Kerstin Hack
Leinen los! Wie ich mitten in Berlin ein Hausboot baute, um meinen Traum zu leben
Knaur e-books
Kerstin Hack, Jahrgang 1967, studierte in Tübingen und Singapur Anglistik und Ethnologie mit Schwerpunkt interkulturelle Kommunikation. Geschäftsführerin eines international tätigen Vereins. Gründung des Verlages und der Beratungsfirma »Down to Earth«. Systemischer Coach und Supervisorin, Trainerin für Gewaltfreie Kommunikation, »Wingwave«-Coach.
© 2018 der eBook-Ausgabe bene! eBook
© 2018 bene! Verlag
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit
Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Redaktion: Uwe Birnstein
Covergestaltung: Maike Michel
Coverabbildung: Debora Ruppert
ISBN 978-3-96340-029-2
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Noch mehr eBook-Programmhighlights & Aktionen finden Sie auf
www.droemer-knaur.de/ebooks.
Sie wollen über spannende Neuerscheinungen aus Ihrem Lieblingsgenre auf dem Laufenden gehalten werden? Abonnieren Sie hier unseren Newsletter.
Sie wollen selbst Autor werden? Publizieren Sie Ihre eBooks auf unserer Akquise-Plattform www.neobooks.com und werden Sie von Droemer Knaur oder Rowohlt als Verlagsautor entdeckt. Auf eBook-Leser warten viele neue Autorentalente.
Wir freuen uns auf Sie!
Richard Rohr: Everything belongs: The gift of contemplative Prayer. New York, Crossroads, 1999, S. 121 – frei übersetzt von der Autorin.
Danke
Danke, liebe Anna Grace –
für alles.
Als ich dich kennenlernte,
dachte ich,
ich könnte dich formen.
Ich ging davon aus,
dass ich dich stärker machen würde
und dir helfen könnte,
zu deiner Bestimmung zu kommen.
Doch dann entdeckte ich:
Du prägst mich.
In den Jahren unserer Freundschaft
hast du mir gezeigt,
was es heißt, mutig zu sein und eine Vision zu verfolgen.
Du hast mir beigebracht, klar zu sein
und, wo nötig, auch deutlich Nein zu sagen.
Du hast mich gelehrt, nicht aufzugeben
und darauf zu vertrauen, dass zur richtigen Zeit Hilfe kommt.
Du hast aus mir eine Frau geformt,
die durch die Begegnung mit dir
vertrauensvoller und froher geworden ist.
Du hast mich geprägt wie niemand zuvor.
Danke, Anna Grace,
mein Schiff.
© Privat
Das Leben beginnt an dem Tag, an dem man einen Garten anlegt.
Chinesisches Sprichwort
Die Sonne lächelt, der noch kühle Aprilwind streicht mir übers Gesicht. Ich sitze draußen und blicke auf meinen Garten. Garten ist noch ein wenig übertrieben für die zehn mal dreißig Meter große Fläche am Rande eines alten Berliner Industriegebietes. Dort liegen große Haufen von Gestrüpp und Holz. Immerhin: Leckerer Rucola wuchert wild. Dornen aber auch. Die Stiefmütterchen, die ich gepflanzt habe, stehen kahl in der Erde. Doch die ersten Narzissen leuchten gelb. Direkt neben meinem Garten bauen gerade zwei Schwäne ein Nest für ihre Jungen. Ich liebe es, auf dem Steg zu stehen, der zu meinem Schiff führt, ihnen zuzusehen – und ihnen ab und zu etwas Baumaterial zuzuwerfen. Davon gibt es in meinem »Garten« genug. Bis mein Garten seinen Namen verdient, wird noch einige Zeit vergehen. Doch das ist eine andere Geschichte.
Geschichten, die uns bewegen, erzählen von Menschen, die etwas wollen und Hindernisse überwinden, um es zu bekommen. Meine Geschichte in Twitter-Kürze: »Ich wollte auf einem Schiff leben. Auf dem Weg zum Ziel gab es Hindernisse: Mangel an Wissen und Finanzen, Rost, Schweiß, Tränen und Behördenstarrsinn.« Das reicht noch nicht ganz für einen abendfüllenden Kinofilm und ist so auch noch etwas kurz für ein Buch. Deshalb möchte ich nun die ganze Geschichte erzählen. Es ist die Geschichte einer Frau, die mit praktisch nichts als einem Traum begann, ein altes rostiges DDR-Marineschiff umzubauen. »Nichts« stimmt nicht ganz. Ich besaß einen Zimmermannshammer, eine Metallsäge und eine Rohrzange – und konnte gerade mal eben so mit diesen Werkzeugen umgehen. Ein ausreichendes Budget für das Projekt? Fehlanzeige. Erfahrung im Bauen? Nur die wenigen Stunden, die ich als Teenager meinen Eltern beim Hausbau geholfen hatte – widerwillig. Lesen war mehr mein Ding, als Bretter zusammenzuschrauben. Kenntnisse über Schiffe, Wassergesetze oder Ähnliches? Null. Bootsführerschein? Nein.
Immerhin: Ich hatte eine Handvoll Freunde, dazu ein Gehirn, das »unmöglich« auch nur für eine Meinung von vielen hielt. Und ein Herz, das sich weigerte, die Sehnsucht im »Es-geht-nicht«-Tresor zu verschließen. Hinzu kam der waghalsige Glaube, dass jeder Traum einen Weg in sich birgt, der zu mehr Lebendigkeit führt. Ich las das Kleingedruckte der Visions-Packungsbeilage: Lassen Sie sich auf die Sehnsucht ein, kann das zu Schmerz, Irritation im beruflichen oder privaten Umfeld, schlaflosen Nächten und Kopfschmerzen führen. Und ignorierte es. Ich vermute, du gehörst zu denen, die wissen, wie viel es kostet, einen Traum zu leben. Du ahnst aber auch, dass es noch viel mehr kostet, es nicht zu tun – letztlich das Leben. Ich vermute, du bist ein Visionär oder eine Zockerin, die auf die Hoffnung wettet. Einer oder eine von uns Mutigen.
Viel Freude beim Leben und Lesen!
Kerstin Hack
Was wäre das Leben,
hätten wir nicht den Mut,
etwas zu riskieren.
Vincent van Gogh
Hier fehlt ein Stempel!« – »Puls unter 28«: Diese beiden beunruhigenden Aussagen hallten in meinen Ohren wider, schlugen wie Hämmer gegen meinen Schädel, ließen mein Herz stocken. »Auf Ihrer Transportgenehmigung fehlt ein Stempel. Sie dürfen mit Ihrem Schiff nicht weiterfahren!« – »Kerstin, dein Vater ist mit einem Blutdruck von unter 28 ins Krankenhaus gekommen.«
Ich hatte gedacht, das Schlimmste läge bereits hinter mir. Es war schwierig genug gewesen, das Schiff für die Reise von Hamburg nach Berlin transportfertig zu bekommen: In drei langen, eiskalten Wintermonaten mussten alle Lecks und Schwachstellen im Metall gefunden und ausgebessert werden. Der Lohn für diese Arbeit war das ersehnte Schwimmfähigkeitszeugnis. Der Kahn bleibt – amtlich bestätigt – über Wasser.
Und dann musste dieses Schiff ohne Motor auch noch transportiert werden. Nach langem Hin und Her war klar: Die Firma Ed Line macht das. Mit meinen besorgten Fragen hatte ich den Inhaber so genervt, dass er mir schließlich ein Foto mailte, auf dem zu sehen war, wie eines ihrer Boote einen 40 Meter langen und 15 Meter hohen Schiffsrohling schob. Dazu die Botschaft »WIR KÖNNEN DAS!«. Ich verstand.
Damit wir starten konnten, musste mein Schiff mit genug Ballast gefüllt werden, es sollte so tief im Wasser liegen, dass alle Brücken unterquert werden konnten. Einen Tag vor der geplanten Abfahrt stellten wir fest, dass uns zehn Zentimeter fehlten. Zehn Zentimeter sind viel, wenn es gilt, ein 25 Meter langes und 25 Tonnen schweres Schiff genauso weit abzusenken. Doch es gelang.
Zu allem Überfluss war auch noch das Seil, das mich mit meinem Bootsbauer verband, durch zunehmende zwischenmenschliche Spannungen gerissen. Franz war von Bord gegangen und mit ihm alles Werkzeug. Wie sollten wir die mehrtägige Reise ohne einen schiffskundigen Menschen überstehen? Zum Glück konnte Bernd, ein Hafennachbar, kurzfristig seinen Kumpel Bernd II zu uns an Bord schicken.
Jetzt musste noch ein 400 Kilogramm schweres Ruder umgelegt werden, ohne das Schiff oder Menschen zu schädigen – dann endlich begann der schöne Teil der Reise.
Ein Höhepunkt: das Schiffshebewerk Scharnebeck. Dort fuhr das Schiff in eine Art Wanne ein, die selbst 5800 Tonnen wiegt, und wurde mithilfe von Gegengewichten aus 224 je 26 Tonnen schweren Betonscheiben 38 Meter nach oben gehoben. Für mich ein Wunderwerk der Technik – bei seiner Erbauung das höchste Schiffshebewerk der Welt. Am liebsten wäre ich noch ein paarmal rauf- und runtergefahren, aber das ist leider nicht erlaubt.
Wir überquerten auf der Trogbrücke bei Magdeburg die Elbe. Vom Dach des Steuerhauses den majestätischen Fluss im Morgenlicht zu sehen war unwirklich schön. Ein Traum! »Jetzt kann nichts mehr schiefgehen«, dachte ich, »in zwei Tagen sind wir in Berlin.«
Doch das war ein Irrtum. Ich hatte nicht mit der deutschen Bürokratie gerechnet. Die holte uns um 15.55 Uhr an der Schleuse bei Brandenburg an der Havel ein. Ein Wasserschutzpolizist hatte unseren Schubverband gesehen – so nennt man die Kombination aus Schubschiff und einem anderen Gefährt ohne eigenen Antrieb. Er wollte prüfen, ob die Verbindung zwischen Schubschiff und meinem Schiff stabil genug war. Für ihn war es unerheblich, dass wir damit schon gut über die Elbe gekommen waren, die selbst in den ruhigen Sommertagen weitaus stürmischer und deutlich mehr befahren war als die beschauliche Havel. Schließlich gab er sein Okay – die Verbindung war stabil.
Doch dann tat sich ein neues Problem auf. »Hier fehlt ein Stempel!«, sagte der Wasserschutzpolizist und zeigte mit kritischem Blick auf die betreffende Stelle. »Stempel und Unterschrift«, stand da. Aber der Beamte, der das Dokument ausgestellt hatte, hatte es nur unterschrieben. »Ohne Stempel ist das Dokument ungültig«, stellte der Polizist fest, »Sie dürfen nicht weiterfahren!« Wir wiesen mit Engelszungen darauf hin, dass es doch das richtige Formular sei, von der richtigen Behörde gefaxt und auch von einem der Mitarbeiter dort unterschrieben. Doch ein fehlender Stempel in Deutschland ist schwerwiegend. Das wollte der Polizist nicht allein entscheiden. Er wandte sich telefonisch an die nächste Instanz.
Der Anruf beim Vorgesetzten um 16.02 Uhr blieb erfolglos. »Wir haben um 16 Uhr Dienstschluss. Morgen ab 9 Uhr ist wieder geöffnet, dann werden wir klären, ob Sie weiterfahren dürfen.« – »Morgen um 9.00? Wir wollten heute noch sieben Stunden fahren, um möglichst nah an Berlin ranzukommen!« – »Tut mir leid, ich habe jetzt Feierabend! Bis morgen!«
Die Jungs vom Begleitboot maulten, denn sie würden einen Tag länger von ihren Freundinnen getrennt sein. Gerade für den frisch verliebten jüngeren der beiden war das sichtlich schmerzhaft. Außerdem kann kaum etwas einen Seemann so erschüttern, wie nichts tun zu können.
Wir saßen fest und waren machtlos gegen kleinkarierte Bürokratie. Es war doch nicht unser Fehler, dass der Beamte vergessen hatte, die Genehmigung abzustempeln, bevor er sie gefaxt hatte. Aber Gesetz ist Gesetz: Ohne Stempel galt der Transport als illegal – später sollte mich als Auftraggeberin diese »Straftat« 875 Euro kosten. Ich sage gerne: »Ein Abenteuer ist eine Krise, die man sich selbst ausgesucht hat.« Aber sogar für meinen Geschmack war das nun zu viel Krise.
»Ob die uns überhaupt weiterfahren lassen? Was machen wir, wenn die uns hier festhalten?« – »Es wird einen Weg geben«, versuchte mich meine Freundin Rosemarie aufzumuntern. Sie hatte leicht reden. Die Verantwortung trug ich.
Mitten in die Anspannung hinein rief mich meine Mutter an: »Dein Vater ist ins Krankenhaus eingewiesen worden. Sein Puls war unter 28.« Ich wusste gerade genug von Medizin, dass ein Puls eher bei 80 liegen sollte als bei 28. Dass man mit einem derart niedrigen Puls jederzeit umkippen kann, war mir klar.
Später erfuhr ich, dass der behandelnde Arzt, der das Problem zufällig bei einer Routineuntersuchung festgestellt hatte, meinem Vater nicht einmal erlaubt hatte, die 100 Meter von seiner Praxis zum Krankenhaus zu laufen: »Jeder Schritt, den Sie gehen, könnte Ihr letzter sein! Ich rufe einen Krankenwagen.«
Ich lag auf der Matratze, die wir auf den blanken Stahlboden im »Salon« des Schiffes gelegt hatten, und grübelte und weinte: »Wird Papa es schaffen? Werden wir es schaffen? Ist jetzt alles aus? Wie wird es weitergehen?« In meiner Hilflosigkeit wandte ich mich auch im Gebet an Gott – es ist für mich ein tröstender Glaube, in Schwierigkeiten nie allein zu sein. Doch ich kenne auch Tage, an denen ich das Empfinden habe, dass meine Gebete nur bis zur Decke kommen und dann mit aller Wucht auf mich zurückprallen. So war es in dieser Nacht.
Eine Antwort konnte ich nicht finden.
In welcher Phase der Vision ein Visionär sich befindet, erkennt man an den Kommentaren seiner Mitmenschen.
Phase 1: »Du bist verrückt!«
Wenn ein Mensch ein weites, liebendes Herz hat, kommen die Menschen zu ihm wie die Schiffe in den Hafen und fühlen sich wohl, wenn sie unter dem Schutz seiner Freundschaft vor Anker liegen.
Charles Spurgeon
Neonlicht spart Geld – das galt so lange, bis LEDs erfunden wurden. In den 90er-Jahren des letzten Jahrhunderts war die Technik noch weit davon entfernt, Sparsamkeit und Schönheit zu kombinieren. So saß ich mit 300 anderen Menschen in einem neonbeleuchteten Raum und hörte dem Redner zu. »Es wird Zeit, dass wir aufhören, uns über die Schwächen unserer Eltern zu beklagen, und stattdessen Eltern für die nächste Generation werden.« Volltreffer. Der Satz rutschte an allen möglichen Einwänden vorbei und traf mich mitten ins Herz. Er wurde zu einem Magneten, der von nun an viele meiner Entscheidungen in eine neue Richtung lenkte.
Mit meinen Eltern habe ich es eigentlich recht gut erwischt. Beide sind kluge, lebenstüchtige Menschen, die meinen beiden Geschwistern und mir eine solide Basis für das Leben mitgaben.
Ich erinnere mich an eine Kindheit mit vielen Erlebnissen und Wanderungen und mit abwechslungsreichen Urlauben in den Bergen oder am Meer. Im und am Wasser fühlte ich mich schon immer besonders wohl, auch wenn ich nicht ahnte, welche Rolle es später in meinem Leben spielen würde. Als Kind liebte ich das Wasser und war oft erst dann bereit, das kühle Nass zu verlassen, wenn meine Lippen blau und meine Glieder vor Kälte fast unbeweglich waren.
Vor allem im Freien spielten wir viel. Ab und an erlaubte meine Mutter es meinem Bruder und mir nicht nur, auf die baumhohen Strohstapel der Bauern zu steigen, sondern kletterte sogar mit. Sie genoss es wie wir, immer wieder jauchzend herunterzurutschen.
Es ist ja das Privileg der Kindheit, Dinge so oft tun zu können, wie man will. »Noch mal!« ist das Glückswort der Kinder – und manchmal das Ermüdungswort der Erwachsenen. Bis heute ist für mich die Fähigkeit, mich immer wieder über die gleichen Dinge freuen zu können – etwa über die Enten, die auf dem Wasser herumtrödeln –, ein guter Indikator dafür, ob ich mir mein kindliches Wesen bewahrt habe oder ob es mir im Stress des Lebens verloren ging.
Anders als der Rest der Familie hatte ich kein Interesse an Sport. So erlebte ich weniger als meine Geschwister die Verbindung, die durch das gemeinsame Joggen oder Tennisspielen entstand. Häufig vermisste ich das Verständnis für meine Themen und Fragen. Vieles machte ich mit mir alleine aus oder mit Freundinnen oder im Gebet.
In meinen Zwanzigern verbrachte ich viel Zeit damit, die innere Einsamkeit meiner Teenagerjahre zu betrauern und aufzuarbeiten – bis die besagten Worte in mein Herz fielen: »Es wird Zeit, dass wir aufhören, uns über die Schwächen unserer Eltern zu beklagen, und stattdessen Eltern für die nächste Generation werden.«
Ein Satz. Ein Wendepunkt. Natürlich gab es weiterhin Situationen und Erinnerungen, die alten Frust heraufbeschworen. Doch der Fokus lag nicht länger auf dem, was ich vermisste, sondern auf dem, was ich geben konnte.
Jüngeren Menschen Inspiration, Rat und Halt zu geben lag mir schon immer. Als Teenager hatte ich in der Schule den Spitznamen »das Huhn«, weil sich nach Schulschluss regelmäßig jüngere Mitschüler um die zwei Hähne Frank und Willi und mich scharten und uns um Rat fragten. Obwohl ich nur etwa zehn Minuten von der Schule entfernt wohnte, kam ich oft zu spät zum Mittagessen. Statt nach Hause zu gehen, blieb ich lieber so lange bei den anderen sitzen, bis der letzte Schulbus abgefahren war. Ich hörte zu, gab Rat, tröstete und war dort – ebenso wie in der Jugendarbeit einer Kirchengemeinde – voll in meinem Element. Ich fand, dass es Wichtigeres im Leben gab, als pünktlich zum Essen zu Hause zu sein.
Bis heute sind Gespräche mit Menschen für mich wichtiger als Essen – sosehr ich auch das genieße. Ein Freund beobachtete einmal, wie ich die Umgebung komplett ausblende, wenn ich in ein Gespräch vertieft bin: »Du hast meinem Bruder beim Essen so intensiv zugehört, dass du alles andere vergessen hast. Du hattest ein Salatblatt auf deiner Gabel, und ich habe mich die ganze Zeit gefragt, wann du es wohl wieder bemerken und den Salat weiteressen würdest. Es war nach über 40 Minuten!«
Damit kein falsches Bild entsteht: Ich bin keine klassische Seelsorgetante, und von Mutter Teresa fühlte ich mich oft ähnlich weit entfernt wie von Bruce Willis. Ich gehöre eher in die Kategorie Mensch, der Potenziale in anderen sieht und dann mit allen Mitteln fördern will. Wenn es nötig ist, sprenge ich auch mal gerne ein paar Hindernisse aus dem Weg. Her mit dem Dynamit. Am liebsten in Form von Gedanken aufsprengenden Coaching-Fragen: »Mal angenommen, du müsstest dein Problem verschlimmern, wie könntest du das bestmöglich bewerkstelligen?« Oder: »Stell dir mal vor, Angela Merkel, Pippi Langstrumpf, Barack Obama oder Mahatma Gandhi stünden vor deinem Problem – wie würden sie es wohl angehen?« Oder – eine meiner Lieblingsfragen: »Stell dir vor, du hast dein Problem schon gelöst – wie hast du es gemacht?«
Ich greife vor. Diese Coaching-Fragen habe ich erst gelernt, als ich schon um die 40 war – also etwa zehn Jahre nach der bewussten Entscheidung, schwerpunktmäßig mehr in jüngere Menschen zu investieren.
Das Natürlichste für mich damals war, erst einmal mein Haus zu öffnen. Haus ist eigentlich übertrieben. Es handelte sich um eine Dreizimmerwohnung in Berlin-Friedenau. Das ist ein ab 1870 erbauter, beschaulicher Stadtteil Berlins, der geprägt ist durch Kunst und Literatur. An warmen Sommertagen konnte ich den würzigen Rauch der Pfeife von Günter Grass erschnuppern, der auf meinem Weg zu meinem Samstagsmarkt wohnte. Dorthin ging ich meist erst kurz vor Schluss, weil dann die Chancen gut standen, vier Schalen Erdbeeren für fünf Euro und einen armgroßen Blumenstrauß zum gleichen Preis zu ergattern.
Immer öfter teilte ich mein Obst und die Blumen mit jungen Menschen, die für ein paar Tage oder Wochen bei mir wohnten. Manche kamen einfach nur, weil sie Berlin und mich besser kennenlernen wollten, andere, weil sie sich danach sehnten, Orientierung im Leben zu finden, und hofften, dass ich ihnen dabei helfen könnte.
So wie Katharina und ihre Freundinnen. Eines Abends erhielt ich einen Anruf von der jungen Frau: »In meiner WG gibt es Probleme. Kann ich zu dir kommen?« – »Klar!« – »Es gibt noch ein Problem: Ich habe gerade drei Freundinnen zu Besuch.« – »Ist schon okay. Bring sie mit.«
Ich gab den vieren mein Schlafzimmer und zog wie so oft selbst auf eine Matratze ins Büro. Nach ein paar Tagen konnte ich fast darauf wetten: Wann immer ich in die Küche ging, um mir einen Tee zu kochen, würde eine von ihnen dazukommen und ein Gespräch mit den Worten beginnen: »Sag mal, Kerstin, was würdest du machen, wenn…?«
So gut ich konnte, beantwortete ich ihre Fragen und genoss ihr Vertrauen. Nach dem Abschied freute ich mich über die schöne Erfahrung, jungen Frauen offensichtlich auf so schlichte Weise etwas Kraft und Halt im Leben gegeben zu haben.
Ihr aber seht und sagt: Warum?
Aber ich träume und sage: Warum nicht?
George Bernard Shaw
Fünf Zimmer mit fünf Balkonen im Herzen von Berlin.« Die Immobilienanzeige im Schaufenster einer Bank zog mich magisch an. Ich verfüge über ein gutes Maß an Improvisationstalent, doch im Lauf der letzten Jahre war es auch für mich beschwerlicher geworden, Gäste länger zu beherbergen.
Mein Schlafzimmer, das ich Gästen gerne zur Verfügung stellte, lag hinter dem Wohnzimmer, das – typisch Berlin – ein Durchgangszimmer war. Ich beginne den Morgen gern auf dem Sofa mit einer Tasse Kaffee, Reflexion und Gebet und kam nur schwer zur Ruhe, wenn Gäste auf dem Weg zur Küche, nach draußen oder zum Badezimmer ständig an mir vorbeiliefen.
Auch das Badezimmer stellte einen Engpass dar. Es gab Zeiten, in denen Sauberkeitsfanatiker gefühlte Stunden hinter der verschlossenen Tür verbrachten, während die anderen Gäste und ich darauf warteten, endlich zur Toilette zu können. Eine kleine Küche, die nicht einmal Platz für einen Tisch bot, war auch nicht ideal, um mehrere Gäste zu beherbergen.So begann ich davon zu träumen, eine größere Wohnung zu finden, mit Bad und separatem WC, großer Küche und einem eigenen Zimmer für Gäste. Da ich mittlerweile neben meiner Tätigkeit als Autorin und Verlegerin auch als Coach arbeitete, benötigte ich außerdem ein großes Büro oder einen separaten Beratungsraum. Außerdem wünschte ich mir ein Wohnzimmer, das groß genug für Seminare war. Hell sollte es sein. Und natürlich mit Weitblick und Balkon. Das brauche ich, um den Himmel zu sehen.
Wie erstarrt blickte ich auf die Anzeige im Schaufenster der Bank: Hier lächelte mich die eierlegende Wollmilchsau an: »Mich gibt es wirklich. Ein 30 Quadratmeter großes Wohnzimmer, drei Schlafzimmer, ein Büro, ein weiterer kleiner Raum (Beratungsraum!) mit separatem Eingang. Außerdem Balkone vor Küche, Wohnzimmer und zwei Schlafzimmern. Im Zentrum Berlins – fünf Minuten Fußweg vom Galerienviertel und der Synagoge in der Oranienburger Straße entfernt.
Ich verliebte mich auf der Stelle in diese Wohnung und gleich noch einmal, als ich sie sah. Das war genau das, wovon ich immer geträumt hatte – nur besser. Zwei moderne, mit blau schimmernden Fliesen ausgestattete Bäder, ein WC, eine riesige Wohnküche mit Blick zum Fernsehturm. Ein Wohnzimmer, das groß genug war zum Tanzen und für Seminare. Nicht nur ein, sondern sogar zwei Gästezimmer und ein separater Eingang zum Beratungsraum. Was will man mehr? Nichts.
Weil die Wohnung im fünften Stock ohne Aufzug lag, kostete das Prachtstück »nur« 400000 Euro für 180 herrliche Quadratmeter über den Dächern Berlins. 400000 Euro, die ich nicht hatte. Meine kleine Firma warf in guten Zeiten gerade genug zum Leben ab. In schlechten Zeiten nicht einmal das.
Doch der Haken saß. Die Wohnung war der absolute Traum. Also entwickelte ich ein Konzept zur Nutzung für Schulungen, Seminare und Trainings für junge Menschen. Ich stellte bei einer Stiftung einen Antrag auf Unterstützung für das Projekt – erfolglos. Ich war zu feige, meine Eltern um ein Darlehn oder eine Hypothek auf ihr Haus zu bitten, um die Wohnung zu erwerben. Heute bedauere ich das – bei den jetzigen Immobilienpreisen wäre die Wohnung nun locker das Vierfache wert. Es wäre also sogar eine sehr gute Geldanlage gewesen.
Neun Monate lang hegte ich den Wunsch, die Wohnung doch irgendwie zu bekommen und meinen Traum, dort Menschen zu fördern, noch besser als bisher umsetzen zu können. Doch ich träumte nur. Aus Feigheit oder fehlendem Vertrauen handelte ich nicht. Als eines Tages die Anzeige nicht mehr im Fenster der Bank zu sehen war, rief ich den Verkäufer an: »Sie liegen mit Ihrer Vermutung richtig – die Wohnung ist nicht mehr erhältlich. Sie wurde an ein junges Ehepaar verkauft.«
Ich heulte wie ein Schlosshund – eine ganze Woche lang. Es fühlte sich an, als ob ein Kind gestorben sei. In der verrückten Hoffnung, dass es doch noch eine Neuauflage des Traumes geben könnte, klingelte ich eines Nachmittags bei den Käufern. Atemlos vom Treppensteigen bis in den fünften Stock und nervös vor Aufregung platzte es aus mir heraus: »Eigentlich wollte ich diese Wohnung haben, aber ich habe es verpasst. Falls Sie jemals verkaufen wollten, lassen Sie es mich bitte wissen.«
Peinlich berührt durch den unerwarteten Überfall nahm der Mann meine Visitenkarte entgegen und erklärte, sie wollten die Wohnung nicht verkaufen. Wohl um die verrückte Frau an seiner Tür schnell wieder loszuwerden, versprach er, sich zu melden, falls sie doch verkaufen würden. Ich hörte nie wieder etwas von ihnen. Der Traum war geplatzt.
Gelegenheiten muss man mutig ergreifen, wenn sie sich bieten. Im Nachhinein sind wir alle Genies und wissen: Das hätte ich machen sollen. Die Kunst ist es, etwas genau dann zu tun, wenn es dran ist. Träume und Risiken abwägen. Dann mutig entscheiden. So wie Ritter, die überlegen mussten, ob sie aufgeben, sich verstecken oder den Feind direkt angreifen und dafür das Schwert aus der Scheide ziehen sollten – entschieden eben.
Die Gelegenheit zu entscheiden hatte ich gründlich verpasst. Doch Aufgeben ist nicht so mein Ding – bei echten Träumen schon gar nicht. Bei Ideen ist das anders. Ideen für meinen Verlag, meine Freizeit oder die Erweiterung meines Wissens habe ich viele – in der Regel weit mehr, als ich umsetzen kann. Die Liste der Titel für Bücher und Ratgeber, die ich gerne schreiben oder publizieren möchte, ist aktuell zarte 19 Seiten lang.
Ein kreatives Gehirn produziert ständig Ideen. Gelegentlich bedauere ich, dass ich sie aus Zeit-, Energie- und Geldmangel nicht alle umsetzen kann. Dann tröste ich mich selbst: Ideen sind wie Männer. Ich kann viele attraktiv finden, aber nur einen heiraten. Polygamie führt im Leben, wie auch bei Ideen, zu Chaos.
Ideen kann ich fallen lassen. Träume nicht. Sie sind, anders als Ideen, nicht optional. Einen echten Lebenstraum definiere ich als etwas, das mir zutiefst entspricht, Ausdruck meines Wesens, meiner Talente, meiner tiefsten Wünsche ist. Wenn ich mir treu sein will, gehört es dazu, meine Träume umzusetzen, so gut ich kann.
Wenn ich die Torte nicht haben kann, versuche ich wenigstens kleine Brötchen zu backen, dachte ich mir in Bezug auf meinen Wohnungstraum. Wenn ich die große Traumwohnung schon verpasst habe, ist vielleicht etwas Kleineres möglich. Ich suchte weiter, zwar mit vermindertem Enthusiasmus, doch ich war nach wie vor optimistisch.
Schließlich wurde ich direkt vor meiner Nase fündig: Schräg über meiner Altbauwohnung befand sich ein ungenutzter Dachboden. Früher hatte man den Raum zum Aufhängen von Wäsche genutzt. Jetzt befanden sich darin nur ein paar Gartenstühle, Blumentöpfe, alte Tische und Dachziegel, die Bewohner dort abgestellt hatten. Und fünf Tonnen Bücher meines Verlags, die nicht in mein drei mal drei Meter kleines Büro passten.
Der Raum war nicht groß, aber ausreichend für eine kleine Gästewohnung mit Wohnschlafzimmer, Küchenecke und Dusche. Durch die vielen steilen Schrägen war er für Seminare eher ungeeignet, aber immerhin – ein Ort, an dem meine Gäste wohnen, duschen, denken, reflektieren könnten. Das war nicht mehr der große Traum, eher ein auf das Machbare zurückgestutztes kleines Träumchen. Aber zumindest waren einige Elemente des großen Traumes noch darin enthalten.
Ob es richtig war, den großen Traum aufzugeben und stattdessen die machbare Option zu wählen, kann ich auch im Rückblick nicht sagen. Was ist schon richtig? Die Kategorie, nach der ich Entscheidungen beurteile, heißt »Leben«. Ich frage mich: Spendet eine Entscheidung Leben oder schränkt sie Leben und Lebendigkeit ein?
Für manche Menschen ist es belebender, das Machbare anzupacken, als das scheinbar Unmögliche zu wagen. Mich hingegen beleben Herausforderungen. Wenn etwas verrückt und unmöglich scheint, weckt es meine Lebensgeister. Mein Ideenreichtum und meine Fantasie werden angeregt. Ich fühle mich zutiefst lebendig.