Roberto Bolaño
Der Geist der Science-Fiction
Roman
Aus dem Spanischen von Christian Hansen
FISCHER E-Books
Roberto Bolaño ist eine der großen Entdeckungen der Weltliteratur; seine Romane verweben »schlechterdings alles Essenzielle der vergangenen Jahrtausende« (Die Zeit). Roberto Bolaño wurde 1953 in Santiago de Chile geboren, lebte in seiner Jugend lange in Mexiko-Stadt und siedelte später mit seiner Familie nach Spanien um. Dort starb er mit nur 50 Jahren, im vergeblichen Warten auf eine Lebertransplantation, als er gerade an seinem Meisterwerk »2666« arbeitete.
Ein früher Roman des großen Roberto Bolaño – zum ersten Mal in deutscher Übersetzung
Mexiko-Stadt in den Siebzigern: Die jungen Remo Morán und Jan Schrella wohnen in einer schäbigen Mansarde und träumen vom Schreiben. Den bürgerlichen Werten entsagen sie, ihre Zeit ist der magische Moment zwischen Nacht und Tag. Während Remo sich rauschhaft treiben lässt, schreibt Jan unentwegt Briefe an seine Lieblings-Science-Fiction-Autoren mit der Bitte um Hilfe für sein von den USA unterdrücktes Lateinamerika.
Dieser frühe Roman, in dem man die Figuren aus Bolaños berühmtem Buch »Die wilden Detektive« wiedererkennen mag, zeigt die Meisterschaft des jungen Autors: den eleganten Bruch mit Erzählkonventionen und seine ungestüme Originalität.
Der Übersetzer dankt dem Deutschen Übersetzerfonds für die großzügige Unterstützung seiner Arbeit.
Erschienen bei S. FISCHER
Die Originalausgabe erschien 2016 bei Penguin Random House Grupo Editorial, S.A., Barcelona
© 2016, Die Erben von Roberto Bolaño
Für die deutschsprachige Ausgabe
© 2018 S. Fischer Verlag GmbH,
Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Vorbemerkung © Christian Hansen
Covergestaltung: Andreas Heilmann und Gundula Hißmann, Hamburg
ISBN 978-3-10-490662-1
Für Carolina López
Zu jedem seiner Buchprojekte notierte sich Roberto Bolaño in eigens angelegten Notizbüchern Ideen, Recherchen, die ihm als Arbeitsmaterial dienten, das Profil der Figuren sowie einzelne Szenen, die er dann im Manuskript auszuarbeiten gedachte und ausstrich, sobald sie dort Eingang gefunden hatten. Namenslisten, Zeichnungen – die zuweilen ein zerstreutes Nebenprodukt der schöpferischen Arbeit zu sein scheinen, dann wieder unmittelbar mit Aufbau und Handlung in Verbindung stehen –, einzelne Sätze, die in anderen Werken Verwendung fanden, humorvolle Wortspiele, schematische Darstellungen und Karten stehen in diesen Heften neben Gedanken zu kulturellen Ereignissen der Zeit, im Flug notierten Namen, Adressen und Telefonnummern, Verzeichnissen künftiger Bücher, Gedichten, Ideen für Titel und minutiösen Berechnungen zum Umfang des Manuskripts, an dem er gerade saß. Die Anmerkungen sind sehr detailliert und geben einen guten Einblick in den Schreibprozess eines der bedeutendsten Gegenwartsautoren spanischer Sprache: in die intensiven und durchdachten Bauarbeiten an einer narrativen Architektur, die er jedem seiner Werke angedeihen ließ.
Schon ab einem frühen Zeitpunkt (1980) erwähnt Roberto Bolaño in seiner Korrespondenz verschiedentlich einen Roman mit dem Titel Der Geist der Science-Fiction. Das in Reinschrift übertragene Manuskript trägt die Unterschrift »Blanes 1984«. Bekanntlich hat Bolaño dieses Projekt über einen langen Zeitraum hinweg verfolgt, auch noch nach dem genannten Datum; es fällt in die Zeit der Abfassung von Monsieur Pain, Consejos de un discípulo de Morrison a un fanático de Joyce (Ratschläge eines Morrison-Anhängers an einen Joyce-Begeisterten), der Erzählung »El contorno del ojo« (Der Umriss des Auges) und La Universidad Desconocida (Die Unbekannte Universität). Die Arbeit an dem Roman folgt Bolaños üblicher Vorgehensweise vor Verwendung eines Computers: Notizen und Entwürfe, Rohfassung und Reinschrift. Elektronisch erfasst wurde der Text postum.
»Würden Sie mir freundlicherweise ein Interview geben?«
»Ja, aber bitte kurz.«
»Wussten Sie, dass Sie der jüngste Autor sind, der je diesen Preis gewonnen hat?«
»Ach wirklich?«
»Ich habe eben mit einem der Organisatoren gesprochen. Ich hatte den Eindruck, als seien alle sehr bewegt.«
»Was soll ich sagen … eine große Ehre. Es freut mich.«
»Alle scheinen ganz glücklich. Was haben Sie getrunken?«
»Tequila.«
»Ich Wodka. Wodka ist ein merkwürdiges Getränk, finden Sie nicht? Wir Frauen trinken selten Wodka. Wodka pur.«
»Ich weiß nicht, was Frauen so trinken.«
»Tatsächlich? Eigentlich auch egal, was Frauen trinken, ist immer ein Geheimnis. Ich meine, das authentische, das unendliche Trinken. Aber lassen wir das. Ist es nicht eine wunderbar klare Nacht? Von hier aus kann man die abgelegensten Dörfer und fernsten Sterne betrachten.«
»Eine optische Täuschung. Wenn Sie genau hinschauen, werden Sie erkennen, dass die Fensterscheiben auf eine sehr eigenartige Weise beschlagen sind. Gehen Sie mal auf die Terrasse, ich glaube, wir befinden uns mitten im Wald. Wir können praktisch nur Äste und Zweige sehen.«
»Dann sind die Sterne natürlich aus Papier. Und die Lichter der Ortschaften?«
»Phosphoreszierender Sand.«
»Was Sie alles wissen! Bitte, erzählen Sie mir von Ihrem Werk. Von Ihnen und Ihrem Werk.«
»Ich bin etwas nervös, wissen Sie. All die Leute hier, und alle singen und tanzen ununterbrochen, ich weiß nicht …«
»Sie mögen keine Feste?«
»Ich glaube, die sind alle betrunken.«
»Das sind die Gewinner und Finalisten aller früheren Preisverleihungen.«
»Sie feiern das Ende eines neuerlichen Wettbewerbs. Ist irgendwie … verständlich.«
Vor Jans innerem Auge huschten die Gespenster und die gespenstischen Tage vorbei, eine rasche Angelegenheit, glaube ich, ein Seufzer, und schon war Jan allein, lag schwitzend am Boden und schrie vor Schmerz. Bemerkenswert auch seine Gesten, die Flugbahn seiner schreckstarren Gesten, als wollte er mir zu verstehen geben, da sei etwas an der Decke, was denn?, fragte ich, während sich mein Zeigefinger mit enervierender Langsamkeit hob und senkte, au Scheiße, sagte Jan, tut das weh, Ratten, Bergsteigerratten, Alter, und dann sagte er ah ah ah, und ich hielt ihn bei den Armen oder hielt ihn fest, und da merkte ich, dass ihm nicht nur in Strömen das Wasser lief, sondern dass die Ströme eiskalt waren. Ich weiß, ich hätte losflitzen und einen Arzt holen sollen, aber mir war so, als wolle er nicht allein bleiben. Vielleicht hatte ich auch Angst davor rauszugehen. (In jener Nacht erfuhr ich, wie wahrhaft groß die Nacht ist.) Eigentlich glaube ich, dass es Jan in gewisser Hinsicht egal war, ob ich dablieb oder fortging. Aber er wollte keinen Arzt. Also sagte ich zu ihm, dass du mir ja nicht abkratzt, du siehst schon aus wie der Idiot Myschkin, ich würde dir einen Spiegel geben, wenn wir einen Spiegel hätten, aber da wir keinen haben, musst du es mir so glauben, und versuch dich zu entspannen, und kratz mir nicht ab. Dann, aber vorher schwitzte er noch einen norwegischen Fjord zusammen, sagte er, an der Zimmerdecke wimmele es von Rattenmutanten, hörst du sie nicht?, flüsterte er, meine Hand auf seiner Stirn, und ich sagte, ja, das ist das erste Mal, dass ich an der Decke eines Dachzimmers im achten Stock das Fiepen von Ratten höre. Ah, sagte Jan. Armer Posadas, sagte er. Sein Körper war so dünn und lang, dass ich mir fest vornahm, mich in Zukunft mehr um seine Ernährung zu kümmern. Dann schien er einzuschlafen, die Augen halb geschlossen, das Gesicht zur Wand. Ich steckte mir eine Zigarette an. Durch unser einziges Fenster fielen die ersten Sonnenstrahlen des anbrechenden Morgens. Die Straße unten war immer noch dunkel und menschenleer, aber es fuhren schon wieder regelmäßiger Autos. Plötzlich hörte ich Jan hinter mir schnarchen. Ich drehte mich nach ihm um, er schlief nackt auf der unbezogenen Matratze, eine blonde Haarsträhne über der Stirn, die allmählich trocknete. Ich lehnte mich an die Wand und ließ mich an ihr hinabgleiten, bis ich am Boden hockte. Im Fensterausschnitt flog ein Flugzeug vorbei: rote, grüne, blaue, gelbe Lichter, das Ei eines Regenbogens. Ich schloss die Augen und dachte an die letzten Tage, an die großen traurigen Szenen und an das, was ich berühren und sehen konnte, dann zog ich mich aus, warf mich auf meine Matratze und versuchte, mir Jans Albträume vorzustellen, und plötzlich, bevor ich wie auf Befehl in Tiefschlaf sank, hatte ich die Gewissheit, dass Jan in dieser Nacht alles Mögliche gefühlt haben mochte, nur keine Angst.
Liebe Alice Sheldon,
ich wollte Ihnen bloß sagen, dass ich Sie zutiefst bewundere … Ich habe Ihre Bücher mit Hingabe gelesen … Als ich mich von meiner Bibliothek trennen musste – die nie groß gewesen ist, aber auch nicht klein –, brachte ich es nicht über mich, alle Ihre Werke zu verschenken … So besitze ich immer noch Die Mauern der Welt hoch, und manchmal zitiere ich aus dem Gedächtnis einige Passagen … Nur für mich … Ich habe auch Ihre Erzählungen gelesen, aber die sind mir leider abhandengekommen … Hier sind sie in Anthologien und Zeitschriften erschienen, von denen einige den Weg in meine Stadt gefunden haben … Es gab einen Typen, der mir seltene Sachen lieh … Außerdem kannte ich einen Science-Fiction-Autor … Viele meinen, der einzige Science-Fiction-Autor meines Landes … Ich bin nicht dieser Ansicht … Remo sagt, seine Mutter habe vor zehn oder fünfzehn Jahren noch einen Science-Fiction-Autor gekannt … Er hieß González, glaubt Remo sich zu erinnern, und arbeitete in der Verwaltungsabteilung des Krankenhauses von Valparaíso … Er gab der Mutter von Remo und den anderen Mädchen Geld, damit sie seinen Roman kauften … Verlegt auf eigene Kosten … So waren die Abende von Valparaíso, vollständig rot und gestreift … González wartete draußen vor der Buchhandlung, und Remos Mutter ging hinein und kaufte das Buch … Und natürlich verkauften sie nur die Exemplare, die von den Jungs und Mädels aus der Verwaltungsabteilung gekauft wurden … Remo weiß ihre Namen noch: Maite, Doña Lucía, Rabanales, Pereira … Aber nicht den Titel des Buchs … Invasion vom Mars … Flug zum Andromedanebel … Das Geheimnis der Anden … Ich komme nicht drauf … Vielleicht finde ich eines Tages ein Exemplar … Wenn ich es ausgelesen habe, schicke ich es Ihnen als bescheidenen Dank für die vergnüglichen Stunden, die Sie mir beschert haben …
Ihr
Jan Schrella
»Lassen Sie uns über das preisgekrönte Werk sprechen.«
»Meinetwegen, viel gibt es nicht zu sagen. Soll ich Ihnen erzählen, worum es geht?«
»Mit dem größten Vergnügen.«
»Alles beginnt in Santa Barbara, einem Dorf unweit der Anden, im chilenischen Süden. Ein entsetzliches Kaff, zumindest in meinen Augen, kein Vergleich zu diesen hübschen mexikanischen Städtchen. Trotzdem gibt es etwas, was ihm einen edlen Anstrich verleiht – alle Häuser dort sind aus Holz. Ich muss gestehen, dass ich nie da war, aber ich kann es mir gut vorstellen: Holzhäuser, unbefestigte Straßen, Fassaden in allen Brauntönen, fehlende Bürgersteige oder aber, wie in den Western, unregelmäßige Holzstege, damit in Regenzeiten der Schlamm nicht bis in die Häuser kommt. In diesem Santa Barbara der Albträume oder Grenzlinien beginnt die Geschichte. Um genau zu sein, in der Kartoffelakademie, einer Art Speicher, zweigeschossig und mit Wetterfahne aus Schmiedeeisen auf dem Dach, wahrscheinlich das trostloseste Gebäude in der Calle Galvarino und, unter uns, eine der vielen über die Welt verstreuten Fakultäten der Unbekannten Universität.«
»Das ist ja enorm spannend, erzählen Sie, erzählen Sie.«
»Im Erdgeschoss gibt es lediglich zwei Räume. Der eine ist riesig, dort waren früher sogar Traktoren untergebracht; der andere ist winzig klein und ein Eckzimmer. Der große Raum enthält mehrere Tische, Stühle, Aktenschränke, aber auch Schlafsäcke und Luftmatratzen. An den Wänden hängen Poster und Abbildungen diverser Kartoffelsorten. Das kleine Zimmer steht leer. Wände, Boden und Decke des Zimmers sind aus Holz, aber nicht aus dem alten Holz der Entstehungszeit der Hofanlage, sondern aus neuem, sauber verlegtem und auf Hochglanz poliertem, fast nachtschwarz gebeiztem Holz. Ich langweile Sie doch nicht?«
»Nein, erzählen Sie weiter. Für mich ist das eine Erholung. Sie wissen nicht, wie viele Interviews ich heute Vormittag schon in DF geführt habe. Wir Journalisten schuften wie die Leibeigenen.«
»Also gut. Im ersten Stock, zu dem eine geländerlose Treppe hinaufführt, gibt es zwei weitere Räume, beide gleich groß. In dem einen stehen mehrere Stühle, alle unterschiedlich, ein Schreibtisch, eine Wandtafel und andere Gegenstände, die eine sehr vage und entfernte oder, richtiger, verschwommene Vorstellung von einem Klassenraum vermitteln. Der andere Raum beherbergt nur landwirtschaftliches Gerät, alt und verrostet. Im zweiten Stock schließlich, zu dem man durch das Zimmer mit den Gerätschaften gelangt, finden wir eine Amateurfunkanlage und etliche am Boden liegende Landkarten, einen kleinen Kurzwellensender, ein semiprofessionelles Aufnahmegerät, etliche japanische Verstärker et cetera. Ich sage et cetera, weil das, was ich Ihnen nicht aufgezählt habe, unerheblich ist oder später noch auftauchen wird, und dann werden Sie in allen Einzelheiten davon erfahren.«
»Mein Lieber, die Spannung ist unerträglich.«
»Sparen wir uns ironische Kommentare. Im zweiten Stock, wie gesagt, in Wirklichkeit ein einziger, dachbodenartiger Raum, stößt man auf ein Sammelsurium sämtlicher Erfindungen der modernen oder frühmodernen Kommunikationstechnik. Die Amateurfunkanlage ist der einzige Überlebende diverser moderner Erfindungen, die in der Akademie zu Unterrichtszwecken verwendet wurden und die der Hunger des Verwalters und die augenscheinliche Verwahrlosung, die die Unbekannte Universität im Allgemeinen zeigt, zu verkaufen zwangen. Hier herrscht ein Zustand totaler Unordnung, man könnte meinen, dass sich seit Monaten keiner die Mühe gemacht hat, zu fegen oder zu wischen. Das Zimmer besitzt zwei Fenster, wenig für seine Größe, beide mit Rollläden aus Holz. Im östlichen Fenster sieht man die Kordillere. Durch das andere schaut man auf einen unendlichen Wald und den Beginn eines Weges oder das Ende.«
»Eine idyllische Landschaft.«
»Eine idyllische oder eine schreckliche Landschaft, je nachdem.«
»Mmmmh …«
»Die Akademie befindet sich inmitten einer Hofanlage. Früher drängten sich hier Karren und Wagen. Jetzt ist dort kein einziges Fahrzeug zu sehen, nur das Mountainbike des Verwalters, eines Mannes, der die Sechzig überschritten hat und das gesunde Leben liebt, daher das Rad. Der Hof ist von einem Zaun aus Holz und Draht umgeben. Es gibt nur zwei Zugänge. Das Haupttor, groß und schwer, über dem außen ein fahlgelbes Metallschild hängt, auf dem in schwarzen Lettern geschrieben steht: Kartoffelakademie – Lebensmittelforschung 3, und klein darunter die Straße und die Hausnummer: Galvarino 800. Die andere Tür befindet sich in dem Teil, den ein normaler Besucher als Hinterhof bezeichnen würde. Diese Tür ist klein und führt nicht auf die Straße, sondern auf eine Brachfläche, und dann zum Wald und dem Weg.«
»Ist das derselbe Weg, den man von der Mansarde aus sieht?«
»Ja, das Ende des Wegs.«
»Wie schön muss es sein, in einer Mansarde zu wohnen, selbst wenn sie klein ist.«
»Ich habe unzählige Jahre in einer Dachkammer gewohnt. Würde ich Ihnen nicht empfehlen.«
»Ich habe nicht Dachkammer gesagt, sondern Mansarde.«
»Das ist das Gleiche. Die Landschaft ist die Gleiche. Eine Galgenlandschaft, aber mit Tiefe. Mit Morgendämmerungen und Abenddämmerungen.«
Ich dachte, das sei eine ideale Bühne, um die herum Bilder und Sehnsüchte kreisen konnten: Ein junger Mann, eins sechsundsiebzig groß, in Jeans und blauem Hemd, der am Rand der längsten Avenida Amerikas in der Sonne stand.
Das hieß aber, dass wir endlich in Mexiko waren und die Sonne, die zwischen den Gebäuden hindurch auf mich zielte, die oft erträumte Sonne von DF war. Ich zündete mir eine Zigarette an und suchte unser Fenster. Das Haus, in dem wir wohnten, war graugrün, wie die Uniformen der Wehrmacht, hatte Jan gesagt, als wir vor drei Tagen das Zimmer fanden. Auf den Balkonen der Wohnungen waren Blumen zu sehen; weiter oben, kleiner als Blumentöpfe, befanden sich die Fenster der Dachkammern. Ich wollte schon nach Jan rufen, damit er ans Fenster kam und einen Blick auf unsere Zukunft warf. Und was dann? Abhauen, ihm sagen, ich gehe, Jan, ich bringe zum Essen Butterbirnen (und Milch, obwohl Jan Milch hasste) und gute Neuigkeiten mit, super Kumpel, die Ausgeglichenheit in Person, der ewige Tollpatsch in den Vorzimmern der großen Arbeit, ich werde Starreporter in einer Lyrikredaktion sein, an Telefonen herrschte bei mir kein Mangel.
Da begann mein Herz ganz seltsam zu hämmern. Ich dachte: Ich bin eine Statue, die zwischen Bürgersteig und Straße steht. Ich rief nicht. Ich lief los. Sekunden später, bevor ich noch aus dem Schatten unseres Hauses trat, oder aus dem Schattengewebe, das über diesem Abschnitt lag, tauchte in der Fensterfront des Restaurants Sanborns mein Spiegelbild auf, eine eigenartige geistige Kopie, ein junger Mann mit zerrissenem, blauem Hemd und langen Haaren, der sich mit einer seltsamen Kniebeuge vor den Prachtexemplaren und Verbrechen verneigte (aber vor welchen Prachtexemplaren und welchen Verbrechen, das hatte ich sofort vergessen), beladen mit Brot und Butterbirnen, die ich fortan und für immer Avocados nennen sollte, und einem Liter Leche Lala, die Augen, nicht meine, sondern jene, die sich in der schwarzen Grube der Fensterfront verloren, zu Schlitzen verengt, als hätten sie plötzlich die Wüste gesehen.
Ganz sachte drehte ich mich um. Ich wusste es. Jan stand am Fenster und schaute zu mir herunter. Ich winkte ihm zu. Jan rief etwas Unverständliches und schob sich bis zum Bauch nach draußen. Ich sprang hoch. Jan antwortete, indem er den Kopf vor und zurück und dann im Kreis bewegte, immer schneller. Ich hatte Angst, er würde springen. Ich begann zu lachen. Die Passanten drehten sich nach mir um, dann schauten sie hoch und sahen Jan, der so tat, als strecke er ein Bein heraus, um nach einer Wolke zu treten. Das ist mein Freund, verkündete ich, wir sind erst seit ein paar Tagen hier. Er will mir Mut machen. Ich gehe mir gerade Arbeit suchen. Ah, phantastisch, was für ein guter Freund, sagten einige und setzten lächelnd ihren Weg fort.
Niemals würde uns in dieser liebenswürdigen Stadt etwas Böses zustoßen, dachte ich. Wie nah dran und wie weit weg von dem, was das Schicksal für mich bereithielt! Wie traurig und durchsichtig blass ist jetzt, in der Erinnerung, jenes erste breite mexikanische Lächeln!
»Ich hab von einem Russen geträumt … Wie findest du das?«
»Keine Ahnung … Ich habe von einer Blondine geträumt … Es wurde Abend … Es sah aus wie in den Ausläufern von Los Ángeles, weißt du, aber im nächsten Moment war es nicht mehr unser chilenisches Los Ángeles, sondern das mexikanische DF, und die Blondine ging durch Tunnel aus transparentem Plastik … Sie hatte einen traurigen Blick … Aber das habe ich schon gestern geträumt, im Bus.«
»Der Russe in meinem Traum war gutgelaunt. Ich hatte den Eindruck, er würde in ein Raumschiff steigen.«
»Dann war es Juri Gagarin.«
»Willst du noch Tequila?«
»Auf geht’s, Kumpel, was glaubst du.«
»Zuerst dachte ich auch, es sei Juri Gagarin, aber du kannst dir nicht vorstellen, was dann geschah … Im Traum standen mir die Haare zu Berge.«
»Jedenfalls hast du seelenruhig geschlafen. Ich habe bis spät geschrieben, und du sahst ganz friedlich aus.«
»Na gut, der Russe jedenfalls schlüpfte in seinen Raumanzug und kehrte mir den Rücken. Er ging fort. Ich wollte ihm nachgehen, aber keine Ahnung, was mit mir los war, ich konnte nicht gehen. Da wandte sich der Russe noch einmal um und hob zum Abschied die Hand … Und weißt du, wer er war, was er war?«
»Nein …«
»Ein Delphin … In dem Anzug steckte ein Delphin … Mir standen die Haare zu Berge, und ich wollte weinen.«
»Du hast nicht mal geschnarcht.«
»Es war furchtbar … Jetzt kommt es mir harmlos vor, aber im Traum war es entsetzlich, als würde mir etwas die Kehle zuschnüren. Es war nicht der Tod, weißt du, es war eher eine Auslöschung.«
»Der Delphin von Leningrad.«
»Ich glaube, es war ein Fingerzeig … Du hast nicht geschlafen?«
»Nein, ich habe die ganze Nacht geschrieben.«
»Ist dir kalt?«
»Und wie! Verdammt, ich dachte, hier würde man niemals frieren.«
»Es wird Tag.«
Unsere Köpfe passten kaum durch den Fensterrahmen. Jan sagte, er habe an Boris gedacht. Er sagte das wie nebenbei.
Der Tagesanbruch sagte: Ich bin ein Sondermodell. Ihr könnt euch schon mal daran gewöhnen. Ich komme alle drei Tage.
»Heilige Scheiße, was für ein Tagesanbruch«, sagte Jan mit weit aufgerissenen Augen und geballten Fäusten.
Ich begann für die wöchentliche Kulturbeilage der Tageszeitung La Nación zu arbeiten. Der Chef der Beilage, Rodríguez, ein alter andalusischer Dichter, der mit Miguel Hernández befreundet gewesen war, ließ mich an jeder Beilage mitwirken, also einmal in der Woche. Von dem, was ich mit vier Texten monatlich verdiente, konnten wir acht oder neun Tage leben. Die übrigen einundzwanzig Tage bestritt ich mit Beiträgen für eine pseudohistorische Zeitschrift, die ein Argentinier herausgab, der genauso alt war wie Rodríguez, aber die glatteste und straffste Haut besaß, die mir je untergekommen ist, und der aus leicht nachvollziehbaren Gründen Püppchen genannt wurde. Den Rest steuerten meine und Jans Eltern bei. Die Sache gestaltete sich ungefähr so: Dreißig Prozent des Geldes kamen von La Nación, weitere dreißig von unseren Eltern und vierzig Prozent von Historia y Mundo, wie Püppchen sein Machwerk getauft hatte. Die vier Artikel für La Nación erledigte ich gewöhnlich in zwei Tagen; es waren Besprechungen von Gedichtbänden, manchmal von einem Roman, selten von Essays. Rodríguez übergab mir die Bücher am Samstagmorgen, dem Moment, wo alle oder fast alle Mitarbeiter der Beilage in dem engen Kämmerchen versammelt saßen, das dem Alten als Büro diente, um ihre Beiträge abzuliefern, ihre Schecks einzustreichen und Vorschläge zu machen, die entweder schrecklich schlecht waren oder aber von Rodríguez nie beherzigt wurden, denn die Beilage war und blieb ein Käseblättchen. In erster Linie kamen die Leute am Samstag, um sich mit ihren Freuden zu unterhalten und über ihre Feinde herzuziehen. Alle waren Dichter, alle tranken, alle waren älter als ich. Es war nicht besonders amüsant, dennoch blieb ich an keinem Samstag den Treffen fern. Wenn Rodríguez das Signal zum Feierabend gab, gingen wir in die Cafés und plauderten weiter, bis die Dichter einer nach dem anderen an ihre Schreibtische zurückkehrten, während ich allein am Tisch zurückblieb und mit übereinandergeschlagenen Beinen die endlose Aussicht betrachtete, die sich vor den Fenstern bot, die Jungen und Mädchen von DF, weltentrückte Polizisten und eine Sonne, die von den Hausdächern aus den Planeten zu überwachen schien. Bei Püppchen lagen die Dinge anders. Erstens bewog mich eine Scham, über die ich heute erröte, keine meiner Chroniken mit eigenem Namen zu unterschreiben. Als ich Püppchen das sagte, blinzelte er gequält, akzeptierte aber anstandslos. Welchen Namen willst du dir denn zulegen, Junge?, brummte er. Ohne zu zögern sagte ich: Antonio Pérez. Na, na, sagte Püppchen, hat da etwa jemand literarische Ambitionen? Nein, ich schwöre, log ich. Trotzdem werde ich von dir Qualität verlangen. Und in einem immer traurigeren Ton fügte er hinzu: Hast du eine Ahnung, was für tolle Sachen sich aus diesen Themen rausholen lassen … Mein erster Artikel befasste sich mit Dillinger. Der zweite mit der neapolitanischen Camorra. (Antonio Pérez brachte es damals fertig, ganze Absätze aus einer Erzählung von Conrad zu zitieren!) Später folgten das Valentinstag-Massaker, die Biographie einer Giftmörderin aus Walla Walla, die Entführung des Sohns von Charles Lindbergh, und so weiter. Das Büro von Historia y Mundo befand sich in einem alten Gebäude im Stadtteil Lindavista, und während der ganzen Zeit, in der ich meine Artikel dort ablieferte, habe ich nie jemand anders angetroffen als Püppchen. Unsere Unterhaltungen waren kurz: Ich lieferte meine Texte ab, und er übertrug mir neue Aufgaben, lieh mir Material für meine Recherchen, Fotokopien aus Zeitschriften, die er in seiner Heimatstadt Buenos Aires geleitet hatte, sowie Kopien aus spanischen und venezolanischen Schwesterzeitschriften, denen ich nicht nur Informationen entnahm, sondern die ich gelegentlich auch schamlos abkupferte. Manchmal erkundigte sich Püppchen bei mir nach Jans Eltern, die er seit langem kannte, und dann seufzte er. Und wie geht es dem Sohn der Schrellas? Gut. Was macht er? Nichts, er studiert. So so. Und das war alles. Natürlich studierte Jan nicht, obwohl wir seinen Eltern diesen Bären aufgebunden hatten, damit sie sich keine Sorgen machten. In Wirklichkeit verließ er unsere Dachkammer nie. Er verbrachte den ganzen Tag in seinem Zimmer, weiß der Teufel, was er da trieb. Gut, er kam raus, um aufs Klo oder unter die Dusche zu gehen, die wir uns mit den anderen Dachbewohnern teilten, ging auch manchmal runter auf die Straße und lief die Insurgentes entlang, höchstens zwei Häuserblocks weit, langsam, so als folgte er einer Witterung, und war bald wieder zurück. Was mich betraf, ich fühlte mich ziemlich allein und wollte unbedingt Leute kennenlernen. Den entscheidenden Tipp bekam ich von einem Dichter, der für den Sportteil von La Nación arbeitete. Er sagte: Geh mal zur Dichterwerkstatt am philosophisch-philologischen Institut. Ich erwiderte, ich hielte nichts von Dichterwerkstätten. Er sagte: Da wirst du junge Leute treffen, Leute in deinem Alter, und keine Saufköppe und Versager, die nur auf eine Festanstellung schielen. Ich grinste, jetzt fängt der alte Sack gleich an zu heulen, dachte ich. Er sagte: Dichterinnen, da gibt es Dichterinnen, Jungchen, kapier’s doch. Aha.
Lieber James Hauer,
wie ich in einer mexikanischen Zeitschrift gelesen habe, planen Sie die Gründung eines Komitees nordamerikanischer Science-Fiction-Autoren zur Unterstützung der Dritten Welt und speziell Lateinamerikas. Die Idee als solche ist nicht schlecht, wenn auch durchaus zwiespältig, was möglicherweise mehr der Zeitschrift anzulasten ist, die die Information falsch wiedergibt, als Ihren Absichten. Sie müssen bedenken, dass Ihnen hier ein lateinamerikanischer Science-Fiction-Autor schreibt. Ich bin siebzehn, und noch keiner meiner Texte hat das Licht der Öffentlichkeit erblickt. Irgendwann habe ich sie mal einem Literaturprofessor meines Landes gezeigt, einem ehrlichen Menschen mit einer hemmungslosen Liebe zu Scott Fitzgerald und einer gesitteteren Liebe zur Gelehrtenrepublik, wie sie nur jemand empfinden kann, der in einem unserer Länder lebt und liest. Um eine Vorstellung zu bekommen, denken Sie an einen Apotheker im Deep South oder an einen glühenden Vachel Lindsay-Anhänger in einem gottverlassenen Kaff in Arizona. Oder lassen Sie das mit dem Vorstellen und lesen per saecula saeculorum