Meg Rosoff
Sommernachtserwachen
Roman
Aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit
FISCHER E-Books
© Eamonn McCabe
Meg Rosoff wuchs in Boston, USA, auf und zog 1989 nach London, England. Ihr erster Roman So lebe ich jetzt verkaufte sich über eine Million Mal in sechsunddreißig Ländern und wurde erfolgreich verfilmt. Sie hat acht weitere Romane geschrieben, die mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurden oder dafür nominiert waren, sowie mehrere Kinder- und Bilderbücher. 2016 gewann Meg Rosoff den Astrid Lindgren Gedächtnispreis – die weltweit höchste Auszeichnung für Kinder- und Jugendliteratur. Meg Rosoff lebt mit ihrer Familie und ihren Hunden in London.
Brigitte Jakobeit, Jahrgang 1955, lebt in Hamburg und übersetzt seit 1990 englischsprachige Literatur, darunter die Autobiographien von Miles Davis und Milos Forman sowie Bücher von John Boyne, Paula Fox, Alistair MacLeod, Audrey Niffenegger, J. R. Moehringer und Jonathan Safran Foer.
Weitere Informationen zum Kinder- und Jugendbuchprogramm der S. Fischer Verlage finden Sie unter www.fischerverlage.de
»Alle reden von der großen Liebe, als wäre es die wunderbarste, lebensveränderndste Sache der Welt. Irgendetwas passiert, heißt es, und du spürst es sofort. Genauso war es, als ich Kit Godden traf. Ich schaute ihm in die Augen, und ich spürte es sofort. Das Dumme war nur, dass alle anderen es auch spürten. Allen anderen ging es wie mir.«
ALMA-Preisträgerin Meg Rosoff erzählt in »Sommernachtserwachen« von einer chaotischen und liebenswerten Familie, von unbeschwerten Ferien in einem Haus am Meer – und von dem Gefühlssturm, den der Besuch des attraktiven und verführerischen Kit bei allen auslöst, bis kein Sandkorn mehr auf dem anderen liegt. Denn plötzlich gibt es eine Schlange in diesem Paradies – und die Folgen werden verheerend sein.
Deutsche Erstausgabe Kinder-/Jugendbuch
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die englische Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel The Great Godden bei Bloomsbury Publishing Plc, London, Großbritannien
Copyright © Meg Rosoff, 2020
Meg Rosoff has asserted her right under the Copyright, Designs and Patents Act,
1988, to be identified as Author of this work
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2021 Fischer Kinder- und Jugendbuch Verlag GmbH,
Hedderichstraße 114, D-60596 Frankfurt am Main
Fotografie Vorsatz: © Shutterstock
Das Zitat auf Seite 7 stammt aus dem Gedicht Der kleine schwarze Knabe und wurde mit freundlicher Genehmigung des Verlages entnommen aus WIlliam Blake, Zwischen Feuer und Feuer, übersetzt von Thomas Eichhorn; (c) Deutscher Taschenbuch Verlag, München, 2007
Das Zitat auf Seite 56 stammt aus Andrew Marvell, An seine spröde Geliebte, entnommen aus Englische und amerikanische Dichtung 1, hrsg. von Friedhelm Kemp und Werner von Koppenfels, übersetzt von Werner von Koppenfels, Verlag C.H. Beck, München 2000
Das Zitat auf Seite 252 stammt aus dem Gedicht Invictus von William Ernest Henley, die deutsche Übersetzung wurde entnommen aus der Synchonfassung des gleichnamigen Films von Warner Bros. Entertainment GmbH
Covergestaltung: Dahlhaus & Blommel Media Design, Vreden,
nach einem Entwurf von Sarah Baldwin
Coverabbildung: Getty Images und Shutterstock
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-7336-0419-6
Für Catherine und Michael
Und wir sind gesandt eine kleine Zeit auf Erden,
Dass wir ertragen seiner Liebe heißen Schein.
William Blake
Alle reden von der großen Liebe, als wäre es die wunderbarste, lebensveränderndste Sache der Welt. Irgendetwas passiert, heißt es, und du spürst es sofort. Du schaust in die Augen des geliebten Menschen und siehst nicht nur jemanden, von dem du immer geträumt hast, er möge dir begegnen, sondern du erkennst das Du, an das du insgeheim immer geglaubt hast, das Du, das Verlangen und Lust weckt, das Du, das bisher niemandem aufgefallen ist.
Genau so war es, als ich Kit Godden traf.
Ich schaute ihm in die Augen, und ich spürte es sofort.
Das Dumme war nur, dass alle anderen es auch spürten. Allen anderen ging es wie mir.
Jedes Jahr, wenn die Ferien anfangen, stopfen wir das Auto mit unentbehrlichem Krempel voll, um ans Meer zu fahren. Wenn dann alle sechs das Wesentliche verstaut haben, sagt Dad, dass er nicht durch die Fenster sehen kann, außerdem hat keiner von uns richtig Platz, und dann wird die Hälfte wieder ausgepackt, was aber irgendwie auch nicht wirklich hilft; am Ende sitze ich immer auf einem Tennisschläger oder einer Tasche mit Schuhen. Und wenn wir endlich losfahren, sind alle schlecht gelaunt.
Die Fahrt ist ein Albtraum, es wird geschubst und gestritten, bis Mum schreit, wenn nicht alle gleich die Klappe halten, kriegt sie einen Nervenzusammenbruch; es ist auch das einzige Mal im Jahr, dass Dad am Straßenrand anhält und sagt, er bleibt so lange sitzen, bis alle verdammt nochmal still sind.
Wir fahren ans Meer, seit wir geboren wurden, und weil es der Theorie zufolge schon vor uns ein Leben gab, fuhr auch Dad schon seit seiner Kindheit ans Meer und Mum, seit sie Dad kennenlernte und uns vier zur Welt brachte.
Die Fahrt dauert ewig, aber irgendwann fahren wir von der Autobahn ab, und von dem Moment an verändert sich die Stimmung. Die vertraute Strecke bewirkt etwas in unserem Hirn, und wir fangen an, still vor uns hin zu winseln wie Hunde, die sich einem Park nähern. Ab dem Kreisverkehr fahren wir dann noch eine halbe Stunde zum Haus, und unterwegs kennen wir jeden Zentimeter der Landschaft. Es gibt Bonuspunkte, wenn jemand aus dem Autofenster ein Reh oder Pferde sieht oder eine Eule, die auf einem Zaunpfosten sitzt, oder Harry den Hasen, der die Straße entlanghoppelt. Harry erscheint am Tag unserer Ankunft oft mitten auf der Straße und dann wieder am Tag unserer Abreise; ein unanfechtbarer Beweis, dass unsere Welt eine hochentwickelte Computersimulation ist.
Wenn wir ankommen, sind wir alle aufgeregt. Wir biegen in die begrünte Einfahrt ein, klettern aus dem Auto und bahnen uns lärmend den Weg ins Haus, in dem es nach alten Polstermöbeln, Salz und abgestandener muffiger Luft riecht, bis wir die Fenster öffnen und der Seewind hereinweht.
Die erste Unterhaltung läuft immer gleich ab:
MUM : Das Haus hat mir so gefehlt.
KINDER: Uns auch!
DAD: Wenn es bloß nicht so weit weg wäre.
KINDER: Und eine Heizung hätte.
MUM: Tja nun, ist es aber. Und es hat halt keine. Also hört auf zu träumen.
Niemand macht sich die Mühe, sie darauf hinzuweisen, dass sie das Thema jedes Mal anschneidet.
Mum hat schon das Kehrblech geholt und fegt tote Fliegen von den Fensterbrettern, während Dad die Lebensmittel verstaut und Tee kocht. Ich renne nach oben, öffne die Schublade unter meinem Bett und zieh mir das ausgeblichene Sweatshirt vom letzten Sommer über. Es riecht nach altem Haus und Meer, und ich rieche jetzt genauso.
Alex sieht sich Bat-Box-Kameras auf seinem Laptop an, und Tamsin packt mit übermenschlicher Geschwindigkeit ihre Sachen aus, weil Mum sagt, sie darf erst zu ihrem Pferd, wenn alles eingeräumt ist. Das Pferd gehört ihr nicht, aber sie mietet es den Sommer über, und wenn es ein Feuer gäbe, würde sie es, ohne zu zögern, retten, und zwar Stunden, bevor sie einen von uns retten würde.
Mattie, bis vor einem Jahr noch ohne Busen und kein besonderer Blickfang, hat sich in letzter Zeit in eine sechzehn Jahre alte Sexgöttin verwandelt; inzwischen trägt sie ein leichtes Sommerkleid und Gummistiefel, in denen sie am Strand entlangschwebt, weil sie ihr Leben für einen einzigen langen Instagram-Post hält. Im Augenblick stellt sie sich vor, dass sie romantisch und umwerfend aussieht, was leider auch stimmt.
Plötzlich herrscht aufgeregter, lauter Trubel, als Malcolm und Hope unten ankommen, um uns am Strand zu begrüßen. Gomez, Mals sehr großer und sehr schwermütiger Basset, bellt wie verrückt. Wahrscheinlich fallen Tamsin und Alex knuddelnd und küssend über ihn her, man kann ihm seine Reaktion also nicht wirklich verübeln.
Mal hat zwei Flaschen kalten Weißwein mitgebracht, und während alle sich umarmen und küssen, murmelt Dad: »Es ist Zeit«, lässt den Tee stehen und geht einen Korkenzieher suchen. Tam stürzt sich auf Mal, der sie in die Arme nimmt und wie ein kleines Mädchen im Kreis dreht.
Hope möchte, dass wir uns in der Reihenfolge unseres Alters aufstellen: Ich, Mattie, Tamsin und Alex. Sie tritt einen Schritt zurück, um uns zu bewundern, sagt, wie groß wir doch alle geworden sind und wie hinreißend wir aussehen, auch wenn sie damit vor allem Mattie meint. Ich bin es gewöhnt, dass man mich aus Höflichkeit in die Geschichte der phantastischen Mattie mit einschließt. Tam schnaubt und tanzt aus der Reihe, gefolgt von Alex. Natürlich sehen wir Mal und Hope auch in London, aber immer nur zwischen Schule und Arbeit, und da wir außerdem in völlig verschiedenen Stadtteilen leben, kommt es seltener vor, als man vielleicht denkt.
»Wenn ihr fertig seid, können wir zu Abend essen«, ruft Hope Tam und Alex hinterher.
Dad wischt die Weingläser mit einem Geschirrtuch aus, schenkt ein und verteilt das erste Glas des Sommers an die über Achtzehnjährigen, mit kleineren Rationen für Mattie, Tamsin und mich. Alex taucht wieder auf und schlägt wie eine Rattenschlange zu, als Hope ihr Glas abstellt, um Mum mit einem Koffer zu helfen. Er kippt es in zwei Schlucken hinunter und verdrückt sich dann ins Unterholz. Hope betrachtet stirnrunzelnd das leere Glas, aber Dad schenkt ihr einfach wieder nach.
Die Akteure sind versammelt, der Sommer beginnt.
Unser Haus ist gleichermaßen malerisch und nervig. Erstens ist es kleiner, als es aussieht, was komisch ist, denn bei den meisten Häusern ist es umgekehrt. Mein Ururgroßvater hat es 1913 als Hochzeitsgeschenk für seine Frau erbaut, im, wie Mum sagt, Post-viktorianischen-verrückte-Frau-im-Dachboden-Stil. Bis 1930 blieb es im Familienbesitz, dann musste mein Vorfahr es verkaufen, um seine Spielschulden abzuzahlen. Zwanzig Jahre später kaufte sein Sohn (mein Urgroßvater) es zurück, erneuerte den ursprünglich lavendelblauen Anstrich, und danach erwähnte niemand mehr die Zeit, als es nicht der Familie gehörte. Er baute außerdem ein Strandhaus für den zahlreichen Familienbesuch, das Hope im Sommer bewohnt. Und seit Mal auf der Bildfläche erschien, ist es für uns ihr gemeinsames Haus, auch wenn es genau genommen nicht so ist.
Unser Haus wurde als Sommerresidenz gebaut, eine Verrücktheit, in der man nicht ganzjährig leben kann, weshalb wir es auch nicht tun. Es ist zugig, hat keine Wärmedämmung, und die Rohrleitungen frieren zu, wenn man im November nicht das Wasser ablässt und Frostschutzmittel in die Toilette kippt, aber wir lieben jeden Turm, jeden Erker, jedes seltsam geformte Fenster und sogar die kurze Treppe, die in einem Schrank endet. Mein Ururgroßvater muss einen urigen Sinn für Humor gehabt haben, denn alles im Haus ist irgendwie eigentümlich. Aber man kann aus fast jedem Fenster das Meer sehen.
Mein Schlafzimmer ist der Wachturm. Die meisten Leute würden es nicht haben wollen, weil es lachhaft klein ist, ein Zimmer, in dem man sich kaum umdrehen kann. Wenn jemand groß genug ist und die Arme und Beine ausstreckt, kann er alle vier Wände gleichzeitig berühren. Ausgestattet ist der Turm mit einem eingebauten Kapitänsbett und einer Leiter, die zu einem winzigen Witwengang führt, so genannt, weil Frauen einen kleinen Auslauf brauchten, wenn sie durch das Teleskop spähten und darauf warteten, dass ihre Männer heimkehrten. Oder auch nicht. Daher Witwengang.
Zum Glück ist das Messingteleskop, das meinem Urgroßvater gehörte, in meinen Besitz übergegangen. Er war in der Navy und verbrachte in seinen späteren Jahren viel Zeit in dem viereckigen Turm mit dem nach draußen gerichteten Teleskop – genau wie ich. Keine Ahnung, was er sah – wahrscheinlich das Gleiche wie ich: Schiffe, den Jupiter, Eulen, Hasen, Füchse und gelegentlich einen Nacktschwimmer. Es ist eine Art ungeschriebenes Gesetz, dass das Teleskop zum Zimmer gehört. Niemand stimmt darüber ab, es geht einfach an die richtige Person über. Theoretisch hätten das Teleskop und das Zimmer auch Mattie, Tamsin oder Alex bekommen können, aber die Wahl fiel auf mich.
In meiner Familie gibt es ziemlich viele Traditionen wie die Weitergabe des Hauses und die Weitergabe des Teleskops. Andererseits mangelt es uns klar an Traditionen, wie man sie in herrschaftlichen Familien findet – dass zum Beispiel der älteste Sohn immer Alfred genannt wird oder schwachsinnig ist, und auch das Spielergen taucht nicht mehr bei uns auf, was eine ziemliche Erleichterung ist. Aber – abgesehen von der kurzen Unterbrechung – wenn es darum geht, den Familienbesitz von einer Generation an die nächste weiterzugeben, stehen wir mit der Queen praktisch auf einer Stufe.
Auf der anderen Seite des Hauses befindet sich ein Erker. Bevor wir vier geboren wurden, benutzten Mum und Dad ihn als Schlafzimmer, was eigentlich romantisch, aber unpraktisch war, da er bei starkem Wind vom Haus weggerissen zu werden droht. Vor ungefähr fünf Jahren zogen sie ein Stockwerk tiefer in ein zimmerähnliches Zimmer über der Küche. Mum ist Kostümbildnerin bei der National Opera, und so wurde der Erker ihr Sommeratelier. Alex’ Zimmer liegt auf dem Flur gegenüber und wird von allen der Halsabschneider genannt. Früher dachte ich, der Grund dafür wäre ein finsterer historischer Mord, aber Dad sagt, es heißt so, weil es so klein ist, dass man sich am liebsten den Hals abschneiden würde. Das Gute an dem Zimmer ist, dass es ein sechseckiges Fenster hat und gemütlich wie eine Schiffskoje ist.
Mattie und Tamsin hatten sich ewig ein Zimmer geteilt, aber als Mattie zwölf wurde, mussten sie getrennt werden, um Blutvergießen zu verhindern. Sogar Mum und Dad leuchtete ein, dass niemand mit Mattie leben konnte, und so wurde sie am Ende alleinige Bewohnerin des kleinen Gästehauses im Garten – eine Tatsache, die ihr das Gefühl gibt, so besonders zu sein, wie sie sich fühlt. Jetzt hat Tamsin das Zimmer für sich allein, und das kommt allen gelegen, weil es stark nach Pferd riecht.
Zwischen den Schlafzimmern liegt ein langer Treppenabsatz mit einem eingebauten Fenstersitz, auf dem man sich ausstrecken, Karten spielen oder aus dem großen Fenster aufs Meer blicken kann. Der Baumwollbezug auf dem Fensterplatz ist so verblichen, dass seine ursprüngliche Farbe schwer zu erraten ist. Als wir klein waren, nannten wir diese Ecke das Spielzimmer, obwohl es eigentlich nur ein langer Flur ist.
Außen ist das Haus mit verschnörkelten Giebeln und Winkeln verziert, so dass sogar die Fischer anhalten, um es mit ihren Handys zu fotografieren. Es nützt auch nichts, dass es lavendelblau ist. Als ich Dad fragte, warum wir es nicht in einer etwas weniger auffälligen Farbe gestrichen hatten, zuckte er die Schultern und meinte: »Es war schon immer lavendelblau«, die Sorte von Antwort, wie sie typisch für meine Familie ist. Hirnlose Überspanntheit.
Hope ist Dads viel jüngere Cousine; Dad war zweiundzwanzig, als Hope zur Welt kam. Seit Mal und Hope ein Paar sind, verbringen sie jeden Sommer gemeinsam in dem kleinen Haus. Es ist nur hundert Meter am Strand entlang von unserem entfernt, aus Holz und Glas gebaut, sehr modern für die damalige Zeit, mit großen Holzterrassen, wo alle sitzen, essen und das Meer betrachten können.
Malcolm und Hope lernten sich auf der Schauspielschule kennen. Niemand gab der Beziehung eine große Chance, weil Hope viel zu vernünftig wirkte, um sich auf einen Schauspieler einzulassen. Inzwischen sind sie zwölf Jahre zusammen, und wir nennen sie nur Malanhope, als wären sie eine Einheit. Wo sind Malanhope? Kommen Malanhope heute zum Essen?
»Ich hoffe, Mal verliert die Hope nicht«, sagt Dad mindestens einmal pro Woche, obwohl der Witz eigentlich ziemlich dämlich ist, wenn man bedenkt, wie sehr Hope an Malcolm hängt. Genau wie wir – er sieht irrsinnig gut aus und ist ein unermüdlicher Fan von Brettspielen.
Mal und Hope sind beide Anfang dreißig und viel interessanter als unsere Eltern. Sie sind Weltmeister in allen sommerlichen Vergnügungen – Trunkenheit, taktlosen Bemerkungen, nächtelangen Pokerspielen. Sie fingen beide als Schauspieler an, aber irgendwann kam Hope zu dem Schluss, dass sie Vorsprechen schrecklich fand und keine Lust hatte, ein Leben lang arm zu sein, deshalb unterrichtet sie jetzt Theaterwissenschaft an einer Universität in Essex. Manchmal arbeitet sie als Synchronsprecherin, weil sie – im Gegensatz zu Mal – eine hervorragende Imitatorin ist. Alles, was aus seinem Mund kommt, klingt irgendwie Irisch, und seine Versuche, mit einem amerikanischen Akzent zu sprechen, sind erbärmlich. Keiner von uns hat es je laut ausgesprochen, aber eigentlich sollte Hope ihren Lebensunterhalt als Schauspielerin verdienen und Mal Theaterwissenschaft unterrichten.
Einmal sah ich Hope in der Rolle der Nora in Ein Puppenheim auf der Bühne. Ich war erst dreizehn, aber man hätte schon blind sein müssen, um nicht zu erkennen, wie gut sie war. Ich hatte noch nie jemanden gesehen, der mit so wenig so viel ausdrückt, und ich werde es nie vergessen. Wenn Malcolm auf der Bühne steht, geht er mit Leib und Seele in seiner Rolle auf und würde sogar, wenn es sein müsste, mit Begeisterung ein Gummihuhn mimen.
Wir verehren Mal. Er bringt uns Sachen bei wie Schwertkämpfen oder wie man überzeugend auf der Bühne lacht. Mattie flirtet mit ihm, aber da sie mit allen Formen menschlichen Lebens flirtet, ist das kaum erwähnenswert. Mattie ist nicht dumm, aber manchmal halte ich sie für die oberflächlichste Person, die ich kenne. Sie behauptet, dass sie mal Ärztin werden will, aber ich habe den Eindruck, dass sich ihr Verstand hauptsächlich mit Sex und Schuhen beschäftigt.
Mattie kommt gerade aus dem Wasser. Offenbar war niemand in der Nähe, um sie zu bewundern, nur die Fische. Sie ruft mehr oder weniger an sich selbst gerichtet, dass sie am Strand entlang zu Hope geht, um ihr beim Abendessen zu helfen.
Ich höre, wie Tamsin mit Dad darüber streitet, dass er sie zum Reitstall fahren soll. Es gibt eine Art Abkommen, dass sie Duke den Sommer über reiten darf, aber nicht jedes Mal gefahren wird, wenn sie Lust hat, ihn zu sehen. Sie hat zwar recht, dass die Fahrt mit dem Auto nur fünf und mit dem Fahrrad zwanzig Minuten dauert, aber wenn man die fünf Minuten addiert, die im Laufe des Sommers zusammenkommen, ist es nur vernünftig, dass Dad den Anfängen wehrt.
Mum beendet die Diskussion, und für ein paar wundervolle Augenblicke herrscht Ruhe.
»Ich habe zwei Überraschungen«, sagte Hope am Morgen nach unserer Ankunft, wollte uns aber beide nicht gleich verraten, sosehr wir sie auch darum baten. »Ich erzähle es euch heute Abend.«
Ich mag keine Überraschungen. Nur die Fakten, Ma’am, ohne Champagner und geheimnisvolles Lächeln.
Es war fast sechs, als ich mich von dem Buch losriss, das ich gerade las, und aus dem Fenster schaute. Tam schlenderte in Reithose am Strand entlang nach Hause, in den Händen eine große Platte mit etwas, das nach Algen aussah und wahrscheinlich irgendwie mit dem Abendessen zusammenhing.
Mit meinem Teleskop kann ich einen beträchtlichen Teil des Strands sehen und alles zwischen dem Haus und dem Meer. Ich spähe nicht in fremde Schlafzimmer, aber was sich draußen abspielt, ist Freiwild. Ich kann den Horizont gut genug sehen, um die Namen auf Frachtschiffen zu lesen. Ich kann Leute im Meer gut genug erkennen, um ihre Unterhaltung von den Lippen abzulesen, wenn ich es denn könnte. In zwei Tagen haben wir Vollmond, und im Augenblick gefallen mir seine wässrigen Blautöne, die, wie ich finde, dem Geist eines echten Monds ähneln.
Im Haus herrscht allgemeine Aufregung wegen Hopes zwei Überraschungen. Ich frage mich, ob sie vielleicht verkündet, dass sie schwanger ist, und wenn ja, ob das eine wirklich gute Nachricht ist. Ich mag Mal wirklich gern, aber er gehört zu den Leuten, die, ohne mit der Wimper zu zucken, ein Baby gegen eine Handvoll magische Bohnen eintauschen würden. Und wenn er es täte, würde er jeden davon überzeugen, dass er das einzig Richtige getan hätte, und nur Hope wäre sauer. Mals wertvollste Eigenschaft ist ein unsäglicher Überfluss an Charme, der jede seiner Schwächen vergessen lässt. Aber er ist ein guter Gesprächspartner, wenn man mal vom Leben die Nase voll hat oder die eigene Familie einem auf die Nerven geht, denn er hört gut zu, was man nicht von vielen behaupten kann.
Ich sehe unsere Eltern zum Schwimmen gehen, was sie um diese Zeit oft tun. Mum trägt einen grün-weiß gestreiften Badeanzug und den Panamahut, den Dad ihr letztes Jahr zum Geburtstag geschenkt hat. Dad trägt Shorts und Flipflops.
Nach dem Schwimmen wird Mum den Grill anwerfen, und Dad wird marinieren und herumjammern. Irgendwann werden Malanhope mit noch mehr Salatschüsseln und Weinflaschen vorbeikommen, die geöffnet werden. Und geleert. Die Erwachsenen werden bald betrunken sein. Und wenn niemand aufpasst, vielleicht auch die Kinder.
Was ich nicht von meinem Fenster aus sehe, kann ich mir ganz klar vorstellen. Im Augenblick zum Beispiel spielen Mal und Alex auf dem Fußboden in Malanhopes Wohnzimmer Schach. Mal zuckt bei jedem guten Zug von Alex zusammen. Da sie beide schummeln wie Piraten, will kein anderer mit ihnen spielen. Ich weiß nicht, ob Alex schon immer geschummelt oder es sich von Mal abgeguckt hat, der behauptet, er studiere kriminelle Denkmuster, falls er irgendwann mal als Professor James Moriarty aus Sherlock Holmes besetzt werden sollte.
Irgendwann gehe ich nach unten. Als Hope ankommt, wollen alle die Geheimnisse erfahren, aber sie erklärt, es sei noch nicht so weit. Mal sagt, er lasse sich gern bestechen, aber nur in bar.
»Ach, verdammt nochmal«, murmelt Alex. »Wehe, das ist nicht richtig gut.«
Mattie, naiv wie sie ist, vermutet wie immer, dass es bei den Geheimnissen um sie geht. In der Hinsicht liegt sie nicht ganz falsch.
Es ist nach halb neun, als wir uns schließlich alle zum Essen hinsetzen. Der Tisch wird von Sturmlaternen erhellt, verstärkt durch Kerzenstummel in Gläsern. Alex hat sich ans untere Tischende gesetzt, damit Mum und Dad nicht merken, dass eines der Gläser ihm gehört, wenn Mal allen aus der Flasche nachschenkt.