Reiner Stach
Kafka-Chronik
FISCHER E-Books
Reiner Stach, geboren 1951 in Rochlitz (Sachsen), arbeitete nach dem Studium der Philosophie, Literaturwissenschaft und Mathematik und anschließender Promotion zunächst als Wissenschaftslektor und Herausgeber von Sachbüchern. 1987 erschien seine Monographie »Kafkas erotischer Mythos«. 1999 gestaltete Stach die Ausstellung »Kafkas Braut«, in der er den Nachlass Felice Bauers präsentierte, den er in den USA entdeckt hatte. In den Jahren 2002 bis 2014 erschienen die einzelnen Bände der hochgelobten dreiteiligen Kafka-Biographie. 2008 wurde Reiner Stach mit dem Sonderpreis zum Heimito-von-Doderer-Literaturpreis ausgezeichnet, 2016 erhielt er den Joseph-Breitbach-Preis für sein herausragendes Gesamtwerk auf dem Feld der literarischen Biographik .
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Über drei Jahrzehnte hat der große Kafka-Biograph Reiner Stach Daten rund um das Leben von Franz Kafka gesammelt: Er hat eine unendliche Fülle an Material zusammengetragen, gesichtet und ausgewertet. Der Ertrag ist eine ebenso umfassende wie präzise Chronik, die Kafkas privates Umfeld – Familie, Freunde, Geliebte – ebenso einbezieht wie seine Lektüre, die Entstehungsgeschichte seiner Werke, seine berufliche Laufbahn, seine Reisen und die für ihn bedeutsamsten kulturellen und politischen Ereignisse. Außerdem bietet Reiner Stach knappe Zusammenfassungen sämtlicher Briefe und Tagebucheinträge, wodurch Kafkas Reaktionen auf die Ereignisse lebendig werden und sich nicht selten auch verblüffende Parallelen, Widersprüche und Querverbindungen zeigen. Ein Schatz an Informationen, die zum Nachschlagen ebenso anregen wie zum Weiterlesen.
Erschienen bei FISCHER E-Books
© 2017 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
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ISBN 978-3-10-490896-0
Der Biograph will erzählen, »wie es gewesen ist«, fokussiert auf die Gefühle, Gedanken, Erlebnisse, Entscheidungen und Leistungen eines einzelnen Menschen. Ob er diesem Anspruch genügen kann, hängt von vielerlei Fähigkeiten ab, die er im Akt des Schreibens bündeln muss; zuallererst aber hängt es davon ab, wie empfindlich sein Sinn für Tatsachen ist. Versteht er sein Handwerk, so wird er ausdauernd, gewissenhaft und unbestechlich im Umgang mit Fakten sein, er wird nicht zögern, sich nach der kleinsten Münze zu bücken, und ebenso wenig, sie in den Papierkorb zu werfen, sobald er sie als Spielgeld erkannt hat.
Solche Genauigkeit und Intuition beim Auswerten des überlieferten Materials ist eine der am meisten unterschätzten Tugenden des Biographen, denn von den Lesern und Kritikern wird sie so selbstverständlich vorausgesetzt wie die Fähigkeit des Notenlesens bei angehenden Musikern. Das ist ein Missverständnis, dem der Biograph besser nicht aufsitzen sollte. Zielgerichtetes Sammeln von Fakten erfordert nämlich nicht nur ein Wissen um die vielversprechendsten Quellen und deren Zuverlässigkeit, es verlangt darüber hinaus ein breites Kontextwissen, das heißt ein Wissen darüber, was zu sammeln sich überhaupt lohnt und in welcher Hinsicht es sich lohnt.
Ein einfaches Beispiel. Nehmen wir an, ein Biograph Franz Kafkas findet heraus, dass eines der Gebäude, die in dem Roman Das SchlossDas Schloss als Orte der Handlung beschrieben werden, eine genaue Entsprechung in der Wirklichkeit hatte und dass man das architektonische Vorbild auch heute noch besichtigen kann. Er steht vor diesem Gebäude, in der rechten Hand den Fotoapparat, in der linken Kafkas Schilderung, und tatsächlich, es stimmt alles, Wort für Wort. Natürlich versetzt es in freudige Erregung, etwas Derartiges zu entdecken, und es ist zunächst schwer, sich dem Gefühl einer auratischen Nähe zu entziehen. Kühlen Kopfes muss sich der Biograph jedoch sagen, dass er diese Freude allenfalls mit einer kleinen Gruppe unverbesserlicher Fans wird teilen können, während der Erkenntniswert des isolierten Faktums doch recht überschaubar bleibt. Es könnte sein, dass dieser Wert tatsächlich im Anekdotischen verbleibt, und in diesem Fall bliebe nur die Empfehlung an den Leser, hinzufahren, es sich anzuschauen und den leisen Schauder selbst zu genießen (nämlich in dem nordwestböhmischen Dörfchen ZürauZürau, heute Siřem).
Diese Einschätzung wird sich jedoch grundlegend ändern, sobald der Biograph eine zweite und dritte gleichartige Entdeckung macht. Denn das wirft nun doch die Frage auf, ob hier womöglich ein Muster, eine Serie vorliegt, die systematisch untersucht werden sollte – weil wir, falls die Vermutung sich bestätigen sollte, kostbare Informationen über Kafkas Produktionsweise, über sein visuelles Gedächtnis und über die für ihn typische Überlagerung realer und imaginärer Details gewinnen würden. Eine solche Entdeckung wäre interessant nicht mehr nur für Kafka-Touristen, sondern auch für Literaturwissenschaftler.
Daraus folgt zum einen, dass kein Mosaiksteinchen zu verachten ist. Denn es wohnt ihm ein potentieller Erkenntniswert inne, der sich entfaltet, sobald weitere passende Steinchen gefunden sind. Eine wie immer geartete intellektuelle Herablassung gegenüber dem leidenschaftlichen Sammler kann sich der Biograph daher nicht leisten, denn die Sammler sind es – darunter Archivare, Hobbyforscher und hochspezialisierte Philologen – , die den empirischen Rohstoff schürfen, manchmal in jahrzehntelanger entbehrungsreicher Arbeit und mit wenig öffentlicher Anerkennung.
Zum anderen freilich ist ebenso offensichtlich die fatale Eigendynamik des Sammelns, die dazu führen kann, dass Genauigkeit und Vollständigkeit zum Selbstzweck werden und das Interesse an allem, was darüber hinausgeht – also an Deutung, Synthese, Kontextualisierung –, allmählich verlorengeht. Ja, selbst eine umgekehrte Herablassung des Sammlers gegenüber jeglicher intellektueller Arbeit, die über den Tellerrand des Mess- und Zählbaren hinauswill, ist nicht selten. Diese Hybris des reinen Faktums trifft insbesondere diejenigen Biographen – und demzufolge auch deren Leser – , die einen Menschen oder eine Epoche neu verstehen wollen, ohne darauf warten zu müssen, dass das allerletzte Steinchen gefunden ist, ja, die an ein solches letztes Puzzleteil gar nicht glauben und die daher in Kauf nehmen, dass ihr Verständnis für immer unabgeschlossen bleibt. Gewiss, die Steinchen selbst sind haltbarer als jeder noch so raffinierte Versuch, sie zu den Konturen eines plausiblen Bildes aneinanderzufügen. Wozu aber, fragt der GoetheGoethe, Johann Wolfgang-Biograph Nicholas BoyleBoyle, Nicholas, dienen denn eigentlich Kompilationen von Fakten, wenn nicht von Zeit zu Zeit jemand eine überzeugende Synthese all des Materials versucht? Das ist die entscheidende Frage.
Mein eigener erster Versuch einer solchen Synthese datiert zurück auf die achtziger Jahre. Bei S. Fischer war soeben der erste Band der Kritischen Kafka-Ausgabe erschienen, der Roman Das SchlossDas Schloss, und der erste Blick in den separaten Apparatband, der zahllose Textvarianten akribisch verzeichnet, kam einer Offenbarung gleich. Hatte man sich an die sperrigen diakritischen Zeichen erst einmal gewöhnt, so konnte man Kafka bei der Arbeit verfolgen. Man konnte beobachten, wie er krasse Einfälle abmilderte, falsche Fährten legte und allzu Eindeutiges nachträglich vernebelte. Ja, man konnte ihn sogar bei verräterischen Fehlleistungen ertappen, etwa der Verwechslung von Namen. Und schon beim ersten Durchblättern entdeckte ich, dass Kafka an diesem Romanmanuskript eine beispiellose Operation vorgenommen hatte. Genau in dem Augenblick, da er eine sexuelle Szene aus der Ich-Perspektive hätte schildern müssen, entschied er, diese Perspektive aufzugeben und nachträglich zum Er überzugehen. Und das, obwohl er in dem schon weit fortgeschrittenen Text das Wort Ich und alle seine abgeleiteten Formen Hunderte Male tilgen und ersetzen musste.
Es war offensichtlich, dass man aus diesen Textvarianten, die von der überwältigenden Mehrzahl der Leser nur als philologisches Geröll wahrgenommen wurden, sehr weitreichende Erkenntnisse gewinnen konnte, wenn man sie nur in der richtigen Weise kontextualisierte: Erkenntnisse über Kafkas Schreibstrategie, die Logik seiner Assoziationen während des Schreibens selbst, aber auch über die bewussten und unbewussten Einflüsse gesellschaftlich geprägter Metaphern und Ideologeme bis hinein in die intimsten Bereiche der Imagination. Es war von größtem intellektuellem Reiz, diese beiden scheinbar so weit voneinander entfernten Ebenen ineinander zu spiegeln: auf der einen Seite unscheinbare Textsplitter, Verschreibungen und Korrekturen bis hinab zum gestrichenen Buchstaben – auf der anderen Seite mächtige mentalitätsgeschichtliche Strömungen, die auf den winzigen Mosaiksteinchen ihre Spuren hinterließen. Am Themenkomplex Frauen-Weiblichkeit-Sexualität ließen sich diese Zusammenhänge besonders eindrücklich belegen, und das Ergebnis war die Studie Kafkas erotischer Mythos. Eine ästhetische Konstruktion des Weiblichen (1987).
Dass dieses Verfahren auch in Biographien gut funktionieren kann, sofern das Material es »hergibt«, war seit langem bekannt. Eine unscheinbare, selbst alberne Anekdote, ein falscher Zungenschlag in einem Brief, ein scheinbar zufälliges Vergessen – derartige Marginalien wirken bisweilen wie Blitze über einer verfinsterten Landschaft, sie erlauben überraschende Einblicke, rücken Proportionen zurecht, zeigen dem Biographen aussichtsreiche Wege, auf denen er weitergehen sollte. Durch die Weiblichkeitsstudie hatte ich in dieses Verfahren Vertrauen gefasst, für die geplante Biographie über Kafka beschloss ich, es extensiv zu nutzen. Und zwar in einer für den Leser möglichst gut nachvollziehbaren und überprüfbaren Weise.
Das ist schließlich auch einer der Gründe dafür, warum die vollendete dreibändige Biographie (2002, 2008, 2014) so ungewöhnlich viele szenisch erzählte Passagen enthält. Unscheinbare sinnliche Details, an denen sich etwas Größeres, Wesentlicheres ablesen lässt, wirken viel überzeugender, wenn sie in ihrem lebendigen Zusammenhang gezeigt werden. So dient zum Beispiel die detaillierte Schilderung von Kafkas Blutsturz am 11. August 1917 nicht nur dazu, die biographische Erzählung mit Farbe und Emotion anzureichern. Sie zeigt vielmehr auch – bei allem Horror – ein unerwartetes Moment der Entspannung, und es war diese körperliche Erfahrung einer plötzlichen paradoxen Erleichterung, ohne die Kafkas »entspanntes« Beharren auf den sekundären Krankheitsgewinnen der Tuberkulose kaum vorstellbar ist. Denn es gehört zu den charakteristischen Zügen seiner Persönlichkeit, dass er sich selten von allgemeinen Überlegungen leiten ließ, vielmehr auf die unmittelbare Bestätigung im sinnlichen Erleben unmittelbar angewiesen blieb. Der tiefe Schlaf nach dem Blutsturz ist dafür nur ein Beispiel unter vielen. Isoliert betrachtet, gäbe dieses Puzzleteil nicht viel her; in den richtigen Kontext versetzt, das heißt, verbunden mit einigen genau passenden Teilen, beginnt es zu leuchten.
Das biographische Erzählen bedarf der Synthese aber noch in einem anderen Sinn. Das Leben eines Menschen verläuft ja niemals in einer Abfolge von Ereignissen, die sich auf einem Zeitstrahl ordentlich auftragen ließen. Vielmehr hat man es stets mit einem vieldimensionalen Geflecht zu tun, mit Wechselwirkungen zwischen den verschiedensten Rollen eines Menschen, zwischen Intimem und Öffentlichem, Bewusstem und Unbewusstem, Gedachtem und Gefühltem, Erinnertem und Vergessenem, Zufälligem und Notwendigem. Wollte man dieses Geflecht in einer Biographie vollständig abbilden, so müsste man ein Leben Minute für Minute erzählen, in synoptischer Form, einschließlich aller Gleichzeitigkeiten. Ganz abgesehen davon, dass die überlieferten Fakten dies niemals erlauben, würde ein solcher Versuch jede Biographie zur Implosion bringen, sie würde deren Form und Textgestalt so vollständig auflösen, dass sie im eigentlichen Sinne nicht mehr lesbar wäre.
Um dem entgegenzuwirken, ist der Biograph darauf angewiesen, eine Struktur zu schaffen. Er wird Kapitel schreiben, die sich auf wenige oder ein einziges Thema konzentrieren, er wird Nebenmotive und Nebenfiguren eine Zeitlang oder sogar dauerhaft unterdrücken, er wird rote Fäden auslegen, und er wird es mit Vor- und Rückblenden, Wiederholungen und Zusammenfassungen dem Leser etwas leichter machen, den Überblick zu behalten.
Dieses intelligent strukturierte Erzählen setzt jedoch voraus, dass der Biograph selbst den genauesten Überblick behält. Er muss es nicht immerzu mitteilen, aber er muss wissen, wann was wo passierte oder gesagt wurde, und wann immer solche Informationen nur unvollständig zu haben sind, muss er über die Lücken ebenso gut Bescheid wissen wie über die Fakten selbst. Denn nicht selten ist das Fehlen einer Information, das Schweigen einer Quelle selbst wiederum bedeutsam, ebenso die Widersprüche verschiedener Quellen hinsichtlich ein und desselben Ereignisses. Wie erstaunlich selten derartige Webfehler der Überlieferung bloßer Zufall sind, ist eine Erfahrung, die wohl alle Biographen teilen.
Das strukturierte, verdichtete Erzählen vermindert die Komplexität des menschlichen Lebens, es lenkt den Blick des Lesers auf jeweils nur einige wenige, wesentliche Punkte. Wie jede Vereinfachung läuft natürlich auch diese Gefahr, dass beachtenswerte oder sogar entscheidende Aspekte unter den Tisch fallen. Kommt eine solche Nachlässigkeit ans Licht, so hat man es plötzlich mit einer unzulässigen Vereinfachung zu tun, die einer Verfälschung der Wirklichkeit gleichkommt und die gewonnenen Resultate entwertet. Auch dazu ein Beispiel, das nur auf den ersten Blick trivial ist.
Berufstätigkeit und Liebesbeziehungen eines Menschen spielen sich gewöhnlich auf so völlig unterschiedlichen Ebenen ab, dass es geradezu absurd erschiene, sie in einem Atemzug erzählen zu wollen – selbst dann, wenn noch so vieles parallel passierte. Auch in der Biographie über Kafka schien mir die Entscheidung mehr als naheliegend, seine Tätigkeit als Versicherungsbeamter und seine Verlobungskrisen mit Felice BauerBauer, Felice in separaten Kapiteln zu bündeln (und zu »behandeln«). Ein nicht thematisches, vielmehr strikt chronologisches Erzählen hätte vielleicht die hohe psychische Ereignisdichte noch deutlicher vor Augen geführt, die in dem scheinbar so statischen Leben Kafkas herrschte. Doch hätte ich es dem Leser damit sehr schwer gemacht, den Überblick zu behalten und der jeweiligen Eigenlogik von Beruf und Liebe mit der gebotenen Trennschärfe zu folgen. Ihren nervösen, empfindlichen, sich fortwährend selbst herabsetzenden Freund hätte Felice BauerBauer, Felice kaum wiedererkannt, wäre es ihr vergönnt gewesen, ihn einmal im Büro zu erleben, wo er den Respekt sämtlicher Kollegen und Vorgesetzten genoss.
Nun hieß es aber, wachsam zu bleiben. Denn dass die beiden Ebenen sich eben doch gelegentlich berührten, beeinflussten oder sogar durchdrangen, dafür gab es hinreichend viele Indizien. Kafkas Bild einer geschäftstüchtigen FeliceBauer, Felice und dessen Einfluss auf seine eigene berufliche Motivation; die gemeinsame Technikaffinität ihres und seines Berufs, aus der er eine zusätzliche illusorische Nähe gewann; sein Bestreben, ihrem Verdacht der Lebensuntüchtigkeit entgegenzutreten; die Verpflichtung und auch der Wunsch, die künftige Ehefrau »versorgen« zu können; ja sogar das Büro als stabilisierender Faktor gegenüber den chaotischen, stimmungsabhängigen Leiden der Liebesbeziehung – all das drohte verlorenzugehen, wenn ich die entsprechenden Kapitel thematisch allzu streng voneinander abgrenzte.
Wie sich zeigte, war tatsächlich eine möglichst genaue Chronik aller Ereignisse und Dokumente das beste Instrument, um solche Überlagerungen im Auge zu behalten; eine Chronik von Tag zu Tag, die nicht nur Kafkas eigene Äußerungen berücksichtigte, sondern ebenso alles, was von außen auf ihn eindrang. So entstand zunächst eine synoptisch angelegte Datenbank, in der ich sämtliche verfügbaren Informationen nach und nach einarbeitete und aus der dann das biographische Schreiben seinen Rohstoff schöpfte. Stets zu wissen, was alles gleichzeitig passierte, gibt Sicherheit gerade dann, wenn die Biographie nach einer eher sachlichen als chronologischen Darstellung verlangt. Darüber hinaus aber bringen Datenbanken auch Überraschungen hervor, an die man – allzu strikt den roten Fäden der Handlung folgend – niemals gedacht hätte.
Am 11. Dezember 1912 sendet Kafka das erste Exemplar seines ersten Buches BetrachtungBetrachtung an FeliceBauer, Felice, versehen mit einem Begleitbrief, in dem es heißt: »Heute gehört es Dir, wie keinem sonst.« Für seine Hoffnungen auf eine künftige Verbindung muss dies ein höchst bedeutsamer Augenblick gewesen sein, denn bisher hatte ja Kafka immer nur behauptet, ganz für die Literatur zu leben, und nun zeigte er zum ersten Mal ein Beweisstück vor. Nur wenige Stunden später aber verfasste er einen langen Brief an den Vorstand der Arbeiterunfallversicherung, in dem er mit kalter Präzision und fast schon in der Ausdehnung eines wissenschaftlichen Aufsatzes seine Forderung nach Gehaltserhöhung begründete.
Hätte Kafka sich dazu herabgelassen, FeliceBauer, Felice eine Kopie dieses Briefs zu zeigen, so hätte sie einige Zeit gebraucht, um zu begreifen, dass die beiden fast gleichzeitig entstandenen Dokumente tatsächlich von ein und demselben Menschen stammen. Und selbst noch die Augen des heutigen Lesers wandern zwischen den beiden Briefen hin und her in dem bestimmten Gefühl, dass hier wohl eine Art von Spaltung vorliegen müsse. Selbstverständlich nahm ich diesen erstaunlichen Beleg für Kafkas Wandlungsfähigkeit in die Biographie mit auf, doch andere, kaum weniger erstaunliche Gleichzeitigkeiten passten einfach nicht in den sachlichen Erzählstrang oder hätten den Leser allzu sehr abgelenkt. Wie, so fragte ich mich, wäre es zu ermöglichen, ihm diese chronologische Dimension dennoch zu erschließen? Reichte das szenische Erzählen dazu schon aus?
Anlässlich der zahlreichen Lesungen, Vorträge und Interviews, die das Erscheinen der drei Biographiebände nach sich zog, wurde immer wieder die Frage gestellt, wie man es denn technisch bewerkstellige, über eine derartige Fülle von Fakten die Übersicht zu behalten – nicht bloß, um nichts Wesentliches zu vergessen, sondern auch, um die Fakten über große Strecken hinweg miteinander vernetzen zu können. Ich berichtete von meinen Datenbanken und synoptischen Tabellen, doch waren die entsprechenden Materialien noch längst nicht in präsentablem Zustand, so dass es mir schwerfiel, das Erstehen der Biographie aus der Datenbank an konkreten Beispielen glaubwürdig zu machen. Die früh gefasste Idee, nach Abschluss des Projekts auch eine strikt chronologische Perspektive zu eröffnen, wurde immer dringlicher, je deutlicher es wurde, dass den Lesern mit einem solchen Hilfsmittel auch durchaus eigenständige Entdeckungen ermöglicht würden.
Als nachhaltigste Lösung kristallisierte sich schließlich eine Kombination von Chronik und Regesten heraus: ein von Tag zu Tag voranschreitendes Verzeichnis sämtlicher Ereignisse im näheren Umfeld Kafkas, einschließlich seiner literarischen Arbeit, kombiniert mit kurzen Inhaltsangaben aller überlieferten Dokumente von Kafka, an Kafka und teilweise auch über Kafka. Diese Inhaltsangaben ermöglichen es, die Chronik nicht bloß punktuell zu konsultieren, sondern über weite Strecken auch zu lesen – insbesondere in den Jahren ab 1911 mit ihrer zeitweise dichten Abfolge von Briefen und Tagebucheinträgen. Wobei der Leser sich freilich im Klaren darüber sein muss, dass es wissenschaftlich präzise Regesten nicht geben kann. Die Verdichtung etwa eines langen Briefs auf wenige Zeilen erfordert eine Auswahl, das heißt, sie erfordert ein plausibles, aber letztlich doch subjektives Urteil darüber, was erwähnt werden sollte und was verzichtbar ist. Ähnliches gilt für die im Tagebuch immer wieder eingestreuten Ansätze zu literarischen Texten. Die kürzesten dieser Versuche – bisweilen nur ein Satz oder Halbsatz – sind in der Chronik lediglich durch den Vermerk »Fragment(e)« angezeigt, ohne inhaltliche Bestimmung. Da jedoch die große Mehrzahl all dieser ausgewerteten Dokumente längst publiziert ist, kann der Leser in den meisten Zweifelsfällen selbst überprüfen, ob Wesentliches übergangen wurde.
Biographie und Chronik sind zwei radikal unterschiedliche, in gewissem Sinn sogar entgegengesetzte Formen, um ein gelebtes Leben abzubilden. Ihre Probleme und Schwächen verhalten sich spiegelbildlich: Während beim biographischen Erzählen jedes Ereignis einem bestimmten Thema, einem Kontext, zumeist also einem sachlich fokussierten Kapitel zugeordnet werden sollte – andernfalls wären zahllose Wiederholungen in Kauf zu nehmen – , löst die Chronik thematische Verbindungen auf und reduziert alles auf eine geordnete Abfolge von Ereignissen.
Das kann nicht immer funktionieren. Zum einen kommt es natürlich vor, dass selbst bedeutsame Ereignisse nur ungenau oder überhaupt nicht datierbar sind. So hat Kafka im August 1921 in einem Brief an seine Schwester Elli recht anschaulich geschildert, auf welche Weise er als Jugendlicher sexuell aufgeklärt wurde, und dieser Brief ist für die Erörterung von Kafkas sexueller Entwicklung selbstverständlich ein zentrales Dokument. Das Ereignis selbst lässt sich jedoch nicht datieren, nicht einmal das Jahr ist plausibel zu begründen, und so ist es in der Chronik Von Tag zu Tag auch nicht verzeichnet. Vor allem in den frühen Jahren entstehen auf diese Weise zahlreiche Lücken, das Datengerüst macht hier einen vergleichsweise dürftigen Eindruck, während tatsächlich über Kafkas Kindheit und Jugend sehr viel mehr bekannt ist, als die Chronik abbilden kann.
Zum anderen ist es naturgemäß schwierig, mit Hilfe eines chronologischen Rasters großflächiges historisches Geschehen zu erfassen, auch dann, wenn es genau datierbar ist. So wird zum Beispiel die Tatsache, dass Kafka seine gesamte Jugend neben einer gigantischen städtischen Baustelle verbracht hat, in einer Tageschronik keinen adäquaten Ort finden. Denn die sogenannte Assanierung, der Abbruch und die radikale Modernisierung des ehemaligen GhettosPragGhetto unmittelbar neben der Prager AltstadtPragAltstadt, zog sich über Jahrzehnte hin, mit wechselnder Intensität, und war zu Beginn des Ersten Weltkriegs noch immer nicht abgeschlossen. Dass ein so harter Einschnitt in die eigene Lebenswelt für einen Autor, der sich selbst später als »Ende oder Anfang« bezeichnete, von Bedeutung gewesen sein muss, liegt auf der Hand, zumal vor dem Hintergrund der gleichzeitigen technologischen Innovationen, die vielen Zeitgenossen das Gefühl vermittelten, das Ende einer Epoche zu erleben. Aber diese Zusammenhänge lassen sich nicht auf der Ebene der Rohdaten darstellen, sie bedürfen biographischer wie auch mentalitäts- und literaturgeschichtlicher Überlegungen.
Die Biographie leistet also weit mehr als die Chronik, das Mosaik hat mehr zu bieten als die Summe seiner Teile. Was der Biograph auf der Ebene des sinnlichen Materials besser ausblenden sollte, um der Gefahr der Verzettelung entgegenzuwirken, vermag jedoch die Chronik in hoher Auflösung wieder sichtbar zu machen. Sie ermöglicht daher dem Leser einen Wechsel der Perspektive und damit auch eigene Entdeckungen, vor allem solche, die sich aus verblüffenden zeitlichen Nachbarschaften ergeben. Angesichts des Anspruchs und Umfangs der dreibändigen Kafka-Biographie und angesichts der breiten, mittlerweile auch internationalen Rezeption schien mir dies Grund genug, nun auch einen beträchtlichen Teil der Rohdaten den Lesern zur Verfügung zu stellen. Kafka. Von Tag zu Tag führt gleichsam in den Keller des biographischen Projekts, zwischen seine Fundamente, und würde das nun dazu führen, dass dort noch weitere, auch mir bislang unbekannte Türen und Gänge sich auftun – es würde mich nicht wundern, aber erfreuen.
Jedem Datumseintrag, der ein Jahr, einen Monat oder einen einzelnen Tag benennt, sind verschiedene Arten von Informationen zugeordnet:
Tagebucheinträge und postalische Mitteilungen werden jeweils inhaltlich zusammengefasst, wobei selbstverständlich die Entscheidung darüber, was als besonders charakteristische oder sachlich bedeutsame Äußerung zu werten oder zu zitieren ist, nicht nach objektiven Kriterien getroffen werden kann. Häufig erschließt sich die Relevanz einer Aussage erst in einem viel größeren Kontext; daher wurde darauf geachtet, den kommunikativen Zusammenhang mit einzubeziehen, wo immer dies einem besseren Verständnis dienen kann. Das heißt, in vielen Fällen erfährt der Leser nicht nur, was Kafka schrieb, sondern auch, worauf er antwortete.
Dokumente von geringer Relevanz – etwa Postkarten, die im wesentlichen Grüße enthalten – werden nur vermerkt, ohne Angabe des Inhalts. Analoges gilt für Tagebucheinträge, die aus wenigen Worten oder abgebrochenen Sätzen bestehen. In solchen Fällen findet der Leser lediglich den Vermerk »Tagebuch«.
Mit dem Begriff »Fragment« sind stets literarische Ansätze gemeint, für die Kafka seine Tagebuchhefte ja häufig benutzte. Ob der literarische Text sich inmitten anderer, nichtfiktionaler Aufzeichnungen findet oder ob Kafka dafür separate Blätter und Hefte nutzte, ist jedoch nicht ausdrücklich unterschieden. Die Chronik ordnet den Text also lediglich dem Datum zu, soweit das möglich ist, nicht aber den verschiedenen Schriftträgern.
Vermerke zu Briefen und Karten, deren Originale verschollen sind, werden in eckigen Klammern wiedergegeben: […]. Auch in solchen Fällen lässt sich jedoch bisweilen Inhaltliches oder sogar wörtlich Zitierbares erschließen, meist mit Hilfe des Tagebuchs oder der Antwortschreiben.
Die Entstehung von Kafkas Werken wird chronologisch so exakt wie möglich nachvollzogen. Bisweilen ist genau belegbar, bis zu welchem Punkt seine literarische Arbeit von Tag zu Tag gedieh. In solchen Fällen wird nicht nur die entsprechende Seitenzahl der Kritischen Ausgabe genannt, sondern auch die Zeile: So ist beispielsweise dokumentiert, dass Kafka am 1. Dezember 1912 mit seinem Manuskript der VerwandlungDie Verwandlung bis zu Seite 176, Zeile 16 der heutigen Ausgabe seiner Drucke zu Lebzeiten kam (D 176,16). In anderen Fällen jedoch lässt sich die Entstehung eines Textes nicht einmal auf den Monat genau datieren. Hier wurden vor allem die Apparatbände der Kritischen Ausgabe zu Rate gezogen, um eine zumindest grobe Datierung zu ermöglichen.
Diese Informationen werden auf dieselbe Weise ausgewählt und dargestellt wie die Angaben zu Kafkas eigenen postalischen Mitteilungen. Naturgemäß kommt es hier öfter vor, dass wir von der Existenz eines Schreibens wissen, ohne eine Vorstellung von dessen Inhalt zu haben. In solchen Fällen wurde nach dem Kriterium der Relevanz entschieden, ob ein Vermerk aufgenommen wird oder nicht. So wäre es zum Beispiel ohne Nutzen für den Leser, die Hunderte von Briefen, die Kafka von Felice BauerBauer, Felice erhielt und deren Inhalt uns unbekannt ist, durch eine ebenso große Zahl leerer Vermerke zu dokumentieren.
Beispiele hierfür sind die Tagebucheintragungen Max BrodBrod, Maxs sowie wechselseitige Mitteilungen von Angehörigen und Freunden. Unabhängig davon, ob Kafka diese Texte kannte oder nicht, bieten sie in vielen Fällen bedeutsame zusätzliche Informationen, und zwar keineswegs nur über Vorgänge, die sich hinter seinem Rücken abspielten. So wissen wir zum Beispiel nur aus einer beiläufigen Bemerkung Irma KafkaKafka, Irmas gegenüber OttlaKafka, Ottla (Ottilie), dass Kafkas berühmter Brief an den VaterBrief an den Vater keineswegs der erste kritische Brief war, den er an seinen VaterKafka, Hermann schrieb (siehe 25. April 1918).
Auch hier sind einige als »wahrscheinlich« charakterisierte Ereignisse mit aufgenommen, für die es keine unmittelbaren Belege gibt, insbesondere die Anwesenheit Kafkas bei Lesungen und Vorträgen.
Dass die Chronik ein Ereignis benennt, bedeutet nicht zwangsläufig, dass Kafka es auch zur Kenntnis genommen hat. So dienen etwa Angaben zu Geburtstagen und Alter von Personen zumeist der Veranschaulichung (unter anderem, weil Altersunterschiede zu Kafkas Zeit eine größere soziale Bedeutung hatten als heute). Auch manche Vorgänge innerhalb der Familie seiner Verlobten Felice BauerBauer, Felice blieben Kafka verborgen, wurden in die Chronik aber dennoch aufgenommen, da sie auf die Dynamik dieser Beziehung Einfluss hatten.
Umgekehrt darf man aus Kafkas Schweigen selbstverständlich nicht auf seine Unkenntnis schließen. So war er mit höchster Wahrscheinlichkeit über den Schwangerschaftsabbruch von Elsa TaussigBrod, ElsaTaussig, Elsa, der späteren Ehefrau Max BrodBrod, Maxs, informiert (siehe 19. Februar 1910). Es wäre ihm jedoch nicht in den Sinn gekommen, etwas derart Heikles (immerhin machte sich TaussigBrod, Elsa strafbar) jemals schriftlich zu erwähnen, und so wissen wir von diesem Ereignis nur, weil BrodBrod, Max in seinem Tagebuch weniger vorsichtig war.
Reisen Kafkas sind durch Pfeile (➜ ) eigens hervorgehoben. Denn viele der Dokumente sind ja nur verständlich, wenn man vor Augen hat, wo Kafka sich gerade aufhält.
Kafkas eigene Veröffentlichungen, auch Neuauflagen, mehrfache Publikationen desselben Textes sowie amtliche Schriften sind ausnahmslos aufgeführt; die literarischen Veröffentlichungen sind zusätzlich mit einem Symbol (📖 ) hervorgehoben. Weiterhin genannt sind Buchveröffentlichungen der engsten Freunde Max BrodBrod, Max, Felix WeltschWeltsch, Felix und Oskar BaumBaum, Oskar. Aufsätze, Zeitungsartikel und Vorträge der Freunde werden nur dann aufgeführt, wenn dazu besonderer Anlass besteht, etwa ein ausdrücklicher Kommentar Kafkas.
Gewöhnlich werden alle diese Informationen in einer vorbestimmten Reihenfolge geboten: Kafkas Publikationen und Reisebewegungen / Kafkas Tagebücher und Briefe/die Mitteilungen anderer Personen / zuletzt die Ereignisse in seinem Umfeld. Zugunsten der Verständlichkeit und der flüssigen Lesbarkeit hat jedoch die Chronologie der Ereignisse stets Vorrang, insbesondere an Tagen mit einer dichten Abfolge von Ereignissen und Mitteilungen (siehe etwa 4. Dezember 1912 und 3. Februar 1913).
Die Tagebücher Kafkas in der Kritischen Ausgabe sowie in der daraus abgeleiteten Ausgabe des Fischer Taschenbuch Verlags sind mit einem chronologischen Verzeichnis versehen. Damit ist es recht einfach, den vollen Wortlaut der Tagebucheinträge aufzufinden.
Dasselbe gilt für Kafkas Briefe, die in den bislang vier Briefbänden der Kritischen Ausgabe in chronologischer Reihenfolge und mit (bis auf marginale Ausnahmen) identischen Datierungen abgedruckt sind. Die meisten von Kafkas Briefen ab Anfang 1921 finden sich in den folgenden Ausgaben: Briefe 1902 –1924, Briefe an Milena, Briefe an Ottla und die Familie, Briefe an die Eltern aus den Jahren 1922 –1924 sowie in dem Band Max BrodBrod, Max / Franz Kafka, Eine Freundschaft. Bd. II: Briefwechsel (bibliographische Angaben siehe unter ›Quellen‹).
Franz Kafka wird in PragPrag geboren. Er ist das erste Kind von Hermann KafkaKafka, Hermann (1852 –1931) und Julie KafkaKafka, Julie (geb. Löwy, 1856 –1934). Die Ehe der Eltern besteht seit 10 Monaten. Die in Anspruch genommene Hebamme heißt Sofie PopperPopper, Sofie.
Die Familie Kafka wohnt am Übergang von AltstadtPragAltstadt und JosefstadtPragJosefstadt (das ehemalige Prager GhettoPragGhetto), Ecke Karpfengasse / Engegasse (heute Maislová / Platnéřska). Ihr Geschäft mit Zwirn, Baumwolle und Galanteriewaren befindet sich 200 Meter entfernt am Altstädter RingPragAltstädter Ring.
K. wird in der elterlichen Wohnung von Dr. Moritz WeislWeisl, Moritz beschnitten. Pate ist der Weinhändler und Likörfabrikant Angelus KafkaKafka, Angelus, ein Cousin Hermann KafkaKafka, Hermanns.
Max BrodBrod, Max wird als Sohn des Bankangestellten Adolf BrodBrod, Adolf und seiner Frau FranziskaBrod, Fanny (›Fanny‹, geb. Rosenfeld) in PragPrag geboren.
Felix WeltschWeltsch, Felix wird als Sohn des Textilhändlers Heinrich WeltschWeltsch, Heinrich und seiner Frau LouiseWeltsch, Louise (geb. Pereles) in PragPrag geboren.
Die Familie Kafka übersiedelt an den Wenzelsplatz 56 (Ecke Ve Smečkách). Das Galanteriewarengeschäft wird in die Stockhausengasse verlegt; das Sortiment umfasst jetzt auch Muffs, Leinen, Weißwäsche und Filzschuhe mit Ledersohlen.
Aus der Küche der Kafkas wird ein Korb voller Bett- und Weißwäsche gestohlen.
Hermann KafkaKafka, Hermann entdeckt Falschgeld in seiner Ladenkasse.
Kafka 2 Jahre alt.
K.s Bruder GeorgKafka, Georg wird geboren.
Die Familie Kafka übersiedelt in die Geistgasse 27.
Tod von K.s Großmutter Franziska KafkaKafka, Franziska (*1816), geb. Platowski.
Julie KafkaKafka, Julie 30 Jahre alt.
Kafka 3 Jahre alt.
K.s Bruder GeorgKafka, Georg stirbt an Masern.
Die Galanteriewarenhandlung der Kafkas wird in die Zeltnergasse 3 verlegt.
Die Familie Kafka übersiedelt in die Niklasgasse 14.
Kafka 4 Jahre alt.
Anonyme Anzeige gegen Hermann KafkaKafka, Hermann, der am Sonntagvormittag seine Ware auf der Straße präsentiere.
Hermann KafkaKafka, Hermann 35 Jahre alt.
K.s Bruder HeinrichKafka, Heinrich (Bruder) wird geboren.
Felice BauerBauer, Felice wird in NeustadtNeustadt (Schlesien) / Oberschlesien geboren.
K.s Bruder HeinrichKafka, Heinrich (Bruder) stirbt an Meningitis.
Kafka 5 Jahre alt.
Die Familie Kafka übersiedelt in die Zeltnergasse 2 (›Sixt-Haus‹).
Hermann KafkaKafka, Hermann wird von der Anklage der Hehlerei freigesprochen.
Die Familie Kafka übersiedelt in das Haus ›Minuta‹, Kleiner Ring 2.
Kafka 6 Jahre alt.
K. in Begleitung seiner MutterKafka, Julie an der Deutschen Volks- und Bürgerschule am FleischmarktPragFleischmarkt.
K.s erster Unterrichtstag, der Lehrer ist Hans MarkertMarkert, Hans. Unterrichtsfächer: Religion, Gesang, Turnen, Rechnen, Lesen, Schönschreiben, Anschauungsunterricht, Zeichnen.
ElliKafka, Elli (Gabriele) (Gabriele) Kafka wird geboren.
K.s Großvater Jakob KafkaKafka, Jakob (*1814) stirbt in WosekWosek.
Jakob KafkaKafka, Jakob wird auf dem jüdischen Friedhof in WosekWosek (als Letzter) bestattet. K. ist in PragPrag.
Hermann KafkaKafka, Hermann wird wegen Störung der Sonntagsruhe angezeigt, da er in seinem Geschäft auch am Nachmittag Kunden bedient hat.
Bei einer Volkszählung gibt Hermann KafkaKafka, Hermann Tschechisch als Umgangssprache seiner Familie an.
K.s Onkel Alfred LöwyLöwy, Alfred (*1852), Bankprokurist in ParisParis, wird französischer Staatsbürger.
K. sieht erstmals eine partielle Sonnenfinsternis.
Kafka 7 Jahre alt.
Ab Beginn des 2. Schuljahrs wird K. auch in Sprachlehre und Rechtschreibung unterrichtet. Der Lehrer ist Karel NetukaNetuka, Karel.
Die Kafkas besichtigen vermutlich die am Morgen eingestürzte Karlsbrücke.
ValliKafka, Valli (Valerie) (Valerie) Kafka wird geboren.
Julie WohryzekWohryzek, Julie in PragPrag geboren.
Julie KafkaKafka, Julie 35 Jahre alt.
K. geht wegen Krankheit (vermutlich Keuchhusten) über mehrere Wochen nicht zur Schule.
Eröffnung der Allgemeinen Landes-Ausstellung im BaumgartenPragBaumgarten. Eine große Industrieschau mit zahlreichen technischen Attraktionen nach dem Vorbild der Weltausstellungen (bis 18. Okt.). K.s Patenonkel Angelus KafkaKafka, Angelus präsentiert hier Weine und Liköre.
Kafka 8 Jahre alt.
Mit Beginn des 3. Schuljahrs wird Matthias BeckBeck, Matthias K.s Klassenlehrer. Neue Fächer sind Geschichte, Naturgeschichte und Geographie. K. nimmt am optionalen Tschechischunterricht teil.
Kaiser Franz JosephFranz Joseph I. kommt nach PragPrag, um die Landes-Ausstellung zu besichtigen. In der Ferdinandstraße stehen Schulklassen in Festtagskleidung Spalier. Erstmals sieht K. den KaiserFranz Joseph I..
Kafka 9 Jahre alt.
Beginn des 4. Volksschuljahres. K. nimmt weiterhin am optionalen Tschechischunterricht teil.
Die Familie Kafka übersiedelt in die Zeltnergasse 3 (Haus ›Zu den drei Königen‹), wo sich bereits das Galanteriewarengeschäft befindet. Erstmals bewohnt K. ein eigenes Zimmer (im 1. Stock mit Blick auf die Straße).
Hermann KafkaKafka, Hermann 40 Jahre alt.
Der 14-jährige František Xaver BašíkBašík, František Xaver wird kaufmännischer Lehrling bei Hermann KafkaKafka, Hermann (bis 1895). Er wird später Erinnerungen an diese Zeit publizieren.
OttlaKafka, Ottla (Ottilie) (Ottilie) Kafka wird geboren.
Alfred LöwyLöwy, Alfred 40 Jahre alt.
Hermann KafkaKafka, Hermann wird bei der Polizei von einem Kunden beschuldigt, eine gefälschte Banknote weitergegeben zu haben.
Der Lehrer Matthias BeckBeck, Matthias empfiehlt K.s ElternKafka, Hermann und Julie, ihren Sohn wegen dessen zarter Konstitution noch für ein Jahr auf der Volksschule zu lassen. Sie entscheiden sich dagegen.
Kafka 10 Jahre alt.
K. besteht die Aufnahmeprüfung fürs Gymnasium in Deutsch, Religion und Mathematik.
K.s 1. Tag am Altstädter Deutschen Gymnasium im Kinsky-Palais. Obligatorische Unterrichtsfächer sind Religion, Latein, Deutsch, Geographie, Mathematik, Naturgeschichte, Turnen. Am optionalen Tschechischunterricht nimmt K. weiterhin teil. Zu seinen Mitschülern zählen Hugo BergmannBergmann, Hugo, Camill GibianGibian, Camill, Hugo HechtHecht, Hugo, Rudolf IllovýIllový, Rudolf, Paul KischKisch, Paul und Oskar PollakPollak, Oskar, später auch Ewald Felix PřibramPřibram, Ewald Felix und Emil UtitzUtitz, Emil. Klassenlehrer bis zur Matura bleibt der Latein- und Griechischlehrer Dr. phil. Emil GschwindGschwind, Emil.
Auf einer außerordentlichen Generalversammlung in der Zigeuner-Synagoge beschließt die jüdische Gemeinde den Neubau der Synagoge. Anwesend ist auch Hermann KafkaKafka, Hermann.
Hermann KafkaKafka, Hermann wird erneut wegen Zahlung mit Falschgeld angezeigt.
Max BrodBrod, Max 10 Jahre alt.
Kafka 11 Jahre alt.
Ende des 1. Gymnasialjahrs.
Beginn des 2. Gymnasialjahrs. Das Fach Geschichte kommt hinzu.
Schulausflug mit Besichtigung einer plastischen Darstellung der Schlacht von CustozzaCustozza.
Hermann KafkaKafka, Hermann wird zum k. u. k. Sachverständigen beim Handelsgericht ernannt.
Der Lehrling František BašíkBašík, František Xaver verlässt die Galanteriewarenhandlung der Kafkas.
Hermann KafkaKafka, Hermann wird zum dritten Mal wegen Zahlung mit Falschgeld angezeigt.
Klassenausflug nach RostokRostok.
Kafka 12 Jahre alt.
Ende des 2. Gymnasialjahrs.
ElliKafka, Elli (Gabriele) auf der deutschsprachigen Allgemeinen Volks- und Bürgerschule für Mädchen.
Beginn des 3. Gymnasialjahrs. Die Fächer Griechisch und Physik kommen hinzu. K. ist in den ersten 3 Gymnasialjahren Vorzugsschüler.
Julie KafkaKafka, Julie 40 Jahre alt.
Klassenausflug in den Tierpark von Schloss Stern bei PragPrag.
9 . 30 Uhr: K.s Bar-Mizwa in der Zigeuner-Synagoge.
Kafka 13 Jahre alt.
Ende des 3. Gymnasialjahrs.
Milena JesenskáJesenská, Milena in PragPrag geboren.
ValliKafka, Valli (Valerie) auf der deutschsprachigen Allgemeinen Volks- und Bürgerschule für Mädchen.
Beginn des 4. Gymnasialjahrs.
Schulausflug zur ›II. internationalen pharmaceutischen Ausstellung‹ in PragPrag.
K. schenkt Hugo BergmannBergmann, Hugo anlässlich von dessen Bar-Mizwa das Universal-Konversations-Lexikon von Joseph KürschnerKürschner, Joseph.
Klassenausflug zur Burg KarlsteinKarlstein.
Kafka 14 Jahre alt.
Ende des 4. Gymnasialjahrs.
Hermann KafkaKafka, Hermann 45 Jahre alt.
Beginn des 5. Gymnasialjahrs (= Obergymnasium). In Latein und Griechisch wird zusätzliche »Privatlectüre« verlangt. Religionslehrer ist Nathan GrünGrün, Nathan, der Bibliothekar der jüdischen Gemeinde. K. beginnt, Französisch zu lernen.
Albumeintrag für Hugo BergmannBergmann, Hugo: »Es gibt ein Kommen und ein Gehn … « (NSF1 7)
Beginn sozialer Unruhen, bei denen zahlreiche deutsche Geschäfte und Institutionen von aufgebrachten Tschechen attackiert werden. Geschäft und Wohnung der Kafkas werden von den Plünderern verschont, nicht jedoch das Kinskypalais, in dem sich das Altstädter deutsche Gymnasium befindet.
K. geht nicht zur Schule, da sein Gymnasium wegen der Verwüstungen geschlossen ist.
K. besucht wieder den Unterricht.
Alfred LöwyLöwy, Alfred 45 Jahre alt. Er ist mittlerweile Eisenbahndirektor in MadridMadrid.
K.s Geburtshaus wird abgerissen. Nur das Barockportal und die darüberliegende Balkonbrüstung werden beim Neubau wiederverwendet.
Dora DiamantDiamant, Dora wird in BendjinBendjin (PolenPolen) geboren.
Klassenausflug nach Mnichovic-StranšicMnichovic-Stranšic, eine Besitzung des Piaristenordens.
Kafka 15 Jahre alt.
Ende des 5. Gymnasialjahrs.
OttlaKafka, Ottla (Ottilie) wird im Gegensatz zu ihren Schwestern in einer tschechischsprachigen Volksschule eingeschult.
Beginn des 6. Gymnasialjahrs.
Beginn der Freundschaft mit dem Klassenkameraden Oskar PollakPollak, Oskar. K. begeistert sich für sozialistische Theorien, er liest DarwinDarwin, Charles und HaeckelHaeckel, Ernst.
Schulausflug nach WegstädtlWegstädtl.
Kafka 16 Jahre alt.
Ende des 6. Gymnasialjahrs. K.s »Fleiß« und »sittliches Betragen« wird nur noch als befriedigend benotet, seine Mathematikkenntnisse nur als ausreichend.
Oskar PollakPollak, Oskar 16 Jahre alt.
Beginn des 7. Gymnasialjahrs. Deutschlehrer ist Josef WihanWihan, Josef (*1874). Statt Naturgeschichte wird Physik unterrichtet, außerdem Philosophische Propädeutik bei Emil GschwindGschwind, Emil (*1841).
Elli KafkaKafka, Elli (Gabriele) 10 Jahre alt.
K. streitet mit Hugo BergmannBergmann, Hugo über dessen Religiosität; vertritt eine naturwissenschaftlich-atheistische Position.
Gulden und Kreuzer werden in ÖsterreichÖsterreich-Ungarn-Ungarn abgeschafft, nur noch Kronen und Heller sind gültige Währungseinheiten.
Kafka 17 Jahre alt.
Ende des 7. Gymnasialjahrs.
K. bei seinem Onkel Siegfried LöwyLöwy, Siegfried (*1867), der als Landarzt in TrieschTriesch (MährenMähren) lebt.
an Elli KafkaKafka, Elli (Gabriele): (Ansichtskarte aus TrieschTriesch) »Klein-Ella«.
Sommeraufenthalt der Familie Kafka in RostokRostok (Villenort vor PragPrag). K. lernt Selma KohnKohn, Selma kennen, liest ihr aus NietzschesNietzsche, Friedrich Werken vor.
Albumeintrag für Selma KohnKohn, Selma (NSF1 8)
Selma KohnKohn, Selma 17 Jahre alt.
Beginn des 8. und letzten Gymnasialjahrs. Schwerpunkte im Geschichtsunterricht sind ›Österreichische Vaterlandskunde‹ und ›Geschichte des Altertums‹. Als Thema einer Redeübung wählt K. ›Wie haben wir den Schluss von GoetheGoethe, Johann Wolfgangs TassoGoethe, Johann WolfgangTasso aufzufassen?‹.
Valli KafkaKafka, Valli (Valerie) 10 Jahre alt.
HermannKisch, Hermann Kisch (*1840) stirbt, der Vater von Paul KischKisch, Paul und dessen 4 jüngeren Brüdern.
an Paul KischKisch, Paul: Kondoliert.
Julie KafkaKafka, Julie 45 Jahre alt.
Schriftliche Maturitätsprüfungen in Deutsch (Aufsatzthema: ›Welche Vorteile erwachsen ÖsterreichÖsterreich aus seiner Weltlage und seinen Bodenverhältnissen?‹), Latein (Übersetzungen in beide Richtungen), Griechisch (Übersetzung ins Deutsche) und Mathematik.
Schulausflug nach SkalitzSkalitz und SebuseinSebusein bei LeitmeritzLeitmeritz.
Die Schüler des Altstädter Gymnasiums stellen sich am Franzens-Quai auf, um Kaiser Franz JosephFranz Joseph I. zu begrüßen.
Kafka 18 Jahre alt.
Mündliche Maturitätsprüfungen.
K.s Maturitäts-Zeugnis wird ausgefertigt.
➜ HELGOLANDHELGOLAND
Siegfried LöwyLöwy, Siegfried trifft auf HelgolandHelgoland ein.
➜ NORDERNEYNORDERNEY (mit Siegfried LöwyLöwy, Siegfried)
Reise mit dem Raddampfer ›Najade‹.
K. und LöwyLöwy, Siegfried wechseln vom Hotel zum Reichsadler in den Gasthof Frisia. K. trägt sich im Fremdenbuch als »stud. chem.« ein.
an Elli KafkaKafka, Elli (Gabriele): (Ansichtskarte)
➜ PRAGPRAG
OttlaKafka, Ottla (Ottilie) wechselt auf die deutschsprachige Volksschule für Mädchen. Ihre Zeugnisse verschlechtern sich danach sehr.
Der 18-jährige Oskar KafkaKafka, Oskar, ein Cousin K.s, nimmt sich in Mährisch-WeißkirchenMährisch-Weißkirchen das Leben, nachdem er die Aufnahmeprüfung in eine Kavallerie-Kadettenschule nicht bestanden hat.
K. immatrikuliert sich an der Deutschen Karls-Universität und wird Mitglied der ›Lese- und RedehalleLese- und Redehalle der deutschen Studenten in Prag der deutschen Studenten in PragPrag‹.
K., Hugo BergmannBergmann, Hugo und Oskar PollakPollak, Oskar im deutschen chemischen Institut, Krankenhausgasse 3. Vorstellung bei Prof. Guido GoldschmiedtGoldschmiedt, Guido.
Der Prager Stadtrat beschließt, der Familie Kafka das Heimatrecht in PragPrag zu gewähren.
K. für ~2 Wochen im chemischen Labor von Prof. GoldschmiedtGoldschmiedt, Guido.
10 . 30 Uhr: K. bei der konstituierenden Sitzung der ›Abteilung für Literatur und Kunst‹ der ›Lese- und RedehalleLese- und Redehalle der deutschen Studenten in Prag‹, eröffnet von Bruno KafkaKafka, Bruno.
K. wechselt zur juristischen Fakultät. Er belegt im 1. Semester: Institutionen des römischen Rechts, Encyclopädie der Rechts- und Staatswissenschaft, Römische Rechtsgeschichte, Deutsche Rechtsgeschichte, Deutsche Kunstgeschichte, Geschichte der Baukunst, Kunstgeschichtliche Übungen, Praktische Philosophie (bei Christian von EhrenfelsEhrenfels, Christian von); insgesamt 25 Wochenstunden.
Bei einem internen Treffen der ›Lese- und RedehalleLese- und Redehalle der deutschen Studenten in Prag‹ muss K. mit Ehrenwort seine »treudeutsche Gesinnung« geloben. Eine schwarz-rot-goldene Schärpe wird ihm übergestreift.
20 Uhr: K. beim Eröffnungskommers der ›Lese- und RedehalleLese- und Redehalle der deutschen Studenten in Prag‹ im Wintergarten des Deutschen Studentenheims in der Mariengasse.
[an Hugo BergmannBergmann, Hugo]
Hugo BergmannBergmann, Hugo an K.: Beklagt sich darüber, dass K. erneut über den Zionismus spottet. »Du warst seit je auf Dich allein angewiesen und bekamst so auch die Kraft, allein zu sein.« Hält sich selbst für kraftlos und unkreativ. »Ich möchte einmal auf unserem Boden stehen und nicht wurzellos sein. Vielleicht wird dann auch meine Kraft mir zurückkehren.«
11 Uhr: K. bei einem Treffen der ›Abteilung für Literatur und Kunst‹. Vortrag von Georg PickPick, Georg über ›HauptmannsHauptmann, Gerhart Märchendramen‹.