Connie Glynn
Prinzessin undercover
Geheimnisse
Aus dem Englischen von
Maren Illinger
FISCHER E-Books
Connie Glynn lebt in London, England, und schrieb bereits als kleines Mädchen gerne Geschichten. Mit fast einer Million Followern ist sie heute eine der erfolgreichsten Prinzessinnen auf YouTube, Twitter und Instagram. In ihrem anderen Leben ist sie Autorin und schreibt sich direkt ins Herz der Prinzessin, die in jeder von uns wohnt. Ihre auf fünf Bände angelegte Serie ›Prinzessin Undercover‹ erscheint in über fünfzehn Ländern und machte Connie Glynn 2017 zur meistverkauften Jugendbuchautorin im Vereinigten Königreich.
Weitere Informationen zum Kinder- und Jugendbuchprogramm der S. Fischer Verlage finden sich auf www.fischerverlage.de
»Ich wollte immer nur eins: keine Prinzessin mehr sein. Und dann lande ich in einem Zimmer mit einem Mädchen, das von Prinzessinnen besessen ist!«
Ellie ist eine echte Prinzessin, die sich nichts mehr wünscht, als normal leben zu können. Lottie ist ein ganz normales Mädchen, das sich nichts mehr wünscht, als eine Prinzessin zu sein. Als sich ausgerechnet diese beiden im Internat Rosewood Hall ein Zimmer teilen müssen, liegt die Lösung auf der Hand: Sie tauschen heimlich die Rollen. Doch in Rosewood ist auch sonst nicht jeder, wer er zu sein scheint, und eine Geheimorganisation hat es auf die Prinzessin abgesehen – ohne zu wissen, welche nun die richtige ist … Nur mit Mut, Entschlossenheit und absoluter Loyalität können die Freundinnen sich gegenseitig retten. Denn Prinzessin ist mehr als ein Titel – Prinzessin ist eine Lebenseinstellung!
Alle Bände der Serie ›Prinzessin undercover‹:
Band 1: Geheimnisse
Band 2: Enthüllungen
Band 3: Entscheidungen
Band 4: Hoffnungen
Band 5: Wahrheiten (erscheint im Sommer 2022)
Zu diesem Buch ist im Argon Verlag ein Hörbuch, gelesen von Monika Oschek, erschienen, das im Buchhandel erhältlich ist.
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die englische Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel ›The Rosewood Chronicles – Undercover Princess‹ bei Penguin Books Ltd., London
Text Copyright © Connie Glynn, 2017
The author has asserted her moral rights.
Alle Rechte vorbehalten
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2018 Fischer Kinder- und Jugendbuchverlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Lektorat: Carla Felgentreff
Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München, unter Verwendung einer Illustration von Quing Han und nach einem Entwurf von Penguin Books Ltd., London
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-7336-5095-7
Für meine wundervolle Familie und alle hinreißenden Hexen,
die mein Leben verzaubert haben.
Ganz besonderen Dank an Richard und Mark, die mich bei jedem Schritt aufs heftigste unterstützt haben, an Holly und Ruth, die mir geholfen haben, meine Vision zu verwirklichen, und an Evan für seinen mathematischen Beistand. Und ein letztes Dankeschön geht an meine wunderbaren, wohlwollenden Leser – danke, danke, danke.
Es gibt Orte auf dieser Welt, an denen es wahrscheinlicher scheint, dass wundersame und erstaunliche Dinge passieren, als irgendwo sonst. Man erkennt sie an ihrer besonderen Atmosphäre, die an eine andere Zeit, eine andere Welt erinnert. Manchmal sind es Orte in der Natur, ein verborgener Wasserfall oder eine unberührte Wiese mit blühenden Wildblumen. Manchmal sind es Orte, die von Menschenhand gemacht sind, ein verlassener Spielplatz in der Dämmerung oder ein staubiges Antiquitätengeschäft voller Geschichten. Manchmal aber, wenn auch nur selten, existiert ein solcher Ort in einem bestimmten Menschen. Er mag auf den ersten Blick nicht besonders charismatisch oder intellektuell wirken, doch je mehr Zeit man mit ihm verbringt, desto deutlicher tritt seine Kraft zutage, alles zu verändern und alles zu erreichen.
Prinzessin Eleanor Prudence Wolfson, Alleinerbin von König Alexander Wolfson und Thronfolgerin von Maradova, lebte weder an einem solchen Ort, noch war sie selbst einer dieser besonderen Menschen. Doch sie hatte beides bitter nötig.
»Und ich werde auf diese Schule gehen!« Eleanor knallte eine Werbebroschüre auf den Tisch, dass die Frühstücksteetassen auf ihren Untertassen hüpften.
Alexander Wolfson blickte nicht einmal von seiner Zeitung auf.
»Nein«, sagte er entschieden.
»Ich bin die nächste Anwärterin auf Maradovas Thron. Da werde ich doch wohl wenigstens die klitzekleine Entscheidung treffen können, auf welche Schule ich gehen will!«
Alexander hob den Blick zu seiner Frau, Königin Matilde, die ihm gegenübersaß.
Sie zuckte die Schultern. »Damit hat sie nicht unrecht, Alex«, sagte sie liebenswürdig, ließ anmutig ein Zuckerstück in ihren Tee gleiten und rührte langsam um, während sie ein Lächeln unterdrückte.
Das war nicht die eheliche Solidarität, die König Alexander sich erhofft hatte.
»Siehst du?«, rief Eleanor. »Sogar Mum findet, dass ich recht habe!«
Alexander blickte weiter auf seine Zeitung und spielte den Gelassenen. Er trank einen Schluck Tee.
»Edwina.« Er gab der Haushälterin ein Zeichen. »Wären Sie so freundlich, die leeren Teller in die Küche zu bringen?«
»Aber gewiss, Eure Majestät.« Edwina stapelte fachmännisch die vollgekrümelten Teller und verließ den Speisesaal so behände, dass ihre Füße auf dem Eichenparkett kaum zu hören waren. Die großen Flügeltüren schlossen sich mit einem leisen Knarren hinter ihr.
Als Alexander sie in sicherer Entfernung wähnte, tauchte er wieder hinter seine Zeitung und sagte: »Die Antwort lautet Nein.«
Eleanor stieß einen empörten Schrei aus und stampfte mit dem Fuß auf. »Du könntest dir die Broschüre wenigstens mal ansehen!«, fauchte sie und riss ihrem Vater die Zeitung aus der Hand.
Nun konnte Alexander dem Blick seiner Tochter nicht länger ausweichen.
Eleanor war nie ein einfaches Kind gewesen. Sie war alles andere als die typische Prinzessin. Sie führte lieber hitzige politische Debatten oder schlich sich auf laute, wilde Rockkonzerte, als gepflegte Konversation zu treiben. Und mehr als alles andere verabscheute sie komplizierte höfische Zeremonien – davon ging sie zumindest aus, da sie sich bislang geweigert hatte, an einer solchen teilzunehmen. Aber sie war klug, selbstbewusst und leidenschaftlich, und das war für König Alexander wichtiger als die traditionellen Werte, die von ihr erwartet wurden. Auch wenn er fand, sie könnte zumindest ihrer Großmutter gegenüber ihre Zunge etwas im Zaum halten.
Doch so sehr er sich auch wünschte, dass Eleanor glücklich war und ein Leben ohne die Verpflichtungen des Königshauses führen konnte – an der Tatsache, dass sie eines Tages Königin werden und die damit einhergehende Verantwortung akzeptieren musste, war nicht zu rütteln. Er war fest entschlossen, seiner Tochter beizubringen, dass man sogar Spaß an den königlichen Pflichten finden konnte. Genau das hatte er selbst lernen müssen, als er jung war.
»Du gehst nach Aston Court wie alle Herrscher von Maradova in den letzten hundert Jahren, und es wird dir dort gefallen, ob es dir passt oder nicht!«
Matilde gluckste und nippte an ihrem Tee.
»Nein.« Eleanor imitierte den strengen Tonfall ihres Vaters. »Ich gehe nach Rosewood Hall in England!«
Eleanors Stimme schwankte nicht. Auch sie war fest entschlossen. Über die Schwelle von Aston Court würde man sie nur schreiend und tretend befördern.
Alexander seufzte tief.
Für Eleanor hieße der Eintritt in Aston Court mehr, als ihren Willen nicht zu bekommen, wie es für die meisten Teenager der Fall wäre. Er wäre das Ende ihrer Freiheit als Prinzessin. Sie würde sich der Öffentlichkeit offiziell als Thronfolgerin von Maradova zu erkennen geben müssen, sie wäre nicht länger in der Lage, sich vor den royalen Zeremonien zu drücken, sie würde aufhören müssen, sich die Haare zu färben, und anfangen, sich königlich zu kleiden. Ihre Verpflichtungen würden sie voll in Beschlag nehmen, und sie würde nie wieder ein annähernd normales Leben führen können.
Alexander nahm seine Zeitung und faltete sie sorgfältig zusammen. Er stellte sich auf das bevorstehende Brüllduell ein, eine häufige Übung, seit Eleanor im Teenageralter war.
»Bitte, Dad!«
König Alexander war überrumpelt. Es kam selten vor, dass seine Tochter ihn um etwas bat – dafür war sie viel zu stolz. Er blickte in der Erwartung auf, ihren üblichen Schmollmund zu sehen, doch stattdessen sah er einen Ausdruck echter Verzweiflung. Für einen Moment konnte er sich nicht mehr daran erinnern, warum er unbedingt nein sagen musste. Dann fiel es ihm wieder ein: Aston Court war die einzige Schule, die Eleanors Sicherheit gewährleisten konnte, nachdem sie der Öffentlichkeit offiziell als Prinzessin vorgestellt worden war. Nur dort konnte man sie rund um die Uhr bewachen und auf ihre Zukunft vorbereiten. Aston Court war die einzige Option! Doch trotz dieser Überzeugung streckte er vorsichtig die Hand aus, als Eleanor ihm die Broschüre unter die Nase hielt.
Sie legte ihre Hand auf seine und drückte sie sanft. »Du sollst sie nur lesen, mehr verlange ich nicht.«
Auf der anderen Tischseite nippte Königin Matilde wieder an ihrem Tee, bevor sie die Tasse geziert auf die Untertasse stellte. »Vielleicht liegt es am Tee, aber ich hatte schon immer eine Schwäche für England. Du nicht auch, Alexander?« Sie blickte ihren Mann an, und ihre sorglose Miene bewölkte sich, als ihr Blick den seinen traf. Der maradovische König hielt dem Blick seiner Frau für die gefühlt längsten Sekunden seines Lebens stand.
Schließlich stieß er einen langen Seufzer aus und hob kapitulierend die Hände. »Na schön, ich lese die Broschüre. Mehr aber nicht!«
Eleanor quietschte vor Freude und Erleichterung. »Juhu! Danke, danke, danke! Ich weiß, dass sie dir gefallen wird, Dad, das verspreche ich dir.« Damit stopfte sie sich ein Croissant in den Mund und rannte nach draußen, bevor der König Zeit hatte zu verstehen, was gerade passiert war.
Die Tür knallte hinter ihr zu und ließ Alexander und Matilde mit klingenden Ohren zurück. Wieder sah der König seine Frau an, während das Geräusch langsam verhallte. Sie lächelte unschuldig.
»Sie kann da nicht hin«, brummte er. »Es ist zu gefährlich, die einzige Erbin des maradovischen Königshauses in einem x-beliebigen britischen Internat herumstolpern zu lassen.«
Matilde wurde wieder ernst und legte ihr Besteck sorgfältig vor sich auf den Tisch, so dass alle Gabeln, Messer und Löffel auf einer Linie waren.
Als sie aufblickte, sah Alexander ganz deutlich das Feuer in ihren Augen.
»Du weißt so gut wie ich, dass Rosewood keine x-beliebige Schule ist. Und außerdem« – sie hielt einen Augenblick inne und zwang ihn, ihr in die Augen zu sehen – »wurde sie, wie du schon gesagt hast, noch nicht vorgestellt. Niemand weiß, dass sie eine Prinzessin ist. Es könnte also der beste Weg sein, sie ihre letzten sorgenfreien Jahre genießen zu lassen, bevor sie ihre königlichen Pflichten übernimmt. Wir wissen beide, dass du dir eine solche Chance gewünscht hättest.«
Alexander war vor den Kopf gestoßen. Hatte er seine Frau richtig verstanden?
»Willst du damit sagen, dass sie undercover auf diese Schule gehen soll?«, fragte er ungläubig.
Matilde knipste ihr Lächeln wieder an und ließ den feurigen Blick verlöschen, als würde sie einen Hut absetzen.
»Vorerst musst du einfach nur die Broschüre lesen.« Sie hob die Teetasse an den Mund, dann hielt sie inne und fügte hinzu: »Wenn etwas schiefgeht, können wir immer noch Jamie schicken.«
Alexander starrte seine Frau entsetzt und bewundernd zugleich an. Dann begann er zu schmunzeln. Er hatte das vage Gefühl, dass das Thema mit der Durchsicht der Broschüre noch nicht beendet sein würde.
In St. Ives gibt es eine kleine, blau angestrichene Bäckerei, an deren rau verputzter Fassade üppiger Blauregen emporklettert. Hinter dem Schaufenster liegt eine dicke Staubschicht auf den stoffbedeckten Auslagen, die in der Luft glitzert, wenn die Sonne darauf scheint. Eine ausgeblichene rot-weiß gestreifte Markise hängt über der Tür, und darunter befindet sich ein Schild mit der Aufschrift Ms Pumpkin’s Feinbäckerei, obwohl dort schon seit vielen Jahren nichts mehr gebacken wird. Über der Bäckerei liegt eine kleine Wohnung, die früher schlicht und hübsch eingerichtet war, jetzt aber mit geschmacklosem Plunder und kitschigen Gemälden vollgestopft ist – das Ergebnis des erfolglosen Versuchs der neuen Besitzerin, eine heimelige Kulisse zu schaffen. Eines der Zimmer jedoch wurde von der neuen Besitzerin nicht angetastet. Dort befinden sich die glücklichen Erinnerungen des Hauses.
In diesem Zimmer auf dem Dachboden des Hauses ihrer Stiefmutter Beady in der Straße Bethesda Hill Nummer 12, St. Ives, lebte Lottie Pumpkin. Sie hatte sich dort, in der gemütlichen Dachstube mit Blick aufs Meer, ihren Rückzugsort geschaffen. Auf dem Boden lagen alte, knarzende Holzdielen, die Wände waren voller Fotos aus ihrer Kindheit, und aus den Büchern quollen die Märchen. So war es zumindest gewesen. Denn heute sollte sie ihr Zimmer verlassen, das Haus und auch Cornwall. Heute zog sie nach Rosewood Hall.
»Lottie!« Beadys durchdringende Stimme schrillte in Lotties Ohren, als sie gerade das letzte Kleidungsstück in ihren Koffer legte.
»Ja?«, antwortete sie und kniff unwillkürlich die Augen zu. Sie hörte Schritte, und schon erschien ihre Stiefmutter im Türrahmen. Eine cremige grüne Maske bedeckte ihr Gesicht, und ihre roten Haare steckten unter einem straffen Handtuchturban. Beady war eine ausgesprochen schöne Frau, die ihr Aussehen sehr ernst nahm. Außerdem war sie viel zu jung für die Verantwortung, sich um Lottie zu kümmern, und es war überaus großzügig von ihr, sich für das Kind einer anderen aufzuopfern, woran sie Lottie regelmäßig erinnerte.
»Ich habe ganz vergessen, dass du heute abreist!« Sie sagte es, als wäre es amüsant.
Lottie schenkte ihr das freundliche Lächeln, mit dem sie ihr stets begegnete. »Das macht nichts, ich –«
Bevor sie den Satz beenden konnte, verfiel Beady in lautes Gegacker. »Wie konnte ich das nur vergessen? Du redest ja von nichts anderem!« Sie lachte wieder. »Obwohl es nichts Besonderes sein kann, wenn sie dich angenommen haben.« Lottie zuckte zusammen, und Beady schlug die Hand vor den Mund. »War doch nur Spaß, Lottie. Du darfst nicht alles so ernst nehmen.«
Lottie lächelte angespannt weiter, doch Beadys Blick war bereits zu den beiden pinkfarbenen Koffern am Boden gewandert.
»Die sind aber groß. Ich hoffe, du erwartest nicht, dass ich dich zum Bahnhof bringe. Du weißt doch, wie geschwächt ich bin.« Beady verzog gekränkt das Gesicht, als hätte Lottie sich wieder einmal rücksichtslos verhalten.
»Nein, nein, das ist schon in Ordnung«, erwiderte Lottie so freundlich sie konnte. Sie wollte Beady auf keinen Fall verärgern. Sie wusste ja, wie schwer es für sie gewesen war, für Lottie zu sorgen, nachdem ihre Mutter gestorben war. Sie wollte ihr das Leben so leicht wie möglich machen. »Ollie und seine Mutter fahren mich hin.«
Beady hob missbilligend die Augenbrauen. »Das ist aber wirklich sehr nett von ihnen. Ich hoffe, du bedankst dich anständig.«
»Natürlich.« Lottie nickte, und Beady wirkte besänftigt.
»Gut, also …« Beady verstummte und schaute sich um, als sähe sie das Zimmer zum ersten Mal. Sie biss sich auf die Unterlippe, musterte Lottie von oben bis unten und holte dann tief Luft. Anscheinend verlangten ihr die nächsten Sätze besonders viel Kraft ab. »Du hast hart gearbeitet … Ich hoffe, du wirst nicht enttäuscht.«
Lottie schluckte. Sie wusste, wie erleichtert Beady war, dass sie in Rosewood angenommen worden war und sie das Haus endlich für sich haben würde. Mit der Aufnahme in Rosewood hatte Lottie nicht nur ein Versprechen eingelöst, das sie vor langer Zeit ihrer Mutter gegeben hatte, es war auch das größte Geschenk, das sie ihrer Stiefmutter machen konnte.
»Danke«, erwiderte Lottie.
Beady winkte ab. »Ich muss jetzt die Gesichtsmaske abwaschen. Gute Reise.«
Als sie weg war, packte Lottie weiter, doch schon nach kurzer Zeit wurde sie erneut unterbrochen.
»Was um alles in der Welt hast du denn da an?«, ertönte Ollies spöttische Stimme. Er stand mit verschränkten Armen in der Tür und schaute zu, wie Lottie die letzten Gegenstände aus ihrem Zimmer in die Koffer quetschte.
»Ollie!« Lottie schlug sich die Hand aufs Herz, das plötzliche Auftauchen ihres besten Freundes hatte sie erschreckt. »Wo kommst du denn her? Und wie oft muss ich dir noch sagen, dass du anklopfen sollst?« Sie schnaufte von der Anstrengung, ihren Koffer zu schließen.
Ollie war vierzehn, genau wie Lottie, doch obwohl er größer war als sie, hatte er noch sein kindliches Gesicht, das ihr immer Eiswaffeln am Strand und andere glückliche Kindheitserinnerungen ins Gedächtnis rief.
»Ich hab mich an der bösen Hexe vorbeigeschlichen. Hast du schon gesehen, dass ihre Haut grün geworden ist?«, fragte Ollie mit einem gehässigen Grinsen.
Lottie lachte, hatte aber seinen vorherigen Kommentar noch nicht vergessen. Sie schaute an sich hinab und strich sich unsicher über das Kleid. »Was genau gefällt dir denn nicht?«, fragte sie entrüstet.
»Ist das nicht ein bisschen zu schick für den ersten Schultag?«
»Zu schick?!« Nicht zu fassen. »Nichts ist zu schick für Rosewood Hall! Ich muss ins Bild passen.«
Lottie begann, an einem inexistenten Fleck an ihrem Kragen herumzuwischen. »Die meisten Schüler tragen wahrscheinlich maßgeschneiderte Kleider aus Gold oder so.«
Ollie schlenderte lässig ins Zimmer und setzte sich auf Lotties Bett. Er schürzte die Lippen und schaute sich um. Normalerweise hingen überall Lotties handgemachte Sonderbarkeiten, doch jetzt war der Raum nackt und kahl. Alles, was sie besaß, steckte in den beiden pinkfarbenen Koffern.
»So«, begann Ollie und griff in seine Tasche, »wenn du mal kurz deine Sorgen vergessen kannst, was die anderen von dir halten …« Er zog einen zerknitterten Umschlag und ein verblasstes Polaroidfoto hervor, das Lottie von seiner Pinnwand kannte. »Das ist für dich.«
Lottie streckte die Hand aus, doch Ollie zog den Umschlag zurück. »Den Brief darfst du erst im Zug lesen!«
Lottie nickte ergeben, und er legte ihr vorsichtig beide Geschenke in die Hand. Das Foto hatte sie schon tausendmal gesehen: sie beide am Strand, die Nasen eisverschmiert, ein strahlendes Lächeln auf den verzückten Gesichtern. Obwohl die Farben langsam Richtung Sepia gingen, konnte man die Krone auf Lotties und die Hörner auf Ollies Kopf noch immer deutlich erkennen. Als sie klein waren, hatten sie darauf bestanden, diese Verkleidung immer und überall zu tragen. Ollie hatte sich selbst zu Puck aus Shakespeares Sommernachtstraum ernannt, nachdem sie eine Aufführung des Theaterstücks gesehen hatten. Er war begeistert gewesen, mit welchem Unfug die Figur davonkam, und schloss daraus, auch er würde mit allem davonkommen, solange er nur die Hörner trug. Lotties Krone dagegen hatte eine weniger fröhliche Geschichte. Ihr Finger verharrte kurz über der Krone auf dem Foto, und sie spürte einen Stich, als sie an den Tag zurückdachte, an dem sie sie bekommen hatte.
»Ich geh schon mal runter, damit du dich verabschieden kannst«, sagte Ollie, bevor er mühelos die beiden Koffer anhob und sie die Treppe hinunter zum Auto trug. Als er weg war, legte Lottie seine Geschenke sorgfältig zu ihren wichtigsten Habseligkeiten, die sie auf dem nun nackten Bett aufgereiht hatte, um sie nicht zu vergessen. Einen Gegenstand nach dem anderen steckte sie in ihre Handtasche: zuerst das verblichene Foto und den Brief von Ollie, dann ihr liebstes Skizzenbuch, ihren treuen Plüschgefährten Mr Trüffel, ein gerahmtes Bild von ihrer Mutter Marguerite bei ihrem Schulabschluss, und schließlich – etwas unpassend inmitten der anderen Dinge – die halbmondförmige Krone, ihren wertvollsten Besitz. Gerade mal sechzig Minuten hatte sie gebraucht, um ihr gesamtes Leben in die zwei pinkfarbenen Koffer, ihre Jeanshandtasche und die kleine Schultertasche mit dem weißen Riemen zu packen. Sie betrachtete den leeren Raum.
Ich hab’s geschafft, Mum, dachte sie. Ich gehe nach Rosewood, genau wie ich es dir versprochen habe.
An Lottie (die Ehrenprinzessin von St. Ives)
Liebe Lottie,
ich habe das Gefühl, Dich im letzten Jahr kaum gesehen zu haben, weil Du ständig gelernt hast, und jetzt bist Du unterwegs ans andere Ende des Landes. Ohne Dich wird hier nichts mehr so sein, wie es war, aber Du wirst bestimmt genügend Abenteuer für uns beide erleben.
Eigentlich wollte ich Dir zum Abschied ein Märchenbuch schenken, weil ich weiß, wie sehr du Märchen magst, aber ich fürchte, Du hast sie schon alle, deshalb habe ich Dir stattdessen dieses Foto geschenkt, damit es Dich jeden Tag an meine Wenigkeit erinnert.
Ich kann es kaum erwarten, all die verrückten Geschichten zu hören, die Du in Rosewood erleben wirst. Ich bin so stolz auf Dich, dass Du es geschafft hast, aber ich werde Dich schrecklich vermissen ***Pause zum Tränenvergießen, schnief*** WIE KANNST DU ES WAGEN, MICH IN DIESER TOURISTENFALLE ALLEINZULASSEN??? VERRÄTERIN!!! (Siehst Du, wie vorbildlich der Selbstschutzmechanismus meine Trauer in Wut verwandelt??)
Dein Freund Ollie
PS: Bring mir bitte eine goldene Krone mit – ich nehme mal an, dass Du gleich bei Deiner Ankunft eine bekommst ;)
Lottie lächelte, als sie den Brief ihres besten Freundes ein zweites Mal las, und erlaubte sich einen Augenblick der Wehmut, weil sie ihr einfaches Leben in Cornwall hinter sich ließ. Sie schaute durch das Zugfenster auf die üppige grüne Landschaft, die dahinter vorbeiraste, und dachte an den Tag im letzten Jahr zurück, an dem sie ihre Bewerbung für Rosewood Hall abgeschickt hatte. Vor fünf Jahren hatte sie ihrer Mutter versprochen, dass sie einen Weg finden würde, dort angenommen zu werden. In der Nacht hatte es gestürmt, und draußen war es matschig und nass gewesen. Ihre Mutter hatte in vier Decken eingewickelt auf der Veranda gesessen, mager und schwach von der Krankheit, die sie verzehrte, doch in ihren Augen hatte eine unnachgiebige Kraft geglommen. Sie hatte Lottie angesehen und ihr warmes Lächeln gelächelt.
»Du kannst alles schaffen, was du dir vorgenommen hast, Prinzessin.«
Das Bewerbungsverfahren war mühsam und einschüchternd gewesen. Stipendien vergab Rosewood nur an Bewerber mit herausragenden Leistungen, die Schule rühmte sich ihrer Exzellenz. Rosewood war kein Internat, für das man sich einfach entscheiden konnte, es konnte nicht jeder die Werbebroschüre nehmen und sagen »Da will ich hin«.
Lottie hatte keine Möglichkeit gehabt, die Schulgebühren selbst aufzubringen. Doch sie hatte nicht aufgegeben. Sie hatte unermüdlich gearbeitet, auf Freundschaften und Hobbys verzichtet, war auch am Wochenende früh aufgestanden, um ihre Pflichten im Haushalt zu erledigen, bevor sie sich in ihrem Zimmer einschloss und unerbittlich lernte. Die ganze Zeit über träumte sie von dem Tag, an dem sie durch die Tore von Rosewood Hall schreiten und ihren Platz inmitten der Elite annehmen würde. Bereit, die Welt zu einem besseren Ort zu machen.
»Sehr geehrte Fahrgäste, in Kürze erreichen wir Rosewood Central. Bitte achten Sie beim Verlassen des Zuges darauf, dass Sie Ihr Gepäck bei sich haben.«
Während sie nach ihren Koffern griff, fragte Lottie sich, ob sie die einzige Rosewood-Schülerin war, die mit öffentlichen Verkehrsmitteln anreiste. Sie nahm an, dass die meisten Schüler mit dem Auto gebracht wurden, doch auf dem Lageplan, den Ollie und sie studiert hatten, war auch ein Landeplatz eingezeichnet – kamen sogar welche mit dem Hubschrauber? Hätte sie ebenfalls versuchen sollen, auf diese Weise anzureisen? Sie wusste, dass der Gedanke albern war, doch er erinnerte sie wieder einmal daran, wie viel sie von den anderen Schülern unterschied.
Mit plötzlicher Nervosität tastete sie in ihrer Handtasche nach der Krone. Ihre Mutter war eine phantastische Geschichtenerzählerin gewesen und hatte Lottie jeden Abend vor dem Schlafengehen ein Märchen vorgelesen. Cinderella war Lotties Lieblingsgeschichte, und sie hatte ihre Mum gebeten, ihr jede Version des Märchens vorzulesen, die sie finden konnte. Die Unterschiede zwischen den einzelnen Versionen hatten sie fasziniert. Ihre Mutter hatte ihr erklärt, dass sich Märchen – so wie die meisten Dinge auf der Welt – mit der Zeit entwickelten und veränderten. Was Lottie am stärksten anzog, war der vorherrschende Impuls, Gutes zu tun. Ganz gleich, welche Version der Geschichte sie gelesen hatten, die Güte der Prinzessin blieb gleich, und sie war das Vorbild, dem Lottie nacheiferte. Deshalb hatte Lotties Mutter ihr zu ihrem siebten Geburtstag die silberne Krone mit dem Halbmond geschenkt. Es war ein Erbstück der Pumpkins, das von Generation zu Generation weitergereicht wurde.
Die Landschaft vor dem Zugfenster verschwamm mit Lotties Erinnerungen an diesen Tag.
»Diese Krone wurde unserem Ururgroßvater geschenkt, der vor langer Zeit die Ehre hatte, in Rosewood Hall ausgebildet zu werden. Sie wurde in der Familie weitergegeben, bis mein Großvater sie mir vermacht hat. Irgendwann, wenn du selbst Kinder hast, wirst du sie an sie weitergeben.«
Lottie konnte den Worten ihrer Mutter kaum folgen. Sie war außerstande, die Augen von dem zierlichen Gegenstand in der Schachtel zu lösen.
Vorsichtig setzte sie die Krone auf. Doch ihr siebenjähriger Kopf war einfach … zu klein. Die Krone rutschte ab und landete auf dem harten Parkettboden im Wohnzimmer, wo sie inmitten der mit Geburtstagskuchen vollgefutterten Kinder sehr fehl am Platz wirkte. Empfindsam, wie sie war, hatte Lottie angefangen zu weinen. Nicht etwa, weil die Krone ihr nicht passte, sondern weil die Krone – dieser makellose, wunderschöne Gegenstand, der in ihrem bescheidenen Zuhause so unpassend wirkte – alles um sie herum schmerzhaft gewöhnlich wirken ließ. Ihr Funkeln war verheißungsvoll, doch ihr Licht erhellte nur, wie glanzlos die Welt um sie herum war.
»Lottie heult schon wieder«, maulte eins der Mädchen.
»Halt die Klappe, Kate«, sagte Ollie. »Sei nicht fies, nur weil du beim Eierlaufen verloren hast.«
»Ich hatte aber auch den kleinsten Löffel!«
Der kurze Wortwechsel bekümmerte Lottie noch mehr – jetzt waren auch noch ihre Gäste unzufrieden. Doch als sie schon drauf und dran war, sich in Tränen aufzulösen, rettete ihre Mutter die Stimmung.
»So, ihr Lieben, beruhigt euch. Kate, ich habe eine kleine Entschädigung für dich, und Lottie, mein Schatz, du kannst die Krone hiermit feststecken.« Marguerite nahm zwei Haarklammern aus ihrer Schürzentasche.
»Und jetzt hört mal alle her – diese Krone ist etwas ganz Besonderes.« Sie hielt sie hoch, damit alle sie sehen konnten, und Lottie bemerkte, wie natürlich sie in ihrer Hand aussah. »Sie hat nämlich Zauberkräfte.«
Die Kinder beruhigten sich augenblicklich und warteten gespannt auf eine von Marguerites zauberhaften Geschichten.
»Wer diese Krone trägt, kann alles erreichen, was er sich vorgenommen hat, und wer sie berührt, gewinnt alle guten Eigenschaften einer Prinzessin.«
Während sie sprach, steckte Marguerite Pumpkin die Krone vorsichtig auf Lotties Kopf fest und strich ihr die Haare zurück, um die Klemmen zu verdecken.
»Welche drei guten Eigenschaften einer Prinzessin fallen euch ein?« Sie sah die Kinder an, die unter ihrem Blick schüchtern wurden. »Wie wäre es mit Mut? Findet ihr, dass Prinzessinnen mutig sind?« Die Kinder nickten eifrig. »Und was noch?«
»Schön!«, rief Ollie.
Marguerite lachte leise. »Nun ja, oft sind sie schön, aber die Schönheit kommt von innen, denn sie sind …« Sie hob die Hand und wartete, dass jemand ihren Satz beendete.
»Freundlich!«, sagte Kate und lächelte Lottie zu.
»Sehr gut, Kate. Und was noch?«
»WAHNSINNIG!«, schrie Ollie. Alle lachten, nur Lottie verdrehte die Augen.
»Äh … hilfsbereit?«, schlug Charlie vor. Es wurde still, während die Kinder nach der dritten Eigenschaft suchten. Bis es Lottie traf wie ein Blitzschlag. Diese Eigenschaft erschien ihr plötzlich als die wichtigste auf der Welt, und sie sollte Lotties Einstellung für immer verändern.
»Sie gibt niemals auf!«
Lottie wusste, kaum dass sie es ausgesprochen hatte, dass sie sich genau das von der Krone wünschte: die Kraft, niemals aufzugeben und eine unaufhaltsame Quelle des Guten zu sein, ob es der Welt nun gefiel oder nicht.
Der Gedanke, dass sieben Jahre vergangen waren, seit sie die Krone bekommen hatte, war sonderbar. Ihr Leben hatte sich dramatisch verändert, als ihre Mutter zwei Jahre später gestorben war, und manchmal kam es ihr immer noch so vor, als wäre das alles ein schrecklicher, trauriger Traum.
Lottie schüttelte den Kopf, um die schmerzhaften Gefühle zu vertreiben, und schloss die Finger um die Krone in ihrer Tasche. Sie nahm sich einen Moment Zeit, um sie zu betasten, leicht über die Juwelen an der Vorderseite zu streichen. Am liebsten hätte sie sie aufgesetzt, doch solange sie im Zug war, musste die Berührung reichen.
Dann wiederholte sie im Stillen ihre geheime Zauberformel. »Sei freundlich, sei mutig und gib niemals auf!«
Sie würde es schaffen. Sie würde dazugehören. Sie würde es in Rosewood zu etwas bringen, genau wie sie es ihrer Mutter versprochen hatte.
»Wir erreichen jetzt Rosewood Central. Für Rosewood Hall bitte hier aussteigen.«
Lottie griff entschlossen nach ihren Koffern. Sie war bereit für das nächste Kapitel ihres Lebens, und sie würde allen beweisen, dass sie ihren Platz an dieser Schule verdient hatte.
Am Bahnhof stieg Lottie in einen der bereitstehenden Zubringerwagen. Er setzte sie vor dem Eingang der Schule ab, einem großen, zweiflügligen Eisentor, in das kunstvoll die Buchstaben R und H eingearbeitet waren. Hinter dem offenen Tor führte ein kurzer Bogengang zu einem großen überdachten Vorplatz, auf dem sich die ankommenden Schüler versammelten. Das Dach wurde von steinernen Pfeilern getragen, die mit eingravierten Rosenranken verziert waren. Der Wind, der um die Pfeiler strich, pfiff sonderbar schrill. Das Geräusch jagte Lottie einen angenehmen Schauder über die Wirbelsäule.
Sie schaute sich um und spürte Nervosität in sich aufsteigen, als sie die anderen Schüler und das unglaubliche Aufgebot an Luxuslimousinen musterte. Immerhin kannte sie einige der Marken, sie hatte schließlich nicht umsonst so viel Zeit mit Ollie verbracht. Der würde Augen machen, wenn er sie sehen könnte. Keiner der anderen Schüler schien sein Gepäck selbst zu tragen. Die meisten von ihnen unterhielten sich aufgedreht oder tippten wild auf ihren Mobiltelefonen herum, um letzte Nachrichten zu verschicken, bevor sie die Geräte an der Pforte abgeben mussten.
Rosewood nahm Schüler ab elf Jahren auf, viele kannten sich also bereits, weshalb Lottie sich noch mehr als Außenseiterin fühlte. Sie hatte sich gerade bei ihrem Fahrer bedankt, als ein starker Windstoß das Geschwätz der Schüler übertönte. In dem Augenblick sah sie sie.
Ein mysteriöses Mädchen stand hinter dem Wagen, der Lottie hergebracht hatte. Mit ihren kurzen, pechschwarzen Haaren, der abgewetzten schwarzen Lederjacke und einem lässig über die Schulter geworfenen Gitarrenkasten sah sie anders aus als die übrigen Schülerinnen. Sie schien voller Leidenschaft zu sein – eine dunkle, drohende Gewitterwolke. Mühelos hob sie mehrere Koffer aus einer dunklen Limousine. Den Chauffeur, der ihr helfen wollte, wimmelte sie energisch ab, so dass ihm nichts anderes übrigblieb, als mit sorgenvoller Miene neben dem Wagen stehen zu bleiben. Das Gesicht des Mädchens war nicht ganz zu erkennen, weil es von einer großen dunklen Sonnenbrille verdeckt war. Lottie verspürte ganz plötzlich den starken Drang, sich dieses Mädchen genauer anzusehen. Sie hatte das Gefühl, als gebe es zwischen ihnen einen energetischen Strom – irgendetwas zog sie zu ihr. Doch bevor sie weiter über dieses seltsame Gefühl nachdenken konnte, wurde ihr die Sicht von einem laufenden Bücherstapel verstellt.
»Achtung, Verzeihung, Entschuldigung, Pardon!«
Eilig zog Lottie ihre pinkfarbenen Koffer aus dem Weg. Noch nie hatte sie eine so kleine Person mit so vielen Büchern gesehen. Es sah aus, als müsse sie jeden Moment umkippen, doch es gelang ihr, das Gleichgewicht zu halten und zielstrebig weiterzueilen. Das Mädchen war stärker, als ihre Statur vermuten ließ. Ihr Gesicht war hinter Büchern und Schachteln verborgen, doch Lottie konnte eine Menge dunkler Kräusellocken sehen. Woher das Mädchen wusste, in welche Richtung es gehen musste, war ihr rätselhaft. Sie machte gerade einen Schritt zur Seite, da stürmte eine Gruppe Siebtklässler vorbei, als hätte sie es vorhergesehen.
»Hallöchen!«
Lottie zuckte zusammen, als das Gesicht des Mädchens mit einem strahlenden Lächeln und braunen, durch eine dicke Brille vergrößerten Augen neben dem Bücherstapel auftauchte. Sie erinnerte Lottie sofort an eine Eule.
Das winzige Eulenmädchen warf einen Blick auf Lotties Koffer. »Du musst neu in Rosewood sein – wie aufregend!« Sie musterte Lottie neugierig, bevor ihr Grinsen zurückkehrte. »Wie schön, dass du deiner Lieblingsfarbe so treu ergeben bist«, fügte sie lachend hinzu und deutete mit einem Nicken auf Lotties Kleid, Koffer, Hut, Schal und Tasche.
Lottie spürte, dass ihre Wangen heiß wurden, ein Reflex, mit dem sie seit ihrer Kindheit geschlagen war.
»Oh, äh, danke, ich –«
»Das ist ja ein beachtliches idiopathisches kraniofaziales Erythem, das du da zur Schau stellst.«
Das Eulenmädchen beugte sich vor, um Lotties Gesicht genauer zu betrachten, woraufhin diese unwillkürlich zurückwich. Sie hatte eigentlich angenommen, über einen ziemlich großen Wortschatz zu verfügen, doch diese Fremdwörter überstiegen ihre Kenntnisse.
»Auch Erröten genannt. Eigentlich sehr charmant, es kann allerdings auch ein frühes Anzeichen von Rosazea erythematosa sein …«
Während das Eulenmädchen fortfuhr, folgte Lottie ihr dümmlich nickend zum Eingang.
Kaum war sie durchs Tor gegangen, hatte Lottie das Gefühl, eine andere Welt betreten zu haben. Der Weg führte durch drei steinerne Bögen. Als sie darunter hindurchgingen, bemerkte Lottie am oberen Rand jedes Bogens eine Kupfertafel. Sie erkannte die vier Schutzpatrone von Rosewood: Florence Ivy in der Mitte, Balthasar Conch links und die Zwillinge Shray und Sana Stratus rechts. Sie blickten erwartungsvoll auf die Schüler herab, und Lottie musste unwillkürlich schlucken.
Sei mutig!, ermahnte sie sich.
»Ich persönlich finde es ja süß, aber wenn du zu Erythrophobie neigst, könnte es ein Problem werden.«
Das Eulenmädchen kicherte und drehte sich lächelnd zu Lottie. Die brauchte einen Moment, um zu verstehen, dass das Mädchen seinen Monolog beendet hatte und auf eine Antwort wartete.
»Erythrophobie?«, wiederholte sie. Musste sie das Wort kennen? Hatte sie sich gerade als ungebildet zu erkennen gegeben?
Das Eulenmädchen starrte sie an, bevor es wieder überraschend losprustete. Ihr Gekicher war wirklich niedlich.
»Entschuldige, ich hab mal wieder vor mich hin gebrabbelt. Hier …« Das Mädchen verlagerte sein gesamtes Gepäck auf einen Arm.
Lottie war sicher, dass diesmal wirklich alles herunterfallen würde, doch zu ihrer Verblüffung hielt der Stapel. Es war wie bei einer sonderbaren Zirkusnummer. Das Eulenmädchen griff mit der jetzt freien Hand in die Tasche und zog ein kleines Stück Papier heraus. »Ich bin Binah.«
Lottie nahm das Papier entgegen und stellte fest, dass es eine Visitenkarte war. Eine Visitenkarte? Sie waren vierzehn! Wozu brauchte eine Vierzehnjährige eine Visitenkarte?
Binah Fae
Freiwillige Bibliotheksassistentin
Anfragen zu Studienberatung und Nachhilfe
bitte per Post an:
Binah Fae, Stratus 304B, Rosewood Hall, Oxfordshire
Lottie überkam eine leichte Panik. Brauchte sie etwa auch eine Visitenkarte? War das unter den Kindern der Elite so üblich?
Sie rang einen Augenblick nach Worten, bevor sie herausbrachte: »Hallo, Binah. Ich bin Charlotte … aber du kannst mich Lottie nennen.« Sie hoffte inständig, dass ihr Vorname genügte, und zu ihrer Erleichterung lächelte Binah aufrichtig.
»Freut mich, dich kennenzulernen, Lottie.«
Die beiden Mädchen schritten unter dem letzten Bogen hindurch, und Lottie folgte Binahs Vorbild und übergab ihre Koffer einer Frau in einem Golfwagen, nannte ihren Namen und ihre Klasse und sah zu, wie ihr Gepäck den Hügel hinauf in Richtung der Wohnheime verschwand.
Dann drehte sie sich einmal langsam im Kreis und ließ den Blick schweifen. Hinter der dicken Mauer, die das weitläufige Schulgelände umgab, und auch hinter den Schulgebäuden wuchsen alte Rosengehölze. Rosen aller Farben und Arten säumten den Weg. Sie blühten nicht einfach, sie schienen wie durch einen geheimen Zauber regelrecht zu glühen.
Der Weg führte den Hügel hinauf zu einem weiteren steinernen Torbogen, durch den man in den Hof vor dem Empfangsgebäude gelangte. Den Eingang zur Rezeption bildete eine breite Eichentür, die von einem weiteren Bogen mit Dornenmuster umrandet war. Die feinen Dornen wanden sich um die Namen der einzelnen Häuser – Ivy, Conch und Stratus –, die jeweils für eine Eigenschaft im Motto der Schule standen: Ehrlichkeit, Entschlossenheit, Einfallsreichtum. Darüber befand sich eine goldene Inschrift: Rosewood Hall – Akademie der herausragenden Erfolge.
Lottie blieb stehen und musste an die Worte ihrer Stiefmutter denken. Ich hoffe, du wirst nicht enttäuscht.
Binah entging ihr plötzliches Zaudern nicht.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte sie und legte den Kopf prüfend zur Seite.
»Ich bin nur …« Lottie verstummte. Sie wollte nicht zugeben, dass sie nervös war. »Müde von der langen Reise.«
Hätte sie nur gewusst, welchen Dominoeffekt ihre Worte auslösen sollten!
»Kommst du aus einem anderen Land?«, fragte Binah mit neu aufflammender Neugierde. »Das ist ja toll.«
Halt, was?
»Wir haben so viele internationale Schüler hier, du wirst dich ganz schnell zurechtfinden!«
»Warte, ich –«, versuchte Lottie einzuwerfen, um zu erklären, dass sie nur aus Cornwall kam, doch Binah plapperte schon aufgeregt weiter.
»Mach dir keine Sorgen.« Sie strahlte sie mit einem Lächeln an, das alle ihre perlweißen Zähne zur Schau stellte und bei dessen Anblick Lottie ein bisschen schwindlig wurde. »Du bist neu in Rosewood, und ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, alles zu wissen, um allen helfen zu können.«
Lottie blinzelte. Es verblüffte sie, wie ähnlich Binahs Worte ihrem eigenen Vorsatz waren, Gutes zu tun. Sie öffnete den Mund, um das Missverständnis auszuräumen, doch Binah schaute an ihr vorbei.
»Wo wir gerade davon reden, da kommen auch schon drei, denen es genauso geht.«
Lottie folgte Binahs Blick. Drei wie aus dem Ei gepellte Schüler, zwei Mädchen und ein Junge, kamen auf sie zu. Eins der Mädchen hielt in der einen Hand einen Eiskaffee und in der anderen ein Handy, in das sie eifrig hineinredete. Sie trug einen übergroßen Pelzmantel, dessen Designerlogo Lottie nicht entging. Das Mädchen sah aus wie eine lebendig gewordene Barbiepuppe.
Das andere Mädchen und der Junge bewegten sich nahezu synchron. Sie waren einander in Statur und Kleidung so ähnlich, dass sie Zwillinge sein mussten. Sie waren ganz in Weiß gekleidet und erinnerten Lottie an zwei glänzende weiße Tauben.
»Binah!«, kreischte das Zwillingsmädchen und kam angerannt, um sie fest zu umarmen.
Binah erwiderte die Umarmung, dann stellte sie Lottie vor.
»Lola, Micky, Anastasia – das ist Lottie. Sie kommt auch aus dem Ausland.«
Lottie stöhnte innerlich auf und hoffte, dass niemand ihren Pass sehen wollte. Die Barbiepuppe verabschiedete sich von ihrem Gesprächspartner am Telefon und drehte sich zu Lottie.
»Sehr erfreut«, sagte sie mit einem leichten französischen Akzent und streckte die Hand aus.
Lottie schüttelte sie und merkte, wie kalt sie war.
»Hübsches Kleid«, fügte die Barbie hinzu.
Lottie wurde rot. Vermutlich war dem unbekannten Mädchen überhaupt nicht klar, wie beruhigend dieses kleine Kompliment auf sie wirkte.
»Oh, danke –«
Doch bevor Lottie weitersprechen konnte, wurde sie von der Barbie unterbrochen: »So, genug geschwatzt. Ich hab keine Lust, mir die Beine in den Bauch zu stehen. Außerdem will ich sichergehen, dass mein Gepäck nicht misshandelt wird.«
Die Zwillinge kicherten.
Binah beugte sich zu Lottie und flüsterte ihr ins Ohr: »Das ist Anastasia, die Tochter des französischen Botschafters. Sie ist sehr unterhaltsam.«
Lottie nickte und sah zu, wie Anastasia und die anderen durch den Torbogen schritten. Sie hatte plötzlich das Gefühl, ihnen nicht folgen zu können. Ein betörender Duft lag in der Luft. Die Mischung aus Lavendel und Rosen hatte die träumerische Schwere einer anderen Welt. Ehrfürchtig blickte Lottie zu dem Gebäude empor, das vor ihr aufragte. Es kam ihr so vor, als würde die Schule sie rufen, sie zu sich ziehen.
Sie war dafür bestimmt, hier zu sein, das wusste sie tief in ihrem Inneren. Die Krone, die versteckt in ihrer Tasche lag, fühlte sich glühend heiß an. Sie hatte es wirklich geschafft. Sie war in Rosewood. Mit einem Schlag ging ihr auf, dass sie nicht fürchtete, die Schule könne sie enttäuschen. Sie fürchtete vielmehr, sie könne die Schule enttäuschen.
»Allez! Manche von uns würden gern reingehen, bevor sie an Altersschwäche sterben. Vielen Dank.«
Anastasias Stimme riss sie aus ihrer Benommenheit und setzte ihre Beine in Bewegung.
»Was machst du denn?«, fragte Anastasia.
»Ich habe nicht die geringste Ahnung«, erwiderte Lottie. Und damit betrat sie zum allerersten Mal Rosewood Hall.
Die schweren Türen der ehrwürdigen, eichenholzgetäfelten Empfangshalle waren weit geöffnet, um die Schüler, alte und neue, willkommen zu heißen, die aufgeregt summend hereinschwirrten wie ein Schwarm gutgekleideter Bienen. Die schräg einfallende Nachmittagssonne verlieh der Szenerie die Aura eines Gemäldes. Wieder überkam Lottie das Gefühl, in eine andere Welt gestolpert zu sein.
»Die Willkommensansprache und das Feuerwerk gibt es später«, erklärte Binah. »Jetzt richtest du dich am besten erst mal in deinem Zimmer ein und ruhst dich ein bisschen aus oder probierst deine Uniform an. Wir treffen uns dann nachher wieder.«
Sie standen zu fünft in der Schlange für die Anmeldung. Binah hatte ein großes Heft mit Goldprägung hervorgeholt, das Lottie aus ihrem eigenen Willkommenspaket kannte, nur dass ihr Heft lila war, Binahs dagegen gelb.
»In welchem Haus bist du?«
Micky, Lola und sogar Anastasia horchten auf.
Bei ihrer Bewerbung hatte Lottie auch einen Test mit mehreren Was-wäre-wenn- und Multiple-Choice-Fragen ausfüllen müssen. Anhand ihrer Antworten war ermittelt worden, welches Haus am besten zu ihr passte.
»Florence Ivy.«
Die anderen wechselten einen belustigten Blick, und Lottie fragte sich augenblicklich, ob sie etwas Dummes gesagt hatte.
Binah lachte und klopfte ihr auf die Schulter. Bei jedem anderen hätte sich die Geste herablassend angefühlt, doch Binahs aufrichtiges Lächeln machte es unmöglich, sie als Beleidigung aufzufassen. »Entschuldige! Wir lachen nur, weil wir nie die vollen Namen verwenden. Wir sagen immer nur Ivy, Stratus und Conch.«
Lottie konnte nicht verhindern, dass sie schon wieder rot wurde.
»Du bist also in Stratus?«, fragte sie schnell und zeigte auf Binahs gelben Hefter.
»C’est n’importe quoi«, warf Anastasia mit unergründlichem Blick hinter ihrer Sonnenbrille ein.
Lotties Französischkenntnisse waren begrenzt, doch sie hatte immerhin verstanden, dass Anastasias Kommentar nicht gerade freundlich war.
»Binah ist die einzige Schülerin, der alle drei Häuser offenstanden. Und aus unerfindlichen Gründen hat sie sich für Stratus und gegen Conch entschieden«, erläuterte Anastasia.
»He!«, rief Lola gekränkt.
»Nichts gegen dich, Lola. Aber Conch ist eindeutig das bessere Haus und Rot die bessere Farbe.«
Lola und Micky verdrehten synchron die Augen. Offenbar waren sie solche Äußerungen gewohnt.
Binah zuckte die Schultern und versuchte so zu tun, als wäre nichts dabei, doch ihr verlegenes Lächeln zeigte, dass sie genau wusste, wie beeindruckend diese Auszeichnung war.
An der Anmeldung nahm ein Vertrauensschüler, auf dessen lila Namensschild Freddie Butterfield stand, Lottie das Handy ab und drückte ihr ein weiteres Willkommenspaket in die Hand. Obwohl sie gewusst hatte, was sie erwartete – während des Schuljahrs war die Nutzung von Handys strengstens untersagt –, hatte sie das Gefühl, einen Teil von sich selbst abzugeben. Seit dem Tod ihrer Mutter hatte sie so viel gelernt, dass sie kaum Zeit für Freundschaften gehabt hatte. Ollie war der Einzige, mit dem sie sich regelmäßig Nachrichten schrieb. Jetzt konnte sie ihm nicht einmal mehr eine E-Mail schicken, da die Internetnutzung streng überwacht wurde. Der Gedanke, ihn nicht einfach so erreichen zu können, machte ihr Angst.
»Herzlich willkommen in Rosewood, Charlotte … Pumpkin.« Lottie spürte die altbekannte Verlegenheit, als der Vertrauensschüler vor ihrem Nachnamen kurz stockte. »Diese Tasche enthält ein paar Geschenke von der Schule, deinen Schlüssel und den Transponder für das Wohnheim. Alles Weitere findest du in deinem Zimmer. Am Ende des Schuljahrs bekommst du dein Handy zurück. Vielen Dank. Ich wünsche noch einen schönen Tag.« Er klang so, als hätte er seinen Dienst schwungvoll angetreten, nun aber Mühe, die Begeisterung aufrechtzuhalten, nachdem er tausendmal denselben Text heruntergeleiert hatte.
Sie verließen die Empfangshalle und trennten sich an der Brücke, die zu Conch führte, von Anastasia. Ein Mädchen mit blonden Locken schien dort schon auf sie gewartet zu haben. Lottie beobachtete neugierig, wie Anastasia das Mädchen herzlich umarmte. Auch wenn Lottie sie erst seit wenigen Minuten kannte, schien es gar nicht zu ihr zu passen, so viele Gefühle zu zeigen.
Binah und die Zwillinge gaben ihr eine kleine Führung. Sie zeigten ihr die Haupträume von Stratus, dessen Wohnbereich, passend zum wolkigen Namen des Hauses, im höchsten Turm der Schule lag. Das Wappen von Stratus, das in die Tafel über dem Turmeingang eingraviert war, zeigte einen Merlinfalken, das Symbol für Einfallsreichtum. Dann verabschiedeten sie sich von den Zwillingen, die Lottie zuwinkten, bevor sie in den Turm hinaufstiegen.
Draußen begann Binah mit einem Vortrag über die verschiedenen Gebäude. Ihre Lippen bewegten sich so schnell, dass Lottie ihr kaum folgen konnte, und sie verwendete so komplizierte Wörter, dass es wie eine andere Sprache klang.
»Die alternierende Fenstersymmetrie der Versammlungshalle ist ein intendierter Pastiche des gotischen Stils aus dem 18. Jahrhundert …«
Lottie nickte. Waren alle Schüler in Rosewood so gebildet?
Anastasia hatte gesagt, dass Binah die Einzige war, der in allen drei Häusern ein Platz angeboten worden war. Lottie spürte Entschlossenheit in sich aufsteigen.
So klug will ich auch werden!
Sie würde ihre Zeit in Rosewood nutzen, um so hart wie möglich zu arbeiten und etwas zu leisten, das ihre Mutter stolz machen würde.
Als sie die Hauptgebäude der Schule hinter sich gelassen hatten – was einige Zeit dauerte, Lottie war froh, ihr Gepäck nicht selbst tragen zu müssen –, gelangten sie auf einen gepflasterten Weg, der zu Lotties Wohnheim führen musste. Das vornehme Steinhaus mit dem schmiedeeisernen Tor befand sich, eingebettet in Rhododendronbüsche, auf halber Höhe des Hügels. Dank seiner Größe sah es aus wie ein Hotel – und beinahe war es ja auch eins. Lottie hatte gelesen, dass es viele Einzelzimmer mit eigenem Bad gab, eine Lobby, eine Küche, einen eigenen Speisesaal, eine Bibliothek und ein Studierzimmer. An der grauen Steinmauer rankte dichter Efeu empor, und vor den vergitterten Erkerfenstern wuchs üppiger Blauregen. Das also war ihr Zuhause für die nächsten vier Jahre.
»Welcher Architekturstil ist in deinem Land beliebt?«
Die unerwartete Frage riss Lottie aus ihren Betrachtungen. Sie sah Binah an, und die Worte blieben ihr im Hals stecken. Es würde nicht angenehm werden, das Missverständnis zu klären, aber sie musste es tun. Und zwar jetzt.
»Ich –«
Doch weiter kam sie nicht.
»Oh, schau mal, ist das nicht wunderschön?« Binah klatschte aufgeregt in die Hände.
Lottie folgte ihrem Blick zu dem Teich in der Mitte des Gartens neben dem Wohnheim. Dort befand sich die bronzene Statue eines Hirschs mit prächtigem Geweih und stechendem Blick, der ihr sonderbar vertraut vorkam.
Binah führte Lottie darauf zu.
»Das ist Ryley – der Wächter von Rosewood Hall und das Wappentier des Hauses.«
Lottie merkte, dass es ihr schwerfiel, den Blick abzuwenden. Schon hatte sie die Chance vertan, das Missverständnis aufzuklären, beinahe so, als hätte der Hirsch sie absichtlich daran gehindert.