Cover

Sharon Osbourne

Rache

Zwei Schwestern. Ein Traum. Die Stärkere gewinnt.

Aus dem Englischen
von Kerstin Winter

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Sharon Osbourne

Sharon Osbourne wurde 1952 in London geboren. Sie ist verheiratet mit der Rocklegende Ozzy Osbourne und hat drei Kinder. Sharon Osbourne lebt in Los Angeles und Buckinghamshire.

Impressum

Die englische Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel »Revenge« bei Sphere Books, London.

 

 

 

»Rache« erschien 2011 bei Knaur Verlag.

 

 

Copyright © 2014 der eBook-Ausgabe by feelings – emotional eBooks

Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München

Copyright © 2011 für die deutschsprachige Ausgabe bei Knaur Verlag

Copyright © 2010 by Sharon Osbourne

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf - auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Redaktion: Ilse Wagner

Übersetzerin: Kerstin Winter

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung: FinePic®, München

ISBN 978-3-426-43326-3

Prolog

Kurz bevor Amber ihre Schwester ohrfeigte, schloss sie für einen Moment die Augen. Sie wusste, dass sie es weit mehr genießen würde, als sie sollte.

»Also los, Amber«, sagte Chelsea und kam auf sie zu. »Sag, was du zu sagen hast, damit wir es endlich hinter uns bringen können.«

Und so standen sie sich gegenüber, die Stone-Schwestern: schön, talentiert, berühmt … und so unterschiedlich wie Tag und Nacht.

Chelsea mit den atemberaubenden Kurven, dem dicken, schwarzen Haar, der milchigen Haut und den außergewöhnlichen dunkelblauen Augen, die von dichten Wimpern umrahmt waren. Sie besaß die Schönheit einer klassischen Hollywood-Diva und war außerdem eine der besten Schauspielerinnen ihrer Zeit. Doch das Talent hatte auch Probleme mit sich gebracht: Mit ihren neunundzwanzig Jahren hatte Chelsea wahrscheinlich schon mehr erlebt als die meisten anderen Menschen in einem ganzen Leben.

Und ihre kleine Schwester Amber, der Liebling Amerikas, obwohl sie aus Weybridge, Surrey, in England stammte. Herzförmiges Gesicht, grüne Augen wie die ihrer Mutter und bernsteinfarbenes Haar – es war einer der für ihr Leben so typischen Glücksfälle, dass man sie auf einen Namen getauft hatte, der ihrer Haarfarbe entsprechen würde. Amber war bereits eine berühmte, erfolgreiche Popmusikerin gewesen, bevor ihre Filmkarriere begonnen hatte: Nach drei Platin-Alben war eine ganze Serie an Kinoblockbustern gefolgt. Die Männer waren in sie verliebt, die Frauen wollten so sein wie sie. Ihre Stimme war wie Samt: weich, unschuldig, rein, verwundbar … und durchzogen mit unterschwelligem, atemlosem Sex.

Ihr ganzes Leben lang hatten die Stone-Schwestern ehrgeizig ihre Träume verfolgt. Und nun zeigte sich, dass es an der Spitze nur Platz für eine gab.

»Weißt du überhaupt, wer du bist?«, fragte Chelsea. »Ich meine, hast du auch nur eine Ahnung? Du hast doch keinen Fetzen eigene Persönlichkeit, Amber. Du bist« – sie machte eine wegwerfende Geste – »nichts als ein Kunstprodukt! Wenn du interviewt wirst und lächelst und nickst, wirkst du so leer geräumt, als hättest du ›Zu verkaufen‹ auf der Stirn stehen.«

»Du kennst mich doch gar nicht«, sagte Amber. Tränen brannten in ihren Augen. »Also verschwinde endlich aus meinem Leben.«

»Ich kenne dich gar nicht?«, äffte Chelsea sie nach. »Was ist dein Lieblingsfilm? Dein Lieblingsessen? Lieblingslied oder -farbe? Du hast nicht die geringste Ahnung, wer du bist. Du und dein ›Ach-was-bin-ich-süß‹-Gehabe. Damit führst du vielleicht die halbe Welt hinters Licht, aber nicht mich. Seit wir klein waren, hat Mum dir gesagt, was du tun und lassen sollst, du selbst hast nie so etwas wie eine eigene Persönlichkeit entwickelt. Du bist nur ein Abziehbild, eine Anziehpuppe, du bist das geworden, was Mum aus dir machen wollte.«

»Das ist nicht wahr.« Amber biss die Zähne zusammen. Niemand kannte ihr wahres Ich, Chelsea am allerwenigsten.

»Oh, doch, und ob es wahr ist, Amber. Du bist Mums Marionette. Sie entwirft deine Klamotten, deine Frisuren, dein Make-up, sagt dir, mit wem du dich verabreden sollst – sie sucht ja sogar die Filmrollen für dich aus. Was will Amber denn eigentlich? Wer, zum Teufel, bist du?«

Zu viel war zu viel. Amber hatte genug. Sie holte aus und schlug ihrer Schwester so hart ins Gesicht, dass Chelseas Halswirbelsäule knackte, als ihr Kopf zur Seite gerissen wurde.

»Jetzt weißt du, wer ich bin«, sagte sie. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie die Augen wieder öffnete. Gott, es fühlte sich so gut an, diesem Miststück das selbstzufriedene Grinsen aus der Visage zu schlagen.

Chelsea presste sich eine Hand auf die Wange, die zu glühen begann. »Verpiss dich.«

»Nein«, erwiderte Amber, »verpiss du dich, du neidisches Biest. Du willst mein Leben zerstören.«

Die beiden waren allein in der mit Marmor verkleideten Eingangshalle der Villa in Beverly Hills. Der Abend brach herein, und der Himmel färbte sich scharlachrot. Sanft wiegten sich die Palmen im warmen Santa-Ana-Wind.

»Ich will dein Leben nicht zerstören«, sagte Chelsea leise. »Wir sind Schwestern. Du weißt, dass ich das niemals versuchen würde. Ich liebe dich, Amber.«

Einen flüchtigen Augenblick lang erinnerte Amber sich an die alten Zeiten. Kaum zu glauben, dass sie sich einst so nahegestanden hatten, wie es nur bei Schwestern möglich war. Sie dachte an ihre Kindheit in Weybridge zurück, an die Abende, an denen sie gewartet hatten, bis ihre Eltern ins Bett gegangen waren, um dann abwechselnd ins Zimmer der anderen zu huschen, die halbe Nacht zu plappern und zu kichern, zusammen zu singen und sich auszumalen, wie es eines Tages werden würde, wenn sie erwachsen und berühmt sein und in Hollywood leben würden.

Nun, ihre Träume hatten sich erfüllt. Sie waren in Hollywood, beide. Aber was war geschehen? Wie war es zu dieser Konfrontation gekommen, obwohl doch alles eigentlich gut und richtig hätte sein müssen? Gab es für die Stone-Schwestern keinen Weg zurück?

Amber holte tief Luft und musterte ihre Schwester. Dachte an all die schönen und schrecklichen Momente, die sie miteinander erlebt hatten, dachte daran, was sie dorthin geführt hatte, wo sie nun waren.

»Du kannst mich mal«, sagte sie und verließ das Haus.

Erster Teil

KILLER QUEEN

1

London, 1976

Sie hatte es geschafft. Sie war endlich und tatsächlich angekommen.

»Und ich werde ein Star«, flüsterte Margaret Michaels, als sie zu den Lichtern von Piccadilly Circus emporblickte. »Oh ja. Und niemand wird mich daran hindern.«

Sie schauderte in der kühlen Septemberluft und verzog beim Klang ihres nordenglischen Akzents angewidert das Gesicht. Obwohl Margaret erst sechzehn Jahre alt war, nahm sie schon seit einem Jahr Sprechunterricht, um wie ihr Idol Julie Christie zu klingen. Und nun war sie endlich hier, in London, ganz allein und wild entschlossen, ihren Traum wahr zu machen.

Denn seit sie klein war, hatte sie immer nur das eine sein wollen: ein Star.

 

Im Alter von zwölf Jahren teilte Margaret ihren Eltern mit, dass sie von nun an nur noch auf den Namen Maggie hören würde. Mit dreizehn begann sie, ihr Taschengeld zu sparen. Als sie vierzehn geworden war, verschaffte sie sich einen Job bei Toni’s, dem Friseur, der sich nicht weit von der schäbigen Nebenstraße Sheffields befand, in der das kleine Reihenhaus ihrer Eltern stand. Der Fußweg dorthin dauerte nur zehn Minuten, doch es war, als beträte man eine ganz andere Welt – eine magische Welt, die nichts mit rostigen Stahlwerken, müden Männern und Frauen, Streiks und Depressionen zu tun hatte. Toni’s bedeutete Glitzer und Glamour, bedeutete magere Mädchen, die wie Glenda Jackson aussahen, köstliche Düfte nach Haarspray und Parfums, bedeutete das Versprechen auf Starruhm und Flucht aus dem Mief und der Enge der Kleinstadt.

Maggie fegte den Boden, kochte Tee und Kaffee, wusch Haare und beobachtete, wie mausgraue, scheue Hausfrauen mit mattem, farblosem Haar den Salon betraten und ihn mit strahlendem Gesicht, leuchtenden Augen und nach Elnett duftend wieder verließen. Maggie sah zu, hörte zu und lernte. Sie hätte umsonst gearbeitet, nur um sich in dieser Zauberwelt bewegen zu dürfen, aber der Wochenlohn von einem Pfund war auch nicht zu verachten. Damit war es ihr möglich, Sprechunterricht zu nehmen und sich bei Castle House, dem schicken Kaufhaus in der Innenstadt, die neue Handtasche, Lidschatten und Parfum zu kaufen.

»Komm mir ja nicht auf dumme Ideen, junge Dame«, sagte Ron Michaels nicht nur ein Mal. »Schämst du dich deines Vaters, Margaret? Ist es das? Ist Sheffield nicht mehr gut genug für dich?«

»Nein, Dad, natürlich nicht«, antwortete Maggie jedes Mal brav. Aber sie log. Sheffield war alles andere als gut genug für sie. Sie war etwas Besonderes, und sie würde etwas daraus machen, auch wenn sie nicht wusste, was und wie. Ihr Vater war Stahlarbeiter und ihre Mum … na ja, mit ihrer Mum stimmte irgendetwas nicht, aber keiner wusste so genau, was. Sie lag die meiste Zeit im Bett und fürchtete sich vor ihrem Mann, ihrem eigenen Spiegelbild und zunehmend auch vor ihrer eigensinnigen, wunderschönen, einzigen Tochter, die, zumindest was Maureen Michaels betraf, von einem fremden Planeten zu stammen schien. Es war, als habe ein außerirdisches Volk sie auf ihrer Schwelle ausgesetzt, auf dass sie im Laufe der Jahre zu diesem befremdlichen, ätherischen Wesen mit endlos langen Beinen, rotblonder Mähne, makelloser Haut und riesigen grünen Augen heranwuchs, die vor Zorn blitzen und vor Freude funkeln konnten.

Nein, Sheffield war nicht groß genug für Maggie, und als sie in die Pubertät kam, wuchs ihre Gewissheit, dass sie nicht hierhergehörte: Maggie war entschlossen, nach London zu gehen, um ihre Träume wahr zu machen. Die Mädchen in der Schule hassten sie. Sie waren überzeugt, dass Maggie sich mit ihrer gestelzten Sprache, ihrem hochnäsigen Tonfall und den piekfeinen Manieren für etwas Besseres hielt, und Maggie war es nur recht, denn sie konnte mit den anderen ohnehin nichts anfangen. Es waren pickelige ungepflegte Bauerntrampel, die heimlich auf dem Schulklo rauchten und für dumme Jungen wie Showaddywaddy oder Bay City Rollers schwärmten – jämmerlich!

Sie dagegen stand auf erwachsene Musik. Gereifte Musik. Die Stones, Dusty, Jimi. Sie liebte die kluge Eingängigkeit von Queen, die Coolness von Bad Company, den schmutzigen Touch und die rohe Energie von Led Zeppelin. Das war Musik. Musik, die ins Blut ging. Wenn sie »Can’t get enough«, »Jumpin’ Jack Flash« oder »Killer Queen« hörte, fühlte sie sich wie eine Frau. Wer, zum Teufel, wollte schon ein paar Milchbärte hören, die »Bye Bye Baby« trällerten?

Das waren Jungs. Maggie wollte Männer.

Auch die Jungen aus dem Ort interessierten sie nicht. Natürlich waren sie scharf auf dieses Mädchen mit der Haut wie Sahne, den knospenden, festen Brüsten und den vollen dunkelroten Lippen, über die sie sich unbewusst immer wieder mit der Zungenspitze fuhr. Aber Maggie hatte nichts als Verachtung für sie übrig: die Mitesser, die linkischen Gesten, die hüpfenden Adamsäpfel und ihre glotzäugigen Blicke, die sie an Kaninchen im Scheinwerferlicht erinnerten.

Von der Schule ging Maggie meistens allein nach Hause und kümmerte sich weder um die Mädchen, die vor ihr herhüpften, noch um die Jungen, die in ihrer Nähe herumlungerten, Dosen über die Straße traten und ihr begehrliche Blicke zuwarfen. War sie einsam, wenn sie an ihnen vorbeischwebte und ihr Haar nach hinten warf? Oh nein, das war sie nicht. Maggie bewegte sich nach ihrem eigenen Soundtrack. Wenn sie durch den Park nach Hause ging, war sie Julie Christie, die zu einer Verabredung mit Terence Stamp unterwegs war, Faye Dunaway an der Seite von Warren Beatty, Anita Pallenberg mit der Zigarette zwischen den Lippen. Dies war die Musik, die in ihrem Kopf spielte, die Begleitmusik für den Film ihres Lebens, der bald zur Realität werden würde, dessen war sie sich ganz sicher …

Im September 1976, zwei Monate nach ihrem sechzehnten Geburtstag, erkannte Maggie, dass es in Sheffield für sie endgültig nichts mehr zu holen gab. Sie erklärte den Mädchen bei Toni’s, dass sie nach London gehen würde. »Um berühmt zu werden«, fügte sie hinzu, und dort war man so beeindruckt, so fasziniert von der ruhigen, kleinen Maggie Michaels, dass die Friseurmeisterin ihr am letzten Tag kostenlos Strähnchen ins Haar machte. »Sieh es als Abschiedsgeschenk«, sagte sie, während sie Maggie die badekappenähnliche Haube über den Kopf stülpte und Strähne um Strähne durch die Löcher zog. »Als etwas, das dir ein Stückchen weiterhilft.« Maggie lächelte ihrem Spiegelbild verunsichert zu. »Nicht, dass du es nötig hättest«, fügte Janine hinzu. »Wirklich nicht.«

Und so winkten sie ihr, als sie nach Feierabend davonzog und ihr rotblondes, nun mit karamellfarbenen Strähnen durchzogenes Haar im Abendwind flatterte. Danielle, die Salonbesitzerin, hatte ihr eine Flasche Quiktan in die Hand gedrückt. »Das Zeug stinkt erbärmlich«, hatte sie gesagt, »und macht Streifen, wenn du es nicht sorgfältig aufträgst. Aber es lohnt sich. Verschafft dir die typische Kalifornien-Bräune und hebt dich von den anderen Mädels ab. Viel Glück, Schätzchen. Melde dich mal. Und denk an uns, wenn du ein Star bist.«

 

Fast sehnsüchtig dachte Maggie nun, da sie sich fröstelnd die Arme um den Oberkörper schlang, an sie zurück. Sie war müde und hungrig, hatte aber keine große Lust, wieder in die Herberge um die Ecke von der Victoria Coach Station, dem zentralen Busbahnhof, zu gehen, wo sie sich ein Zimmer genommen hatte. Komisch – die ganze Gegend hier um die Buckingham Palace Road klang so sehr nach Ruhm und Adel, doch hier war nichts königlich. Im Gegenteil: Die Gegend war dreckig, die Herberge feucht und schimmelig, und sie war sicher, dass es in dem Haus Mäuse gab. Maggie mochte Sauberkeit und Ordnung, und einen Moment lang wünschte sie sich sehnlichst zurück nach Hause in die warme Vertrautheit der Küche, wo ihr Vater in seinen Arbeitskleidern am Tisch sitzen und Zeitung lesen würde, während ihre Mutter Tee machte. Das tat sie jeden Nachmittag, dafür stand sie sogar auf, aber das war auch alles, was sie tat, soweit Maggie es beurteilen konnte. Was würden ihre Eltern wohl sagen, wenn sie ihren Brief fanden und sich klarmachten, dass Maggie nicht zurückkommen würde?

 

Liebe Mom, lieber Dad,

ich bin nach London gefahren. Ihr wisst, dass ich nicht nach Sheffield passe. Ich will mehr aus meinem Leben machen. Ich will berühmt werden. Macht Euch keine Sorgen um mich. Ich schaffe das schon.

Ich melde mich bald.

Eure Euch liebende Tochter Maggie

 

Würden sie entsetzt sein? Traurig? Wütend? Plötzlich erschrak sie bei dem Gedanken, wie zornig ihr Vater werden konnte. Was hatte sie getan? Aber … nein! Sie hatte einen Grund gehabt, Sheffield zu verlassen, und sie würde unter keinen Umständen zurückkehren.

Es war nun fast dunkel. Die Lichter am Piccadilly schienen heller denn je. Maggie zog ihren dünnen camelfarbenen Mantel enger um sich und machte sich auf den Weg zur U-Bahn-Station, um nach Victoria zurückzukehren. Hoffentlich würde sie nicht wieder die falsche Bahn nehmen wie auf dem Hinweg. Während sie die Treppe hinabging, warf sie einen letzten Blick durch das Geländer hinauf zu dem berühmten Platz, sah das leuchtende Rot der Coca-Cola-Reklame, das Gelb des SKOL-Banners und das Max-Faktor-Logo. Die Lichter Piccadillys besaßen hypnotische Kraft, die Atmosphäre berauschte. Maggie wusste, dass sie hierhergehörte. Und niemand würde sie daran hindern, ihren Platz zu behaupten.

2

Camilla?« Nichts. Maggie seufzte und stemmte die Hände in die Hüften.

»Camilla? Bist du da?«

Sie hatte sie in der Nacht nicht kommen hören, also war sie vielleicht wirklich nicht da, aber Maggie hatte sich schon öfter getäuscht. Sich zu zweit eine winzige, schmutzige Zweizimmerwohnung zu teilen war schlimm genug, aber wenn die Bewohnerin, die im Wohnzimmer schlief, es mit Vorliebe splitternackt und bis Mittag trieb, bedeutete das eine zusätzliche Einschränkung. Maggie musste sich eingestehen, dass Oberschicht-Töchter sie verunsicherten.

Sie klopfte höflich und sah auf die Uhr. Sie würde zu spät zum Vorsprechen kommen. Entschlossen öffnete sie die Tür.

Es war übler, als sie erwartet hatte.

»Camilla!«, brüllte Maggie. »Wie kannst du …«

In der vergangenen Nacht war sie so müde gewesen, dass sie weder Camilla noch den bärtigen Kerl gehört hatte, der ebenfalls nackt neben ihr auf der Ausziehcouch schlief. Zwei Kondome lagen auf der Decke mit Ethnomuster, das eine zerknautscht, das andere in voller Länge. Sie konnte sogar das Sperma im Reservoir sehen.

Bis vor zwei Monaten hatte Maggie noch nie einen anderen Menschen nackt gesehen und Kondome nur vom Hörensagen gekannt, aber das Leben mit Camilla hatte das ziemlich schnell geändert. Bis vor zwei Monaten hätte Maggie sich auch nicht vorstellen können, ins Bett zu gehen, ohne Geschirr abgewaschen zu haben, oder so viel zu trinken, wie Camilla es tat, aber da sie befürchtete, dass man sie für bieder und spießig halten könnte, biss sie sich öfter auf die Lippe, als sie es je für möglich gehalten hätte.

Camilla Sherbourne sagte oft und gerne, dass sie und Maggie doch vom gleichen Schlag seien: zwei Mädchen, die aus der Enge ihres Zuhauses in die hellen Lichter der Großstadt geflohen waren.

»Wir sind hier, um zu leben, meine Liebe«, fügte sie dann hinzu, leckte sich über ihren Rosenknospenmund, legte Maggie einen Arm um die Schultern und drückte sie an sich.

Doch in Wirklichkeit hatten sie beide praktisch nichts gemein, wie Maggie sehr wohl wusste. Camilla war die Tochter eines reichen Geschäftsmannes aus Hertfordshire. Ihre Eltern glaubten, dass sie in Chelsea lebte und einen Sekretärinnen-Kursus besuchte. Stolz darauf, dass Camilla so eigenständig war und ihre Miete selbst zu bezahlen versuchte – angeblich wohnte sie am hübschen Onslow Square –, schickten sie ihr regelmäßig Geld, damit ihre liebe, schwer arbeitende Tochter ab und zu mit Freunden essen oder zu Konzerten gehen konnte … Wenn sie gewusst hätten! Camilla war noch nie in dieser Wohnung gewesen. Sie verschleuderte das Geld für Marihuana, LPs, Clubbesuche, und Gott allein wusste, wofür noch. Und sie zahlte die Hälfte der Miete für die Absteige in der Hopkin Road im übelsten Teil von Shepherd’s Bush. Die möblierten Zimmer und winzigen Wohnungen in der schmalen Nebenstraße, in die praktisch nie Licht zu dringen schien, waren vollgestopft mit gescheiterten Existenzen und hoffnungsvollen Neuankömmlingen. Maggie wohnte hier, weil sie es sich anderswo nicht leisten konnte.

Ein findiger Vermieter hatte eine der größeren Einzimmerwohnungen einfach geteilt, daher schlief Maggie nun in einem engen Kämmerchen, in das gerade ein Bett und eine Kommode passten. Die Kleiderstange reichte für die wenigen Sachen, die Maggie besaß. Der winzige Schlitz von Fenster ging auf eine rote Ziegelmauer hinaus, die niemals Licht sah. Camilla schlief im »Wohnzimmer«, das etwas größer war, ein echtes Fenster besaß und mit einer kleinen Theke von der Küche abgetrennt war. Das war’s. Zu Anfang – vielleicht sogar einen ganzen Abend lang – hatte Maggie es originell und witzig gefunden. Aber schon bald darauf verabscheute sie es.

»Sorry, Schätzchen.« Camilla sah zu ihr auf. Ihr blondes Haar hing ihr ins Gesicht, und ihre Augen wirkten riesig, als sei sie noch immer betrunken oder high oder beides. Ihr Blick huschte zu der Gestalt neben ihr. »Das ist …« Sie brach ab, dann kicherte sie. Genüsslich streckte sie die Arme über den Kopf und zeigte ihre Achselhaare, die sie stolz wuchern ließ. »Oh, Shit. Keith. Maggie, Schätzchen, sag hi zu Keith.«

»Hey«, sagte der Bärtige. Er drehte den Kopf, bis er Maggie richtig sehen konnte, und musterte sie eingehend. »Hey, Maggie. Freut mich.«

Maggie stieg vorsichtig über eine leere, mit Bast umhüllte Weinflasche. »Hi. Ich muss los. Ich bin spät dran.« Angewidert ließ sie ihren Blick über das Wohnzimmer gleiten.

»Ich räume gleich auf, Schätzchen, versprochen. Tut mir echt leid.« Camilla fuhr sich mit den Händen durchs Haar. »Sehen wir uns nachher?«

Sie griff hinüber zum vollen Aschenbecher und zündete sich einen Zigarettenstummel an, dann setzte sie sich auf und streckte sich genüsslich. Ihre großen schweren Brüste bewegten sich, als sie den Kopf von links nach rechts drehte. Keith sah wohlwollend zu.

Maggie schwieg. Eines Tages würde sie ihre eigene Wohnung haben, und diese Wohnung würde tadellos sauber und aufgeräumt sein – ein Palast verglichen mit der Hopkin Road. Sie stieg über die mottenzerfressene Matratze und ging hinaus, vorbei an den speckigen Sesseln in Braunorange, an der feuchten, schimmelnden Küche, wo noch das schmutzige Geschirr stand, das Camilla bei ihrer Party vor vier Tagen benutzt hatte, und zog blinzelnd die Tür hinter sich zu. Sie würde niemals jemanden mit hierherbringen. Nicht, dass sie hier in London viele Bekannte gehabt hätte, aber sie hätte sich ohnehin zu sehr für ihre Behausung geschämt.

Camilla fand es anscheinend lustig, in dieser Absteige zu wohnen, sich nicht zu rasieren, benutzte Teller stehen zu lassen, den ganzen Tag kiffend im Bett zu verbringen und »zu leben«, wie sie es nannte. Aber Maggie musste Arbeit finden, und nach zwei Monaten vergeblicher Suche begann sie sich zu fragen, ob das jemals geschehen würde.

 

London war ganz und gar nicht das, was Maggie sich vorgestellt hatte. Sie war zu fast jedem Vorsprechen gegangen, von dem sie gelesen oder gehört hatte, und inzwischen konnte sie nur noch den Kopf darüber schütteln, wie naiv sie anfangs gewesen war. Mittlerweile musste sie sich eingestehen, dass sie entweder nicht urban genug oder aber zu prüde war. Nicht nur ein Mal dachte sie verbittert, dass Camilla an ihrer Stelle keine solchen Probleme gehabt hätte.

Endlose Vorsprechen. Vorsprechen im Royal Court oder in winzigen Kellertheatern, wo angeblich Leute für Stücke über das »wahre Leben« gesucht wurden, in denen aber tatsächlich über die Universität, Shakespeare und Politik gesprochen wurde. Maggie wusste, dass sie spielen konnte – das war Fakt. Und sie konnte singen. Sie sang für ihr Leben gerne, so gerne sogar, dass sie sich ständig zurückhalten musste, wenn sie, einen Soundtrack im Kopf, durch die Straßen ging. Doch das Feedback war immer dasselbe. »Hübsches Ding, aber sie hat’s einfach nicht«, hörte sie einmal einen Regisseur herablassend sagen, als sie durch die leeren Reihen des Theaters hinausschlüpfte.

Wäre sie überhaupt nach London gekommen, wenn sie gewusst hätte, was sie inzwischen begriffen hatte? Sie war sich nicht mehr sicher. Mit Grauen dachte sie an ihre erste Woche in der Stadt zurück, als sie zum Casting für die Neubesetzung der nächsten Saison für Hair gegangen war. Sie hatte wie angewurzelt im überfüllten Probenraum gestanden und nicht wahrhaben wollen, dass sie sich tatsächlich ausziehen sollte. Mittlerweile hatte sie sich daran gewöhnt. Und das Vorsprechen für Hair war vergleichsweise harmlos gewesen; meistens verlangte man von ihr Dinge, die sie ganz sicher nicht tun wollte. Sie war bei Castings für »Musicals« gewesen, die sich als simple Stripshows erwiesen und bei denen der Regisseur beiläufig sagte: »Oh, zieh doch einfach dein Oberteil ein bisschen runter, Herzchen.« Oder das Vorsprechen für den Werbespot für Hühneraugenpflaster: »Liebes, leck dir mal über die Lippen – ja, genau so. Mach den Mund ein Stück weiter auf, als ob du … Und jetzt die Lippen schürzen. Toll machst du das.«

Hin und wieder bekam sie bezahlte Jobs – wenn man es so nennen konnte. Zum Beispiel bei einer Automesse, wo sie zur Präsentation des neuen Modells von Rover lächelnd neben einem fetten Geschäftsmann stand, der ihr hartnäckig den Hintern tätschelte. Oder als Hostess bei einem großen Abendessen einer Pharmafirma im Grosvenor House Hotel, wo sie mit anderen Mädchen in roten Seidenkleidern die Gäste – die männlichen Gäste – begrüßte und zu ihren Plätzen brachte. Das war noch der beste Job gewesen.

Ihre Träume schrumpften tagtäglich ein Stück weiter zusammen. Vor zwei Monaten war sie noch davon ausgegangen, dass sie auf dem direkten Weg zu einer Hauptrolle an der Seite von Robert Redford war – sie musste sich einfach nur entdecken lassen. Jetzt konnte sie darüber nur noch lachen. Heute hatte sie wieder ein Vorsprechen für eine kleine Nebenrolle in der Krimiserie Die Füchse – eine siebzehnjährige Ausreißerin aus dem Norden, die auf den Straßen Londons strandete. Wenn sie sich diese Rolle nicht an Land ziehen konnte, welche Hoffnung blieb ihr dann noch?

Während sie in der blassen Novembersonne über das rissige Straßenpflaster auf die U-Bahn-Station zuging, straffte Maggie die Schultern. Das Casting fand in Soho statt, und Magie liebte dieses chaotische, halbseidene Viertel, obwohl sie nicht hätte sagen können, warum. Vielleicht war ja heute der Tag, der alles ändern würde. Ja, bestimmt. Sie holte tief Luft und ignorierte den Gestank von Hundekot und Abgasen. Heute wollte sie nur Sonnenschein wahrnehmen. Unwillkürlich blickte sie auf ihre leicht streifigen, aber – wie sie hoffte – einigermaßen natürlich gebräunt aussehenden Hände. Sie hatte am vergangenen Abend zum ersten Mal Quiktan aufgetragen, und nun war ihr Betttuch voller gelblicher Flecken, so dass sie es heute noch einmal würde waschen müssen.

Aber das alles war die Mühe wert, dessen war sie sich sicher. Und es musste so sein, denn sie besaß nur noch zwanzig Pfund. Entschlossen lockerte sie ihr Haar auf und marschierte mit hocherhobenem Kopf auf die U-Bahn-Station zu.

 

»Du bist wirklich hübsch, Kleines, das ist es nicht.« Davey Carlton, der Produzent, starrte sie an wie ein Stück Fleisch. Speichel quoll aus den Mundwinkeln, während er sein Kaugummi kaute.

»Was ist es dann?«, fragte Maggie und gab sich Mühe, sich ihre Verzweiflung nicht anmerken zu lassen. Sie schob ihre Hände in die Taschen der Hotpants, die zu tragen man sie angewiesen hatte, und trat auf der kleinen Bühne des Theaters, in dem das Casting stattfand, von einem Plateauschuh auf den anderen. Hinter ihr warteten andere Mädchen auf ihre Chance, entdeckt zu werden.

»Schau, du bist ein wirklich nettes Ding«, sagte Davey und seufzte, als falle es ihm schwer, das Offenkundige aussprechen zu müssen. »Aber du hast es einfach nicht!«

»Was?« Maggie hatte diese Antwort satt. »Was ist ›es‹?«

Davey machte eine vage Geste. »Starqualität. Ich weiß nicht. Das lässt sich nicht genau definieren. Du bist wirklich nicht schlecht, glaub mir. Aber du bist eben wie alle anderen. Nichts Besonderes.« Sein Blick war nicht unfreundlich. »Verstehst du?«

Verstehst du? Maggie hätte am liebsten wütend aufgestampft. Natürlich verstand sie nicht. Und sie war auch nicht derselben Meinung. Wie konnte er all ihre Träume einfach so niedertrampeln?

»Bitte geben Sie mir noch eine …«, begann sie, doch der Mann unten im Zuschauerraum sagte schon: »Die Nächste.«

Ein blondes Mädchen in engen grünen Leinenshorts und ebenso engem gestreiftem T-Shirt, das sich über den Brüsten spannte, stolperte auf hohen Hacken auf die Bühne und lächelte strahlend. »Hi«, rief es, »ich bin Charlotte. Es ist toll, dass ich hier sein darf.«

»Nummer elf, bitte die Bühne räumen«, ertönte eine gelangweilt klingende Stimme aus dem Dunkeln. »Hi, Charlotte«, fügte sie mit etwas mehr Begeisterung hinzu.

Und so verschwand Maggie in den Kulissen und ließ den lange zurückgehaltenen Tränen endlich freien Lauf.

 

Fünf Minuten später stand sie auf der Straße. Ihre Augen brannten noch von den Tränen, aber die verhasste Shorts steckte sauber gefaltet in ihrer Tasche. Es war noch nicht einmal elf Uhr. Der Tag dehnte sich endlos vor ihr aus, und schon spürte sie das Nagen des Hungers in ihren Eingeweiden. Ihr ging das Geld aus, und da sie zu stolz war, Camilla um etwas zu bitten, hatte Maggie bereits eine Weile nicht mehr richtig gegessen. Ihr war klar, dass sie nicht mehr lange so weitermachen konnte, aber das Casting heute war der letzte Strohhalm gewesen. Sie blickte hinauf in den grauen Himmel, als es prompt zu regnen begann, und plötzlich war ihr alles zu viel. Erneut brach sie in Tränen aus und hasste sich dafür, hasste das Hungergefühl und die Einsamkeit, den Schmutz und das Elend … Aus dem Augenwinkel sah sie etwas Buntes, einen durchweichten Flyer auf dem nassen Straßenpflaster. Englandtouren im Bus warb ein Transportunternehmen.

Das musste ein Zeichen sein. Sie sollte nach Hause fahren. Schluchzer schüttelten Maggie. Nach Hause – und wo war das? Nicht in Sheffield, das stand jedenfalls fest. Sie hatte ein, zwei Mal mit ihren Eltern gesprochen und schrieb ihnen pflichtbewusst Briefe, die sie nicht beantworteten, weil es ihnen zu peinlich war, Interesse an der Tochter zu zeigen, die einfach ausgerissen war. Sheffield war kein Zuhause mehr. Aber die Hopkin Road noch weniger. Sie schniefte und fühlte sich so elend wie noch nie, seit sie nach London gekommen war.

Sie überlegte, ob sie über den Berwick Street Market gehen sollte. Die farbenprächtigen Obst- und Gemüsesorten in den Auslagen, die bunten Stoffe in den Schaufenstern und die fröhlichen Händler machten ihr stets gute Laune. Also setzte sie sich in Bewegung und versuchte, »Killer Queen« anzustimmen, um sich wieder aufzumuntern, aber es wollte nicht richtig funktionieren. Sie lief schneller. Sollten sie doch alle zum Teufel gehen, diese Mistkerle, diese snobistischen, sexistischen Chauvis. Sie würde es ihnen schon zeigen. Eines Tages wäre sie ganz oben an der Spitze, oh ja, und ob! Sie brauchte bloß eine Chance. Eine klitzekleine Chance, und dann würden sie schon …

»Hey!«

Sie hatte gerade den letzten Obststand passiert, als sie mit jemandem zusammenstieß. Es war ein großer, schlaksiger Mann mit längerem Haar, der eine schlanke Zigarre rauchte und gerade auf seine Uhr blickte.

»Huch, Vorsicht!«, rief Maggie, packte ihn, damit sie auf ihren Plateauschuhen nicht stürzte, und vergaß vorübergehend, ihren Akzent zu unterdrücken. »Tut mir echt leid.«

Dass sie sich an ihn klammerte, merkte sie erst, als er ihren Arm tätschelte und sich behutsam von ihr löste. »Macht gar nichts, Liebes. Es ist ewig her, dass mich ein junges Ding an seinen Busen gedrückt hat.« Er grinste und hielt sie fest. »Diese Schuhe da sind das Problem, denkst du nicht auch? Wieso muss ein ohnehin schon hochgewachsenes Mädchen sich mit diesen Dingern foltern?«

Maggie blickte auf die Plateaus, die gute fünf Zentimeter hoch waren, und erwiderte das Lächeln. »Keine Ahnung.«

»Hast du geweint?« Der Mann warf den Zigarillo auf die Straße. Wieder sah er auf die Uhr.

»Ein bisschen«, gab Maggie zu.

»Oje. Ich hasse es, wenn Frauen weinen«, sagte er und legte ihr einen Arm um die Schultern. »Kopf hoch, Liebes. Ich heiße Nigel.«

Er hatte einen Stich Lila im Haar, was Maggie noch nie gesehen hatte. Sie wusste inzwischen genug, um zu vermuten, dass er homosexuell war. In Sheffield gab es keine Schwulen, oder falls doch, sprach zumindest niemand darüber. Vielleicht war es das, was Maggie so besonders gerne an Soho mochte: In dieser theatralischen, schäbig-schicken Atmosphäre liefen die unterschiedlichsten Menschen herum, ohne dass jemand Anstoß daran zu nehmen schien.

»Hi. Ich heiße Maggie«, sagte sie.

»Komm, sag’s Onkel Nigel. Was ist passiert?«

»Gar nichts, das ist es ja«, sagte Maggie. »Alles geht schief.« Ihr Magen begann zu knurren und erinnerte sie wieder daran, dass sie heute exakt fünfzig Cent für etwas zu essen ausgeben konnte.

Nigel warf einen Blick die Straße hinab. »Sag mal – wie alt bist du?«

»Achtzehn«, antwortete sie automatisch. Die Lüge ging ihr inzwischen locker über die Lippen.

»Schön. Du suchst nicht zufällig einen Job, oder?«

»Oh«, machte Maggie. Wollte man sie einmal mehr zu einem Casting für Unterwäschewerbung gewinnen? »Wo denn?«

Nigel deutete mit dem Daumen hinter sich. »Hier. Im Black Horse. Sandra, meine Kellnerin, ist abgehauen. Mit den Einnahmen von gestern, die elende kleine Schlampe. Jetzt brauche ich ein neues Barmädchen, drei Abende die Woche.« Er strich sich lässig über die perfekt geformte Augenbraue und fügte hinzu: »Ein Mädchen, das mich nicht beklaut, falls das nicht zu viel verlangt ist.«

Maggie blickte durch den schwarzen Fensterrahmen, von dem die Farbe abblätterte, in einen gemütlichen Pub mit alten Schwarzweißfotos an den Wänden, Unmengen an Flaschen im Regal und eine Reihe silberner Krüge, die an Haken baumelten. »Oh«, sagte sie wieder. »Tut mir leid, aber ich bin …«

Sie brach mitten im Satz ab. Ich bin Schauspielerin, hatte sie sagen wollen, aber das hörte sich viel zu hochnäsig an. Ich habe Hunger, traf es besser. Ich muss morgen die Miete zahlen. Und ich will mich nicht ständig ausziehen müssen …

Und schließlich gewann die Vernunft, und sie blickte lächelnd zu Nigel auf. »Kann ich mal reinkommen und mich umsehen?«

»Aber sicher, Liebes«, erwiderte er und stieß die klapprige Schwingtür auf. »Willkommen im Black Horse, dem besten Pub Sohos.«

3

Obwohl Maggie es wahrscheinlich anderen gegenüber niemals zugegeben hätte, musste sie feststellen, dass es ihr tatsächlich gefiel, hinter der Bar zu stehen. Im Black Horse zu arbeiten half ihr nicht bei der Verwirklichung ihrer Träume, aber wenigstens konnte sie sich nun selbst finanzieren und hatte noch Zeit zum Vorsprechen. Niemals hätte sie geglaubt, dass sie Spaß daran haben könnte, Drinks auszuschenken, und in gewisser Hinsicht war sie entsetzt über sich selbst: War sie etwa dafür nach London gekommen?

Tatsächlich aber war der Job interessant. Die Stammgäste im Black Horse waren ein bunter, skurriler Haufen. Einige erinnerten sie an die alten Säufer, die sie aus dem Duke of York, Dads Stammlokal in Sheffield, kannte – ungewaschene Männer mit roten Nasen, denen weiße Haarbüschel aus den Ohren wuchsen. Andere wiederum waren spannende Gestalten: um ihre Existenz ringende Schauspieler in schwarzer Kleidung, die nach den Vorsprechterminen hereinkamen, um ihre Sorgen im Alkohol zu ertränken, oder vor einer Vorstellung, um das Lampenfieber runterzuspülen. Oder die um ihre Existenz ringenden Künstler, frisch von der Kunsthochschule, die über die Arbeit anderer schimpften und lamentierten, wie sehr sie die kommerziellen Möchtegernkünstler verabscheuten, die ihre Bilder an den Geländern im Hyde Park aufhängten. Maggie war eines Sonntagnachmittags im Hyde Park gewesen, hatte die Gemälde – zarte Aquarelle von Bäumen, Seen und weißen Villen – gesehen und sie sehr hübsch gefunden, aber natürlich hütete sie sich, es laut zu sagen.

Da waren die Stripperinnen, die auf ihren Auftritt in einem der zahlreichen sogenannten »Theater« warteten, grell und viel zu stark geschminkt, aber stets freundlich zu Maggie, obwohl sie auf sie herabsah. Da waren die Ladenbesitzer aus der Nachbarschaft, wie der Mann aus dem italienischen Geschäft, in dem riesige Salamis von der Decke hingen und es nach Knoblauch und Basilikum roch, oder der Besitzer vom jüdischen Imbiss, wo man köstliche Rindfleischsandwiches bekam. Es kamen Händler aus ganz Soho, die auf dem Markt Kräuter und Gewürze, Schallplatten dubioser Pressungen oder Stoffe verkauften. Und hin und wieder die zwielichten Gestalten mit dem gegelten Haar, in tadellosen Anzügen, mit auffälligen Manschettenknöpfen und dicken Brieftaschen, deren Inhalt sie nur allzu gerne zeigten.

Soho war alles, was Sheffield nicht war, und Maggie schloss das Viertel in ihr Herz. Für sie war das Black Horse bald eine Art zweite Heimat, das Zuhause, das sie nie gehabt hatte. Nigel war lieb, die Stammgäste ebenfalls. Man fragte sie nach den Castings und fühlte mit, wenn es wieder einmal nicht geklappt hatte. Man neckte sie, flirtete mit ihr, stöhnte, wenn sie eine Bestellung vergaß, und sparte nicht mit Lob, als sie von Mal zu Mal besser und effektiver wurde. Sie lernte ihr kleines Reich hinter der Theke zu genießen, polierte das Holz, sortierte die Gläser und wischte die Flaschen ab, so dass alles um sie herum so blitzte und funkelte, wie sie es in ihrer Wohnung gerne gehabt hätte.

Und vielleicht würde ja eines Tages jemand kommen, sie hinter der Theke sehen und ihr Talent erkennen. Dieser Gedanke war tröstend, und bald war sie sich sicher: Genauso würde es geschehen. Man würde sie entdecken wie damals in den dreißiger Jahren Lana Turner, die bei Schwab’s auf dem Sunset Boulevard in Hollywood gearbeitet hatte.

Bisher jedoch bot man ihr nur Arbeit in den Stripshows und Bordellen an, die es in Soho im Übermaß gab. Doch Maggie dachte nicht daran, ihren Traumkörper für solche Zwecke einzusetzen. Lieber würde sie verhungern.

Tatsächlich hielt man sie für ein wenig prüde. Die Stammgäste verpassten ihr den Spitznamen Prinzessin Margaret. Und obwohl immer wieder jemand versuchte, mit ihr zu flirten, begriffen die meisten recht schnell, dass alles Geplänkel zu nichts führte, und ließen sie in Ruhe.

»Maggie mag vielleicht«, sagte Nigel eines Abends unter dem zustimmenden Gegröle seiner Stammgäste, »aber Margaret mag ganz sicher nicht.«

 

All das änderte sich, als Derek Stone den Pub betrat.

Das Erste, was ihr an ihm auffiel, waren seine Augen.

Das Zweite, dass er etwas verbarg. Stets auf der Flucht vor etwas oder jemandem – so war Derek. Sie hätte es sofort begreifen müssen, als er an jenem kalten Februartag ins Black Horse platzte.

Er versuchte, so zu tun, als sei nichts, aber die Art, wie er die Tür aufstieß und mit einem Schwall Regen und schmutziger, kalter Abendluft hereinpolterte, die Art, wie er sich mit solch einem Getöse in die Wärme rettete, verriet ihn. Maggie, die auf einem Barhocker saß, blickte auf. Sie versuchte, ihren Text für ein Vorsprechen zu lernen, bei dem sie, wie man ihr gesagt hatte, in einem »knappen Bikini« auftauchen sollte.

Die Tür fiel krachend zu, und die Stammgäste widmeten sich wieder ihren Drinks, während Derek sich ein wenig sammelte. Die Panik, die in seinem Blick zu sehen gewesen war, verschwand, und seine dunkelblauen Augen funkelten sie fröhlich an.

»Hallo. Du bist neu hier, richtig?«, fragte er, während er ganz leicht die Schultern bewegte, bis der weiche Wollstoff seines Jacketts wieder tadellos saß. Er warf noch einen raschen Blick zur Tür, dann kam er auf sie zu, lächelte und nestelte an seinen Manschettenknöpfen.

»Neu ist relativ. Ich arbeite schon seit drei Monaten hier.« Meistens war Maggie davon überzeugt, dass der Sprechunterricht sich bezahlt machte, aber manchmal hörte sie sich auch nur an wie diese Sybil Fawlty aus Ein verrücktes Hotel: schnippisch, zickig, schrill.

»Jedenfalls habe ich dich hier noch nicht gesehen«, sagte Derek. Er strich über die Metallstange, die an der Theke entlangführte, und musterte sie unverhohlen. »Daran würde ich mich bestimmt erinnern.«

»Na klar«, sagte Maggie. Etwas verunsichert warf sie ihr Haar zurück. Sie konnte kaum ihren Blick von ihm abwenden. Jemandem wie Derek Stone war sie noch nie begegnet, aber sie hätte nicht sagen können, was das Besondere an ihm war. Er war schick gekleidet – zu schick, wie so viele der Kerle, die hier herumlungerten. Ein hellblaues Tuch lugte aus der Brusttasche, und er trug eine dicke Goldkette, die durch sein dichtes Brusthaar schimmerte. Am liebsten hätte sie ihn ausgelacht, wie sie es üblicherweise mit Typen wie ihm tat, aber aus irgendeinem Grund gelang es ihr nicht. Vielleicht war es der leichte Schweißfilm auf seiner Stirn, als sei er gelaufen. Oder sein offenes Lächeln, sein dichtes, schwarzes Haar. Ganz sicher aber seine wunderschönen blauen Augen. Augen, denen zu gefallen schienen, was sie sahen.

»Bist du gerannt?«, fragte Maggie hoheitsvoll.

Derek löste seinen Blick von Maggies Brüsten, die in einem engen Jeanshemd steckten. »Ich muss ein Weilchen hier untertauchen«, sagte er. »Da ist ein Kerl hinter mir her.«

»Und warum?«

Derek schien sich nicht genauer äußern zu wollen. »Na ja … er glaubt, dass ich ihn übers Ohr hauen wollte.«

»Wobei denn?«

»Bei einem Geschäft mit Orientteppichen. Er hat da etwas falsch verstanden.« Nigel am anderen Ende der Bar schnaubte. Derek lächelte Maggie entwaffnend zu. »Ich bin einmal quer durch Soho gerannt, nur um hierherzukommen. Hätte ich geahnt, was ich vorfinden würde, wäre ich noch schneller gelaufen. Woher kommst du?«

»Aus Sheffield«, antwortete sie.

Er lachte, aber nicht unfreundlich. »Und was hat dich nach London geführt?«

»Ich will berühmt werden«, sagte Maggie und verzog den Mund. »Mach dich ruhig darüber lustig, wenn du willst, aber es wird mir gelingen.«

»Ich mache mich gar nicht darüber lustig«, erwiderte Derek. »Als was denn? Schauspielerin? Tänzerin? Sängerin?«

»Egal, was«, sagte sie. »Ich will es nur schaffen – und zwar richtig!« Einen Moment lang war es ihr peinlich, ihm das zu erzählen, aber Derek sah sie an, als verstünde er sie. Er schien sich für sie als Person zu interessieren und sie nicht nur als Mädchen mit hübschen Titten und Beinen bis zum Hals zu betrachten, wie es üblicherweise der Fall war.

»Du würdest auf der Bühne sicher großartig verbluten«, sagte er. »Glaub mir, Süße, ich weiß, wer’s draufhat. Du hast definitiv Bühnenpräsenz.«

»Aha? Und woher weißt du das?«, fragte Maggie. Sie wusste, dass sie sich nicht so leicht um den Finger wickeln lassen sollte, aber sie musste trotzdem nachfragen.

»Oh«, sagte Derek lässig, »ich habe ein Theater. Hier um die Ecke.«

»Theater?« Nigel, der immer noch am anderen Ende der Bar stand, lachte laut. »Erzähl keine Märchen, Süßer.«

Maggie blickte von einem Mann zum anderen und sah, wie Derek Nigel einen aufgesetzt empörten Blick zuwarf. Dann zwinkerte er ihm zu. »Geht’s dir gut, Nigel?«

»Kann nicht klagen, Quietscheentchen«, erwiderte Nigel lächelnd. »Schön, mal wieder deine hübsche Visage zu sehen. Aber du lässt mein Personal in Ruhe. Wie gehabt.«

»Aber immer«, sagte Derek. Er wandte sich wieder Maggie zu. »Wie heißt du?«

»Maggie«, antwortete sie.

»Ich heiße Derek«, erwiderte er und nahm ihre Hand. »Und du bist das umwerfendste Mädchen, das mir seit langer, langer Zeit über den Weg gelaufen ist.«

»Hör auf, so dumm zu quatschen«, sagte Maggie in bester Komikermanier, und er lachte, beinahe erfreut.

»Und witzig ist sie auch.« Sein Blick blieb wieder an ihren Brüsten hängen. »Maggie heißt du also?«

»Und du hast wirklich ein Theater?« Maggie gab sich Mühe, nicht allzu beeindruckt zu klingen.

»Na klar.«

»Wie heißt es?«

»Amours du Derek«, sagte er mit einem ernsten Nicken.

Maggie hatte keine Ahnung, was das heißen sollte – Ammurrdüdreck? Aber sie wollte nicht ungebildet wirken und ihre Unkenntnis zugeben, daher nickte sie höflich. »Wie nett.«

»Das ist französisch«, erklärte er. »Hat mehr Klasse. Ich will nächstes Jahr noch einen neuen Laden aufmachen, gar nicht weit davon entfernt. Man darf nicht glauben, was in der Zeitung steht. Das Geschäft boomt.«

»Ja.« Maggie nickte wieder. »Das ist … wirklich beeindruckend.« Nun fing sie Nigels Blick auf. »Kann ich, ähm, kann ich dir etwas zu trinken bringen?«

»Aber sicher, meine Liebe«, sagte Derek und zwinkerte ihr zu. »Zumindest für den Anfang reicht mir das.«

Zum ersten Mal seit ihrer Ankunft in London – ja, eigentlich zum ersten Mal in ihrem Leben – durchströmte Maggie Michaels sexuelles Verlangen, und sie errötete. Derek sah es und lachte leise.

Nigel, der in den Evening News blätterte, schnaubte erneut. »Und wieder hat’s eine erwischt«, murmelte er.

Graham, einer der Schauspieler unter den Stammgästen, der sinnierend in sein Bier gestarrt hatte, blickte auf. »Was meinst du, Schätzchen?«

»Das.« Nigel deutete mit dem Kopf auf Maggie, die Derek ein Glas reichte, sich dabei sehr weit über die Theke beugte und ihn mit leuchtenden Augen anblickte. »Der Kerl bedeutet nur Ärger.« Dann erhellte sich sein Gesicht, und er grinste. »Aber verdammt – ich kann ihn trotzdem gut leiden.«

 

Als Maggie in dieser Nacht in ihrer Kammer lag und sich ein Kissen auf die Ohren presste, um nicht mehr hören zu müssen, wie Camilla und zwei Schickeria-Typen Wasserpfeife rauchten und in zunehmend hysterisches Gelächter verfielen, lächelte sie in die Dunkelheit. Die Wohnung war heute sogar in einem noch abstoßenderen Zustand als üblich – jemand hatte sich im Bad übergeben, und im Waschbecken moderte eine Schicht aus verkohltem Toast, Zigarettenkippen und ranzigen Avocados –, und wie immer war es eiskalt. Am nächsten Tag würde sie ihre übliche Runde an Castingterminen ablaufen und keine der angebotenen Rollen bekommen. Sie wusste es schon jetzt. Aber irgendwie machte es ihr dieses Mal nichts aus.

Bei dem Gedanken an Derek huschte ein dümmliches Lächeln über ihr Gesicht. Ihr war klar, dass sie ihm nicht trauen durfte. Er war ein Schlitzohr, gerissen und zwielichtig, aber trotzdem ausgesprochen liebenswert. Nigel hatte sie sogar ausdrücklich gewarnt, die Finger von Derek zu lassen. »Er ist charmant und grundsätzlich ein netter Bursche, aber trau ihm bloß nicht über den Weg«, hatte er ihr gesagt, als er zum Feierabend abgeschlossen und Maggie sich die Tasche über die Schulter geschwungen hatte. »Du könntest es bereuen, Kleines.« Sein Blick war ernst.

»Ich bin kein Kleines mehr, Nigel«, antwortete sie.

»Oh, doch, das bist du«, gab er zurück. »Manchmal frage ich mich, ob es gut war, dich einzustellen.« Sie musste ihn entgeistert angesehen haben, denn er fügte hinzu: »Du bist zu unschuldig, Maggie, Liebes. Für diese Art von Leben bist du einfach nicht gemacht.« Er deutete auf die Bar. »Diese Spinner und Schwindler hier, die den ganzen Tag Müll quatschen, der Müll selbst, der Big Smoke. Du solltest irgendwo in einem hübschen Häuschen wohnen, du weißt schon – eines mit Strohdach und Rosenranken an der Tür.«

»Ich mag keine Strohdächer«, sagte Maggie prompt. »Die ziehen Mäuse an. Ich möchte lieber in einem großen modernen Haus wohnen, in dem es Heizung gibt. Und eine Garage für meinen Sportwagen.«

Nigel hatte gelacht, ihr den Arm um die Schultern gelegt und sie an sich gezogen. »Das wirst du aber nicht durch Derek kriegen, glaub mir, Süße.«

Aber daran wollte sie jetzt gar nicht so genau denken. Lieber dachte sie an seine Hand, die ihre berührt hatte, an seinen bewundernden Blick, an sein Lachen. Er besaß Charisma, das war es! Er war weltgewandt und teilte ihren Traum von einem besseren Leben. Aber ein Kerl wie er machte nur Ärger, und daher würde sie die Finger von ihm lassen. Unbedingt! Und dann lächelte sie wieder, kuschelte sich unter ihre rauhe Decke und ignorierte das Gekreische und Gelächter von nebenan.

4

Komm schon, Maggie.« Dereks Hände wanderten über ihre Haut und zeichneten den Ausschnitt ihres Spitzentops nach. Er küsste ihren Hals, und sie schloss die Augen und hätte nichts lieber getan, als ihm nachzugeben. Aber sie konnte jetzt nicht, durfte nicht. Brave Mädchen taten so etwas nicht.

Aber wenn es doch so schön war?