Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel «Indecent Exposure» bei Avon/HarperCollins Publishers, New York.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, März 2020
Copyright © 2020 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
«Indecent Exposure» Copyright © 2018 by Lauren Whelan
Redaktion Anita Hirtreiter, München
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Covergestaltung ZERO Werbeagentur, München
Coverabbildung Studio13lights, Alim Yakubov/Shutterstock
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ISBN 978-3-644-40538-7
www.rowohlt.de
Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.
ISBN 978-3-644-40538-7
Für Onkel Alex
In dem Bordell aufzuwachsen, in dem meine Mutter gearbeitet hat, brachte einige Nachteile mit sich. Der größte ist, dass ich viel mehr über Frauen weiß, als ein Mann wissen sollte.
Wenn sie zum Beispiel sagen, dass alles in Ordnung ist, dann ist das manchmal tatsächlich der Fall, und man sollte aufhören nachzubohren und die Klappe halten. Ich habe alles, was ich weiß, auf die harte Tour gelernt. Das ergibt sich ganz von selbst, wenn man das Badezimmer mit einer ganzen Reihe ständig wechselnder Frauen teilt und der beste Kumpel ebenfalls zwei X-Chromosomen hat. Andererseits muss ich zugeben, dass das, was ich in diesen Jahren gelernt habe, insgesamt wirklich praktisch ist. Zu wissen, wann man während einer Unterhaltung mit einer Frau vorsichtig vorgehen, wann nach vorn preschen und wann besser zurückrudern sollte, heißt, dass man nie allein nach Hause geht.
Allein ist allerdings ein komischer Ausdruck, oder?
Manchmal fühle ich mich am einsamsten, wenn ich von Frauen umgeben bin. Und das ist bei mir häufiger der Fall als bei anderen Männern. Ist das Prahlerei? Das will ich verdammt noch mal meinen. Wenn Frauen mich kommen sehen, dann flüstern ihre Hormone meinen Namen. Ich bin so gut im Bett. Und was noch wichtiger ist: Ich behandele Frauen mit Respekt. Warum sollten sie also nicht mit mir nach Hause gehen wollen? Ein paar Stunden in meinem Bett bedeuten sehr viel Spaß, einige patentierte Schmeicheleien, mehrere Orgasmen und anschließend Geld für ein Taxi. Sie könnten es schlimmer treffen.
Es ist nicht ihre Schuld, dass ich kaum anwesend bin, während all das passiert. Dass ich mir selbst wie ein perverser nackter Engel von oben aus dabei zusehe, wie ich sie berühre, und mich frage, wie lange die leichte Übelkeit wohl anhalten wird. Aber wie gesagt, das ist nicht ihre Schuld. Frauen werden schon für genügend Dinge verantwortlich gemacht – da muss ich nicht auch noch mitmachen. Ich bin da, um ihnen einen sicheren befriedigenden Fick zu bieten und sie hinterher mit einem Lächeln auf den Lippen nach Hause zu schicken.
Jack Garrett. Superheld. Beschützt die Frauen New York Citys Nacht für Nacht vor Rein-raus-fertig-Wichsern.
Ich habe zu oft mitbekommen, wie Männer Frauen wie Dreck behandeln, nachdem sie ihren Spaß mit ihnen hatten. Also ist es gar nicht so weit hergeholt, dass ich mich irgendwie berufen fühle. Ist es arrogant von mir, zu glauben, dass mein Schwanz in der Frauenwelt einen Unterschied macht? Ja. Entschuldige ich mich dafür? Verdammt, nein. Habe ich die Orgasmen und das Geld fürs Taxi schon erwähnt?
Ich habe eben meine Mutter besucht, die inzwischen als Empfangsdame bei einem Tierfriseur arbeitet – Gott sei Dank. Und wie immer, wenn ich durch die Straßen gehe, bin ich erstaunt, wie sehr sich mein altes Viertel Hell’s Kitchen verändert hat. Die Gegend heißt mittlerweile Clinton, aber das ist meiner Meinung nach völliger Mist. Für mich ist und bleibt es Hell’s Kitchen. Es spielt keine Rolle, wie viele hippe Bars, gute Restaurants oder Yogastudios hier eröffnen – ich kann unter dem ganzen Glamour noch immer den Dreck sehen. Ich komme gerade an dem Hauseingang vorbei, in dem ich im Alter von dreizehn Jahren endlich meine Hand unter Melissa Sizemores Shirt schieben durfte – um herauszufinden, dass sie die ganze Zeit über einen Wonderbra trug –, da erblicke ich den Rotschopf.
In Hell’s Kitchen gibt es jede Menge frisches Blut. Millennials in ihren Zwanzigern – zu denen auch ich gehöre – versuchen, in der Stadt Fuß zu fassen, während sie mit drei Mitbewohnern in einem winzigen Apartment zusammengepfercht sind. Ich selbst nenne im Augenblick den East-Side-Stadtteil Kips Bay mein Zuhause. Solange ich mich unter den nervtötend wachsamen Blicken meiner NYPD-Ausbilder bemühe, Polizist zu werden, habe ich nicht vor umzuziehen. Doch irgendwann, früher oder später, werde ich nach Hell’s Kitchen zurückkehren.
Und wenn diese sexy Rothaarige ein Zeichen dafür ist, was mich hier erwartet, wird das eher früher als später der Fall sein.
Aber was zur Hölle macht sie da? Auf Zehenspitzen balancierend, späht sie durch das Fenster einer Kneipe, die ich nur zu gut kenne. In ihrer Hand hält sie eine knallpinke Kamera. Mit einem beinahe ehrfürchtigen Ausdruck auf dem Gesicht macht sie Foto um Foto. Von diesem Gesicht kann ich zwar bloß das Profil erkennen, doch das reicht, um zu wissen, dass sie … süß ist. Zuckersüß sogar. Riesige Augen, hohe Wangenknochen, die Art von vollen roten Lippen, bei deren Anblick der Straßenverkehr zum Erliegen kommt. Zumindest, wenn ich am Steuer sitze.
Wenn es um Frauen geht, habe ich keinen speziellen Typ. Groß, klein, kurvig, mit Sommersprossen, gepierct, schwarz, weiß … Jede Erscheinungsform ist willkommen und geschätzt. Dieser Rotschopf hingegen … Ich kann nicht genau benennen, was mich zu ihr hinzieht, was mich einen Schritt nach dem anderen auf sie zugehen lässt. Ist es ihr Lächeln? Ist es der wackelige Tanz auf den Zehenspitzen, weil sie aufgrund ihrer mangelnden Körpergröße kaum an das Fenster kommt? Wie gesagt, sie ist wirklich süß, aber sie ist wahrscheinlich nicht auf einen One-Night-Stand aus. Noch nicht. Eigentlich stelle ich Frauen nie außerhalb von Bars nach, wo ich eine Menge Zeit verbringe, aber für diesen Rotschopf würde ich eine Ausnahme machen. Zumal ich ohnehin zu viel Zeit in Bars verbringe, wenn ihr meine beste Freundin Danika fragt. Viel zu viel Zeit. Der Alkohol macht es leichter, ja zu sagen. Ja zu den Frauen, ja zu meinen körperlichen Bedürfnissen. Er lässt mich vergessen, dass mir später übel werden wird.
Ich schiebe diese dunklen Gedanken beiseite und konzentriere mich wieder auf die Rothaarige.
Als ich neben sie ans Fenster trete, nehme ich einen Hauch von Minze wahr und frage mich, ob es eine Bodylotion ist oder etwas anderes, das ihr diesen Duft verleiht. «Soll ich dich hochheben?»
Sie lässt sich auf die Sohlen zurücksinken und wirft mir einen kurzen Blick zu. «Ich komme schon klar. Danke.»
Eine Irin. Ihr Akzent hängt in der Luft, lenkt mich jedoch nicht von ihren großen blauen Augen ab. Von diesen Augen könnte mich nichts ablenken. Sie haben die Farbe eines hellen Winterhimmels und sind von langen schwarzen Wimpern umrahmt.
Heiß. Verdammt.
Mit ebendiesen Augen mustert sie mich nun – und wendet den Blick dann wieder dem Fenster zu. Okay. Desinteresse von einer Frau bin ich nicht gewohnt. Es funktioniert viel leichter, Frauen in Bars zu treffen. Dort gibt es keine Geheimnisse. Diese Frau hingegen könnte ebenso gut darauf warten, dass ihr Mann aus der Kneipe kommt, in der ich mein erstes Bier getrunken habe. Sie trägt zwar keinen Ehering, doch vielleicht sind sie hier im Urlaub, und sie hat ihn sicherheitshalber zu Hause in Irland gelassen.
Ich verziehe angewidert den Mund, als mir klarwird, dass ich unbewusst wie ein Polizist denke. Die verfluchte Akademie hinterlässt ihre Spuren.
«Was sehen wir uns an?», versuche ich es noch einmal.
«Du siehst mich an. Ich sehe mir dieses historische Wahrzeichen an.»
«O’Keefe’s?» Ich winke dem Barkeeper, den ich gut kenne, durchs Fenster zu. «Bist du dir sicher, dass du die Bar nicht mit dem Empire State Building verwechselst? Kommt häufiger vor. Die Gebäude sind sich einfach zum Verwechseln ähnlich.»
Ihre unglaublichen Lippen verziehen sich zu einem winzigen Lächeln. «Ich weiß, wo ich bin und was ich mir ansehe. Könntest du jetzt bitte verschwinden?»
«Du willst, dass ich gehe, nachdem ich dich gerade zum Lächeln gebracht habe?»
«Ich nehme an, dass es nicht schwierig für dich ist, ein Mädchen zum Lächeln zu bringen. Was hast du sonst noch zu bieten?»
Ich muss schmunzeln. «Was hättest du denn gern?»
Sie scheint darüber nachzudenken. «Das weiß ich erst, wenn ich es sehe.»
Ich lehne mich mit der Schulter an das Gebäude und zwinkere ihr zu. «Dann sieh mich nur weiter an.»
Sie betrachtet mein Gesicht, und ich könnte schwören, dass sie mein Aussehen nicht einmal wahrnimmt. Sie blickt tiefer in meine Augen, und noch tiefer … sucht nach mehr. Wann ist das zuletzt geschehen? Noch nie. Nicht dass ich mich daran erinnern könnte. Sie spielt kein Spielchen mit mir. Sie scheint vollkommen ehrlich zu sein. Vollkommen offen.
Wer tut so was?
«Ich entscheide, was ich mir ansehe.» Abrupt wendet sie sich wieder dem Fenster zu und hebt sich einmal mehr auf die Zehenspitzen. «Und ich glaube, ich habe genug gesehen.»
Ich bin nicht mal gekränkt. Ich bin mehr fasziniert als alles andere. Es ist nicht so, dass ich noch nie abgewiesen worden wäre – das ist mindestens schon … ein Mal passiert. Ich sollte also gehen. Nein heißt nein. Immer. Da gibt es nichts zu interpretieren. Ich finde es nur ziemlich schwierig, mich umzudrehen und diesen herrlichen Singsang in ihrer Stimme hinter mir zu lassen. Wenn ich jetzt einfach gehe, werde ich ihn nie wieder hören. Ich werde jede Chance vertun, noch einmal in diese einzigartigen Augen zu blicken. Und, verdammt, sie hat unter meiner Oberfläche nach etwas gesucht, und irgendwie stört es mich, dass sie es nicht gefunden hat. Scheiße, dabei bin ich mir nicht einmal sicher, was dort ist. Doch allein die Tatsache, dass sie es überhaupt versucht hat, weckt in mir schon den Wunsch zu bleiben. «Ich schlage dir einen Deal vor. Sag mir, warum du hier rumstehst wie ein Spanner, und ich werde gehen. Still meine Neugier, okay, Honey?»
Sie errötet leicht, was mir verrät, dass meine Attraktivität sie doch nicht komplett kaltlässt. Mein Charme zeigt Wirkung. Frauen mögen es, wenn ich um etwas bitte – ob es nun echt ist oder bloß gespielt. Dieses Mal habe ich es allerdings ernst gemeint.
Als sie sich wieder auf die Fersen sinken lässt, funkeln ihre Augen vergnügt. «Sobald ich es dir verrate, dürfte es kein Problem mehr sein, dich loszuwerden.»
Nachdem ich jetzt endlich ihre ungeteilte Aufmerksamkeit habe, will ich sie nicht mehr verlieren. Selbst wenn sie mich loswerden will, verdammt noch mal. Vielleicht sind die Lichtverhältnisse hier auf der Straße einfach schlecht, und mein Gesicht liegt im Schatten. Oder die Sonne blendet sie. Das muss es sein. «Lass mich das entscheiden.»
Mit geschürzten Lippen zieht sie ein Buch aus der Vordertasche ihres Rucksacks. Der Titel lautet: Der ultimative Führer zu den Tatorten der Mafia-Morde in New York City. Mit dem Buchrücken deutet sie zum Fenster. «Dadrin wurde während der Mafia-Kriege von 1987 Whitey Kavanaugh ermordet.» Sie wackelt grinsend mit den Augenbrauen. «Du störst hier gerade meine Tatort-Tour, Hübscher.»
In Dublin haben wir einen Ausdruck für solche Männer: Hottie.
Ich unterdrücke den Impuls, über seine Schulter zu blicken, um festzustellen, ob er vielleicht direkt von einem Filmset kommt. Denn ganz ehrlich? Er sieht unwirklich gut aus. Vom Typ her wie James Dean, nur größer. Sein Lächeln ist umwerfend. Allein die Art, wie sich an seinen Augenwinkeln kleine Fältchen und in seinen Wangen winzige Vertiefungen bilden. Ich würde sie nicht Grübchen nennen, denn dafür sind sie nicht ausgeprägt genug, nur zwei fast identische, kleine Vertiefungen um die Mundwinkel. Als würde sein Mund in Anführungszeichen stehen.
Und da hört es ja nicht auf. Da ist noch das tiefe Grübchen in seinem Kinn. Der Dreitagebart. Die dunklen, fein geschwungenen Brauen über den grünen Augen. Sein schwarzes Haar ist sehr kurz geschnitten, doch wäre es länger, würde es bestimmt perfekt über seine Stirn fallen und sein wundervolles Gesicht umrahmen. Und er ist groß. Klar. Er muss auch noch groß und durchtrainiert sein. Was auch sonst? Alles an ihm scheint vollkommen zu sein. Gott hätte so viel körperliche Perfektion auch gern auf mehrere Menschen verteilen können.
Ich zum Beispiel hätte durchaus ein paar Zentimeter mehr vertragen können. Mein Nacken beginnt jedenfalls schon zu protestieren, weil ich ihn zu lange recke, um in dieses makellose Gesicht zu blicken.
Gut, dass der Kerl jetzt verschwinden dürfte. Niemand gibt sich freiwillig mit einem Mädchen ab, das eine Schwäche für das organisierte Verbrechen hat. Zumindest nehme ich das an. Ich habe einem Mann gegenüber meine Vorlieben noch nie erwähnt. Ich spreche sowieso kaum mit Männern, wobei ich vorhabe, das während meines Aufenthalts in New York zu ändern. Sobald diese total unrealistische, wahrscheinlich computeranimierte Kreatur aufhört, zu versuchen, mich mit ihren körperlichen Vorzügen umzuhauen, geht’s los.
«Hübscher, ja?» Natürlich kommentiert er den Spitznamen, den ich ihm verpasst habe. «Und trotzdem willst du unbedingt, dass ich verschwinde.»
«Oh … Äh …» Als sein Lächeln etwas verblasst, wird mir klar, dass ich echt unhöflich war. Doch es ist mir zu peinlich, zu erklären, warum. Ihm zu gestehen, dass ich dachte, er könnte nicht ernsthaft an mir interessiert sein und würde sich auf dem Weg in die Kneipe nur über mich lustig machen … Ich meine, ich bin gerade am Flughafen JFK aus dem Flieger gestiegen und habe weder geduscht noch die Haare gekämmt. Meine Jeans und mein Tanktop sind von der Reise ganz zerknittert. Was könnte einen Mann wie ihn bitte an mir angezogen haben? «Es tut mir leid. Ich dachte nur, dass du bestimmt etwas vorhast. Ich wollte dich sozusagen … entlassen. Damit du dorthin gehen kannst, wohin du auch immer musst.»
Er legt den Kopf schräg und sieht mich neugierig an. «Wohin, glaubst du, muss ich denn?»
«Hm.» Ich lehne mich ein Stückchen zurück und mustere ihn von oben bis unten. Als ich seine Augen erreiche, ist eines offensichtlich: Er glaubt, meine Antwort schon zu kennen. «Pianistenhände.»
Schock breitet sich auf seiner Miene aus, und besagte Hände zucken an seiner Seite. «Was?»
«Du hast Pianistenhände. Vielleicht bist du Klavierlehrer? Auf dem Weg zum Unterricht?» Warum ist er plötzlich so still? «Liege ich so sehr daneben?»
«Nein, aber …» Er verlagert das Gewicht von einem Bein auf das andere. «Du siehst mich an und denkst, dass ich Klavierlehrer sein könnte?»
«Was sollte ich deiner Meinung nach denn in dir sehen?» Als er nicht antwortet, werde ich nervös. «Wohin auch immer du gerade willst … Ich wollte bloß höflich sein und es dir leichtmachen zu gehen. Ich wollte nicht unfreundlich klingen oder so.»
Er schüttelt knapp den Kopf. «Wenn du möchtest, dass ich gehe, brauchst du dich nicht dafür zu rechtfertigen.» Es scheint ihm wichtig, dass ich das weiß. «Es ist deine Entscheidung, und ich hätte dich in Ruhe lassen sollen, als du mich das erste Mal dazu aufgefordert hast.»
Ich bin von Natur aus misstrauisch. «Sagst du das jetzt nur, weil ich mir Tatorte ansehe und du versuchst, mir zu entkommen?»
«Nein. Genau genommen, halte ich Tatort-Sightseeing für ziemlich cool.»
«Ist das der Grund, warum du immer noch hier bist?»
«Ja. Und weil du verdammt hübsch bist.» Er zieht die Augenbrauen hoch, während mir der Mund offen stehen bleibt. «Wenn du deine Meinung geändert hast und mich nicht mehr loswerden willst, begleite ich dich in die Bar, damit du ein anständiges Foto schießen kannst. Weißt du, auf welchem Stuhl Whitey gesessen hat, als er …?»
«Auf dem drittletzten Stuhl an der Bar.»
«Ich dachte mir, dass du das wissen würdest.» Mit einem schiefen Grinsen reicht er mir den Arm, der im Ärmel eines weichen schwarzen Kapuzenpullovers steckt. «Komm schon. Falls jemand auf dem Platz sitzt, scheuche ich ihn weg.»
«Ich gehe nicht in Bars. Das ist der Grund, warum ich wie eine Irre hier draußen rumstehe.» Die Antwort auf die Frage, warum ich diese Regel aufgestellt habe, ist persönlich – zu persönlich, um sie mit einem Fremden zu teilen. Also wende ich den Blick von ihm ab. Sonst könnte er vielleicht den Schmerz sehen, über den ich mit niemandem rede. Der Schmerz gehört mir allein. Doch ich spüre, dass er mich beobachtet, als ich meinen Fotoapparat zurück in die Kameratasche stecke und sie in meinen Rucksack lege. «Danke für das Angebot, äh …»
«Jack.» Seine Stimme klingt belegt, als er mir antwortet, und ein Schatten liegt in seinen Augen. «Und du bist …»
«Katie.» Ich hänge mir den Rucksack über die Schultern und versuche, mich daran zu erinnern, ob ich mich bei ihm bedankt habe, weil er mich hübsch genannt hat. Obwohl … selbst wenn nicht, sollte ich die Aufmerksamkeit nicht darauf lenken. Nicht dass er die Aussage noch einmal wiederholt. Ich bin mir nicht sicher, ob ich es überlebe, das zweimal an einem Tag zu hören. Nicht, ohne zu kichern und eine komplette Idiotin aus mir zu machen.
In den vergangenen vier Jahren meines Lebens habe ich nichts anderes getan, als für die Olympischen Spiele zu trainieren. Das erschöpfend endlose Training bedeutete, dass mir keine Zeit für das andere Geschlecht blieb. Und jetzt, wo das zum ersten Mal anders ist, muss ich ausgerechnet dem Urenkel von James Dean über den Weg laufen. Als ich beschloss, mich während meiner Geschäftsreise nach New York in eine Art Urlaubsaffäre zu stürzen, schwebte mir jemand vor, der nicht ganz so einschüchternd ist. Zum Beispiel ein nerdiger Büroangestellter. Oder eine männliche Politesse. «Ich will aber niemanden verurteilen oder so. Wegen der Bar. Echt. Du kannst gern hineingehen und …»
«Schon wieder. Du versuchst schon wieder, mich loszuwerden.» Sein strahlendes Lächeln ist zurück und raubt mir schier den Atem. «Gibt es in der Gegend noch mehr Tatorte, oder ist das hier dein letzter Stopp?»
«Es gibt noch einen Tatort», höre ich mich selbst sagen. Scheiße. Wie soll ich mich entspannen, wenn er mich so anlächelt? Ich muss mich von seinem Gesicht ablenken und werfe einen Blick in meinen Führer zu den verschiedenen Mafia-Morden. «McCaffrey Playground. Ist das hier in der Nähe?»
«Die Straße hinunter.» Mit einem Kopfnicken weist er in die entsprechende Richtung. «Sollen wir?»
Nein, wir sollten nicht. Erstens ist er ein Fremder in einer mir unbekannten Stadt und könnte vorhaben, mir meine Organe zu rauben. Zweitens sieht er aus wie ein Model, während ich mit den schäbigen Laufschuhen und dem Rucksack vermutlich wirke wie ein überdimensionales Kleinkind. Und drittens … Ich habe ganz eindeutig das Gefühl, dass der geheimnisvolle Jack für mich Ärger bedeutet. Nennt es einen sechsten Sinn oder gesunden Menschenverstand oder was auch immer – aber dieser Hottie mit dem Bad-Boy-Lächeln ist jemand, mit dem man sich nur zu leicht in Schwierigkeiten bringt.
Die Entscheidung müsste also glasklar sein: Wenn ein Wildfremder ohne jeden Grund Interesse an dir zeigt, solltest du vermutlich nicht mit ihm zusammen in einen dunklen Park spazieren, der schon Tatort eines Mafia-Mordes war. Ist nur so ein Gedanke. Von mir wurde allerdings mein Leben lang erwartet, mich tadellos zu verhalten. Ich habe gerade so die streng katholische Erziehung als Kind überstanden, bevor ich die anstrengenden Vorbereitungen auf die Olympischen Spiele aushalten musste. Jeder Tag meines Lebens war von anderen durchgeplant, und diese Pläne habe ich sehr gründlich und gewissenhaft befolgt.
Dieser Mann steht auf keinem Plan.
Und ich habe mir selbst während dieser zweiwöchigen Reise ein Abenteuer versprochen. Ich habe mir fest vorgenommen, einen Schwur zu erfüllen, den ich jemandem gegeben habe, den ich sehr liebe. Nämlich mein Leben auszukosten, ohne mich ständig zurückzuhalten. Nachdem ich so lange unter der Fuchtel meines Vaters stand, fühle ich mich jetzt leicht. So frei von Verantwortungen, dass ich mir nach dem Flug nicht einmal die Zeit genommen habe, um mich frisch zu machen, sondern mir direkt die Laufschuhe angezogen habe und aus dem Hotel gestürmt bin. Könnte Jack Teil meines Abenteuers sein?
Nein, das ist nicht möglich. Bestimmt filmt er nicht weit von hier entfernt eine romantische Komödie und betreibt grad nur Method Acting, um in der Rolle zu bleiben. Aber diese Hände … Seine überraschte Reaktion darauf, dass ich seine feingliedrigen Pianistenhände erwähnt habe, hat mich – auch wenn ich es nicht wollte – fasziniert.
Enttäuschung verdunkelt seine grünen Augen, je länger ich für meine Antwort brauche. Sein Lächeln wird schwächer und erstirbt schließlich ganz, sodass sein Mund nur noch eine grimmige Linie ist. Ich will gerade sagen, dass ich lieber allein weitergehe, als er mir zuvorkommt. «Mein Ego verkraftet das, Katie.» Er zwinkert mir zu, aber es ist eine traurige Geste. «Selbst wenn es verdammt lange dauern wird, diese Augen zu vergessen.»
Mein Herz schlägt mir bis zum Hals, als er sich in Bewegung setzt. Die Hände in die Hosentaschen geschoben, macht er ein paar Schritte rückwärts und lässt mich nicht aus den Augen, bis er sich schließlich umdreht und den Block hinabschlendert. Es ist verrückt, wie in meinem Bauch kleine Luftbläschen zu zerplatzen scheinen. Ich balle die Hände zu Fäusten, und mein Rucksack fühlt sich mit einem Mal tonnenschwer an. «Warte», rufe ich. Dann zucke ich zusammen. Denn jeder auf dem Gehsteig – inklusive Jack – dreht sich um, um mich anzustarren. «Äh … ich meine ihn.» Ich zeige auf Jack. «Also nur ein Spaziergang, okay?», sage ich an ihn gewandt.
Selbst aus dieser Entfernung ist der Anblick, wie Jack den Mund zu einem Grinsen verzieht, atemberaubend.
Als ich auf ihn zugehe, scheinen meine Schritte auf dem warmen Beton ein Wort immer und immer wieder zu flüstern.
Ärger. Ärger. Ärger.
Ich werde diese Frau mit nach Hause nehmen.
Katie kommt auf dem Gehweg auf mich zu. Die kleinen Brüste unter ihrem Tanktop wippen bei jedem Schritt auf und ab. Ihre roten Haare flattern im Wind, und ich kann fast schon spüren, wie sich diese Haare zwischen meinen Fingern anfühlen werden. Wie es sein wird, wenn diese Haare über meinen Bauch und bis zu meinen Oberschenkeln streichen. Für gewöhnlich wären wir jetzt schon auf dem besten Weg zu diesem Teil des Abends. Stattdessen spaziere ich mit ihr zum Park. Ich schätze, es gibt für alles ein erstes Mal.
Nicht dass ich eine andere Wahl gehabt hätte, wenn ich mehr Zeit mit ihr verbringen will, da sie nicht in Bars geht. Sie geht nicht in Bars. Wo ich meine Abende meistens ausklingen lasse. In letzter Zeit sogar jeden Abend. Das heißt, dass sie nicht trinkt. Ein braves Mädchen. Es stand in ihren blauen Augen, dass sie einen verdammt guten Grund hat, warum sie ihre Zeit nicht in Kneipen vergeudet. Als sie mir diese Information gegeben hat, hätte das mein Stichwort sein sollen, abzuhauen, doch ich blieb stehen. Und wartete darauf, dass sie mich erhören würde. Warum?
Ich habe keine Ahnung, ob ich gut genug für diese Art von Unternehmung bin, ob ich es überhaupt noch kann. Ein Spaziergang im Park. Smalltalk. In der Highschool habe ich mich noch mehr auf die Dates konzentriert und mehr Energie in die Verabredung gesteckt. Ich habe Zeit mit den Mädchen verbracht, aber es ging damals auch noch nicht darum, sich gegenseitig möglichst schnell ins Bett zu kriegen. Erst mit sechzehn rückte der Sex dann in den Mittelpunkt – und es gefiel mir. Ich lauschte den Unterhaltungen der Freier. Ich verfolgte aufmerksam, wie die Freundinnen meiner Mutter sich über ihre Kunden austauschten. Und ich lernte, im Bett richtig gut zu werden. Es gab mir das Gefühl, etwas … wert zu sein. Und daran schien nichts verkehrt zu sein, weil alle um mich herum genauso dachten und lebten.
Ich kann gut … vögeln. Habe ich noch andere Talente? Sicher. Ich kann zum Beispiel eine Gruppe von Menschen mit altbewährten Kartentricks und einer Partie Armdrücken mühelos bei Laune halten. Doch darüber hinaus wüsste ich nicht, was ich Katie noch zu bieten hätte.
Katie hat bisher nicht viel von sich erzählt, aber einiges ist mir aufgefallen. Sie ist organisiert. Die kleinen Eselsohren in ihrem Buch über die Mafia-Morde und die Art, wie sie den Fotoapparat in die Kameratasche zurückgeräumt hat, haben mir das verraten. Sie hat auch Sinn für Humor, setzt ihn aber nicht ein, um zu flirten. Jedenfalls nicht bei mir. Aber wenn sie mich mit ihren blauen Augen ansieht, schlägt mein Magen einen Purzelbaum.
Außerdem hat sie tolle Brüste.
Was habe ich also zu bieten? Offensichtlich ist ihr mein umwerfend gutes Aussehen scheißegal. Ich könnte sie vielleicht damit beeindrucken, dass ich eine Ausbildung zum Polizisten mache, aber irgendetwas sagt mir, dass sie mich durchschauen würde. Sie würde erkennen, dass die Akademie nur ein notwendiges Übel für mich ist. Dass es nichts ist, worauf ich stolz bin – anders als bei meinen Mitrekruten. Der Job ist für mich bloß Mittel zum Zweck, um meine Miete zu bezahlen und meine Mutter unterstützen zu können. Hätte ich gegen Danika nicht eine Wette verloren, hätte ich mich niemals an der Akademie eingeschrieben und einen anderen Weg gefunden, um über die Runden zu kommen. Das habe ich immer.
Es frustriert Danika und unseren Mitbewohner Charlie – dessen Vater und Bruder im Department hohe Tiere sind – so richtig, dass ich die Ausbildung nicht ernst nehme. Dass ich die Hälfte der Zeit betrunken auftauche und die Übungen wie ein Schlafwandler absolviere. Vielleicht denke ich einfach nicht, dass das alles einen Sinn hat. Ich kann mir nicht vorstellen, außerhalb von Bars und Schlafzimmern souverän aufzutreten. Ich bin dort. Ich nehme am Training teil. Aber ich fühle mich nicht wirklich anwesend. Es scheint mir ein überraschend realistischer Traum zu sein – die Halogenlichter, die Übungen, die Jogginghosen. Aber ich bin nicht dazu bestimmt. Ich weiß nicht genau, ob ich überhaupt für irgendetwas bestimmt bin außer dafür, möglichst viel Spaß zu haben.
Katie tritt auf dem Gehweg zu mir. Sie hat die Daumen unter die Träger ihres Rucksacks gesteckt. Ich bin gute zwanzig Zentimeter größer als sie, und da ich alles andere als ein Heiliger bin, richte ich meinen Blick direkt auf den Rand ihres Tanktops. Mein Körper reagiert auf den Anblick ihrer Brüste, die sich in die Cups ihres weißen BHs schmiegen, und ich schlucke ein Stöhnen herunter. Wie gern würde ich sie jetzt berühren.
Ich fühle mich echt zu ihr hingezogen. Mehr als zu jeder anderen Frau, an die ich mich erinnern kann. Ich will damit aufhören, so zu tun, als wäre ich der Typ Mensch, der Touristen aus Nettigkeit in den Park begleitet. Viel lieber will ich eine halbwegs flache Oberfläche finden, auf der ich mir ins Gedächtnis rufen kann, wofür ich gut bin.
«Also … Lebst du hier in der Gegend?»
Nur den Bruchteil einer Sekunde nachdem ich den Blick von ihrem Dekolleté genommen habe, sieht Katie mich an. Das war knapp. «Nicht mehr. Ich bin hier aufgewachsen, aber ich lebe jetzt an der East Side.»
«Oh, da befindet sich, glaube ich, mein Hotel.» Sie kommt mir vor wie ein neugieriges Erdmännchen, als sie sich zwischendurch immer wieder auf die Zehenspitzen stellt, um alles in den Schaufenstern der Läden sehen zu können, an denen wir vorbeikommen. Sie hat ihren Fotoapparat wieder hervorgeholt und knipst von allem ein Foto, was ihr vor die Linse kommt. «Ich bin erst heute Nachmittag angekommen und konnte mich noch nicht orientieren, aber das Hotel ist in der Nähe des UNO-Hauptquartiers. Ist das im Osten?»
«Ja.» Ich komme Katie unweigerlich näher, als zwei Männer sich auf dem Gehweg an uns vorbeidrängen. Wäre sie ganz allein in den Park gegangen, wenn ich sie nicht begleitet hätte? Ich bin mir nicht sicher, ob mir die Vorstellung gefällt. Nein, der Gedanke gefällt mir definitiv nicht. «Bist du ganz allein hier in New York, Snaps?»
Sie bleibt abrupt stehen und blinzelt mich an. «Snaps? Wie das englische Wort für ‹knipsen›?»
«Da du buchstäblich alle fünf Sekunden ein Bild schießt …»
Sie strahlt übers ganze Gesicht, als sie anfängt zu lächeln. Und dann geht sie weiter.
Ist sie … amüsiert? Ich laufe los, um sie einzuholen. «Hör mal, ich sage ja nicht, dass Frauen sich nicht um sich selbst kümmern können, aber es ist schon spät und du kennst dich in dieser Stadt nicht aus. Etwas Vorsicht wäre deshalb durchaus angebracht.»
«Ich weiß deine Sorge um mich zu schätzen.»
«Aber du ignorierst das.»
«Ja.» Wir sind nur noch einen Block vom Park entfernt, und ich kann sehen, dass er so gut wie menschenleer ist. Lediglich ein alter Mann mit Baseballkappe füttert Tauben. Ich versuche, mir gerade eine andere Taktik zu überlegen, um die zuckersüße Rothaarige davor zu bewahren, während ihres New-York-Aufenthalts überfallen zu werden, als sie mich abrupt aus meinen heroischen Gedanken reißt. «Erzähl mir eine Geschichte über diesen Park. Wenn du hier aufgewachsen bist, müsstest du doch eine kennen.»
Glaubt sie wirklich, dass ich sie mit meinen Erinnerungen und Gedanken unterhalten kann? Die Vorstellung macht mich froh und nervös zugleich. «Klar.» Ich kratze mich an der Wange, während mir eine Reihe von Bildern durch den Kopf geht. «Also gut. Ein paar Einheimische haben im Park gern Schachturniere ausgetragen.» Ich kneife ein Auge zusammen und zeige zu den Tischen in einiger Entfernung. Dabei komme ich Katie so nah, dass sich unsere Schultern berühren. «An den Tischen neben dem Basketballfeld. Nur sechs Stammspieler konnten dort spielen, und immer gewann derselbe Typ. Isaiah. Sie hatten eine Art … Wanderpokal, den der Sieger bekam. In Wirklichkeit war es eher eine Plakette, auf die sie mit einem Messer etwas eingeritzt hatten.»
Wir erreichen die Ecke des Parks, und ich lege meinen Arm um Katies Schultern. Vielleicht mache ich das, weil ich nie so lange brauche, ehe ich die Frau berühre, an der ich interessiert bin. Vielleicht habe ich mich auch nur selbst dazu auserkoren, sie heute Abend zu beschützen, und die Verantwortung macht mich nervös. Ich weiß es nicht. Doch ich tue es, und sie erstarrt, lässt es allerdings geschehen und windet sich nicht sofort wieder aus meiner Umarmung.
«Wie auch immer …» Ich atme langsam und bedächtig aus. «Derselbe Typ gewann das Turnier also wieder, aber der Verlierer wollte nicht zum verdammt hundertsten Mal wohlwollend und höflich sein. Also warf er die Plakette in einen vorbeifahrenden Müllwagen.»
«Nein …», haucht sie. «Der war aber ein schlechter Verlierer.»
«Ein ganz schlechter sogar.» Gott, ihre melodische, heisere Art zu sprechen, macht süchtig. Sobald ich mit der Geschichte fertig bin, werde ich aufhören zu reden, damit ich ihr die ganze Zeit zuhören kann. «Und so rennt der Gewinner dem Müllwagen und seiner geliebten Siegestrophäe hinterher. Es gelingt ihm nach vier Blocks, den Wagen anzuhalten, aber die Müllpresse hat bereits ganze Arbeit geleistet und die Plakette zerquetscht.»
Sie wirft mir aus leicht zusammengekniffenen Augen einen misstrauischen Blick zu. «Muss ich gleich weinen?»
«Wenn das der Fall sein sollte, sei gewarnt. Die Tränen einer Frau haben keinerlei Wirkung auf mich. Du kannst dir von mir aus die Augen ausheulen. Dagegen bin ich vollkommen immun.»
«Wirklich?»
«Verdammt, nein, natürlich nicht. Ich würde mich auf dem Gehweg zusammenrollen und um Gnade winseln.»
Ihr Lachen kitzelt mich tief im Innersten. «Dann solltest du besser dafür sorgen, dass die Geschichte ein gutes Ende nimmt.»
Ich stoße einen leisen Pfiff aus. «Isaiah ging mit der kaputten Trophäe zurück in den Park, und der Zweitplatzierte half ihm dabei, die Plakette zu reparieren?»
«O nein, du Lügner.» Sie keucht und boxt mir in die Rippen. «Du hast das Ende verändert. Ich will das echte Ende, oder ich erhebe offiziell Einspruch.»
«Bei wem? Bei der Vereinigung der Geschichtenerzähler?»
«Ja.» Sie kichert, und mir werden zwei Dinge bewusst. Ich schlage mich ganz gut hier. Ich habe nichts getrunken. Und ich erwarte keinen Sex. Noch nicht. Ich mache das gut. Allerdings bin ich mir nicht sicher, wie lange ich das noch durchhalten kann. Wir sind gerade mal fünf Minuten unterwegs, und mein Herz beginnt schon zu hämmern, und meine Zunge fühlt sich dick an. Ich will einen Drink. Ich will, dass Katie im Bett die Beine für mich breitmacht. Ich will das Hochgefühl, mir nützlich vorzukommen. Das verspüre ich bloß, wenn ich einer Frau Lust bereite.
«Äh …» Ich zupfe an dem Band meines Kapuzenpullovers und zwinge mich dazu, mich verdammt noch mal zu entspannen. Aber ernsthaft. Was mache ich hier? Der Spaziergang mit dieser jungen Frau, die kichert und einen Rucksack trägt. Der Versuch, es langsam angehen zu lassen. Wieso? Was hat diese Frau an sich, dass sich mein Innerstes beinahe schmerzhaft zusammenzieht? «Gut, hier kommt das echte Ende. Sag nicht, dass ich nicht versucht hätte, den Schlag abzumildern.»
Wir gehen in den Park. Sie löst sich von mir, dreht sich um die eigene Achse, um die Szenerie auf sich wirken zu lassen, und ich schwöre bei Gott, dass ich für einen Moment tatsächlich glaube, dass sie eine Illusion ist und ich mir das alles nur einbilde. «Na schön. Ich bin auf das Schlimmste vorbereitet.»
«Isaiah fiel auf seinem Weg zurück in den Park in einen Gullyschacht.»
Der alte Mann, der auf der Parkbank sitzt und die Tauben füttert, brummt. Hm, hm. Wahrscheinlich, weil er schon vor zehn Jahren an derselben Stelle saß und Zeuge des Ganzen wurde.
Katie starrt mich an, als läge das Schicksal der Menschheit in meinen Händen. «Hat Isaiah den Sturz überlebt?»
«Das hat er.» Ich nehme den Rucksack von Katies Schultern, da er schwer aussieht und ich beschlossen habe, ihn für sie zu tragen. Sie scheint sich nicht einmal bewusst zu sein, dass ich ihn ihr abnehme, weil sie so auf das Ende der Geschichte fixiert ist. «Er wäre auf einem Weichenhebel der U-Bahn-Schienen gelandet, aber die Plakette hat zum Glück verhindert, dass der Hebel ihn aufgespießt hat.»
Sie nickt bedächtig. «Dann ist die Moral der Geschichte, dass es in Ordnung ist, ein schlechter Verlierer zu sein.»
«Nein. Die Moral der Geschichte ist, dass es in der Stadt zahllose versteckte Gefahren gibt und du sie deshalb nicht allein erkunden solltest.»
Ich nehme ihr die Kamera aus der Hand und mache eine Aufnahme von ihr, wie sie mich empört ansieht. Wodurch sie nur noch ärgerlicher wird. «Wie kannst du es wagen, mir eine Lektion zu erteilen? Ich habe Urlaub!»
Zeit für Schmeicheleien. Ich lege den Kopf schräg und setze ein reumütiges Lächeln auf. «Kannst du mir noch einmal verzeihen, Snaps? Ich mache mir doch nur Sorgen.»
«Und wie passen die Sorgen und die Lügen bitte schön zusammen?»
«Ziemlich gut, ehrlich gesagt.»
Unsere Finger berühren sich, als sie ihre Kamera wieder zurücknimmt. «Ich werde mich von jemandem wie dir nicht um den Finger winkeln lassen, Jack.»
«Wir werden sehen.»
Mir gefällt es nicht, dass kurz ein besorgter Ausdruck über ihr Gesicht huscht. Trotzdem folge ich ihr, als sie nun weiter in den Park hineingeht. Und mit jedem Schritt wächst mein Verlangen.