Für meinen Vater
Wir fühlen mit anderen, um sie zu verstehen und selbst akzeptiert zu werden, dann betrügen wir sie.
Jean-Paul Kauffmann
Februar 1965
Er schreckt hoch, tastet nach Angelika und flüstert: »Hast du das gehört?« Doch sie spitzt nur im Schlaf ihre Lippen, als wolle sie geküsst werden.
5:30 Uhr. Erster Stock eines Mietshauses in Berlin-Treptow.
Im Hof gurren Tauben. In der Küche nimmt Angelikas Mutter, die zur Frühschicht muss, den Teekessel vom Herd, bevor der lospfeifen kann. Die Lebensbäume draußen vor dem Fenster, vor dem noch schwarzen Morgenhimmel, zittern sacht.
Das Poltern kam wohl eher aus seinem überreizten Inneren.
Abschalten! Schlafen! Der Schwiegersohn in spe sein, ein gern gesehener Gast, dem es gelungen ist, sich neben der temperamentvollen Tochter des Hauses zu behaupten. Vorsichtig rückt er näher, lässt sich von der Wärme und dem vertrauten, leicht zitronigen Cremeduft ihres Körpers beruhigen und wieder davontragen.
Dann kracht es gegen die Wohnungstür.
Hiebe mit der Faust oder der flachen Hand, die durchs Haus hallen. Jemand, der keinen Gedanken darauf verschwendet, die Klingel zu benutzen, brüllt:
»Aufmachen!«
Sekunden später, noch völlig orientierungslos, hört er seinen Namen und den Befehl:
»Anziehen!«
Da stürmen sie bereits in Angelikas Zimmer. Es sind drei. Die Mutter drücken sie gegen die Wand, ohne eine Miene zu verziehen. Angelika, die ihnen im Nachthemd entgegenspringt, wird aufgefangen und dazusortiert.
»Zurück! Gegen Sie liegt nichts vor!«
Ihn nehmen sie mit. In einem weißen Zivilfahrzeug verfrachten sie ihn zu seiner, wie sie es ausdrücken: »Meldeadresse«. Mehr wird nicht erklärt. Durch die winterbleiche Stadt geht es Richtung Norden. Nach etwa halbstündiger Fahrt erreichen sie Berlin-Blankenburg.
Sechs Grad minus. Böiger Wind und eine dünne, immer wieder aufgewirbelte Schneeschicht.
Zwei der Männer warten mit ihm vor dem Elternhaus. Sie tragen lange, dunkle Mäntel.
Er muss neben ihnen stehen und frieren, auf einem zugewiesenen Platz beim Gartentor. Sie beachten ihn nicht weiter. Sie sprechen kein Wort, auch nicht miteinander, sondern blicken unentwegt die Suderoder Straße hinunter und halten die Hände in den Taschen. Ohne, dass er es wissen kann, weiß er, dass sie so ihre Pistolen verbergen. Seine Großmutter darf im Haus bleiben.
Wo ist sie? Geht es ihr gut oder wird die 82-Jährige auch in die Mangel genommen? Auf Zehenspitzen stehend, versucht er sie zu entdecken. Aber er sieht nur ihren Bewacher hinter dem Küchenfenster. Gleichmäßig wandert dessen Profil hin und her.
Als die Verwandten mit ihrem blauen Wartburg vorfahren, geht ein Ruck durch die Gruppe. Die Männer schnellen vor, überfallartig. »Weisen Sie sich aus!«, bellt der Vordere. Die Großtante aus Sachsen-Anhalt, die ja nur zu Besuch kommen und ihrer Schwester und dem Großneffen beistehen wollte, steigt aus und durchwühlt kreidebleich ihre Handtasche. Ihr Ehemann auf der anderen Seite des Wagens steht da wie angewurzelt. Würde er sich jetzt bewegen, bestände Gefahr, erschossen zu werden. Das hat er zum Glück begriffen.
Im Gänsemarsch marschieren alle ins Haus. Martin kennt sich aus, aber jetzt nicht mehr. Es ist kalt, fremd und abschreckend. Auf der Suche nach Gewissheit fällt ihm ein, dass drinnen Hausschuhe anzuziehen sind. Darauf legt Großmutter Wert. Bevor jemand einschreiten kann, kniet er nieder und hält sich an seinen zerknautschten Pantoffeln einen Moment lang fest.
Die Familienmitglieder werden auf unterschiedliche Räume verteilt. Dass Martin vor Bibbern kaum sprechen kann, interessiert niemanden.
Sie schieben ihn ins Wohnzimmer.
Der Vernehmer sitzt vor ihm am Esstisch der Familie, im Schein der Deckenlampe mit den hängenden, immer ein wenig wackelnden Troddeln, während er stehen bleiben muss.
Mit seinen Tellerhänden schiebt dieser Typ alles beiseite, wischt es beinah vom Tisch – die in Ringen steckenden Servietten, Vaters Rommékarten, die blaue Obstschale von den Urgroßeltern aus Brandenburg.
Die Fragen drehen sich um die »Aufklärung eines schweren Staatsverbrechens«. Am Tag zuvor sind die Eltern verhaftet worden. Sein Gegenüber will herausbekommen, was er von den »geheimen Aktivitäten« wusste.
»Nichts, absolut nichts«, bringt er hervor. Er schlottert noch immer und wundert sich, dass er verstanden wird. Vor kurzem habe er seinen achtzehnten Geburtstag gefeiert. Er würde sich intensiv aufs Abitur vorbereiten, habe auch eine feste Freundin. Sie heiße Angelika Walder und wohne, wie man ja offenkundig wisse, in Berlin-Treptow, Beermannstraße 10. In letzter Zeit habe er selten zu Hause übernachtet. Das Verhältnis zu seinen Eltern sei eher oberflächlich.
Der Vernehmer bohrt nach, droht auch, aber Martin bleibt dabei. In der Wärme des Zimmers wird er sicherer und man scheint ihm schließlich zu glauben. Die Inhaftierung der Eltern, beteuert er, würde ihn vollkommen überraschen. Sie wäre ein Schock.
Letzteres stimmt.
Doch dass seine Eltern Spione sind, weiß er seit langem. Er kennt keine Hintergründe, er kann es weder verstehen, noch wirklich einordnen oder beurteilen, aber er weiß es.
Es ist der Fluch seines Lebens, und er wird jetzt losrennen müssen, um damit fertigzuwerden.
»Iiiaahh.« Der gequälte Schrei einer Frau fährt durchs Haus. Es ist ein tierischer, in jeden Winkel kriechender Laut, nicht herauszuhören, von wem genau er stammt. Mit einem dumpfen Krachen fällt etwas um. Türen schlagen, Schritte poltern über die Treppe, jemand ruft »Heinz!«.
Ist das ein Klarname? Sein Vernehmer eilt hinaus. Die Tür des Wohnzimmers muss mit einem geübten Griff leicht angehoben und gleichzeitig fest zugezogen werden, sonst schließt sie nicht richtig.
Durch den sich öffnenden Spalt kann er erkennen, dass die Großmutter in der Küche auf dem Boden liegt.
»Kollaps. Sie braucht einen Arzt, so schnell wie möglich, sonst nippelt die ab!«, hört er, da ist er schon draußen im Korridor. Zwei der Männer beugen sich über die hingestreckte Gestalt. Er sieht den verrutschten Rock, die fleischfarbenen Strümpfe und die seltsam gerade über den Füßen steckenden Pantoffeln.
Auf einmal ist er es, der Bescheid weiß.
»Um die Ecke wohnt unsere Hausärztin. Ich kann sie holen.«
»Dann mach!«
Er sprintet durch den Winter. Wieder nur in Strickjacke, mit über den Bürgersteig hämmernden Schritten, dabei krampfhaft bemüht, nicht auszurutschen oder seine Hausschuhe zu verlieren. Großmutter, nicht böse sein, bittet er im Stillen, fürs Schuhetauschen blieb keine Zeit! Er stürmt die ihm endlos lang scheinende Suderoder Straße hinunter bis zur Ecke Gernroder Straße, wo er mit ausgestreckten Armen nach rechts um die Kurve rudert.
Kurz vor der Einmündung Alt-Blankenburg erreicht er das Haus der Ärztin. Sein Atem dampft. Mit solchem Druck, solch fordernder Verzweiflung hat er noch nie eine Klingel betätigt.
Es klingelt lange. Er hört erst das Telefon oben im Haus und dann neben sich im Behandlungszimmer. Seine Mutter ist dran.
»Wann wolltest du hier sein?«
»In zwei Stunden, wie vereinbart.«
»Könntest du auch etwas später kommen? Mona möchte mich anrufen.«
»Kein Problem.«
»Es ist nur wegen der Zeitverschiebung. Wenn meine Enkelin in Amerika mit mir reden will, muss ich ready sein. Du bist nicht böse?«
»Ach was. Soll ich Kuchen mitbringen?«
»Um Gottes willen. Ich habe Kekse.«
Sie legt auf. Das Knacken im Hörer passt zur Nüchternheit des ihn umgebenden Raumes. Die Wand entlang erstreckt sich ein Glasschrank voller Arzneimittel und Instrumente. Auf einem Sockel erhebt sich ein Metalltisch für die Kleintier-Untersuchungen. Der geflieste Boden ist braun wie geronnenes Blut, das dort nach Eingriffen mitunter tatsächlich zu finden ist.
Sein Blick geht durch das Fenster in den Wintergarten. Wenn er die Korbstühle mit den selbstgenähten Kissen sieht, die sich wie Farbkleckse um den runden Tisch gruppieren, muss er an Sommerabende denken, an laue Luft, klingende Gläser und von Insekten umschwirrte Kerzen.
Er wendet sich ab, trägt eine Kühlbox mit der Aufschrift »Labor« nach draußen und stellt sie vor die Eingangstür, direkt neben die Schalen mit dem Katzenfutter.
Freitag, 15 Uhr. Nicht ohne Andacht steht er vor dem alten, eigenhändig aufgestockten Gutshaus und zählt die Glockenschläge. Von der nahen Kirche, so bildet er sich ein, wehen sie zu ihm herüber. Herüberwehen, er mag das Wort. Flüsternd spricht er es aus, auch wenn es zur Beschreibung von Klängen nicht ganz passend scheint.
Er ist achtundsechzig Jahre alt, ein zugezogener Tierarzt in einer oberbayrischen Gemeinde. Er berlinert nicht mehr, grüßt seine Klienten mit einem zuvorkommenden Lächeln und trägt bei der Arbeit am liebsten Sandalen. An bloßen Füßen.
Vor einem Jahr ist seine Frau Emma gestorben.
Vorne, beim Lagerplatz für das Brennholz, eilt der jüngere Kollege, mit dem er sich die Praxis teilt, über die Straße.
»Servus, Jürgen, ich dachte, mit der Nachmittagsrunde wärst du durch?«
»War ich auch, aber bei den Bichlers gibt’s ein Problem.«
»Welches?«
»Der Senior meint, eins seiner Rinder hätte einen Nagel verschluckt.«
»Viel Erfolg. Das neue Ortungsgerät müsste in der Anmeldung unter der Theke stehen.«
»Hab’s schon eingesackt.«
Sie winken sich zu, knapp aus dem Handgelenk. Dann braust der andere los und lässt ihn zurück. Er starrt auf die Stelle, wo eben noch das Auto parkte, und kann alles abrufen, alles verfolgen wie in einem sich endlos wiederholenden Film. Gummistiefel werden abgeklopft und in den Kofferraum gestellt. Gummistiefel werden auf einem Hof, vor Stallgebäuden wieder angezogen, wobei man mit dem Rücken am Auto lehnt und dann möglichst entschlossen losmarschiert. Fremdkörper-Untersuchung, Klauenbehandlung, Geburtshilfe, Kaiserschnitt, Magendrehung-OP, Besamungstechnik … Den Klienten hat man dabei knapp hinter sich. Einen Bauer, der einem reinredet und alles besser weiß. Oder einen vor Anspannung und Angst verstummten Bauer, was noch schlimmer ist und besondere Ruhe verlangt.
Mit einer Müdigkeit, die er erst seit einem Jahr von sich kennt und die ihn ärgert, schlurft er ins Haus zurück.
Emma würde jetzt zu ihm in die Küche kommen und über seine Mutter lästern. Wie anmaßend und launisch diese Frau sei. Dass sie nur an sich denke. Welchen Spaß sie daran hätte, ihren Sohn zu triezen.
»Um Gottes willen. Doch kein Kuchen! Ich habe Kekse! Und bitte, besuche mich unbedingt etwas später«, würde Emma mit verstellter Stimme sagen, bis sie sich beide vor Lachen nicht mehr halten könnten.
Auch der schöne Satz: »Heute zeigst du es ihr!«, würde fallen.
Dazu gäbe es Tee. Getrocknete Pfefferminze und Birkenblätter aus dem Garten, Ingwer oder Earl Grey. Emma würde seine nackten Füße in den Sandalen bemerken, die Raumtemperatur ins Feld führen und den Kopf schütteln. Das konnte sie nie lassen, obwohl sie seine »Kneipp’schen Verirrungen« auch bewunderte. Im Unterschied zu ihr war er in all den Jahren genau ein Mal im Krankenhaus. Zur Geburt von Mona.
Emma würde. Emma täte. Emma hätte. Es macht keinen Sinn, sich zu martern. Er hält sich für einen rationalen Menschen, für jemanden, der in der Lage ist, mit einer gewissen Kühle und Distanz auf sich selbst zu blicken. Was er seit einem Jahr erlebt, was ihn herumschubst und von einem Tief ins nächste stößt, lässt sich mit den üblichen Methoden nicht fassen.
Emmas plötzlicher Tod, morgens im Badezimmer, während sie sich die Zähne putzte, war zu absurd. Was geschehen ist, entzieht sich der Einordnung. Er hatte sie aufgehoben und alles versucht, bis die Sanitäter kamen. Er presste auf ihren Brustkorb und beatmete sie in zahllosen Anläufen, wobei er die ganze Zeit den Pfefferminzgeschmack der Zahnpasta schmeckte. Umsonst, sie war nicht zurückgekommen.
Er hat noch eine Stunde – wie langsam die Zeit vergeht! – und geht ins Untergeschoss, wo er Sachen sortiert. Es sind vor allem Emmas Sachen, die er überall aus den Schränken räumt und langsam, sehr langsam, in Kartons verpackt. Er füllt die Kartons bis obenhin, verschließt und nummeriert sie und stapelt alles übereinander, säuberlich auf Kante ausgerichtet. Er tut dies nicht, weil er Platz in den Schränken benötigen würde oder mit den Röcken, Blusen und Kleidern etwas Besonderes vorhätte. Die Hinterlassenschaften einzupacken, darüber Listen anzulegen, ihnen einen neuen Ort zuzuweisen, erscheint ihm angemessen. Wenn er dort herumfuhrwerkt, kommt es ihm so vor, als könnte er Emma für ihre Reise rüsten. Als folgte das Ganze einem Plan, in dem auch für ihn eine Rolle abfiele. Er sehnt sich nach ihr. Wäre er nur aufmerksamer gewesen, als sie noch lebte! Hätte er den Abschied nur kommen sehen! Dass ist es, woran er denkt, während er ihre Kleidungsstücke zusammenlegt und nicht selten unwillkürlich streichelt. Das Gefühl, seine wichtigste Stütze und einzig wahre Freundin verloren zu haben, höhlt ihn aus. Aber er will funktionieren! Was nutzen Tränen, wenn er ein von ihr genähtes Kissen anschaut, wenn er sich aus ihrer noch immer halb vollen Teebüchse bedient oder das Telefon in der Anmeldung klingelt und sie nicht abhebt?
Er verharrt vor dem Souterrainfenster, starrt auf die Schräge mit den efeubewachsenen Feldsteinen und registriert zunächst gar nicht, dass Frau Lohmaier ihn bemerkt hat. Die Nachbarin steht in ihrer Einfahrt und winkt. Überrascht hebt er den Arm und weicht einen Schritt zurück.
Die alte Dame ist ihm wohlgesinnt. Seit vierzig Jahren plaudern sie am Zaun, gratulieren sich zu Geburtstagen, schenken sich Walnüsse oder Äpfel und leeren, falls nötig, füreinander die Briefkästen. Als er das Haus und die angrenzenden Stallgebäude nach dem Einzug umbauen musste, Wände einriss und hochzog, Fenster versetzte, die Fassade verputzte und strich, war sie es, die als eingefleischte Urbayerin über ihren Schatten sprang und den Neuankömmlingen die Hand reichte. Das erste Gespräch wird er nie vergessen. »Sie sind aber fleißig!«, rief sie, als er gerade mit einer Karre voller Ziegel an ihrem Tor vorbeirollte. »Tja, Sie haben jetzt einen Preußen zum Nachbarn«, erwiderte er und legte eine Verschnaufpause ein. »Sagen Sie so etwas nie wieder!«, fuhr sie ihm über den Mund. Dabei setzte sie eine Miene auf, die Entschlossenheit ausdrückte und zugleich schelmisch wirkte. »I mog die Preußen net. Sie wohnen jetzt in Bayern. Also sind Sie auch Bayer!« Bei dieser schnoddrigen Offenheit waren sie bis zum heutigen Tag geblieben.
Auch als praktizierender Tierarzt gelang es ihm zu seiner Verwunderung ohne Probleme, hineinzuwachsen ins Ländliche und die Einheimischen für sich einzunehmen.
Gleich in den ersten Tagen wurde er auf einem der Höfe des Dorfes zu einer Kuh gerufen, die nicht kalben konnte. Der Besitzer hatte keinen anderen Doktor erreicht und sich aus purer Not an ihn, den »jungspundigen Saupreiß«, gewandt. Skeptisch war jede seiner Bewegungen verfolgt worden: wie er die Geburtsschürze anzog und die Handschuhe überstreifte. Wie er das Muttertier anschließend untersuchte. Das Kalb steckte fest. Vermutlich war es einfach zu groß und passte nicht durch den Geburtskanal. Aber es lebte noch. »Ich werde jetzt einen Kaiserschnitt vornehmen«, teilte er dem Landwirt mit. Der Mann zögerte, brachte aber, nachdem er ihm den drohenden Exitus des Kalbes geschildert hatte, den verlangten Eimer mit warmem Wasser, Seife, Handtuch und einen Tisch für die Instrumente. Während er der Kuh die linke Flanke wusch, sie dort rasierte und desinfizierte, war bereits das halbe Dorf um ihn herum versammelt. Er wusste, dass es um mehr ging als diese Kuh und ihr ungeborenes Kalb. Der noch recht ungewöhnliche Eingriff, den er zwar während des Studiums gelernt, aber noch nie selbst durchgeführt hatte, musste im Stehen bewerkstelligt werden. Er durchtrennte die schräge Bauchmuskulatur und das Bauchfell. Durch die Gebärmutterwand konnte er die beiden Hinterfüße des Kalbes fühlen. Er zog sie an den Bauchschnitt heran und öffnete mit dem Skalpell die Gebärmutter, was zum Glück klappte. Dann bat er den Besitzer, die Füße des Kalbes festzuhalten und vorsichtig daran zu ziehen. Währenddessen erweiterte er den Schnitt in der Gebärmutter. Das Kalb glitschte hervor. Es lebte und auch die Mutter war wohlauf. Rasch nähte er Gebärmutter und Bauchdecke wieder zu. Als er sich die Hände wusch, wurde ihm gesagt, dies sei der erste Kaiserschnitt bei einer Kuh gewesen, der je in der Gegend durchgeführt worden war. Die umstehenden Bauern klopften ihm auf die Schulter. Das Eis war gebrochen.
Wenn Martin eines Tages aufhört, wird es Kollege Koslowski nicht einfach haben.
Erneut klingelt das Telefon. Diesmal ist es Mona, seine in San Francisco lebende Tochter.
»Hallo meine Große, mit Oma schon fertig?«
»Das ging erschreckend schnell. Grüß dich, Papa!«
»Wieso erschreckend?«
»Irgendwas war mit ihrem Hörgerät. Ich musste brüllen, aber sie hat trotzdem nicht viel mitgekriegt, glaube ich.«
»Ihr ist sowieso nur wichtig, dass man versteht, was sie sagt.«
»He, Fiesling! Sie ist deine Mutter.«
»Gut, dass du mich daran erinnerst.«
Er sitzt auf dem Drehstuhl in der Anmeldung, vor sich ein gerahmtes Katzenfoto mit der Widmung: »Lieber Doktor Schmidt, ohne Sie würde unsere Mitzi wahrscheinlich nicht mehr leben. Im Namen der ganzen Familie – herzlichen Dank!«
Seine Tochter möchte wissen:
»Ist die E-Mail mit den Fotos bei dir angekommen?«
»Oh ja. Schön!«, sagt er, obwohl er die Bilder nicht geöffnet hat. Wo immer Mona ist, wohin sie auch reist, sie sucht und fotografiert für ihn Rinder, ob deutsche Holsteiner, weißblaue Belgier oder argentinische Angus, weil sie weiß, dass er Rinder mag und die allgemeine Gleichgültigkeit gegenüber diesem für den Menschen so wichtigen Tier nicht nachvollziehen kann.
»Ist dir der Teller mit dem Wasserbüffel-Mozzarella aufgefallen?«
»Sicher. Was sollte das?«
»Stell dir vor, so was servieren sie hier im Café um die Ecke zusammen mit Cappuccino und nennen es Silicon-Valley-Frühstück.«
Er hört sie glockenklar lachen, seine Tochter, auf der anderen Seite des Erdballs. Ihm krampft sich das Herz zusammen. Mit dem ganzen Körper, mit einem elektrisierenden Schauer auf der Haut erinnert er sich daran, wie es war, wenn sie ihn früher umarmt hat. Schon als kleines Mädchen neigte sie zu einem langanhaltenden, festen Drücken. Wenn diese Attacken ihm galten, verzog er jedes Mal das Gesicht, als hätte er Wichtigeres vor. Wie verständnislos kann man als Vater eigentlich sein, sinniert er, während sie sich südlich von San Francisco weiter über ein Mozzarella-Frühstück amüsiert. Dass sie dieselbe Stimmlage wie ihre Mutter hat, macht es nicht leichter. Um nicht rührselig zu werden, zwingt er sich zu fragen:
»Und wie geht es meinen Enkelkindern?«
»Alles gut. Olivias Geburtstag war nett, obwohl es gewittert hat und wir drinnen feiern mussten. Du fragst so komisch. Alles in Ordnung?«
»Sicher.«
Er überlegt, was er sagen oder eher nicht sagen soll. Seine Tochter fehlt ihm, fehlt ihm wie Emma, dabei ist sie am Leben! Und während des ganzen Telefonats hängt dieses Mitzi-Bild vor seiner Nase. Tiere retten, Kaiserschnitte durchführen, das kann ich. Aber meine Frau stirbt mir einfach weg, hadert er mit sich.
Bloß nicht daran rühren, dann fangen beide an zu heulen. Mona hat sich ihren Kindheitstraum erfüllt und Veterinärmedizin studiert. Schon als Sechsjährige sezierte sie Mäuse in Lohmaiers Scheune. Später begleitete sie ihn auf seinen Touren, assistierte bei Operationen, war mit großem Ernst bei der Sache. Er konnte ihr ruhigen Gewissens Nachschauvisiten überlassen, da war sie noch Studentin, oder sie als Beobachterin bei Hundegeburten einsetzen, die sich mitunter bis zu einem Tag hinzogen.
Er hat nie daran gezweifelt, dass sie die Praxis übernehmen würde. Aber sie zog es vor, einen Kalifornier zu heiraten. Einen fröhlichen Programmierer mit Waschbrettbauch und unstillbarem Fortpflanzungsdrang. Ihm kommt es vor, als wäre sie gekidnappt und an den nunmehr dritten Kinderwagen gekettet worden.
Sie wollte es so. Er muss sich damit abfinden.
Übergangslos kommt er auf einen Spruch der vierjährigen Carry zu sprechen, neulich auf seinem Anrufbeantworter.
»Sie hat gemeint, wenn ihr Papa erst eine Frau geworden ist, wird er auch aufhören zu rauchen. Putzig! Kannst du das erklären?«
Die Unterhaltung driftet ab in das erwünschte, angenehm laue Fahrwasser um Faschingsfeiern, Gute-Nacht-Geschichten und Erlebnisse auf dem Spielplatz.
Wenig später verlässt er das Haus, um wie verabredet seine Mutter zu besuchen. Er zieht die Mahagonitür hinter sich zu. Das Einschnappen des Schlosses und das Drehen des Schlüssels kommen ihm endgültig vor, ohne dass er das Gefühl begründen kann. Seit einiger Zeit muss er sich überwinden, aus dem Haus zu gehen. Er ist dünnhäutiger geworden, fast übervorsichtig.
Was Emma seinen Spleen nannte, wird wieder stärker. Wenn er das leere Haus betritt, wandert er durch die Zimmer und versucht herauszufinden, ob jemand dagewesen ist. Ist das so abwegig? Er überprüft Steckdosen und Lampenschirme auf eingeschleppte Technik. Emma hat seine, zugegeben, gewöhnungsbedürftige Art, nach Hause zu kommen, nie verstanden. Wie auch? Dem Agentenhaushalt entstammt er!
Er weiß, wie es ist, wenn sich die eigenen Eltern abends im Wohnzimmer einschließen, um geheime Nachrichten zu verfassen.
Sein Vater hat auf dem Sterbebett darüber gesprochen. In jenem distanzierten Ton, den er bei Themen anschlug, die ihm wichtig waren: »Insgesamt müssten es etwa hundert Geheimschriftbriefe gewesen sein, die ich an die Deckadressen versendet habe. Beim Schreiben trug ich Handschuhe, alte weiße Stoffhandschuhe, die ursprünglich Mama gehörten. Und als Schreibmittel habe ich präparierte Seidentücher benutzt, die wie Durchschlagpapier funktionierten …«
Es war keine Erklärung, wie sein Sohn sie sich erhofft hätte.
Den Hausschlüssel noch in der Hand, wartet er an der Straße. Die Luft ist frühlingshaft mild und klar. Das aus Richtung Ortsmitte kommende Auto hört er, lange bevor es um die Ecke biegt.
Ein wenig wird er von einem über den Zaun ragenden Holunderstrauch verdeckt. Aber er ist deutlich zu erkennen: ein schlanker, mittelgroßer Mann im Trenchcoat, der sich mit seinem Taschentuch noch einmal über die Schuhe wischt. Für einen Moment balanciert er dabei auf einem Bein. Dann harrt er mit unbewegtem Gesicht weiter aus.
In dem Wagen sitzt eine Dame aus dem Nachbardorf. Er kennt sie aus dem Gartenbauverein. Von ihrem Wissen, vor allem was den Obstbaumschnitt anlangt, hat er als Hobbygärtner mehrfach profitieren dürfen.
Einer Eingebung folgend, unternimmt er keinerlei Anstalten, diese ihm durchaus sympathische Person auf sich aufmerksam zu machen.
Vielleicht ist das eine meiner hervorstechendsten Eigenschaften, sagt er sich auf dem Weg zur Garage und muss grinsen: übersehen zu werden.
Mit zwei verpackten Mango-Quarkschnitten neben sich auf dem Beifahrersitz fährt er über Land.
Die anderen Verkehrsteilnehmer erscheinen ihm aggressiver als früher. Vorfahrten werden genommen, Arme drohend gehoben, geblinkt nur noch selten. Selbst die einfachste Kommunikation, denkt er, die so wenig kostet, wird mehr und mehr Luxus. Wir verwandeln uns in asoziale Wesen, jeder eingekeilt im Führungsstand seines Ichs. Das Summen der Räder und das Schnurren des Motors sind die vertrauten Geräusche unserer Absonderung.
Wie ein Reisender in einer Raumkapsel kommt er sich vor, als er am Seniorenstift eintrifft.
Er parkt eine Querstraße entfernt und nimmt den Hintereingang, nicht ohne sich zu vergewissern, dass ihm niemand folgt. Es ist lächerlich, er weiß es, aber manche Angewohnheiten sitzen zu tief, um sie abzuschütteln. Mit dem Kuchenpaket in der Hand fühlt er sich unbehaglich. Mutters Liebling, unterwegs zum Kaffeekränzchen. Andererseits entspricht das so wenig den Tatsachen, dass es ihn amüsiert. Kurz entschlossen kehrt er im Foyer wieder um, um beim Floristen gegenüber Primeln zu kaufen.
»Frühlingsblumen! Wie hübsch!«
Die Greisinnen im Lift sind ganz aus dem Häuschen.
»Sogar Frühlingsboten!«, ergänzt eine und strahlt. Beim Aussteigen muss auch er lächeln.
Seine Mutter wohnt in der achten, der »Anthony-Hopkins-Etage«. Ein Porträt des Schauspielers, der als eine Art Mentor dienen soll, prangt auf einer Wand im Flur. Er fragt sich jedes Mal, wegen welcher Rollen man auf den Künstler gekommen ist. Ihm sind vor allem zwei geläufig: der sture, unzugängliche Butler aus Was vom Tage übrig blieb und der diabolische Kannibale aus Das Schweigen der Lämmer. Es ist ein Gedanke im Vorübergehen. Mit seiner Mutter hat er nicht darüber gesprochen und bezweifelt, dass sie Dirty Anthony kennt. Aber dass den Senioren hier ein Kannibalen- und Autisten-Darsteller vorgesetzt wird, scheint ihm bezeichnend. Eine Kostprobe der Unmündigkeit, auf die letztlich alles zuläuft.
Der Kokosläufer dämpft seine Schritte. In der Luft hängt ein Hauch von Urin, aber das an eine Schiffsmesse erinnernde Wandpaneel, die mit hellem Leder bezogenen Türen der Appartements und besonders die Stille in den Fluren zeugen von Vornehmheit.
Er steht vor ihrer Tür. »Dr. Erwin und Hedda Schmidt« ist auf dem Namensschild zu lesen, obwohl der Vater seit langem tot ist und auch nie hier gewohnt hat. Will sie mit diesem Schild andeuten, welch mustergültiges Familienleben hinter ihr liegt? Einen Moment horcht Martin nach innen, neigt den Kopf. Dann klingelt er.
Sie öffnet sofort und trägt zu seiner Überraschung Schlafanzug, ein gestreiftes Modell, darüber eine flauschige Joppe.
»Gut, dass du da bist. Ich suche einen Umschlag.«
»Was für einen Umschlag?«
»Einen Briefumschlag halt. Er müsste unten im Regal liegen. Aber ich kann mich ja nicht mehr bücken.«
Fordernd baut sie sich vor ihm auf, ganz ehemalige Bürovorsteherin mit ausgestrecktem Zeigefinger. Einzig ihre dünnen, bandagierten Beine und der wacklige Stand deuten an, dass Wunsch und Wille nicht mehr schrankenlos walten.
Quasi ohne sich zu begrüßen, ohne jeden Körperkontakt, denn sie kann kaum noch berührt werden, ohne blaue Flecken davonzutragen, drücken sie sich im Korridor aneinander vorbei.
Er stellt den Blumentopf beiseite und kniet vor dem Regal. Sie dirigiert ihn:
»Das sind meine Klassik-CDs! Weiter hinten. Ein dicker, brauner Umschlag, DIN-A4-Format.«
»Was ist denn drin?«
»Alte Trauerbriefe. Ich muss jemandem kondolieren und benötige Vorlagen.«
»Das müsste es sein.«
Er reicht ihr den Packen und sie nehmen am gedeckten Tisch Platz, steif wie Unterhändler. Er mit durchgedrücktem Rücken auf der Couch. Sie auf ihrem grünen Velourssessel, ihn musternd.
»Du willst doch irgendwas.«
»Wie kommst du darauf?«
»Mein Sohn, das sehe ich.«
Wenn er in ihre Augen blickt, weiß er, woher sein Talent zur Analyse rührt. Es sind gar keine Augen, sondern stahlblaue Scheinwerfer. Sie sind auf ihn gerichtet, starr und abwartend. Er friert ein bisschen und ärgert sich, dass sie das noch immer mit ihm machen kann, eine 90-Jährige mit ihrem 68-jährigen Spross.
Er wehrt sich gegen die alten Geschichten. Und muss doch daran denken, wie er sich im Ostberlin der fünfziger Jahre danach sehnte, ein Pionier zu sein wie alle anderen. Wie heftig er mit ihr darum hatte kämpfen müssen. Sie wurde nicht müde, ihm vorzukauen, weshalb sie den »Russenstaat« und dessen »proletarischen Kult« ablehnte. Und er bat unter Tränen und Geschrei darum, dort einzutreten. »Alle meine Freunde sind dabei. Sie machen die tollsten Sachen! Ausfahrten und Wanderungen und Zeltlager und Gruppenabende!« Zwischen ihnen musste es, denkt er mit Grausen, erst zu Handgreiflichkeiten kommen. Handgreiflichkeiten von beiden Seiten wohlgemerkt. Als verzweifelter, sich inbrünstig in die Reihen dieser Organisation wünschender Halbwüchsiger hatte er es fertiggebracht, sie im Wohnzimmer zu ohrfeigen. Allerdings geschah das erst, nachdem sie ihn geohrfeigt hatte, weil er partout nicht hatte einsehen wollen, dass dieser »Marschierverein« nur eine verkappte Hitlerjugend wäre.
»Du hast Recht, ich will etwas.«
Er hat keine Lust und auch keine Kraft mehr, mit ihr zu streiten. Und wenn er sie anschaut, mit ihren Armen voller blauer Flecke, ihrem spärlichen Haar, ihren hängenden Lidern, dann siegt in ihm die Nachsicht, womöglich sogar Zuneigung. Was genau er empfindet, was ihn im Innersten hertreibt, abgesehen von den Gründen, die er aufzählen könnte wie Stichpunkte auf seinen Erledigungslisten, das ist offen. Darüber ist er sich nicht im Klaren.
»Worum geht es? Brauchst du Geld?«, fragt sie, seinen Friedenswillen damit über den Haufen werfend.
»Natürlich nicht. Wie kommst du darauf?«
Er verschluckt sich und muss husten. Sie verfolgt es interessiert.
»Es gab Zeiten, da hast du dich nur deshalb hier blicken lassen.«
»Also bitte, möchtest du es schriftlich? Ich bin dankbar für deine Unterstützung, aber die Raten für Haus und Praxis sind abbezahlt, und zwar seit zwanzig Jahren. Du hast dein Geld zurückbekommen!«
»Ist ja gut.«
Sie hebt die Hände, kann ein Schmunzeln nicht unterdrücken und zeigt auf eine üppig gefüllte Vase am Fenster.
»Stell dir vor, die Rosen sind noch übrig von deinem letzten Besuch!«
»Der kann dann ja nicht allzu lang her sein.«
»Von Blumen hast du noch nie viel verstanden.«
Eine Weile vertiefen sie sich in ihre Mango-Quark-Schnitten. Dass er »um Gottes willen« keinen Kuchen mitbringen sollte, da sie Kekse hätte, wird mit keiner Silbe erwähnt. Das Klimpern der Gabeln deutet an, wie sehr sich beide mühen, die Unstimmigkeiten zu überspielen und vergessen zu machen.
»Ich überlege, mich zurückzuziehen und die Praxis zu verkaufen.«
»Und was ist mit Mona? Wenn sie doch zurückkommen will?«
»Wie lange soll ich warten? Bis Sankt Nimmerlein?«
Sie hält inne, stellt ihren Teller ab.
»Was ist los? Ist etwas passiert?«
Er möchte aufspringen und verschwinden, weil abgesehen vom Emmas Tod vor zwölf Monaten und neun Tagen natürlich nichts passiert ist, nicht das Geringste. Außer einem gewaltigen Arschtritt des Schicksals, den Madame offenbar kaum mitbekommen hat, ist alles in schönster Ordnung.
Dann geht ihm auf, dass sie es ernst meinen könnte, dass sie keinen Schimmer hat von seinen Nöten, die eben keine Geldnöte sind. Seit dem Zuschuss vor vierzig Jahren, auf den sie noch immer stolz ist, reduziert sie alles darauf und meint, sich bei ihm auszukennen.
Das ist die Lage. Mutter und Sohn umkreisen einander. Sie piesacken sich fast gewohnheitsmäßig.
Manchmal kommt er sich vor wie sein Vater. Den hat sie auch zurechtgewiesen und versucht, auf Linie zu bringen. Subtil zwar, aber schon bei kleinsten Abweichungen. Wenn der Arme beispielsweise ein Covergirl auf westlichen Illustrierten wie Stern oder Bunte betrachtete, dauerte ihr das immer zu lange. Dann sauste sie heran und meinte spitz: »Aha!«
Den Kuchen haben sie mittlerweile aufgegessen und trinken Tee. Kein Grund, sich über irgendetwas aufzuregen. Er fährt fort und spricht aus, was ihn seit Wochen umtreibt:
»Außerdem hat das Spionagemuseum in Berlin angefragt, ob ich nicht bei einem Projekt mitarbeiten möchte.«
»Was für ein Projekt?«
»Sie planen eine Sonderausstellung über den Alltag von Agenten in den fünfziger und sechziger Jahren. Soweit ich verstanden habe, soll ich Archivakten lesen und dann als Zeitzeuge interviewt werden.«
»Willst du das machen?«
»Warum nicht? Es geht um unsere Geschichte. Der Kurator war im Bilde. Er hat mich am Telefon fast angefleht und hält den Fall für spektakulär und lehrreich.«
»Lehrreich? Na fabelhaft. Ist dir klar, was du aufwühlen wirst?«
»Mir ist gar nichts klar. Ich wundere mich nur, dass sie dich nicht gefragt haben.«
»Haben sie. Aber solche Leute darf man gar nicht erst ausreden lassen. Und was heißt überhaupt: ›unsere Geschichte‹? Dein Vater und ich sind für den Verein hinter Gitter gewandert. Was du später getrieben hast, kann man kaum Agententätigkeit nennen.«
»Hauptsache, du weißt Bescheid.«
Sie sieht ihn an wie einen Gegenstand, wie etwas, das vom Boden aufgehoben und weggeworfen werden muss.
»Dann wünsche ich angenehmes Herumschnüffeln! Du brauchst das wohl. Mir egal. Ich bin darüber hinweg. Häkchen dran, verstehst du?«
Sie erhebt sich und wechselt auf einen Hocker am Fenster.
Der Himmel über der Stadt brennt abendlich orange. Schmale Wolkenstreifen stehen wie Kreuzfeuer vor dem Horizont. Welch gigantisches Schauspiel, sinnlos und schön. Ein Verprassen von Licht und Farbe, das mit dem Grau der Neubauten und den Kriechströmen auf Straßen und Autobahnen nichts gemein hat. Im Süden ragen die Berge aus dem Dunst, kantige, schneebehangene Mammuts.
Er betrachtet den Rücken seiner Mutter. Trotz der Wolljoppe wirkt ihre Silhouette schmal. Minuten verstreichen, in denen nur der heraufdröhnende Straßenlärm zu hören ist. Er stellt sich die üblichen Fragen des Nachgeborenen: Was sie ihm wohl verschweigt? Wie man ihre Gefühle für ihn beschreiben könnte? Ob er sie eigentlich kennt?
In diesem Blankenburg, mit dem sie angeblich abgeschlossen hat, überraschte er sie einmal mit dem Vater. In einer Sommernacht, im Garten hinter dem Haus. Wenn er damals aufwachte, weil die Blase drückte, schlich er gern nach draußen und erleichterte sich. Die über ihr Pflanzenreich wachende Großmutter konnte deswegen fuchsteufelswild werden, aber das war ihm egal.
Im Mondschein unter den Obstbäumen stieß er auf seine nackten Eltern, Gestalten wie aus einem abgeschmackten Traum. Sie waren beschäftigt und bemerkten ihn nicht. Er wich zurück.
Später, als sie Heimlichkeiten der anderen Art ins Arbeitszimmer verlegten, wo der Vater meist sonntags Agentenberichte verfasste und die Mutter ihre unverfänglichen Briefe mit normaler Tinte darüberschrieb, musste er manchmal an die Szene im Garten denken.
Er war der Spion, der seine spionierenden Eltern ausspionierte. Aber war er das immer, von Anfang an?
Angestrengt sucht er nach neuen, unverbrauchten Worten, um es zu erklären, aber solche Worte gibt es nicht. Er muss die alten verwenden.
Was für ein Leben! Wo ist oben und unten, wo hinten und vorn, fragt er sich, noch immer auf den Rücken der Mutter starrend. Vor seinem inneren Auge tauchen unscharfe Bilder auf, Episoden, die er vor langer Zeit weggeschoben hat. Er stolpert in ein Kuddelmuddel aus Familien- und Staatsgeheimnissen. Die Konturen verschwimmen. Seit Emmas Tod verschwimmen sie jeden Tag etwas mehr. Er hat Angst, den Boden unter den Füßen zu verlieren.
Lässt sich der Boden unter den Füßen, zumindest ein Teil davon, erfassen und nummerieren? Lässt er sich zusammenrollen, zusammenlegen oder zusammenklappen und irgendwohin stapeln, am besten in tiefliegende Keller oder Garagen und dort aufbewahren als Boden-unter-den-Füßen-Reserve für noch schlimmere Zeiten?
Unvermittelt dreht sie sich um.
»Wenn wir schon große Themen behandeln. Da hätte ich noch was für dich.«
»Ach ja?«
»Ich bin natürlich nicht sicher. Aber vielleicht interessiert dich, dass Angelika mich angerufen hat.«
»Angelika? Angelika Walder?«
»Genau die.«
»Unglaublich! Was wollte sie?«
»Dich sprechen, was sonst. Sie wollte wissen, was du so machst, wie es dir geht. Auch deine Kontaktdaten sollte ich herausgeben, aber das habe ich selbstverständlich abgelehnt.«
Er reißt die Augen auf, rutscht vor bis auf die Sofakante.
»Das hättest du ruhig machen können.«
»So was dachte ich mir.«
»Ja und? Warum hast du nicht?«