Thariot
Exodus 2727 - Die letzte Arche
Roman
FISCHER E-Books
Thariot hat eine Schwäche für spannende Geschichten. Bereits als Fünfzehnjähriger begann er mit dem Schreiben, vor allem Kurzgeschichten, bis er dann 2009 die Arbeit an seinem ersten Buch in Angriff nahm.
Mittlerweile hat er über dreißig Science-Fiction-Romane veröffentlicht. Er lebt mit seiner Familie und seinem Dackel auf Malta.
Weitere Informationen finden Sie auf www.tor-online.de und www.fischerverlage.de
Ein Schiff. Eine Hoffnung. Ein Feind, den niemand sieht. Der neue Space-Thriller von Science-Fiction-Bestseller-Autor Thariot – packend und visionär.
Die USS London ist ein interstellares Siedlungsschiff auf dem Weg zu einer neuen Welt. Die Reisezeit beträgt 109 Jahre, das Ziel liegt 50 Lichtjahre entfernt. Die Fracht: drei Millionen menschliche Embryos und sieben Millionen Tiere. Die Besatzung besteht aus 490 Personen, die sich im Kälteschlaf abwechseln.
Alles läuft nach Plan. Bis der Ärztin Jazmin Harper auffällt, dass immer mehr Besatzungsmitglieder psychische Probleme bekommen. Gleichzeitig findet der Ingenieur Denis Jagberg Anzeichen, dass das Schiff deutlich älter ist als gedacht. Beiden ist schnell klar, dass irgendetwas nicht stimmt – doch bevor sie der Sache auf den Grund gehen können, kommt es zur Katastrophe.
Erschienen bei FISCHER E-Books
© 2020 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
›Exodus 2727‹ wurde vermittelt durch die AVA international GmbH Autoren- und Verlagsagentur, München.
Covergestaltung: Nele Schütz Design, München, unter Verwendung von Motiven von von shutterstock/tsuneomp (Raumschiff), Dotted Yeti (Asteroiden), sdecoret (Space)
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-491055-0
Jazmin wollte schreien, konnte es aber nicht. Dazu hätte sie atmen müssen. Atmen, eine ganz einfache Sache, die allerdings ohne Sauerstoff zu einer unlösbaren Herausforderung wurde. Als ob ihr jemand die Luft aus den Lungen saugte. Sie spürte die Kälte, die ihr wie eine Faust ins Gesicht schlug. Keine Zeit für einen letzten Gedanken. Ohne dass sie sich dagegen wehren konnte, riss sie der Sog von den Beinen. Das Licht fiel aus. Alles drehte sich.
Die Notbeleuchtung auf der Brücke färbte Wände und Armaturen blutrot, ein Trümmerteil zerfetzte den Körper des Ersten Offiziers und schleuderte dessen sterbliche Überreste als gefrorene Partikel ins All. Das war nicht der richtige Moment, um zu sterben. Jazmin packte zu. Sie hatte keine Ahnung, was ihre Finger umklammerten, aber ihr musste es auch nur gelingen, sich eine Sekunde festzuhalten. Nur eine Sekunde, länger würde es nicht dauern.
Es zischte und roch nach heißem Kunststoff. Der Sog endete abrupt. Luft wurde unter hohem Druck in die Brücke gepumpt. Jazmin fiel auf den Boden. Ihre Finger schmerzten, aber sie lebte. Der erste Atemzug brannte in der Brust, die Sauerstoffsättigung war noch zu gering. Also unterdrückte sie das Bedürfnis zu atmen. Nur einen Moment. Sie stand auf. Auf einem Display konnte sie den Sauerstoffgehalt in der Atemluft nach oben schnellen sehen. Noch zwei Sekunden. Auf die Stille folgte tosendes Geschrei. Geschrei, das zuvor ohne Luft nicht zu hören gewesen war.
Jazmin atmete behutsam ein und wieder aus und konzentrierte sich darauf, ihren rasenden Puls zu beruhigen. Sie stand wieder auf den Beinen. Ihre Knie zitterten. Was war passiert? Sie lebte noch, andere nicht. Sie sah sich um. Die Brücke der USS London sah aus, als ob jemand eine Granate gezündet hätte. Nein, der Vergleich hinkte, die Granate hätte weniger Schaden angerichtet.
»General!«, hörte Jazmin jemanden erschrocken rufen. Der Schreck war verständlich. Sie sah sie ebenfalls, die abgerissene Hand. Die Finger klammerten sich an eine seitliche Griffleiste seines Sitzplatzes. Der goldene Siegelring der Akademie ließ keinen Zweifel daran, wer dort gesessen hatte. General George Tiberius Mellenbeck, der Kommandant der USS London. Vom Rest des Körpers fehlte jede Spur.
»RUHE!«, schrie Jazmin. »JEDER HÄLT JETZT FÜR EINEN MOMENT SEINE KLAPPE!«
Stille.
Das war einfache Mathematik: Wenn man die Nummer eins und die Nummer zwei durchstrich, stand die Nummer drei an der Spitze der Befehlskette. Nummer drei. Das war sie. Jazmin war der Zweite Offizier an Bord: Colonel Dr. Jazmin Harper, nebenbei war sie auch die leitende Ärztin auf dieser Mission.
»Ma’am?«, fragte Captain Chang, die bereits zuvor mit tränenerfüllter Stimme nach dem General gerufen hatte. Sie heulte immer noch. Chang war als Datenanalystin für das binäre Wohlergehen von Mutter, der zentralen Bord-KI, zuständig.
Jazmin zeigte mit dem Finger auf sie. In Gedanken zählte sie bis vier. Sie waren zu fünft. Fünf Personen hatten auf der Brücke überlebt. Der Zwischenfall hatte drei Menschenleben gefordert. Den General, den Ersten und den Bordingenieur. Denis Jagberg, ein Idiot, der das Schiff allerdings besser als jeder andere gekannt hatte. Sein Oberkörper steckte im frisch verschweißten Boden, während seine Beine nach oben zeigten. Das automatische Sicherungssystem, das den Hüllenbruch repariert hatte, hatte Jagberg zerschnitten. Deswegen roch es nicht nur nach verbranntem Fleisch, sondern auch nach heißem Epoxidharz, mit dem das Sicherungssystem das Leck abgedichtet hatte. Einen Moment später, und Jagberg wäre als lebloser Eisblock im All gelandet.
»Schadensmeldung! Sofort! Lebenserhaltung, Frachtraum, Antrieb, Datenbank!« Jazmin gab die Prioritäten vor und ging selbst an eine der Konsolen. Sie musste umgehend mit Mutter sprechen. Aber es tat sich nichts, die KI stellte sich tot. Von über zwanzig Displays auf der Brücke arbeiteten noch drei. Nein, zwei. Das System, das eben noch den Sauerstoffgehalt in der Luft angezeigt hatte, meldete sich ebenfalls ab. Hier war nichts mehr zu retten.
»Colonel!«, rief Captain Chang. »Wir sind offline …« In dem Moment erschütterte eine weitere Explosion das Schiff. Weiter entfernt als zuvor. »Das sind Meteoriten!«
»Wir gehen sofort auf die zweite Brücke!« Jazmin zeigte auf die Tür. »SOFORT!« Das war ein Spiel gegen die Zeit. Sie mussten umgehend wieder die Kontrolle über das Schiff übernehmen. Wieso hatte Mutter die Bedrohung nicht kommen sehen? Die KI sah doch ansonsten alles, was auf dem Schiff passierte. »Können wir hier raus? Haben wir genug Druck im Korridor?«
»Ja, Ma’am!«, rief Captain Aayana, der Kommunikationsoffizier, der gerade die Verriegelung der automatischen Tür freilegte. »Sauerstoff, Gravitation, Temperatur … alles im grünen Bereich.« Er blutete an der Stirn. Daran sterben würde er nicht. Jeder von ihnen hatte ein paar Schrammen abbekommen.
»Öffnen!« Jazmin half, die Tür aufzustemmen. Die linke Seite blockierte, rechts kamen sie allerdings durch. Der gesamte Korridor war verzogen. Zahlreiche weiße Verkleidungselemente lagen auf dem Boden. Das Licht flackerte. Der Einschlag des Meteoriten auf der Brücke hatte verheerende Schäden angerichtet.
Sie rannten. Zwanzig Meter weiter und eine Treppe tiefer betraten sie die Stand-by-Brücke. Die Tür öffnete sich automatisch. Mutter hatte die Systeme bereits gestartet.
»Colonel Harper, es freut mich, Sie wohlauf zu sehen …« Die körperlose Stimme der KI erfüllte den Raum. Mütterlich klang sie nicht. Aber jeder andere Name wäre ähnlich unpassend gewesen.
»Mutter, General Mellenbeck und der Erste Offizier sind tot! Ich habe jetzt das Kommando! Schadensmeldung! Ich brauche sofort einen Überblick!« Jazmin loggte sich umgehend an einer holographischen Konsole ein. Die vier Kommandooffiziere taten es ihr gleich. Der erste Schritt war geschafft, sie waren wieder im Rennen.
»Colonel Harper, ich bestätige die Übertragung der Kommandogewalt. Notfallmodus: Initiiere vereinfachte Übertragung der Root-Codecs zu Ihrer persönlichen Verfügung.«
»Mutter, wir haben gerade andere Probleme!« Jazmin presste die Lippen zusammen und versuchte, weitere Meteoriten zu orten. Die Brocken traten meist im Rudel auf.
»Das Schiff wurde von vier Meteoriten getroffen. Die Schäden sind moderat, ich konnte alle Öffnungen verschließen, allerdings ist es mir nicht möglich, weitere Kollisionen zu verhindern. Meine Sensoren zeigen sie nicht an. Ich überlade die Frontaldeflektoren um 3000 Prozent. Dieses Manöver ist nur temporär funktional, da die Systeme in zwölf Minuten überhitzen werden.«
»Ma’am!«, rief Captain Aayana, der wie Jazmin selbst dunkelhäutig war. »Sensorfehler bestätigt. Die zentralen Systeme sind online, zeigen aber nichts an.«
»Was ist mit unserer Fracht?«, rief sie.
»Alle Container sind online, haben Energie und sind unbeschädigt!«, antwortete Aayana.
»Lebenserhaltung funktional. Sieben Prozent des Schiffs sind im Moment für Menschen nicht zu betreten«, rief jemand anderes. »Der Status ist nicht kritisch!«
»Wir machen weiterhin 0,44 c, acht Triebwerke sind online. Ebenso Antimaterie-Array 1-32 … die Beschädigungen beschränken sich auf den vorderen Bereich des Schiffs!«, antwortete Captain Chang, die alle Daten konsolidierte. »Unser Netzwerk ist ebenfalls online … Mutter geht es gut.«
»Das stimmt … noch.« Mutters Humor war gerade unverdaulich. »Mein Sensorproblem ist kritisch. Wenn die überladenen Frontaldeflektoren ausfallen, werden wir das Schiff verlieren.«
»Ich will mit Rufus sprechen!« Jazmin hätte vor Wut explodieren können. Was hatte dieser Idiot bloß getan? Sensoren kamen schließlich nicht von allein auf die Idee, falsche Signale weiterzuleiten. Das musste er gewesen sein: Major Rufus Simmerkirk, der leitende Datenanalyst, mit dem General Mellenbeck vor dem Einschlag des Meteoriten gesprochen hatte. Dieser verdammte Meuterer! Er und sieben weitere Aufrührer wollten den General zwingen, ihnen das Kommando zu übergeben. Dieser Spinner glaubte, das Schiff besser führen zu können. Wenn Menschen über lange Zeit auf engem Raum zusammenlebten, waren solche Reaktionen nicht zu vermeiden.
»Wer spricht denn da?« Das war Rufus, der über Lautsprecher zu hören war. Jazmin hatte ihn eigentlich nie für das Riesenarschloch gehalten, das er offenkundig war. Erst vor drei Tagen hatten sie zusammengesessen und Witze über die Mission der USS London gemacht. Dabei hatte er noch versucht, sie anzugraben. Das Schiff war bereits sieben Jahre unterwegs, hatte allerdings noch einhundertzwei Jahre vor der Brust. Ihr Ziel war das neunundvierzig Lichtjahre entfernte Alderamin-System. Dort thronte der Stern Alpha Cephei über sieben Planeten. Einer davon glich der Erde wie ein Zwilling.
»Colonel Harper.«
»Oh, unsere hübsche Ärztin! Dr. Unnahbar!« Rufus verstand es, diese Worte mit maximaler Verachtung auszusprechen. »Wie immer eine Freude, mit dir zu plaudern. Aber dafür fehlt mir gerade die Zeit. Gib mir den General!«
»Er ist tot.«
»Du verarschst mich …«
»Nein.« Jazmin schluckte. »Die Brücke wurde von einem Meteoriten getroffen.« Der Boden unter ihren Füßen vibrierte. Die USS London war 41212 Meter lang, das Schiff bot viel Angriffsfläche. Bei einem Flug mit 44 Prozent der Lichtgeschwindigkeit wurden auch winzige Meteoriten zu einer ernsthaften Gefahr.
»Echt jetzt?«
»Rufus! Hast du die Sensoren manipuliert?«
»Klar … Wer nicht hören will, muss fühlen!«
»Du wirst uns alle umbringen!«
»Das könnte durchaus sein.« So kannte Jazmin ihn nicht. Rufus war immer ein umgänglicher Kerl gewesen, wenn auch ein wenig aufdringlich. Aber jetzt sprach sie mit einem lupenreinen Psychopathen.
»Mutter kann die Meteoriten nicht orten!«
»Stimmt … sie kann sie nicht orten, nicht abwehren und ihnen auch nicht ausweichen! Herzchen, das war der Plan! Hat sie nach dem Verlust der Brücke die Frontaldeflektoren verstärkt?«
»Ja.«
»Um 3000 Prozent?«
»Ja.«
»Das wird heiß mit der Zeit!«
»Arschloch!«
»Sweetheart, dir bleiben weniger als elf Minuten …« Rufus kannte sich mit dem Schiff leider erschreckend gut aus.
»Wofür?« Jazmin sah zu Captain Aayana, der nur mit den Schultern zuckte. Auch Captain Chang schüttelte den Kopf.
»Um mir die Root-Codecs zu übertragen …«
»Nein.« Das würde sie bestimmt nicht tun. Aayana winkte ihr zu. Neue Probleme.
»In elf Minuten überhitzen die Frontaldeflektoren … Jazmin, du bist doch nicht dumm. Ohne Schutz reicht ein tennisballgroßer Stein, um das Schiff bei dieser Geschwindigkeit vollständig zu zerstören … Ich schlage vor, du kommst und bringst mir die Codecs. Und zwar nackt … Ich will sehen, dass du unbewaffnet bist. Aber keine Sorge, es wird dir hier bei uns gefallen …« Dann lachte er schmierig.
»Dafür wirst du bezahlen …« Jazmin würde sich ganz sicher nicht von diesem miesen Schwein vergewaltigen lassen.
»›Major Rufus Simmerkirk, ich werde Sie hinrichten lassen!‹« Rufus lachte. »Sind das nicht die letzten Worte des Generals gewesen? Also ehrlich … der Schuss ging nach hinten los! Aber ich bin kein Unmensch … Du hast noch zehn Minuten, um bei mir anzutanzen! Es wird dir Spaß machen, versprochen … Also los, es sind nur ein paar Treppen runter bis zu uns! Das kriegst du hin!«
»Wo bist du?« Jazmin sah zu Captain Chang, die erfolglos versuchte, seine Position zu ermitteln. Rufus musste einen Weg gefunden haben, Mutter auch die visuellen Sensoren im Inneren des Raumschiffs zu nehmen. Das Display zeigte nichts an.
»In der Waffenkammer … meine Kanone ist geladen.«
»Ich komme …« Jazmin zeigte an, die Sprechverbindung zu unterbrechen.
»Colonel, wollen Sie das wirklich?«, fragte Aayana.
»Was ich möchte, ist nicht relevant … wir haben nur noch wenige Minuten. Ich brauche eine Bestätigung, wo sich Major Simmerkirk aufhält.« Jazmin zeigte auf den großen Bildschirm. »Gebt mir eine Übersicht aller Personen, deren Aufenthaltsort wir kennen!« Die aktive Besatzung der USS London war überschaubar. Es würde auch ohne Kameras einen Weg geben, ihn festzunageln.
»Wir sind abzüglich der drei Toten fünfunddreißig … fünf auf der Brücke. Simmerkirk und sechs Personen halten sich vermutlich in der Nähe der Waffenkammer, sieben Decks unter uns, auf«, erklärte Captain Chang. Auf dem zentralen Display wurde jede sicher geortete Person an Bord angezeigt.
»Wo ist der Rest?«, fragte Jazmin. Da fehlten noch dreiundzwanzig. Insgesamt waren 38 von 490 Besatzungsmitgliedern wach gewesen. Auf dem 109 Jahre andauernden Flug hatte jeder eine durchschnittliche Dienstzeit von zwölf Jahren abzuleisten. Während der restlichen Zeit befand sich die Besatzung im Kälteschlaf.
»Ich habe Kontakt mit vier Zonen, in denen sich dreiundzwanzig Personen aufhalten. Es gibt sieben Verletzte. Niemand schwebt in Lebensgefahr. In einer Zone gibt es Probleme mit der Atemluftversorgung. Wir pumpen ständig weitere Luft herein, weil wir das Leck nicht finden können«, antwortete Aayana.
»Wie viele Personen?« Jazmin kontrollierte, wie viele Wartungsroboter eingesetzt wurden.
»Neun.«
»Können die dort nicht weg?«
»Ein Meteorit hat den Korridor auf einer Länge von siebzehn Metern zerstört. Die Reparatur würde mindestens vier Stunden dauern … Die sind eingeschlossen.«
»Ich brauche die Roboter …« Jazmin gingen die Optionen aus. Sie hatte noch acht Minuten. In Reichweite der eingeschlossenen Zone befanden sich elf Wartungsroboter, drei innen und acht außen an der Schiffshülle. Die Beschädigungen in dieser Zone waren nur schwer zugänglich.
»Wie viele?«, fragte Captain Chang.
»Alle!« Die Zeit lief gegen sie.
»Ma’am?« Die Asiatin wirkte verstört.
»Mutter, ich brauche eine Bestätigung, wo sich Major Simmerkirk und seine Leute aufhalten. Überprüfe die Sauerstoffsättigung und errechne daraus, in welcher Zone sie sich befinden.« Das sollte funktionieren. Während einer Notfallsituation waren alle automatischen Türen geschlossen.
»Order bestätigt. Das Vorgehen ist valide. Sieben weitere Personen identifiziert. Drei davon in der Waffenkammer, zwei in der Zone davor und zwei in der Zone darunter.«
»Simmerkirk ist nicht dämlich …« Damit hatte Jazmin gerechnet, sie hätte es selbst nicht anders gemacht. Die Aufrührer befanden sich nicht alle im selben Raum.
»Ma’am, was sollen die Roboter tun?« Captain Chang hatte es noch nicht verstanden.
»Sie werden für uns kämpfen!«
»Wie?«
»Captain, an der richtigen Stelle natürlich.« Jazmin sah sie an. »Wir ziehen die acht Wartungssysteme an der Außenhülle ab. Dieser Befehl hat Priorität.« Ihr blieb nur ein Versuch, um Rufus zu neutralisieren.
»Order bestätigt.« Mutter diskutierte nicht. »Colonel, gibt es ein neues Einsatzgebiet?«
»Zufuhr der Atemluft in den Zonen 34, 57 und 62 unterbrechen. Alle Warnsysteme deaktivieren. Die sollen nichts davon bemerken.« Zone 57 stand für die Waffenkammer. »Die Roboter werden zudem die Hülle unter Zone 62 beschädigen.« An der Stelle existierte nur ein Deck bis zur Außenhülle. Durch das Leck würde die verbliebene Atemluft augenblicklich entweichen. Rufus und seine Bastarde waren bewaffnet. Sie sollten nicht auf die Idee kommen, sich den Weg durch die Schleusen freizuschießen. »Mutter, du wirst die automatische Sicherung der Hüllenintegrität in Zone 62 unterbrechen.«
»Order bestätigt.«
»Colonel, die Frontaldeflektoren werden bei T minus 262 Sekunden ausfallen!«, meldete Captain Aayana und ließ den Countdown in der Ecke des zentralen Displays anzeigen.
Jazmin nickte. Hoffentlich hatte sie nichts übersehen. Jeder Fehler wäre ein Desaster. Wie eine Verrückte tippte sie auf der holographischen Konsole herum. Ja, das würde funktionieren.
»Wir können den Druckabfall in Zone elf ohne die Roboter an der Außenhülle nicht länger kompensieren. Neun Besatzungsmitglieder werden in T minus 42 Sekunden ersticken.« Auch diesen Countdown brachte Aayana auf das zentrale Display. Das Risiko würde sie eingehen müssen.
»Die Roboter werden die Hülle unter Zone 62 in T minus 63 Sekunden durchbrechen.«
Eine weitere Explosion erschütterte das Schiff, weit entfernt, aber dennoch zu spüren. Rufus Simmerkirk war nicht das einzige Problem an Bord.
»Colonel, wenn Simmerkirk ausgeschaltet ist … wie bringen wir dann unsere Sensoren wieder online?«, fragte Captain Chang. Das war eine berechtigte Frage.
»Mutter, wir bringen unverzüglich zwei am Schiff gesicherte Landungsgleiter aus … Du wirst die Signale der Sensoren umleiten, um damit die Abwehr der Meteoriten zu koordinieren!«
»Order bestätigt. Das Vorgehen ist valide. Ich werde die Railguns einsetzen.«
Jazmin sah einen weiteren Countdown herablaufen. T minus 122 Sekunden. Das würde knapp werden. Sie zeigte an, mit Rufus sprechen zu wollen. Diesmal auf ihrem hinter dem Ohr implantierten Kommunikator. Das war ein Spiel gegen die Zeit. Sie musste ihn ablenken und würde dafür auch über ihren Schatten springen.
»Ich warte auf dich …« Rufus klang widerlich.
»Bin unterwegs.«
»Ich möchte dich sehen … Mutter soll einen Stream übertragen! Ich hoffe, du kommst allein!«
Jazmin zeigte an, dass Captain Chang die Brücke übernehmen sollte. Sie lief in den Korridor. Mutter sollte den Stream übertragen.
»Ich sagte nackt!«
Jazmin verzog den Mund und zog sich das Oberteil ihrer ehemals weißen Uniform aus. Einen BH trug sie nicht.
»Alles!«
Sie zog auch den Rest aus und ging die Treppe hinunter. Das war nicht der richtige Zeitpunkt, um Scham zu zei gen.
»Dreh dich!«
Jazmin folgte dem Befehl und ging weiter. Die Zeit lief ab. Während sie sich drehte, erstickten neun Besatzungsmitglieder. Dagegen war ihr Opfer ein Witz.
»Mir gefällt, was ich sehe … Ich stehe auf deine langen Haare. Wir werden zusammen Spaß haben.«
Jazmin sparte sich die Antwort. Ihre Brüste würden die letzten sein, die er zu sehen bekam. Sie lief weitere Treppen hinab. Das war ein guter Deal: Solange dieser Idiot auf ihren nackten Körper starrte, würde er nicht schießen.
Es konnten nur Sekunden vergangen sein, aber es fühlte sich an wie eine Ewigkeit. Bei jedem Schritt spürte sie das kalte Metall der Stufen unter ihren Füßen. In Gedanken lief die Zeit weiter. Jetzt kam es auf jede Sekunde an.
Da vorne war der Zugang zur Waffenkammer. Ob Rufus noch auf den Beinen stand? Er hatte schon seit einigen Sekunden keine anzügliche Bemerkung mehr von sich gegeben. Wenn er jetzt die Tür öffnete, wäre der Plan gescheitert. Schoss er, würden sie gemeinsam sterben. Der Unterdruck würde alle in den betroffenen Zonen ersticken lassen.
Sie spürte plötzlich starke Kopfschmerzen. Ihr Sichtfeld veränderte sich. Als ob ihre Augen für einen Moment unterschiedlich fokussieren würden. Das linke zu kurz, das rechte zu lang, im Ergebnis sah sie überhaupt nichts. Öffnete Rufus etwa die Tür? Es knallte, und etwas zog an ihr. An der Drucktür zeigte sich eine Beule. Nein, doch nicht. Alles war ruhig. Sie schüttelte sich.
»Colonel Harper.« Das war Mutter. »Wir haben es geschafft. Major Simmerkirk ist tot. Wir haben die Sensoren der beiden Gleiter online. Ich kann nun anfliegende Meteoriten abfangen. Sechzehn Railguns sind im Einsatz.«
»Was ist mit den neun Personen, die wir …« Jazmin blieb stehen. Ihr wurde flau im Magen.
»Wir haben sie verloren.«
Verdammte Scheiße, das hatte sie nicht gewollt! Der Preis war zu hoch gewesen! Für Simmerkirks sinnlose Meuterei haben die Falschen mit dem Leben bezahlen müssen.
»Neuronaler Cortex online … Initiiere organisches Feedback. Sie ist wach«, erklärte eine Frau, deren Stimme so nah wirkte, als ob sie Jazmin unmittelbar ins Ohr flüsterte. Mutter war es nicht. Alles um sie herum war dunkel.
Was war das?
»Jazmin?«
Was sollte diese Frage?
»Können Sie mich hören?«
Natürlich konnte sie das.
»Bitte antworten Sie mir.«
»Ja.« Sie war verwirrt. Ihr Gaumen war verschleimt, und ihre Zunge schmeckte wie ein alter Lumpen.
»Sehr gut … Sie können nun die Augen öffnen.«
»Bitte?« Jazmin kam noch nicht ganz mit, einen Moment zuvor hatte sie noch splitterfasernackt vor der Waffenkammer gestanden. In ihr kam Panik auf.
»Öffnen Sie einfach die Augen.«
Jazmin sah eine weiße Decke. Erst jetzt realisierte sie, dass sie in der Horizontalen lag, in einer Wanne voll mit einer milchigen, warmen Flüssigkeit. Hatte sie alles nur geträumt? Nein, das konnte nicht sein. Dafür war dieser Mist zu echt gewesen.
»Ihr voller Name?«, fragte eine Frau, die sie nicht kannte. Helen stand auf ihrem Namensschild. Colonel Dr. Helen Minous.
»Colonel Dr. Jazmin Harper, ich bin …«
»Geburtsdatum?«
»27. September 2688.«
»Kennnummer?«
»158556A.«
»Sehr gut … willkommen zurück!«
»Wo bin ich?«
»Jazmin, alles ist gut.«
»Bitte!«
»Wir befinden uns auf der USS London auf dem Weg ins Alderamin-System.«
Das war verwirrend.
»Wir haben das Jahr 2727. Es ist der 14. Mai. Sie sind 32 Jahre alt und haben sieben Jahre geschlafen. Das ist ihre erste Schicht. Sie werden ein Jahr lang Dienst haben und dürfen sich dann wieder eine Weile schlafen legen.«
»Aber ich war doch schon wach …« Die Erinnerungen. Die Kollision mit dem Meteoriten. Noch vor einer Minute hatte sie auf dem Korridor vor der Waffenkammer gestanden.
»Wach, sagen Sie?«
»Ja …« Das war niemals ein Traum gewesen. »Da war ein Notfall, es gab Tote …«
»Warten Sie, das haben wir gleich … ich überprüfe Ihre Daten.« Die Ärztin zeigte sich bemüht. »Aber ja … Sie haben recht, Colonel Harper, Sie haben kurz vor dem Aufwachen an einer virtuellen Notfallübung teilgenommen. Keine Sorge … es ist alles gut. Nichts davon hat sich wirklich zugetragen.«
»Eine Übung?« Das sollte eine Übung gewesen sein? Auch daran konnte sie sich erinnern. Wenn alles nach Plan laufen würde, fände das Raumschiff seinen Weg ins Alderamin-System auch allein. Aber welcher Plan funktionierte schon perfekt? Sie wusste natürlich auch von virtuellen Notfallübungen, die man nicht von der Realität unterscheiden konnte. Bereits auf der Erde hatte sie auf diese Art und Weise diverse Szenarien trainiert.
»War heftig, oder?« Helen nahm ihre Hand. »Wir sind beide jeweils der Zweite Offizier unserer Schicht. Von uns werden schwere Entscheidungen erwartet.«
Jazmin schluckte. Das waren zu viele Tote. Niemand steckte so etwas spurlos weg.
»Ich verstehe …« Die Ärztin gab Jazmin ein Pad-System. »Vielleicht hilft Ihnen das.«
Jazmin nahm das Gerät und sah ihre Testergebnisse. Mutter attestierte ihr, die Notfallübung als Kommandooffizier mit Bravour bestanden zu haben. 98,4 Prozent, sie hatte alles richtig gemacht. Die Übung selbst, das erlebte Szenario, blieb unter Verschluss. Niemand außer ihr wusste davon.
Finch sah auf den Mittelfinger seiner linken Hand. An der dem Daumen zugeneigten Seite ragte ein kleiner Hautfetzen seines Nagelbetts trotzig empor. Wie wollte jemand, der seine Hände nicht pflegte, damit sein Leben in die richtige Bahn lenken? Mit der rechten Hand griff er in die Innenseite seines Sakkos und legte ein Reisenecessaire auf den Tisch. Ohne hätte er keinen Schritt vor die Tür gemacht. Mit der Schere konnte er das Malheur schnell wieder aus der Welt schaffen.
»Sidi, bitte sehr.« Der Kellner, der eine traditionell anmutende dunkle Uniform trug, stellte ihm eine Tasse frisch zubereiteten Minztee auf den Tisch. Finch erachtete dieses erquickende Heißgetränk besonders an heißen Tagen als Segen der nordafrikanischen Kultur.
»Danke.«
»Haben Sie noch einen Wunsch?«
»Nein, im Moment nicht.« Der Duft verwöhnte seine Nase, diesen Moment galt es zu genießen.
»Sehr wohl …« Der Kellner verbeugte sich und ging zum nächsten Tisch. Dort saß eine gutsituierte Dame mit langen blonden Haaren und einer diamantbesetzten Rolex. Finch schätzte sie auf Ende dreißig. Sie trug ein hochgeschlossenes weißes Kleid mit langen Ärmeln. Eine hervorragende Wahl, die ihrer Figur schmeichelte, sie aber nicht überbetonte. Die cremefarbenen Schuhe hatten mittelhohe Absätze und umschlossen ihre schlanken Fesseln mit gebundenen Schleifen. Seine Ansichten über gepflegte Hände galten auch für Füße. Mit ungepflegten Zehen konfrontiert zu werden erachtete er als unerträgliche Pein, der er einen Freitod jederzeit vorziehen würde.
»Haben Sie meinen Mann gesehen?«, fragte die Dame den Kellner nervös. Auf dem Tisch vor ihr befanden sich vier Zigarettenkippen in einem minimal grünleuchtenden Aschenbecher. Damit hatte sie in weniger als siebzehn Minuten mehr Tabak konsumiert, als sich der Kellner von seinem Jahresgehalt hätte leisten können. Jede Zigarette enthielt einen Chip im Filter, der dem vernetzten Aschenbecher DNA-Informationen über den Raucher übertrug und eine individuelle Zahlung der Tabaksteuer initiierte. Wäre der Aschenbecher rot geworden, hätte die Dame wegen Steuerhinterziehung Ärger bekommen. Damit kostete eine Zigarette für reiche Menschen erheblich mehr als für normal verdienende. Ein nicht alltäglicher Luxusgegenstand war sie allerdings für jeden Raucher auf der Welt.
»Madame, ich bedauere … leider nicht.« Der Kellner blieb einen Moment stehen. Er wartete. Das Personal in diesem Hotel war hervorragend geschult. »Haben Sie noch einen Wunsch?« Er leerte unauffällig den Aschenbecher.
»Nein …« Ihre Stimme zitterte. Heute würde Finch weiterkommen, das konnte er spüren. Die Höhe der Spesen für seinen kleinen Trip nach Marrakesch würden dem Chief Inspector zwar den Blutdruck in die Höhe treiben, aber dafür würde er Ergebnisse liefern.
»Sehr wohl …« Der Kellner ging weiter.
Finch sah sich um: Die Lobby des Hotels war bis auf zwei weitere Gäste leer. Zwei Handelsreisende aus Moskau, die sich in einem starken mittelrussischen Akzent unterhielten. Sie sprachen über Geld, Nutten und unversteuerten Wodka. Das Erste hatten sie, das Zweite konnte man mühelos temporär erwerben, und das Dritte war nirgends auf der Welt legal zu beziehen.
Die Dame drehte sich zu ihm und lächelte gequält. Ihre weißen Zähne glänzten. Ein wunderbarer Anblick, ihre Nase, die Lippen und die Wangenpartie waren kosmetisch verändert worden. Eine hervorragende Arbeit, die ihr die zeitlose Schönheit einer griechischen Göttin bescherte. Sie hatte bereits mehrfach zu ihm hingesehen, als hoffte sie, er würde ihr aus einer Zwangslage helfen. Verständlich, Finch kannte den Mann, auf den sie wartete. Ein Subjekt mit besonderen Neigungen, von denen die meisten auch in einer liberalen Weltordnung drastische Strafen nach sich zogen. Finch würde seine Chance nutzen. Schließlich war er nicht zum Vergnügen hier.
Er ging zu ihr und legte eine Hand auf die Stuhllehne. »Madame, darf ich Ihnen Gesellschaft leisten?«
»Bitte …« Sie griff nach der nächsten Zigarette. Ihre Begeisterung für belanglose Konversation hielt sich sichtlich in Grenzen. Trotzdem wies sie ihn nicht ab.
»Ich kam nicht umhin, Ihre Ungeduld zu bemerken …« Finch sah auf ihre Lippen, die kurz davor waren, Worte zu formen, sie aber dennoch nicht aussprachen.
»Ich warte.«
»Offensichtlich.«
»Auf meinen Mann.«
»Das habe ich gehört.« Finch lächelte und fragte sich, wie weit er gehen konnte. Er hatte bereits zwei Tage im Hotel verbracht und auf den richtigen Moment gewartet. »Bitte entschuldigen Sie mein rüpelhaftes Verhalten … Ich habe mich noch nicht vorgestellt.«
»Ach ja?«
In ihrer Nervosität wäre es ihr vermutlich nicht einmal aufgefallen, wenn er sich mit einem blutigen Messer zwischen den Zähnen zu ihr gesetzt hätte. Jede Faser ihres Körpers war angespannt, verständlich, zog man in Betracht, mit wem sie verheiratet war.
»Atticus Finch, ich bin Journalist. Meine Freunde nennen mich Finch.« Zumindest ein Teil seiner Vorstellung war nicht gelogen. Er reichte ihr die Hand.
»Natascha.« Sie erwiderte den Handschlag. Ihre Finger fühlten sich kühl und kraftlos an.
»Natascha …«
Den Rest wollte sie ihm offenkundig nicht sagen. Auch sie sprach mit einem Akzent. Sie dürfte in Frankreich die Schule besucht, dann aber viele Jahre in London verbracht haben.
»Was führt Sie nach Marrakesch?«
»Urlaub …«
»Ein wunderschönes Land, oder?«
»Ja.« Finch war sich sicher, dass sie, genau wie er, noch keinen Fuß vor die Tür des Fünfsternehotels gesetzt hatte.
»Ich empfehle einen Besuch des Gewürzmarktes … Das ist wie eine Zeitreise in die Vergangenheit.« Das hatte er zumindest in einem der Magazine gelesen, die während des Fluges im Sitz vor ihm gesteckt hatten. Halbwissen mit Leidenschaft zu rezitieren, war das nicht das Geheimnis, um Kompetenz zu simulieren?
»Das habe ich auch schon gehört …« Ihre Hände zitterten regelrecht. Die Reste des nächsten kleinen Vermögens landeten im Aschenbecher und damit in den Fängen des Fiskus. Solange sie in ihrer Angststarre gefangen war, würde er ihr nicht näherkommen können. Er musste die Situation auflockern.
»Darf ich bitten …« Er stand auf.
»Wie bitte?«
»Ich möchte Ihnen etwas zeigen.«
»Was?«
»Um es zu sehen … bedarf es weniger Schritte und zweier offener Augen. Bitte seien Sie versichert, dass ich keinerlei unredliche Absichten verfolge.«
»Wer sind Sie?«
»Finch … sagte ich das nicht bereits?« Er lächelte. Ein Lächeln war in vielen Situationen eine scharfkantige Waffe, die auch versteinerte Herzen zu öffnen vermochte.
»Sie sind …«
»… meist gelangweilt, selten gut bezahlt, aber niemals schlechtgelaunt. Wissen Sie, die Menschen lesen weniger … Eine fatale Entwicklung für einen Journalisten, der es nicht versteht, in den Streams der modernen Netzwerke zu glänzen. Ich schreibe, eine Schwäche, derer ich mir bewusst bin, die ich aber nicht zu ändern bereit bin.«
»Sie sind frech!« Das war eine höfliche Ohrfeige, aber sie nahm seine Hand und ließ sich zur Fensterfront der Lobby führen.
»Da muss etwas dran sein, zumindest habe ich das schon häufiger zu hören bekommen.«
»Von einer Frau?« Nataschas Maske zeigte Risse, darunter befand sich tatsächlich ein Mensch.
»Ähm … Sie haben mich durchschaut!«
»Finch, ich warte auf meinen Mann. Er könnte diese Situation falsch verstehen … Er ist kein einfacher Mensch.«
Er nickte. Wie recht sie doch damit hatte. Jeden Moment könnte ihr Mann auftauchen. Sie standen an den bodentiefen Fenstern und sahen aus der einhundertachtzigsten Etage des Hotels auf die Weite des Mittelmeers. Eine wunderbare Aussicht. Seitlich von ihnen befanden sich weitere Hochhäuser. Marrakesch unterschied sich in dieser Hinsicht nicht von anderen Großstädten in Europa, Asien oder Afrika. »Nun, Sie halten meine Hand.«
»Vielleicht möchte ich Sie in Verlegenheit bringen …«
»Oh …«
»Angst?«
»Wenn Ihr Mann kommt, könnte er wirklich einen falschen Eindruck gewinnen.«
»Er würde mir verzeihen.«
»Verständlicherweise.«
»Bei Ihnen wäre ich mir nicht sicher …«
»Er könnte in mir einen Rivalen vermuten.« Und würde damit so falschliegen. Die Situation entwickelte eine unerwartete Dynamik. Natascha war es gewohnt, mit Männern zu spielen. Finch hingegen hegte bei einem derartigen Geplänkel keine geschlechtliche Präferenz. Er nahm, was sich ihm bot.
»Das könnte er …«
»Und mich niederstrecken?«
»Das wäre ihm zuzutrauen.«
»Und wäre es nicht sinnlos, für eine Tat bestraft zu werden, ohne sie begangen zu haben?« Hier war sie endlich, die All-in-Situation. Darauf hatte er gewartet.
»Und was wollen Sie dagegen tun?«, fragte sie verwundert.
Finch nahm sie in den Arm und küsste sie. Ihr Körper verspannte sich im ersten Moment. Dann ließ sie es geschehen. Nein, sie genoss es sogar. Natürlich kannte sie den Mann, dem sie nach Marrakesch gefolgt war. Sie wusste genau, wozu er fähig war, was er bereits getan hatte und weiterhin tat. Ihre Zunge schmeckte nach mehr. Was für eine Frau. Finch fuhr ihr mit der Hand liebevoll über die Wange, über ihr linkes Ohr und den Hals herab.
Sie beendete den Kuss zärtlich und strich ihm mit den Fingern über das Revers. Dann drückte sie ihn behutsam weg, lächelte und versetzte ihm eine schallende Ohrfeige. »Wie unverschämt! Was denken Sie sich!«
»Ich bitte um Entschuldigung. Es tut mir leid.« Das war eine Lüge, der Kuss war es wert gewesen, dafür geschlagen zu werden. Mehr noch, ihm war es für einen kurzen Moment gelungen, ihr so nah zu sein, dass er unbemerkt eine Wanze hinter ihrem Ohr anbringen konnte. Besser hätte es nicht laufen können.
»Gehen Sie!« Ihr Körper bebte.
»Natürlich …« Finch zeigte sich demütig und verzichtete darauf, ihr ein weiteres Mal in die Augen zu sehen. Wunderschöne blaue Augen, die zu betrachten eine Freude gewesen war.
»Ich will Sie nie wiedersehen!«
»Das verstehe ich.« Finch drehte sich um und entfernte sich. Bereits im Weggehen steckte er sich den Empfänger ins Ohr.
»Cet enfoiré …«, flüsterte sie unfreiwillig in sein Ohr. Natürlich fluchte sie auf Französisch. Die winzige Wanze bezog ihre Energie aus Körperwärme und hatte nur eine Reichweite von wenigen Metern oder einer Zimmerwand. Er würde in ihrer Nähe bleiben müssen. Sie setzte sich zurück an ihren Platz. Er wählte ein Sofa hinter einer Säule. Von dort konnte er den Eingang zur Lobby im Auge behalten.
Sein Kommunikator meldete sich. Wie immer zum falschen Zeitpunkt. Er nahm das Gespräch über denselben Knopf im Ohr an, mit dem er auch die Begleiterin seiner Zielperson abhörte.
»Ja.« Finch zeigte dem Kellner an, ihm eine weitere Tasse Minztee zu bringen.
»Möchte ich wissen, wo du gerade steckst?« Der Chief Inspector war einfach ein Mann ohne Vorstellungskraft.
»Natürlich möchtest du das. Hättest du sonst angerufen?«
»Das war eine rhetorische Frage.«
»Und du hast eine rhetorische Antwort erhalten …«
»Finch, ich mag dich …«
»Was dich durchaus sympathisch macht …« Dies und die Tatsache nahezu grenzenloser Toleranz gegenüber Menschen mit besonderen Fähigkeiten und schwierigen Eigenheiten.
»Aber es gibt Grenzen.«
»Die gibt es durchaus.« Wie wahr. Jeder Mensch hatte Grenzen, der Chief Inspektor, er selbst, Natascha und der blutige Ausfluss einer Analfistel, den sie als ihren Mann bezeichnete. »Wolltest du jetzt wissen, wo ich bin?«
»Ja!«
»In Marrakesch.«
»Was zur Hölle machst du in Nordafrika?«
»Die Welt ist ein Dorf.«
»Finch, ich verliere langsam die Geduld, sie passt gerade mühelos in eine Streichholzschachtel!«
»Ähm … ja.« Der Chief Inspector verstand es, seine Ansichten sehr bildhaft zu vermitteln. »Ich ermittle.«
»In welchem Fall?«
»Die Kensington-Morde.«
»Finch?«
»Ja.«
»Wieso kann ich mich noch gut daran erinnern, dich nach dem Fiasko vor Gericht von dem Fall abgezogen zu ha ben?«
»Ist das wieder eine rhetorische Frage?« Innerlich fluchte Finch. Der Typ war schuldig. Ein Mörder, der nur aufgrund widriger Umstände und einer unfähigen Justiz noch frei herumlief. Drei Kinder hatten seinetwegen sterben müssen. Die Kleinen waren sechs, sieben und neun Jahre alt gewesen. Die Namen hatte er nicht vergessen. Finch würde dieses Monster zur Strecke bringen, mit oder ohne Auftrag. Auch wenn er selbst dabei vor die Hunde ging.
»Finch!«
»Der Mann ist schuldig!«
»Hör mir zu! Wir haben bereits gegen ihn ermittelt! Du hast Beweise gesammelt! Gute Beweise! Die besten, die wir finden konnten! Deswegen haben wir ihn vor Gericht gestellt – und sind gescheitert!«
»Er ist schuldig!«
»Du weißt das, ich weiß es und er natürlich ebenfalls … dummerweise ist dieser Kerl aber auch reich, intelligent und hat sehr gute Anwälte! Finch, wir sind gegen ihn angetreten und haben verloren. Sieh es ein … Man kann nicht immer gewinnen!«
»Schuldig!« Finch würde so ein Monster niemals unbehelligt laufenlassen. Die Wanze am Ohr seiner Freundin würde ihm neue Hinweise liefern. Damit würde er ihn zur Strecke bringen, das wusste er genau. Diesmal würde er nicht scheitern.
»Nein! Du hörst jetzt auf damit!«
»Aber …«
»Finch! Du wirst nicht mit ihm reden, ihm nicht weiter nachstellen, und vor allem wirst du nicht ohne triftigen Grund seine Privatsphäre verletzen!«
»Warum hast du mich angerufen?«
»Ich brauche dich …«
»Ein neuer Fall?«
»Mehr oder weniger …«
Finch schüttelte den Kopf, die Welt war schlecht und voller Lügen. Ihm schwante Schlimmes. Der Kellner brachte ihm den Minztee.
»Bist du noch dran?«
»Ja.«
»Ich brauche dich in London.«
»Wofür?« Finch hatte einen Verdacht. Wenn er zutraf, war die Welt noch schlechter als gedacht.
»Jetzt komm schon!«
»Wofür?«
»Finch, ich bin sicher, dass niemand deine Kapriolen in der letzten Zeit ertragen hätte! Glaub mir, das hätte keiner getan! Du schuldest mir etwas.«
»Das ist mies!«
»Das ist Politik. Ich habe mir diesen Scheiß nicht ausgedacht … Mach es mir nicht so schwer. Das Mistding trägt den Namen unserer Stadt … Sie wollen, dass jemand von unserem Verein bei ihrer großen Show dabei ist, und man hat extra nach dir gefragt. Verdammt, es geht um deinen Vater, es ist doch klar, dass die dich wollen. Lass mich nicht hängen!«
»Wann?«
»Wann wohl? Bist du gerade aus einer Höhle auf dem Mars gekrochen? Morgen natürlich! Der Empfang dauert nur zwei Stunden … mehr nicht. Versprochen.«
»Ich komme …« Finch trank den Tee in einem Zug aus, drückte, um zu bezahlen, seinen Daumen auf einen im Tisch integrierten Reader und stand auf. Er beendete das Gespräch. Der Kensington-Mörder war ein von Gott verlassener Dämon, morgen würde er aber dem Teufel persönlich, seinem Vater, die Hand schütteln müssen.
Die Reise nach London war ohne Probleme verlaufen. Finch hatte die letzte Nacht in seinem Apartment verbracht. Geschlafen hatte er wenig. Nachgedacht dafür umso mehr. Niemand konnte vor seiner Vergangenheit weglaufen. Weder der Kensington-Mörder noch er selbst. Daran erinnerte ihn nicht zuletzt das gigantische Raumschiff, das, in geringer Höhe schwebend, die halbe Stadt verdunkelte. Die USS London, das erste Schiff der neuen Spread-Klasse, in dessen Namen amerikanische Überheblichkeit und europäische Naivität weiterlebten.
Finch hatte sich noch nie für Naturwissenschaften interessiert, deswegen war es ihm auch egal, warum dieser zigarrenförmige, Millionen Tonnen schwere Schrotthaufen nicht in die Themse fiel. Antimaterie, Gravitation, Impulskondensatoren, Computer, der ganze Scheiß eben, von dem er keine Ahnung hatte.
»Sir.« Eine junge Uniformierte baute sich respektvoll vor ihm auf. An der weißen Uniform der vereinigten Space Force war kein Staubkörnchen zu sehen. Ob sie wusste, was sie tat? Finch schätzte sie auf Anfang zwanzig. Ein First-Lieutenant, der allein dafür abgestellt war, damit sich solche Idioten wie er nicht verliefen. Links und rechts standen zahlreiche Security-Leute im Korridor.
»Ja.« Finch nickte.
»Sie werden erwartet. Bitte folgen Sie mir.«
»Natürlich.«
»Ich habe die Order, Sie zu briefen. Sie vertreten die Stadt London, bei dem Empfang werden Sie gemeinsam mit dem Premierminister, dem Präsidenten der UN und Professor Dr. Dr. Harper die Besatzung der USS London verabschieden.«
»Wer hat das Kommando?«
»General Mellenbeck.«
»Kenne ich nicht …«
»Er wird von Colonel Dr. Jazmin Harper begleitet.«
Er nickte. Sie kannte er dafür umso besser. Es war beachtlich, was aus der Kleinen geworden war. Sie war in so vielen Dingen besser als Finch. Dass sie jetzt von ihrem Vater ins Weltall geschossen wurde, war überraschend. Aber der Professor, dieses Monster, hatte Übung darin, seine Kinder an die Verdammnis zu verfüttern.
»Bitte, nach Ihnen.« Der First-Lieutenant öffnete ihm die Tür. Im nächsten Abschnitt eines historischen Korridors im Buckinghampalast standen zwei ältere Personen zusammen. Einer davon war der Premierminister, ein zierlicher Mann mit schmalen Händen, einem schmalen Gesicht und scharfem Blick. Den Präsidenten der UN konnte man zweifelsfrei als den mächtigsten Mann der Welt bezeichnen. Er war erst letztes Jahr wiedergewählt worden und sah aus wie ein dunkelhäutiger, grauhaariger Weihnachtsmann, dem es auch gelungen wäre, das Wahlvolk davon zu überzeugen, sich die Haare rot zu färben und ums Lagerfeuer zu tanzen.
»Schön, Sie wiederzusehen.« Der Premierminister kam mit einem Lächeln auf ihn zu. »Es ist wichtig, dass Sie heute hier sind, und gut, Sie in unseren Reihen zu wissen.«
»Ja, Sir.« Finch wollte es nur hinter sich bringen.
»Darf ich Ihnen den Präsidenten der UN vorstellen?«
»Sir, es ist mir eine Ehre.«
»Die Freude liegt ganz auf meiner Seite. Sie haben eine beachtliche Familie.«
»In der Tat.« Die hatte Finch. Der Intellekt lag ihnen allen in den Genen. Leider waren seine Geschwister und er allerdings zu dumm gewesen, ihren Vater aufzuhalten. Das hätte von wirklicher Größe gezeugt. »Ich bin stolz auf meine Familie.«
»Natürlich …« Der Premierminister ging als Hausherr voran. Zwei Securities in historischen Uniformen öffneten die Tür zu einem Ballsaal. Das Licht blendete. Alles war voller Menschen. Die Augen der Welt lagen auf ihnen. Diese Publicity würde ihm die Arbeit als Ermittler zukünftig nicht gerade erleichtern. Die Idee, gerade ihn als Vertreter für die Polizeibehörden der Stadt London antanzen zu lassen, war bescheuert und nicht wirklich nachvollziehbar. Es konnte nur ein expliziter Wunsch seines Vaters gewesen sein, der Öffentlichkeit wieder einmal seinen ältesten Sohn vorzuführen.
Vor einer Bühne warteten ein Mann im Rollstuhl und zahlreiche Personenschützer auf sie. Umgeben wurden sie von unzähligen Menschen, die den berühmten Wissenschaftler wenigstens einmal im Leben aus der Nähe sehen wollten. Die Bodyguards achteten allerdings darauf, dass niemand zu nah an ihn herankam. Auf Finch wirkte die Situation merkwürdig, die hätten anstelle seines Vaters, der sich kaum noch bewegen konnte, auch eine Puppe in den Rollstuhl setzen können.
Neben seinem umjubelten Vater standen ein hochdekorierter Offizier und Jazmin Harper. Seine kleine Schwester. Auch sie trug Uniform. Finch räusperte sich. Es war eine Weile her, dass er sie das letzte Mal gesehen hatte. Sie war dreizehn Jahre jünger als er. Damals war sie noch ein Kind gewesen.
Finch sah sich um. Überall waren die Stimmen der Zuschauer zu hören. Einige redeten über ihn. Natürlich wussten sie, wer er war. Wie bei Moses, der das Rote Meer teilte, machte man seinen prominenten Begleitern und ihm Platz.
»Professor Harper, es ist mir eine große Ehre, Sie heute begrüßen zu dürfen«, sagte der Premierminister. Finch hörte seine devote Stimme. Er mochte dieses dämliche Getue nicht. Sein Vater war auch nur ein Mensch.
»Premierminister, die Ehre ist ganz meinerseits«, antwortete eine synthetische Stimme. Der Professor konnte nicht mehr sprechen. Er war bereits 117 Jahre alt, dieser Mistkerl starb einfach nicht. »Und Sie verstehen es durchaus, mich zu überraschen.«
Finch spürte seinen Blick auf sich ruhen. Wie früher wog diese Last schwer.
»Er arbeitet für die Londoner Polizei.«
»Atticus Finch Harper … ich freue mich, dich zu sehen.« Kaum zu fassen, dem alten Mann liefen Tränen die Wangen herab. Was für ein verdammter Heuchler, dachte Finch und lächelte.
»Hallo, Vater.« Finch stellte sich vor, seinem Vater genüsslich ein Glas Champagner über den Kopf zu schütten. Das würde seine Laune heben, leider aber auch seine Karriere bei der Polizei beenden. Deshalb nahm er den edlen Tropfen, der ihm gerade von einem Kellner angeboten wurde, um mit den anderen anzustoßen.
Jazmin kam einen Schritt auf ihn zu. »Schön, dass du gekommen bist, gut siehst du aus.« Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange. Das waren sogar zwei Lügen in einem Satz.
»Sir, da Sie heute Ihre Tochter verabschieden müssen, dachte ich mir, dass Ihnen eine Begegnung mit zweien Ihrer drei Kinder zusagen würde. Major Dr. Maximilian Harper ist leider verhindert … Er ist in Boston und bereitet sich selbst auf den Start seines Raumschiffs vor«, erklärte der Premierminister.
Finch nickte. Vater war in seinem Leben siebenmal verheiratet gewesen. Finch war das Ergebnis der zweiten Ehe, Jazmin und Max der fünften. Ihre Mutter war die einzige dunkelhäutige Partnerin seines Vaters gewesen. Aktuell sorgte Ehefrau Nummer sieben für ihn. Die Frau war sogar jünger als Finch, hatte aber den Vorteil, seinem Vater, wenn er nervte, den Sprachcomputer abschalten zu können.