor sie zu mächtig werden und die Kontrolle übernehmen. Über ihn. Über die Welt. Über alles.
Wie lange soll das so weitergehen? Wie viele Jahre hat man ihm aufgebrummt? Wofür will man ihn überhaupt bestrafen? Ohne Prozess, ohne Anwalt, ohne Zeugen.
Es gibt keine Gerechtigkeit!
Nidal wickelt ein Stück Klopapier von der Rolle. Er schnäuzt hinein. Er hört, wie nebenan jemand die Spülung drückt. Er will fliegen. Auf und davon. Ein Vogel mit großen Schwingen. Dächer, Wolken, Wälder, Flüsse und Seen. Aus der Ferne nur Farbkleckse. Mehr ist nicht zu erkennen.
Jetzt sitzt er fest. Nicht nur in Gedanken. Das Rädchen an seinem Feuerzeug lässt sich nicht mehr weiter aufdrehen. Die Flamme leckt über das schmutzige Plastik der Innentür. Zischend. Zerstörung. Buchstabe für Buchstabe. Wort für Wort. Bis der Satz verschwunden ist. Bläschen, erst dunkelbraun wie Karamell, dann schwarz und starr, tilgen die Botschaft. Aber nur für seine wässrigen Augen, nicht in seinem Kopf. Dort haben sich die Worte längst eingebrannt.
Der Tag, an dem Sammy beschließt, sich umzubringen, ist ein Freitag. Es könnte auch ein Sonntag (rumhängen mit Jessy) oder ein Dienstag (begrapscht werden von Paul) sein. Das spielt keine Rolle, weil die Tage sich gleichen wie die Häuser und die Vorgärten und die Geräusche in der Straße, in der sie lebt. Alles ist so perfekt, so sauber, so aufgeräumt, dass sie sich wünscht, ein Tornado würde seinen Rüssel auf den Boden senken und das Neubaugebiet am Rande von Stuttgart plattmachen. Ausradieren. So wie es immer in Katastrophenfilmen gezeigt wird. Ein riesiger Staubsauger. Berstende Scheiben. Umherfliegende Trümmer. Und danach – gespenstische Stille. Doch das ist nur ein Traum, und Träume gehen selten in Erfüllung. Deshalb muss sie handeln.
Jetzt!
Tabletten, Erhängen, Pulsadernaufschlitzen. Alles schon durchgespielt. Und dann die Gesichter ihrer Eltern, wenn sie von der Arbeit nach Hause kommen … Was für ein Spaß!
Nun hört sie Musik. Nur in ihrem Kopf. Eine Tonspur mit fröhlichem Reggae. Unpassend, aber das gefällt Sammy. Das Gegenteil von dem, was erwartet wird. Der Tod macht ihr keine Angst. Nicht an diesem Abend. Der letzte Tanz. Im Offbeat ins Jenseits. Vielleicht ist sie verrückt, aber normal wollte sie ohnehin nie sein.
Sammy stellt sich vor, wie der Notarztwagen um die Ecke biegt. Sie hört das Getuschel der Leute, die aus ihren Häusern strömen. Erst vereinzelt und dann immer mehr. Insgeheim wären sie Sammy dankbar für die Abwechslung. Genauso dankbar wie nach den Anschlägen vom 11. September oder dem Seebeben, das den Tsunami ausgelöst hat. Ablenkung ist wichtig, will man hier draußen nicht vor Langeweile krepieren oder an der Mittelmäßigkeit des eigenen Lebens verzweifeln. Natürlich werden die Jansens, die Bergers, die Drexlers und wie sie alle heißen ihre Dankbarkeit nicht offen zeigen, sondern hinter Betroffenheitsgefasel und Spekulationen verstecken: »Hab ja immer gedacht, dass mit der was nicht stimmt. So wie die rumgelaufen ist.«
»Dass sie das ihrer Familie antut …« »Vielleicht hat sich jemand an ihr vergriffen.« »Der Vater?« »Wer weiß …« »Haben schon ein schweres Los gezogen, die Weitbrechts. Erst macht der Sohn Ärger und jetzt die Tochter.« Das Gerede wird sie über die nächsten Monate bringen, bis mit Weihnachten ein neues Ziel am Horizont der Wiederholungen auftaucht. Um Missverständnissen vorzubeugen, spielt Sammy mit dem Gedanken, einen Abschiedsbrief zu hinterlassen, ihn hundertfach zu kopieren und in jeden verdammten Briefkasten zu werfen. Oder noch besser: Videobotschaften. Auf jeden Fall eine für Herrn Schreiber, der sie immer angafft, wenn sie auf den BH verzichtet, weil Körbchengröße A nicht gestützt werden muss.
Aber wozu?
Mit dieser Frage hat alles begonnen.
Wozu?
Ein Wort, so quälend wie der Refrain eines Popsongs.
Würde jemand sie fragen, warum sie ausgerechnet in dieser Nacht den Drang verspürt, einen Schlussstrich unter ihr Leben zu ziehen, würde sie wahrscheinlich mit einem Schulterzucken antworten und lächeln. Vielleicht würde sie etwas Lockeres zu ihren Freunden sagen, einen lässigen Spruch, der sich wie ein Schutzschild vor ihre Gedanken stellt. Oder sie würde auspacken. Abrechnen mit Carla, die nicht weiß, was es heißt, anders zu sein. Anders zu denken. Mittendrin und doch nie dabei.
Da ist das Knistern des Feuers, das begierig nach Nahrung schreit. Da sind die Finger ihres Freundes, die unter ihr T-Shirt kriechen und nach allem suchen, nur nicht nach Liebe. Aber da ist keiner, der ihr eine Frage stellt. Überhaupt, findet Sammy, gibt es zu wenige Menschen, die Fragen stellen. Echte Fragen, die nach echten Antworten verlangen. Fragen, die nicht nur dazu dienen, über all den Müll zu reden, der gerade in der Glotze läuft; über Models, Aussehen, Geld, Jungs, Sex, Saufen und Partys. Das ist es, was ihr auf die Nerven geht, sie ankotzt, in der Schule, zu Hause, sogar in der Band. Überall das Gleiche: Niemand stellt Fragen. Wichtige Fragen.
Wenn das Leben ein Quiz ist, ein Wer wird Millionär, dann will sie heute Nacht aussteigen, obwohl sie es nicht weit gebracht hat. Aber wenn da keiner ist, der dich fragt, kannst du nicht gewinnen.
»Du musst nicht nervös sein«, sagt der Pfarrer. »Die meisten werden wegen Schulproblemen anrufen. War letztes Mal auch so. Sollte jemand ernsthafte Probleme haben, weißt du ja, was zu tun ist.« Er deutet mit dem Kopf zu einer Visitenkarte, die am Rand des Monitors klebt: Diplom-Psychologin Dr. Frauke Böttcher.
Das Mädchen nickt.
»Ich bin oben. Die Probe vorbereiten.« Der Mann geht zwei Schritte, dann dreht er sich um. »Vielleicht willst du mal wieder einen Gottesdienst für die Kleinen gestalten. Der letzte ist so gut angekommen.«
»Schule.« Das Mädchen zuckt entschuldigend die Achseln.
»Ist ja nicht eilig.«
»Vielleicht im Oktober.« Sie spürt, dass sie rot wird. Blut steigt in ihre Wangen und an ihrem Hals zeigt sich ein ausgefranster Fleck. Der Mann verschwindet aus dem Zimmer. Das Mädchen schaut ihm nach. Durch das staubige Kellerfenster bricht die Sonne herein. Galaxien von Staubkörnchen wirbeln umher. Das Mädchen studiert einen Diät-Ratgeber. Sie hat ihn auf der letzten Seite eines Modemagazins gefunden. Ein kleines Faltblatt, vollgepflastert mit Werbeanzeigen von Schönheitschirurgen. Idioten, denkt sie und schiebt die Überreste ihrer Keks-Orgie zu einem kleinen Häufchen zusammen, bevor sie im Kopf die Kalorien addiert, die sie sich in den letzten fünf Minuten einverleibt hat. Drei Stunden Joggen oder zwei Stunden Stepper, damit kann sie alles ungeschehen machen. Aber wozu? Warum sitzt sie überhaupt hier? Draußen tobt das Leben. Liebespaare schiendem durch den Schlosspark, und im Freibad werden Blicke getauscht, Freundschaften geschlossen und Beziehungen angebahnt. Sie schiebt sich einen weiteren Keks in den Mund. Kaut ein paarmal darauf herum und schlingt den sandigen Brei hinunter.
Ein schriller Klingelton durchbricht die Stille. Rufnummer unterdrückt, steht auf dem Display. Sie spült mit einem Schluck Cola nach und geht ran.
»Hallo, hier ist die Kummerkasten-Hotline St. Augustin, wie kann ich dir helfen?« Das Mädchen ist nicht bei der Sache. Sie steht neben sich. Sie hat vergessen, ihren Namen zu sagen. Sie überlegt, ihren Fehler zu korrigieren, lässt es aber sein. Stattdessen klickt sie auf ihr E-Mail-Postfach, das sie in einem kleinen Fenster beobachtet. Eine Freundschaftsanfrage von Facebook. Ein leichtes Zucken um die Mundwinkel. Jemand will mit ihr Kontakt aufnehmen. Neugierig, mit einer gewissen Glückseligkeit in den Augen, wird die Mail sogleich geöffnet.
Bist du wirklich so fett, wie du auf dem Foto aussiehst? Fassungslos starrt sie auf den hässlichen Einzeiler. Worte wie eine Streubombe. Ein Schmerz, dem sie nicht entkommen kann. Weißer Phosphor, der wie Feuer auf der Haut brennt.
»Hallo … hallo?«, sagt Marie in die Leitung. »Sind Sie noch dran?«
»Ja«, sagt das Mädchen mit zusammengebissenen Zähnen. Sie löscht die Mail. Jetzt ist sie mies drauf. Richtig mies. So mies, dass sie sich wünscht, alle Menschen abzuknallen, die sie jemals schräg angeschaut haben, weil sie kein Hungerhaken ist.
»Ich will nicht mehr leben«, sagt Marie und schluckt ihre Tränen hinunter.
Ich auch nicht, will das Mädchen antworten, tut es aber nicht. Sie schaut sich um und holt tief Luft. Eigentlich müsste sie der Anruferin jetzt die Nummer der Psychologin geben. Sie blickt auf die Visitenkarte. Sie zögert. Sie möchte am liebsten losheulen, schreien, mit den Fäusten auf den harten Steinboden trommeln. Und dann kehrt sich dieses Gefühl um. Ganz plötzlich. Innerhalb einer Sekunde. Hass. Ein irres Lächeln huscht über ihr Gesicht. Hass. Vielleicht dreht sie jetzt durch. Vielleicht ist das die Lösung für alles: durchdrehen. Das tun, was keiner erwartet. Sie atmet tief durch, schließt kurz die Augen. Wieder dieses seltsame Lächeln.
»Wie willst du dich denn umbringen?«, fragt sie kühl.
»Wie … wie bitte? Wie ich … wie ich mich umbringen will?«
»Ja, was für eine Art von Abgang schwebt dir vor?« Warum fühlt sich das so gut an? Warum tut ihr die Anruferin nicht leid? Was passiert da mit ihr?
»Ich … ich weiß nicht?« Marie flüstert beinahe.
»Ich sag dir mal was: Bei den meisten Mädchen klappt es nicht, weil sie es nicht richtig wollen. Jungs sind da besser. Du musst es richtig wollen, verstehst du? Am besten, du besorgst dir ’ne Waffe oder Insulin oder springst von der höchsten Brücke, die du kennst. Und mach es nicht zu Hause. Das geht meist nach hinten los. Jemand findet dich und du landest in der Psychiatrie.«
Stille.
»Interessiert Sie denn gar nicht, warum?«
»Darf ich raten? Ich tippe auf Liebeskummer. Hat dich dein Freund mit einer anderen betrogen?«
»Nein.«
»Wirst du zu Hause geschlagen?«
»Nein.«
»Bist du hässlich?«
»Ich dachte, Sie … Sie wollen mir helfen?«
»Natürlich will ich das. Ich will dir helfen, die richtige Entscheidung zu treffen.« Das Mädchen starrt auf das Kruzifix an der Wand. Warum soll sie anderen helfen? Ihr hilft doch auch keiner. Ist doch Quatsch, sich für andere aufzuopfern. Ein guter Mensch zu sein. Wer kümmert sich denn um sie? Wer interessiert sich für ihr Scheißleben? Dicke sind immer gute Kumpel. Immer gut gelaunt. Immer für andere da.
Ihr könnt mich alle mal!
»Mach es nicht so spannend, sag endlich, was Sache ist!« Ihre Stimme klingt unbarmherzig, als dulde sie keinen Widerspruch.
»Ich will mir die Pulsadern aufschneiden.« Marie atmet tief durch, nachdem sie das gesagt hat. Am anderen Ende der Leitung hört es sich wie eine Windböe an, die über einen See bläst und eine kräuselnde Spur auf der Wasseroberfläche zurücklässt.