Christoph Ransmayr
Bericht am Feuer
Gespräche, E-Mails und Telefonate zum Werk von Christoph Ransmayr
FISCHER E-Books
Herausgegeben von Insa Wilke
Christoph Ransmayr wurde 1954 in Wels/Oberösterreich geboren und studierte Philosophie in Wien, wo er nach Jahren in Irland und auf Reisen wieder lebt. Neben seinen Romanen ›Die Schrecken des Eises und der Finsternis‹, ›Die letzte Welt‹, ›Morbus Kitahara‹ und ›Der fliegende Berg‹ erschienen zehn Spielformen des Erzählens, darunter ›Damen & Herren unter Wasser‹, ›Geständnisse eines Touristen‹, ›Der Wolfsjäger‹ und ›Gerede‹. Zuletzt veröffentlichte Christoph Ransmayr den ›Atlas eines ängstlichen Mannes‹. Für seine Bücher, die bisher in mehr als dreißig Sprachen übersetzt wurden, erhielt er zahlreiche literarische Auszeichnungen, unter anderem die nach Friedrich Hölderlin, Franz Kafka und Bert Brecht benannten Literaturpreise, den Premio Mondello und, gemeinsam mit Salman Rushdie, den Prix Aristeion der Europäischen Union.
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Erschienen bei FISCHER E-Books
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2014
Covergestaltung: heilmann, hißmann, hamburg
Coverabbildung: Christoph Ransmayr
Abbildungen im Text: Alle Rechte an den Abbildungen liegen bei Christoph Ransmayr. Nachdruck nur mit Genehmigung von Christoph Ransmayr gestattet.
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ISBN 978-3-10-400689-5
»Als zuerst diese Zahlen / und dann auch die Sterne verblaßten / und schließlich erloschen, hörte ich das Meer.«
»Mit meiner Handfläche schütze ich das Kap, bedecke die Bucht, spüre, wie trocken und kühl das Blau ist, stehe inmitten meiner papierenen Meere, allein mit allen Möglichkeiten einer Geschichte, ein Chronist, dem der Trost des Endes fehlt.«
»Wer mit dem Abschied nichts anzufangen weiß, der wird nie etwas überwinden, nie einen Weg finden und nirgendwo ankommen.«
»Schwer beladen keuchte er nach solchen Besuchen über Saumpfade zurück in seine Verlassenheit, saß dort zwischen Treibholz und Tang und schrieb in den Sand, damit die Wellen seine Worte und Zeichen aufleckten und ihn dazu anhielten, immer wieder und anders und neu zu beginnen.«
»Josef Mazzini reiste oft allein und viel zu Fuß. Im Gehen wurde ihm die Welt nicht kleiner, sondern immer größer, so groß, daß er schließlich in ihr verschwand.«
»Er hat geweint? fragte Sameera, er hat ein Leben lang am Sri Pada gebetet, meditiert und sich zu befreien versucht von den Gewichten der Welt und mußte bei der Frage nach seiner Geschichte weinen?«
»Ich bin es, / ich, / der da untergeht.«
»Denn wer in dieser Finsternis stolperte und fiele, käme auf weichem Grund zu liegen, auf stardust, Sternenstaub.«
»Patton braucht seine Stimme nur zu erheben und ist schon mit dem ersten Ton hoch über dem Tosen der Menge und allem Lärm der Welt ganz allein.«
»In diesen winzigen Kristallgärten, deren Blüten und Schleier im Gegenlicht silbergrün glommen, sah er ein geheimnisvolles, laut- und zeitloses Bild der Welt, das ihn die Schrecken seiner eigenen Geschichte und selbst seinen Haß für einen Augenblick vergessen ließ.«
»Jeder Weg, der seinen Namen verdient, führt zugleich in die Ferne und in die Tiefe, an den Rand der Welt und in ihr Herz.«
»Irgendwann wird diese Welt wieder das sein, was sie die längste Zeit war: eine Welt ohne uns. Eine lohnenswerte Frage könnte doch immerhin sein, wie man mit diesem Bewußtsein leben und gleichzeitig so etwas wie Freude, auch Begeisterung empfinden kann.«
»Auch im Erzählen, selbst in den ältesten Erinnerungen, geht es um die Lebenden, nicht um die Toten.«
»Soviel ich weiß, enden viele Abstiege tödlich, weil die Aufsteiger vergessen, daß der Weg zurück ins Vertraute manchmal größere Leidensfähigkeit und die Aufbietung größerer Kräfte verlangt als die Route hinauf in den Traum.«
»Was immer diesem Unglücklichen einmal verbrannt sei, sagte Echo, müsse wohl ein Buch über Steine gewesen sein, ein Katalog seltsamer Mineralien.«
»In dieser Stille kehrte er aus der Höhe der Felsen wieder zurück in sein Herz, in seinen Atem, seine Augen.«
»Er will, / obwohl er Verwüstung betreibt, / sich in die Zukunft verlängern! / Und das ist ein Widerspruch.«
»Und doch spürt er nach dem einen Schritt, den er jetzt tut, keinen Schlag, keinen Schmerz. Auch der Funkenregen bleibt aus. Er tritt einfach ins Leere. Wie leicht alles wird in der Leere.«
»Während er nach meiner Herkunft und dem Zweck meiner Reise fragte, verflog seine Schrift.«
»Niemand, höre ich Nyema sagen, / niemand stirbt auf seinem Weg nur ein einziges Mal.«
»Heimkehr? Aus einem Krieg, Held Trojas, Städteverwüster, ist noch keiner heimgekehrt – jedenfalls nicht als der, der er war. Willkommen in Ithaka.«
»Und Naso hatte schließlich seine Welt von den Menschen und ihren Ordnungen befreit, indem er jede Geschichte bis an ihr Ende erzählte.«
»Wo erzählt wird, Herr Direktor, reicht stets eine Stimme und ein Ohr.«
»Daß er schließlich selber vor die Massen wollte, war wohl auch eine der Bedingungen seines Unglücks.«
»Wer seinen Ort gefunden hat, der führt keine Reisetagebücher mehr.«
»Pontifex’ Leben dauerte 8 Monate und 21 Tage, sein Gewicht am Schlachttag betrug 96 Kilogramm, und der Preis für Schweinefleisch erreichte in den Wochen nach seinem Tod durch einen Skandal in der Agrarindustrie einen für mitteleuropäische Verhältnisse einmaligen Tiefstand.«
»Aber Moors Kinder langweilten die Erinnerungen an eine Zeit vor ihrer Zeit. Was hatten sie mit den schwarzen Fahnen am Dampfersteg und mit den Ruinen am Schotterwerk zu schaffen? Und was mit der Botschaft der Großen Schrift im Steinbruch?«
»Alles nur eine Frage der Beleuchtung, sagte er, sichtbar, unsichtbar, alles nur eine Frage der Beleuchtung.«
»Naso war unversehrt. Seine Arbeit Asche.«
»Ich bin mit den Aufzeichnungen verfahren, wie jeder Entdecker mit seinem Land, mit namenlosen Buchten, Kaps und Sunden verfährt – ich habe sie getauft. Nichts soll ohne Namen sein.«
»Das war nur ein Scherz, Idiot. Die Sache mit der Ehre war immer nur ein Scherz.«
»Wer sich mit dem Menschenmöglichen beschäftigt, kann durchaus zur Einsicht kommen, daß noch längst nicht alles ausgestanden ist – nicht an Entsetzlichem und Schrecklichem – aber auch nicht an Befreiendem.«
»Und die Sterne erloschen auch nicht, / als über den Eisfahnen die Sonne aufging / und mir die Augen schloß, / sondern erschienen in meiner Blendung / und noch im Rot meiner geschlossenen Lider / als weiß pulsierende Funken.«
»Liam wollte nichts sehen, / Liam wollte nichts hören. / Liam entwarf. Liam träumte.«
»Was ich über die finstersten Zeiten des vergangenen Jahrhunderts weiß, habe ich in wesentlichen Teilen von Fred und meinem Vater erfahren, ich rede hier von Angst, Trauer, den Schmerzen der Erinnerung, nicht von statistischen Fakten.«
»Ein Orkan, das war ein Vogelschwarm hoch oben in der Nacht; ein weißer Schwarm, der rauschend näher kam und plötzlich nur noch die Krone einer ungeheuren Welle war, die auf das Schiff zusprang.«
»Nein, dem Trugschluß bin ich nie verfallen: mir einzubilden, als Erzähler einer für alle zu sein.«
»Was ich mitnehme?, was ich von diesen und anderen Reisen zurückbringe und überallhin mitnehme? Eine gewisse Immunität vielleicht gegen den Glauben an Hierarchien von Kulturen und Völkern, auch eine gewisse Immunität gegen Ideologien und alle Arten von Dogmen.«
»Vielleicht ist jenes Bedürfnis / tatsächlich unstillbar, / das uns selbst in enzyklopädisch gesicherten Gebieten / nach dem Unbekannten, Unbetretenen, / von Spuren und Namen noch Unversehrten suchen läßt – / nach jenem makellosen weißen Fleck, / in den wir dann ein Bild unserer Tagträume / einschreiben können.«
»Was immer erzählt wurde, kann nirgendwo klarer, nirgendwo stärker sein als im Inneren der Erzählung.«
»Jeder von ihnen bewahrte, wenn er aus der Höhe wieder ins Tal stieg, für den Rest seines Lebens etwas, das auch von anderen bewahrt wurde, und trug so etwas von allen anderen durch seine Zeit.«
»(…) mir selber begreiflich zu machen, aus welcher Welt und aus welcher Zeit ich komme.«
»Geschichten ereignen sich nicht, Geschichten werden erzählt.«
»Phur-Ri, sagte Nyema, a mountain that flies, / dieser Berg, der strahlendste und größte von allen, / sollte jeden, der aufrecht gehen und sprechen konnte, / daran erinnern, daß nichts, nichts! / (…) für immer bleiben durfte«
»Denn wie jede Fluchtlinie, / die an die Ränder des Lebens führt, / verbanden uns auch Kletterrouten / schon vom ersten Aufstieg an / nicht nur mit dem Fernsten, sondern ebenso / mit dem Nächsten, Vertrautesten«
»Gemeinsam hatten wir aus Zeichen und Lauten eine Sprache, aus einem Spiel eine Geschichte und aus der Straße eine Zeile gemacht – und waren uns doch während der ganzen Reise nicht so nahe gekommen wie in den Augenblicken des Abschieds.«
»Denn am Ende einer Geschichte, vielmehr: in ihrem Inneren, bin ich so zuversichtlich, so überzeugt vom Sinn aller menschlichen Anstrengungen wie in keinem anderen Augenblick meines Lebens.«
»Denn zum Fußweg gehört auch der langsame, allmähliche Wechsel der Perspektive, das Innehalten und Betrachten. Erst dadurch kann so etwas wie ein vielschichtiges Bild der Welt entstehen, Material für Geschichten, Erzählungen.«
»Wer nicht bleiben kann, was er ist, muß sich verwandeln.«
»Opera, sagte der rundliche Mann auf die Frage eines Jurymitglieds, womit er denn sein Publikum hier und jetzt überzeugen zu können glaubte, er wolle Opera singen. Publikum und Jury lächelten.«
»Wie die Luftblasen aus der Wassertiefe nach oben torkeln und steigen, so steigen aus seinem Inneren Bilder auf, aus der Vergessenheit, und wurden, endlich oben, wieder zu nichts«
»Reviergesang statt zinnenbewehrter Mauern!, Tonfolgen anstelle von Steinen, Grenzgesänge!«
»Manchmal habe ich das Gefühl, / ich müßte aus noch einem / und einem weiteren Traum erwachen, / um endlich dort anzukommen, wo ich wirklich bin.«
»Vergessen wir nicht, daß eine Luftlinie eben nur eine Linie und kein Weg ist«
»Was ich, Tourist oder Erzähler, im glücklichsten Fall erreichen will, ist natürlich unerreichbar – eine Art voraussetzungsloses Erzählen.«
»Keinem bleibt seine Gestalt«
»Und dann berührte plötzlich etwas Warmes, Weiches, ihre vom Weinen geschüttelte Schulter, etwas Sanftes und gleichzeitig so Mächtiges, daß davon etwas Erlösendes ausgehen und ihren ganzen Körper durchdringen konnte.«
»Tief im Inneren seiner Geschichte ist er zugleich in der Mitte der Welt.«
»Die Weisheit aber – wo findet man sie, und wo ist die Stätte der Einsicht?«
»Als aus der schneeweißen Asche ein Funke ins kalte Höhlendunkel sprang und im Flug erlosch, schlief ich ein. Nun war ich angekommen.«
»Es war das Bild eines glücklichen Menschen.«
»Was sei schließlich schöner und leichter als ein Theater, dessen Helden, Krieger, Heilige und Könige, ja sogar Sturmfluten und Elefanten aus Licht! Bestünden, aus nichts anderem als Licht.«
»(…) daß es nämlich den Menschen aufgegeben war, den Sterblichen, Dich zu behüten / Wohin du auch gehst und so die Arbeit der Engel zu tun.«
»Die Erfahrung, daß, was ist, nicht bleiben kann und daß es eher darauf ankommt, zu begreifen, unter welchen Umständen und nach welchen ständig wechselnden Gesetzen Veränderungen vor sich gehen.«
»Dadurch wurde dieses Leben zwar nicht leichter, aber zumindest erzählbar, begreifbar – und erschien in manchen Spott- und Kampfliedern sogar veränderbar.«
»In einem schmerzlosen Frieden, / von dem ich heute weiß, / daß er tatsächlich das Ende war, mein Tod / und nicht bloß völlige Erschöpfung, / Höhenwahn, Bewußtlosigkeit, / hörte ich eine Stimme, ein Lachen: / Steh auf! / Es war die Stimme meines Bruders.«
»(…) denn was so gebrochen und so vertraut von den Wänden zurückschlug, war sein eigener Name.«
»Dann brauchte er sich nur von der Welt abzustoßen, und sie segelte unter ihm davon.«
»Jeder Ort hat sein Schicksal.«
»Erzählen erfordert Vorstellungskraft, Mitgefühl, fordert das auch von Lesern und Zuhörern – und Roheit, politische oder religiöse Dummheit, Dogmatismus sind zum Teil ja auch ein ungeheurer Mangel an Vorstellungskraft, ein Mangel nämlich an der Vorstellung vom tatsächlichen Leben, vom Glück und vom Leiden des einzelnen.«
»Ich kann Ihnen heute nicht mehr genau sagen, aus welcher Richtung der besondere Rückenwind kam, der für mich in Salzburg stets spürbar war, aber ich glaube, er hatte damit zu tun, daß ich, zumindest für einen kurzen Arbeitsabschnitt und im Rahmen einer vielleicht größenwahnsinnigen Unternehmung, nicht mehr ganz allein mit mir selber war.«
»Fortgelebt hat in solchen Erzählungen noch keiner.«
»Machen wir uns also auf den Weg, Herr Direktor, verschwinden wir.«
»Was war das für ein blendendes Licht?, was war das für ein furchtbares Licht!«
»Niemand sollte noch vor dem ersten Wort einer Geschichte wissen müssen, was gemeint ist, wenn Krieg gesagt wird oder Lager. Erst wer der Erzählung folgt, wird die Bedeutung dieser und anderer Wörter erfahren.«
»(…) heute weiß ich, / daß uns ein Lachen vielleicht ins Leben zurückholen, / uns dort aber nicht halten kann.«
»Als die See in seinem Inneren flacher wurde, Woge für Woge, schlief er ein. Nun war er angekommen.«
»Das erste Menschengeschlecht / kannte kein Gesetz und keine Rache / Ohne Soldaten zu brauchen / Lebten die Völker sorglos / Und in sanfter Ruhe dahin.«
»Denn er hat seine Geschichte begonnen, seine einzige, unverwechselbare Geschichte und entdeckt in ihr nach und nach alles, was er von der Welt weiß, was er in ihr erlebt, erfahren und vielleicht erlitten hat.«
»Es war, als hätte er nach und nach alles, was er zu sagen und zu schreiben imstande war, in das Reich seiner Dichtungen verlegt (…) und wäre darüber in der Welt der Alltagssprache, des Dialektes, der Schreie und gebrochenen Sätze und Phrasen verstummt.«
»Ich sah eine Walkuh, die in etwa dreißig Meter Wassertiefe schlafend im Blau des Meeresgrundes lag.«
»Die Riesin sah mich an, nein: streifte mich mit ihrem Blick und änderte dann ihren Kurs um einen Hauch, gerade so viel, daß wir einander nicht berührten.«
Wenn das Schreiben ein Aufbruch ins Unbekannte ist, was nimmt ein Erzähler dann mit auf seinen »Weg ins Innere einer Geschichte«? Und was hebt er unterwegs auf, um die Daheimgebliebenen an dem teilhaben zu lassen, was er gehört und gesehen, ja, was er empfunden hat? Solche Fragen stellten sich mir, als ich überlegte, was das eigentlich ist: ein »Materialienband«. Einen solchen wollte der S. Fischer Verlag Christoph Ransmayr zu seinem sechzigsten Geburtstag schenken.
»Wenn du phantasieren willst, brauchst du die Wirklichkeit«, hat Christoph Ransmayr einmal gesagt. Das Material eines Schriftstellers muss also doch der Rohstoff vor seiner Formwerdung sein. Ein Rohstoff, der aber schon von der Suche nach der Form erzählt, von seiner Verwandlung in Literatur. Von diesem Rohstoff weiß nur der Schriftsteller selbst, dachte ich und fragte also Christoph Ransmayr danach, von dem es heißt, er hebe nie etwas auf. Alles Materielle verwandle sich bei ihm in Sprache, obwohl seinen Werken – von »Die Schrecken des Eises und der Finsternis« bis zum »Atlas eines ängstlichen Mannes« und den Bänden der »Weißen Reihe« – abzulesen ist, dass ihr Verfasser kein Theoretiker ist, sondern einer, der sein Material, aus dem er Figuren, Landschaften und ihre Geschichten erschafft, sinnlich erfahren hat, auf vielfältige Weise am eigenen Leib. Auf Zettelkästen, Erinnerungsstücke, aufgehobene Rechnungen oder wild kommentierte Zeitungsartikel und Notizen auf Bierdeckeln mit den spektakulären Spuren durchzechter Nächte dürfe ich trotzdem in diesem Fall nicht zählen, sagte man mir.
Was einer erzähle, könne »nirgends stärker sein als im Inneren seiner Geschichte«, hat Christoph Ransmayr in »Die Verbeugung des Riesen« geschrieben. »Danach kann er sich nur abwenden und davongehen, immer weiter, bis der Weg ins Innere einer neuen Geschichte erkennbar wird und er seine Stimme wiederfindet und zurückkehren kann in die Mitte der Welt.« Wer vor sein Werk trete und glaube, eine Erklärung schuldig zu sein, finde sich plötzlich in einer seltsamen Fremde wieder, in der andere Bräuche gepflegt und eine unverständliche Sprache gesprochen würden und nichts mehr gelte, was in der Zeit der Arbeit an diesem Werk von Bedeutung gewesen sei.
Tatsächlich runzelte Christoph Ransmayr an einem sonnig-kalten Tag im April des Jahres 2013 die Stirn, sobald ich an unserem Wiener Kaffeehaustisch auf Privates, auf seine Person und Zeugnisse seines Lebens als Künstler zu sprechen kam oder ihn vom Erzählen erzählen lassen wollte. Das sei doch alles uninteressant. Wieso nicht einfach ein mäanderndes Gespräch führen, rund um Materialien, auf die ich ihn allerdings schon selbst bringen müsse. Gespräche seien ja das eigentliche Material seiner Arbeit.
Das Gespräch als Grundform eines »Materialienbandes« über das Werk von Christoph Ransmayr festzulegen leuchtete mir ein. Um einen weiteren assoziativen Raum zu öffnen, habe ich Zitate aus den Werken von Christoph Ransmayr oft zufällig, auf jeden Fall aber sehr subjektiv ausgewählt und vom linken und rechten Rand der Buchseiten in die Gespräche hineinlaufen lassen. Die Form des Gesprächs ist, obwohl von ihm selbst vorgeschlagen, insofern eine Besonderheit, als dass es nicht leicht ist, Christoph Ransmayr, diesem »Kontrollwahnsinnigen« und geradezu besessen akribischen, ja, vielleicht sogar auch im besten Sinne »ängstlichen« Sprachmeister die losere, mündliche Form zuzumuten. Sich selbst zu viel Gewicht beizumessen, am Wesentlichen vorbeizureden, diese Vorstellung ist ihm ein Horror. Am 4. Juli 2013 sagte er, dem Gesprächsprojekt gegenüber wieder erhöht skeptisch, in einem Telefonat: »Mit welchem Ernst man von etwas spricht, hat ein Ablaufdatum.«
Die mündliche Formulierung ist sicher manchmal leichtsinniger, sorgloser auch und flüchtiger. Dafür aber lässt sie das unkalkulierbar Überraschende zu, legt Blickwinkel frei, die wieder durchlässig werden lassen, was im schriftlichen Werk so festgefügt schien. Das Gespräch könnte ein Weg sein, entschieden wir damals risikofreudig in Wien, den Transit-Raum, in dem Literatur entsteht und der so schwer nur zur Sprache gebracht werden kann, als Wunderkammer der Wirklichkeit zu entwerfen und begehbar zu machen. So ist dieses Buch entstanden.
Sein erstes Kapitel ist ein langes Gespräch mit Christoph Ransmayr (übrigens wie seine Werke in alter Rechtschreibung), das tastend um dieses Wort »Material« kreist. Mal als Kontrapunkte, mal als Illustration haben wir Fotos in den Text gesetzt. Bei ihnen handelt es sich um optische Notizen, die Christoph Ransmayr auf seinen Reisen spontan mit dem Telefon oder einer Kompaktkamera aufgenommen hat. Sie haben ihren Wert nicht als Fotografien, sondern eben als Notizen, von denen noch Tausende auf Christoph Ransmayrs Festplatte darauf warten, wieder angeschaut zu werden und vielleicht den ausschlaggebenden Funken für ein treffendes poetisches Bild oder gar einen ganzen Roman in der Vorstellung ihres Betrachters zu entzünden.
Aber bei einem Materialienband geht es nicht nur um die Rohstoffe, die sich unter den Händen und durch die Phantasie eines Schriftstellers zu Geschichten verwandeln und zwischen Buchdeckeln Gestalt annehmen können. Es geht auch um das Material, das der Schriftsteller uns, seinen Leserinnen und Lesern, für die Gestaltwerdung in unseren Köpfen liefert. Als ich mit Christoph Ransmayr darüber sprach, welche Lesenden sich in besonderem Maße mit seinen Romanen auseinandergesetzt haben, nannte er sofort seine Übersetzerinnen und Übersetzer. Sie kommen der Black Box des Schreibens am nächsten. Sie sind am wenigsten an die formalisierten Sprachen von Wissenschaft oder Journalismus gebunden und sind doch durch ihre sprachliche Distanz auf besondere Weise objektiv. Mit John Woods, Claudio Groff und Jean-Pierre Lefebvre haben wir drei der Übersetzer von Christoph Ransmayrs Werken gewinnen können, sich mit mir auf das Wagnis eines Gesprächs über ihre Arbeit und den Rohstoff einzulassen, den Christoph Ransmayr in ihre Hände legt. Und sie sind Teil des Echo-Raums, den die Literatur schafft.
Woods, Groff und Lefebvre kommen zwar mit den USA, Italien und Frankreich aus unterschiedlichen Ländern und Sprachen, gehören aber derselben Generation an. Sie sind alle Anfang der 1940er Jahre geboren worden, in ein Europa hinein, das sich gerade neu zusammensetzte und noch – erst schweigend und dann revoltierend – nachzitterte und zu formulieren versuchte, was sich hinter der zur Chiffre gewordenen Jahreszahl »1945« verbarg. Wie klingt das Echo von Christoph Ransmayrs Büchern in einer jüngeren Generation, vor dem Hintergrund anderer Werdegänge und Erfahrungen? Davon gibt das Gespräch mit Christine Abbt und Thomas Wild eine Vorstellung, in das zwei ungewöhnliche und erhellende Essays der beiden Wissenschaftler eingebettet sind.
Mit Christoph Ransmayr habe ich mich in Wien, mit John Woods in Berlin, mit Jean-Pierre Lefebvre in Paris getroffen und mit Claudio Groff im virtuellen Raum des Internets. Christine Abbt und Thomas Wild haben miteinander telefoniert, geskyped, und wir haben uns zu dritt gemailt. Die unterschiedlichen Gesprächswege haben die Texte jeweils geprägt. Aber vor allem haben das die Persönlichkeiten und der jeweils ganz eigene Ton der Gesprächspartner getan. Völlig unerwartet war für mich, und ich habe Hochachtung davor, wie persönlich sich alle Beteiligten auf diesen Versuch eingelassen haben, Christoph Ransmayr ins Innere seiner Geschichten zu folgen, bzw. wie sich der Schriftsteller selbst dazu bereiterklärt hat, den Weg in diese vertraute Fremde gegen seine Überzeugung noch einmal zu beschreiten. Wir haben einander davon erzählt, was uns am Wegesrand begegnet und durch den Kopf gegangen ist. Welche eigenen Vorstellungswelten sich in den imaginären Reisen mit diesem Dichter des Vergessens und Erinnerns geöffnet haben und vor welchen persönlichen Hintergründen sie sich so überhaupt erst öffnen konnten.
Ganz zufällig verknüpfen sich die Einzelgespräche, die von Deutschland nach Österreich, nach Italien und Frankreich, in die Schweiz und die USA geführt wurden, durch Übereinstimmungen und völlig entgegengesetzte Ansichten und Erfahrungen zu einem großen Gespräch über die Rätselhaftigkeit der Materie und die Erkundung der Welt im Schreiben und Lesen. Die Zitate aus den Werken von Christoph Ransmayr, die allerdings, wie gesagt, von der Herausgeberin und nicht vom Autor ausgewählt und arrangiert wurden, schaffen eine weitere Ebene der Korrespondenzen und Widersprüche.
Vielleicht werden Sie als Leserinnen und Leser also eine ähnliche Erfahrung machen wie Josef Mazzini, die abwesende Hauptfigur aus »Die Schrecken des Eises und der Finsternis«, dem im Gehen die Welt so groß geworden war, »daß er schließlich in ihr verschwand«. Aber auch dieser hoffnungsvolle Satz aus Christoph Ransmayrs Reportage »Der Weg nach Surabaya« beschreibt den Versuch, auf den dieses Buch ganz ungeplant zugelaufen ist: »Gemeinsam hatten wir aus Zeichen und Lauten eine Sprache, aus einem Spiel eine Geschichte und aus der Straße eine Zeile gemacht«. Ich danke allen Beteiligten dafür und möchte nun Sie einladen, uns auf den Weg ins Unbekannte zu folgen.
Insa Wilke, Bechtersweiler, im Oktober 2013
Ein Gespräch mit Christoph Ransmayr über die Durchmusterung des Himmels und die äußersten Gegenden der Phantasie