Mhairi McFarlane
Roman
Knaur eBooks
Copyright © 2013 der eBook Ausgabe by Knaur eBook.
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Redaktion: Maria Hochsieder
Covergestaltung: Franzi Bucher, München
Coverabbildungen: Michelle Drew/Pattern & Co.
ISBN 978-3-426-42109-3
Für Jenny, die ich an der Universität gefunden habe
Verdammter Mist, so ein Pech …«
»Was?«, fragte ich.
Ich schlug eine besonders aufdringliche und unbeirrbare Wespe von meiner Coladose weg. Ben versteckte sein Gesicht hinter der Hand, was ihn umso auffälliger machte.
»Professor McDonald. Du weißt schon, Egghead McMuffin. Ich hätte schon vor einer Woche einen Aufsatz über Keats bei ihm abgeben sollen. Hat er mich gesehen?«
Ich warf einen Blick hinüber. Auf der anderen Seite des von der Nachmittagssonne gesprenkelten Rasens war der Professor abrupt stehen geblieben, streckte wie Lord Kitchener den Zeigefinger aus und formte mit den Lippen das Wort »DU«.
»Äh. Ja.«
Ben schielte durch seine gespreizten Finger auf mich.
»Ja, vielleicht? Oder eher: ja, todsicher?«
»Ja, so sicher wie eine stattliche, tweedtragende, glatzköpfige schottische Scud-Rakete, die deine genauen Koordinaten kennt und über das Gras auf dich zugeschossen kommt, um dich zu vernichten.«
»Verstehe. Lass mich nachdenken …«, murmelte Ben und schaute hinauf zu den Blättern des Baums, unter dem wir saßen.
»Hast du vor, auf den Baum zu klettern? Professor McDonald sieht nämlich so aus, als würde er notfalls bis zur Abenddämmerung auf die Feuerwehr warten.«
Ben ließ seinen Blick über die Reste des Mittagessens und unsere Taschen auf dem Boden schweifen, als könnten sie ihm die Lösung eingeben. Ich war nicht davon überzeugt, dass es ihm helfen würde, einem angesehenen Universitätsprofessor den Rucksack ins Gesicht zu schleudern. Schließlich blieb sein Blick an meiner rechten Hand hängen.
»Kann ich mir deinen Ring ausleihen?«
»Klar, aber er hat keine magischen Kräfte.« Ich zog ihn vom Finger und reichte ihn ihm.
»Stehst du mal auf?«
»Was?«
»Steh. Auf.«
Ich sprang auf und klopfte mir das Gras von den Jeans. Ben balancierte vor mir auf einem Knie und streckte mir den klobigen Silberring, den ich für vier Pfund auf dem Flohmarkt gekauft hatte, entgegen.
Ich fing zu lachen an. »Oh … du Idiot.«
Professor McDonald hatte uns erreicht. »Ben Morgan …!«
»Entschuldigen Sie, Sir, ich stecke gerade mitten in einer sehr wichtigen Angelegenheit.« Er wandte sich wieder zu mir um. »Ich weiß, wir sind erst zwanzig Jahre alt, und der Zeitpunkt dieses Heiratsantrags mag vielleicht durch … äußere Umstände ein wenig Nachdruck erfahren haben. Aber ungeachtet dessen bist du einfach großartig. Ich weiß, ich werde für keine andere Frau jemals so empfinden wie für dich. Dieses Gefühl wird immer stärker und stärker und …«
Professor McDonald verschränkte die Arme vor der Brust, doch er lächelte. Kaum zu fassen. Bens Chuzpe hatte wieder einmal gesiegt.
»Bist du sicher, dass dieses Gefühl nicht die Rache der Tortilla mit Mais und Dosenwürstchen ist, die du mit Kev gestern Abend gemacht hast?«, fragte ich.
»Nein! Mein Gott – du hast mich erobert. Ich spüre es in meinem Kopf, in meinem Herzen, in meinem Bauch …«
»Vorsicht, junger Mann, ich würde mir den Rest dieser Aufzählung sparen«, meinte Professor McDonald. »Das Gewicht der Geschichte lastet auf Ihnen. Denken Sie an das Vermächtnis. Es sollte inspirieren.«
»Danke, Sir.«
»Du brauchst keine Frau, du brauchst ein Durchfallmittel«, sagte ich.
»Ich brauche dich. Was sagst du? Heirate mich. Eine einfache Zeremonie. Dann ziehst du zu mir. Ich besitze eine Luftmatratze und ein fleckiges Handtuch, das du zusammenrollen und als Kopfkissen benützen kannst. Und Kev arbeitet gerade an einem wunderbaren Rezept für Patatas bravas, bei dem man die Kartoffelstückchen in einer Tomatensuppe aus der Dose erhitzt.«
»Das ist ein tolles Angebot, Ben, aber nein danke.«
Ben wandte sich Professor McDonald zu. »Ich werde wohl Sonderurlaub wegen eines Trauerfalls brauchen.«
Ich komme ein wenig später als üblich nach Hause, und dieser spezielle Regen in Manchester, der gleichzeitig senkrecht und waagrecht fällt, schiebt mich zur Tür hinein. Ich trage so viel Wasser mit ins Haus, dass es sich anfühlt, als würde mich die Brandung wie einen Strang Seetang an den Fuß der Treppe spülen und dort hängen lassen.
Unser Haus ist freundlich und bescheiden, finde ich. Man erkennt innerhalb von Minuten, dass wir zwei kinderlose Berufstätige Anfang dreißig sind. Gerahmte Drucke von Rhys’ musikalischen Helden. Shabby Chic mit Betonung auf Ersterem. Und glänzend dunkelblau lackierte Fußbodenleisten, die meine Mum zu der abfälligen Bemerkung veranlassten: »Sieht ein bisschen so aus wie im Gemeindezentrum.«
Im Haus riecht es nach Abendessen, würzig und warm, und trotzdem liegt eine bestimmte Kälte in der Luft. Noch bevor ich ihn zu Gesicht bekomme, weiß ich, dass Rhys schlecht gelaunt ist. Als ich in die Küche gehe, werde ich durch die Spannung in seinen Schultern und durch die Art, wie er sich über den Herd beugt, bestätigt.
»Guten Abend, Schatz«, sage ich, ziehe mein durchnässtes Haar aus dem Kragen und nehme den Schal ab. Ich fröstle, aber die Aussicht auf das Wochenende gibt mir Auftrieb. An einem Freitag ist alles ein wenig leichter zu ertragen.
Er knurrt etwas Unverständliches. Es könnte ein Hallo sein, aber ich will es nicht hinterfragen, um keinen Streit zu provozieren.
»Hast du die Steuerplakette?«, fragt er.
»Oh, Mist, das habe ich vergessen.«
Rhys wirbelt mit einem Messer in der Hand herum. Es war ein Verbrechen aus Leidenschaft, Euer Ehren. Wenn es um die Unterlagen der Kfz-Zulassungsstelle ging, konnte er Versäumnisse nicht ertragen.
»Ich habe dich gestern daran erinnert! Jetzt ist sie schon einen Tag überfällig.«
»Es tut mir leid. Ich erledige es morgen.«
»Du bist ja nicht diejenige, die jetzt illegal Auto fahren muss.«
Ich bin auch nicht diejenige, die vergessen hat, sich letztes Wochenende darum zu kümmern, laut seiner handschriftlichen Notiz im Kalender. Ich erwähne das aber nicht. Einspruch: Unterstellung.
»Sie schleppen die Autos ab und bringen sie auf den Schrottplatz, selbst wenn man nur auf dem Gehsteig parkt. Ohne Gnade. Gib mir nicht die Schuld, wenn sie unseren Wagen zu einer Größe zusammenpressen wie bei Noddy im Spielzeugland und du dann mit dem Bus fahren musst.«
Vor meinem geistigen Auge sehe ich mich als Noddy mit blauer Zipfelmütze und Glöckchen an der Spitze.
»Morgen früh. Mach dir keine Sorgen.«
Er dreht sich wieder um und hackt auf eine Paprikaschote ein. Ob er mich in dieser Paprikaschote sieht oder nicht, lässt sich nicht sagen. Mir fällt ein, dass ich etwas zur Beschwichtigung dabeihabe, und ich ziehe rasch die Flasche Rotwein aus der tropfenden Einkaufstüte von Oddbins.
Ich schenke zwei große Gläser ein und sage: »Prost, Onkel Willy.«
»Onkel Willy?«
»Noddys Freund. Nicht so wichtig. Wie war dein Tag?«
»Alles wie immer.«
Rhys arbeitet als Grafikdesigner für ein Marketingunternehmen. Und er hasst seinen Job. Noch mehr hasst er es, darüber zu reden. Er hört sich jedoch gern exklusiv reißerische Geschichten aus dem Strafgericht Manchester an.
»Nun, heute hat ein Mann, der ›lebenslänglich‹ ohne Bewährung gekriegt hat, das Urteil mit den unsterblichen Worten kommentiert: ›Das bekackte Arschloch soll zur Hölle fahren!‹«
»Haha. Und hat er recht?«
»Du meinst, ob das Urteil ungerecht war? Nein. Der Kerl hat einige Leute um die Ecke gebracht.«
»Kannst du in den Manchester Evening News ›bekacktes Arschloch‹ schreiben?«
»Nur mit Sternchen. Und ich musste die Ausdrücke der Angehörigen beschönigend als ›erregte Rufe von der Zuschauergalerie‹ umschreiben. Das einzige Wort über den Richter, das kein Schimpfwort war, lautete ›alt‹.«
Rhys trägt leise lachend sein Glas ins Wohnzimmer. Ich folge ihm.
»Ich habe heute ein paar Nachforschungen wegen der Musik angestellt«, erkläre ich und setze mich. »Mum hat sich bei mir darüber beklagt, dass auf der Hochzeit des Neffen von Margaret Drummond aus der Backgruppe ein DJ mit Basketballkappe misstönende Musik mit unanständigen Texten spielte, und das, noch bevor für die Blumenmädchen und Schleppenträger Schlafenszeit war.«
»Das hört sich großartig an. Kann sie uns seine Telefonnummer geben? Die Kappe sollte er vielleicht zu Hause lassen.«
»Ich dachte, wir könnten einen Livesänger buchen. Jemand aus dem Büro hatte einen Elvis-Imitator engagiert. Er heißt Macclesfield Elvis und scheint richtig gut zu sein.«
Rhys’ Miene verdüstert sich. »Ich will keinen alten Fettsack mit Pomade im Haar, der Love Me Tender trällert. Wir heiraten im Rathaus von Manchester und nicht in einer schäbigen Hochzeitskapelle in Vegas.«
Ich schlucke das hinunter, obwohl es mir nicht leichtfällt. Entschuldige, dass ich versucht habe, ein wenig Spaß in die Sache zu bringen.
»Oh. Okay. Ich dachte, es könnte witzig sein. Um ein bisschen Stimmung zu machen, verstehst du. An was hast du gedacht?«
Er zuckt die Schultern. »Keine Ahnung.«
Seine trotzige Miene und sein vielsagender Blick lassen mich vermuten, dass ich etwas übersehen habe. »Außer … du möchtest selbst spielen?«
Er gibt vor, darüber nachzudenken. »Ja, ich schätze, das wäre eine Möglichkeit. Ich werde die Jungs fragen.«
Rhys’ Band. Nenn sie einen Oasis-Abklatsch, und er bringt dich um. Dabei tragen die Jungs auch Parkas und zoffen sich ständig. Er hatte immer gehofft, mit seiner früheren Band in Sheffield den großen Durchbruch zu schaffen. Das, was er jetzt macht, ist nur noch das Hobby eines Mittdreißigers. Das wissen wir beide, aber wir sprechen es nicht aus. Ich habe immer akzeptiert, Rhys mit seiner Musik teilen zu müssen. Allerdings war ich nicht darauf vorbereitet, das auch an meinem Hochzeitstag zu tun.
»Du könntest vielleicht die erste halbe Stunde spielen, und danach übernimmt der DJ.«
Rhys verzieht das Gesicht. »Ich kann von den anderen nicht verlangen, dass sie proben und alles aufbauen und dann nur so kurz spielen.«
»Na gut, dann eben etwas länger, aber es ist unsere Hochzeit und kein Gig.«
Ich spüre, wie Gewitterwolken aufziehen und sich drohend zusammenballen. Gleich wird es richtig donnern. Ich kenne sein Temperament und diese Art von Auseinandersetzung wie meine Westentasche.
»Und ich will keinen DJ«, sagt er.
»Warum nicht?«
»DJs sind bescheuert.«
»Willst du selbst für die gesamte Musik sorgen?«
»Wir stellen etwas auf dem iPod zusammen, mit Spotify oder wie auch immer. Und lassen den Mix laufen.«
»Okay.« Ich sollte das Thema auf sich beruhen lassen, bis er bessere Laune hat, aber ich tu es nicht. »Dann sollten wir aber auch Songs von den Beatles und Abba für die ältere Generation reinnehmen, oder? Die können mit dem Fuckyou-I-won’t-do-what-you-tell-me-Zeug und Verstärkergebrüll nichts anfangen.«
»Dancing Queen? Vergiss es. Selbst wenn dein Cousin Alan dazu ein Tänzchen aufs Parkett legt.« Er spitzt die Lippen und wedelt unnötig provokativ mit den Händen vor seinen Brustwarzen herum wie die Bauchrednerpuppe Orville the Duck.
»Warum machst du daraus so eine große Sache?«
»Ich dachte, du wolltest eine Hochzeit nach unseren eigenen Vorstellungen, so wie wir es uns wünschen. Da waren wir uns doch einig.«
»Ja, nach unseren Vorstellungen. Nicht nach deinen«, erwidere ich. »Ich möchte die Gelegenheit haben, mich mit unseren Freunden und Verwandten zu unterhalten. Es soll eine Party für alle sein.«
Mein Blick fällt auf den Verlobungsring. Warum wollten wir gleich noch mal heiraten? Vor ein paar Monaten feierten wir in einem griechischen Restaurant einen beträchtlichen Bonus, den Rhys bekommen hatte, und waren von den Verdauungsschnäpsen ein wenig beschwipst. Unter den vielen Ideen, wofür wir das Geld ausgeben könnten, tauchte auch die Hochzeit auf. Uns gefiel die Vorstellung, ein Fest zu feiern, und wir waren uns einig, dass es allmählich an der Zeit war. Es gab keinen Heiratsantrag. Rhys füllte lediglich mein Glas wieder auf, sagte »Verdammt, warum nicht?« und zwinkerte mir zu.
Diese Entscheidung fühlte sich an jenem Abend in dem warmen, lauten Lokal so sicher und richtig und naheliegend an. Wir sahen zu, wie die Bauchtänzerin ein paar Rentner von den Stühlen zog und sie dazu animierte, sich um sie zu drehen, und wir lachten, bis wir Bauchschmerzen bekamen. Ich liebte Rhys, und ich nehme an, dass in meiner Einwilligung der Gedanke mitschwang: Wen soll ich auch sonst heiraten? Zugegeben, wir führten eine Beziehung mit einer unterschwellig rumorenden Unzufriedenheit. Aber wie bei Schimmelflecken in einer feuchten Ecke des Badezimmers wäre ein großer Aufwand nötig, um etwas dagegen zu unternehmen, und irgendwie fanden wir nie die Zeit dafür.
Obwohl wir lange damit gewartet hatten, hatte ich nie daran gezweifelt, dass wir unsere Beziehung irgendwann amtlich machen würden. Rhys trug zwar immer noch seine wilde Mähne und die ewige Jugenduniform aus schmuddeligen T-Shirts mit aufgedruckten Bandnamen und abgewetzten Jeans und Chucks, aber ich wusste, darunter verbarg sich der Wunsch, vor dem Kinderkriegen einen Trauschein zu haben. Als wir nach Hause kamen, riefen wir beide unsere Eltern an, vorgeblich um unsere Freude mit ihnen zu teilen, vielleicht aber auch nur, um keinen Rückzieher mehr machen zu können, wenn wir wieder nüchtern waren. Kein Mondschein und keine Sonaten, aber, wie Rhys sagen würde, daraus besteht das Leben nicht.
Inzwischen verbinde ich mit diesem Tag, der der schönste unseres Lebens sein soll, etliche Kompromisse und unterdrückte Gereiztheit und befürchte, dass Rhys sich mit seinen Bandkollegen zusammenrotten und sich allen anderen gegenüber distanziert verhalten wird. Genauso wie er sich bei unserer ersten Begegnung gegeben hat, als mein unerfahrenes Herz nur von dem Wunsch erfüllt war, zu seiner Clique zu gehören.
»Wie lange noch wird die Band die dritte Person in dieser Beziehung sein? Wirst du ständig beim Proben sein, während ich mit einem schreienden Baby zu Hause sitze?«
Rhys nimmt das Weinglas von seinen Lippen. »Was soll das denn jetzt? Muss ich ein anderer Mensch werden, etwas aufgeben, das ich liebe, um gut genug für dich zu sein?«
»Das habe ich nicht gesagt. Ich bin nur der Meinung, dass die Musik mit deiner Band an unserem Hochzeitstag nicht wichtiger sein sollte als unser Zusammensein.«
»Ha. Wir werden danach noch unser ganzes Leben zusammen verbringen.«
Er sagt das so, als handle es sich um eine Gefängnisstrafe in Strangeways mit sexuellen Übergriffen in der Dusche, Hofdrill um sechs Uhr morgens und nach draußen geschmuggelten Botschaften. Lässt. Mich. Nicht. Ins. Pub.
Ich atme tief ein und spüre eine schwere Last in meinem Brustkorb, einen Schmerz, den ich vielleicht in Wein ertränken kann. In der Vergangenheit hat das funktioniert.
»Ich bin mir nicht sicher, ob diese Hochzeit eine gute Idee ist.«
Jetzt ist es raus. Der quälende Gedanke hat sich vom Unterbewusstsein ins Bewusstsein geschoben und sich weiter nach vorne gedrängt, bis er schließlich aus meinem Mund gesprudelt ist. Es überrascht mich, dass ich das nicht rückgängig machen will.
Rhys zuckt die Schultern. »Ich habe dir ja vorgeschlagen, ins Ausland abzuhauen. Du wolltest unbedingt hier heiraten.«
»Nein, ich meine, ich halte es für keine gute Idee, jetzt zu heiraten.«
»Tja, es wird verdammt komisch aussehen, wenn wir alles absagen.«
»Das ist kein Grund, es durchzuziehen.«
Gib mir einen Grund. Sende ich gerade verzweifelte verschlüsselte Botschaften aus? Mir wird klar, dass ich soeben etwas begriffen habe, aufgewacht bin und dass Rhys die Dringlichkeit der Sache nicht erkennt. Ich habe etwas gesagt, das zu den Dingen gehört, die wir normalerweise nicht ansprechen. Aber sich zu weigern, es zu hören, genügt nicht als Antwort.
Er seufzt übertrieben und drückt damit ohne Worte aus, wie ermüdend die schrecklichen Prüfungen des Lebens mit mir sind.
»Wie auch immer. Seit du nach Hause gekommen bist, suchst du Streit.«
»Nein, das ist nicht wahr!«
»Und jetzt schmollst du und zwingst mir einen DJ auf, der irgendeinen Mist für dich und deine bescheuerten Freunde auflegt, während ihr euch betrinkt. Gut. Buch ihn, mach alles so, wie du willst. Ich habe keine Lust, mich mit dir deswegen zu streiten.«
»Bescheuert?«
Rhys trinkt einen Schluck Wein und steht auf. »Ich werde mich weiter ums Abendessen kümmern.«
»Glaubst du nicht, es sollte uns zu denken geben, dass wir uns nicht einmal darüber einig werden können?«
Unwillig setzt er sich wieder. »Meine Güte, Rachel, mach doch kein Drama daraus. Ich habe eine anstrengende Woche hinter mir und keine Energie für einen Wutanfall.«
Ich bin auch müde, aber nicht von den fünf Tagen Arbeit. Ich bin erschöpft von dem ständigen Bemühen, so zu tun, als ob. Wir stehen kurz davor, Tausende Pfund für diese Heuchelei auszugeben, vor all den Leuten, die uns am besten kennen. Bei der Aussicht darauf wird mir furchtbar mulmig.
Das Dumme ist nur, dass Rhys’ Verständnislosigkeit nachvollziehbar ist. Er verhält sich wie üblich. Alles wie gehabt. Irgendetwas in mir ist gebrochen. Ein Teil meiner Maschinerie hat den Geist aufgegeben, so wie ein zuverlässiges Gerät, das läuft und läuft, bis es eines Tages ganz plötzlich streikt.
»Es ist keine gute Idee zu heiraten. Punkt«, sage ich. »Ich bin mir nicht einmal sicher, ob es eine gute Idee ist, dass wir zusammen sind. Wir sind nicht glücklich.«
Rhys wirkt leicht verdutzt. Dann verschließt sich seine Miene, und er setzt seine Trotzmaske auf. »Du bist nicht glücklich?«
»Nein, ich bin nicht glücklich. Bist du es?«
Er schließt die Augen, seufzt und kneift sich in den Nasenrücken. »Im Augenblick nicht. Merkwürdigerweise.«
»Überhaupt?«, bohre ich nach.
»Was meinst du mit glücklich? Zugekifft in einer durchsichtigen Bluse über eine Wiese tanzen und Gänseblümchen pflücken? Nein, dann bin ich es nicht. Ich liebe dich, und ich dachte, du liebst mich genug, um dir ein wenig Mühe zu geben. Aber anscheinend habe ich mich getäuscht.«
»Es gibt einen Mittelweg zwischen bekifft Gänseblümchen pflücken und sich ständig zanken.«
»Werd endlich erwachsen, Rachel.«
Rhys’ Standardreaktion auf alle meine Zweifel ist ein schroffes »Werd endlich erwachsen« oder »Vergiss es einfach. Jeder weiß, dass Beziehungen nun mal so sind. Du hast unrealistische Erwartungen«. Ich mochte seine Bestimmtheit. Jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher.
»Es reicht nicht«, sage ich.
»Was soll das heißen? Willst du etwa ausziehen?«
»Ja.«
»Das glaube ich dir nicht.«
Ich kann es auch nicht glauben. Nicht nach all den Jahren. Das nenne ich Geschwindigkeit – von null auf hundertachtzig, von nichts zur Trennung in wenigen Minuten. Von der Beschleunigungskraft habe ich schon Hamsterbacken. Wahrscheinlich haben wir deshalb so lange gebraucht, bis wir uns zur Planung unserer Hochzeit aufraffen konnten. Wir wussten, dass dabei bestimmte verschwommene Ahnungen plötzlich schärfere Konturen bekommen würden.
»Ich werde mich morgen auf die Suche nach einer Wohnung machen.«
»Ist das alles? Nach dreizehn Jahren?«, fragt er. »Du willst die Hochzeit nicht so haben wie ich – das war’s, leb wohl?«
»Es geht nicht wirklich um die Hochzeit.«
»Merkwürdig, dass du dir dieser Probleme in einem Moment bewusst wirst, in dem du deinen Willen nicht durchsetzen kannst. Ich kann mich nicht erinnern, dass du dein Verhalten so … ›kritisch hinterfragt‹ hast, als ich dir den Ring gekauft habe.«
Damit hat er nicht ganz unrecht. Habe ich diesen Streit provoziert, um einen Grund zu haben? Habe ich tatsächlich triftige Gründe? Ich werde unsicher. Vielleicht wache ich morgen auf und halte das alles für einen Fehler. Möglicherweise wird sich diese dunkle, apokalyptische Wolke der schrecklichen Klarheit verziehen wie der Regen, der draußen immer noch herunterprasselt. Vielleicht könnten wir morgen Mittag essen gehen, unsere gemeinsame Auswahl an Songs auf eine Serviette kritzeln und uns wieder dafür begeistern …
»Okay … wenn das alles funktionieren soll, müssen wir einiges ändern. Wir müssen aufhören, ständig aufeinander loszugehen. Wir sollten zu einem Paartherapeuten gehen oder so etwas.«
Wenn er mir nur einen Millimeter entgegenkommt, bleibe ich. So erbärmlich ist meine Entschlossenheit.
Rhys runzelt die Stirn. »Ich werde mich nicht hinsetzen und zuhören, wie du einem bebrillten Seelenklempner erzählst, dass ich dich mies behandle. Ich werde die Hochzeit nicht verschieben. Entweder ziehen wir das jetzt durch, oder wir vergessen es.«
»Ich spreche über unsere gemeinsame Zukunft und darüber, ob wir überhaupt eine haben, und du machst dir darüber Sorgen, was die Leute sagen werden, wenn wir die Hochzeit absagen?«
»Du bist nicht die Einzige, die Ultimaten stellen kann.«
»Ist das ein Spiel?«
»Wenn du dir nach dieser langen Zeit nicht sicher bist, wirst du es niemals sein. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen.«
»Wie du willst«, erwidere ich mit zittriger Stimme.
»Nein, wie du willst«, faucht er. »Wie immer. Nach allem, was ich für dich aufgegeben habe.«
Das bringt mich auf die Palme. In mir macht sich die Art von Zorn breit, bei dem man in die Luft schießt, als hätte man Raketenwerfer an den Füßen. »Du hast nichts für mich aufgegeben! Du hast selbst entschieden, nach Manchester zu ziehen. Du tust so, als stünde ich so verdammt tief in deiner Schuld und könne das nie wiedergutmachen. Das ist Schwachsinn! Eure Band hätte sich ohnehin aufgelöst! Gib mir nicht die Schuld daran, dass du es nicht geschafft hast!«
»Du bist eine selbstsüchtige, verzogene Göre«, brüllt er und steht ebenfalls auf, weil es weniger wirkungsvoll ist, im Sitzen herumzuschreien. »Es geht immer nur darum, was du willst, und du denkst dabei nie daran, was die anderen aufgeben müssen, um dir deine Wünsche zu erfüllen. Mit der Hochzeit machst du es genauso. Du gehörst zu der schlimmsten Sorte von Egoisten, weil du dich nicht dafür hältst. Und was die Band betrifft: Wie kannst du verdammt noch einmal behaupten, du wüsstest, wie sich die Dinge entwickelt hätten? Wenn ich noch mal von vorn anfangen und alles anders machen könnte …«
»Ach ja? Was dann?«, kreische ich.
Wir stehen beide heftig atmend da, ein aussichtsloser Zweikampf, in dem Worte als Waffen dienen.
»Gut. In Ordnung«, sagte Rhys schließlich. »Ich fahre über das Wochenende nach Hause – ich habe keine Lust, hierzubleiben und mir diesen Mist anzuhören. Schau dich nach einer anderen Wohnung um.«
Ich lasse mich auf das Sofa fallen und lege die Hände in den Schoß. Ich lausche den Geräuschen, während er oben herumstampft und seine Reisetasche packt. Tränen laufen mir über die Wangen und tropfen in den Ausschnitt meines T-Shirts, das gerade ein wenig getrocknet war. Ich höre Rhys in der Küche und begreife, dass er die Herdplatte unter dem Topf mit dem Chili ausmacht. Irgendwie ist dieser kleine Moment der Umsicht schlimmer als alles, was er noch sagen könnte. Ich vergrabe mein Gesicht in den Händen.
Nach einigen Minuten schrecke ich durch seine Stimme direkt neben mir hoch.
»Gibt es einen anderen?«
Ich richte meinen Blick aus tränenverschleierten Augen auf ihn. »Was?«
»Du hast mich schon verstanden. Gibt es einen anderen?«
»Natürlich nicht.«
Rhys zögert und fügt dann hinzu: »Ich weiß nicht, warum du jetzt weinst. Das ist doch, was du wolltest.«
Er schlägt die Haustür so fest hinter sich zu, dass es wie ein Pistolenschuss klingt.
Der Schock meines plötzlichen Singledaseins ruft meine beste Freundin Caroline und unsere gemeinsamen Freunde Mindy und Ivor auf den Plan. Sie scharen sich um mich und stellen mir die eine Frage, die echtes Mitgefühl beweist: »Sollen wir ausgehen und uns richtig betrinken?«
Rhys fehlt ihnen dabei nicht. Er hat meine Freunde immer als meine Freunde betrachtet. Häufig hat er angemerkt, dass »Mindy und Ivor« sich anhört wie das Moderatorenteam einer Kindersendung. Mindy ist Inderin und heißt eigentlich Parminder. Sie sagt, die Abkürzung »Mindy« ist ihr Alias in der Welt der Weißen. »Damit kann ich mich unerkannt unter ihnen bewegen. Wenn man außer Acht lässt, dass meine Haut braun ist.«
Was Ivor betrifft – sein Dad hat eine Vorliebe für nordische Sagen. Wegen eines alten Zeichentrickfilms hatte er es mit diesem Namen nicht immer leicht. Die Rugbyspieler im Studentenwohnheim an der Uni nannten ihn »die Dampflokomotive« und behaupteten, dass er in bestimmten intimen Augenblicken »Tsch-tsch-pfft, tsch-tsch-pfft« mache. Dieselben Rugbyspieler tranken als Mutprobe den Urin und die Spucke der anderen und trieben Ivor auf das Stockwerk der Mädchen. So wurden wir zu einer gemischten Vierergruppe. Unsere platonische Freundschaft, verbunden mit seinem glattrasierten Schädel, der schwarzen Hornbrille und seiner Vorliebe für trendige Turnschuhe aus Japan, führte dazu, dass viele Leute mutmaßten, Ivor sei schwul. Mittlerweile programmiert er Computerspiele, und da in seinem Beruf kaum Frauen tätig sind, fürchtet er, dass ihn dieses Missverständnis um wertvolle Gelegenheiten bringt.
»Das widerspricht doch jeglicher Logik«, beklagt er sich häufig. »Warum sollte ein Mann, der sich mit Frauen umgibt, homosexuell sein? Bei Hugh Hefner vermutet man das doch auch nicht. Wahrscheinlich sollte ich den ganzen Tag in Morgenmantel und Hausschuhen herumlaufen.«
Wie auch immer, ich bin noch nicht bereit für eine gutbesuchte Cocktailbar, also plädiere ich für einen Abend in häuslicher Umgebung, obwohl der Alkoholkonsum dort meist verhängnisvoller ist.
Carolines Haus in Chorlton ist die beste Wahl für ein Treffen, denn im Gegensatz zu uns anderen ist sie verheiratet und im Besitz eines großartigen Objekts. (Ich meine das Haus, nicht den Ehemann – bei allem Respekt für Graeme. Er verbringt wie so oft ein Wochenende mit seinen Kumpels beim Golfen.) Caroline ist eine sehr gut bezahlte Buchhalterin für eine sehr große Supermarktkette und eine richtig erwachsene Frau. Aber das war sie eigentlich schon immer. Zu Unizeiten trug sie Steppwesten und war Mitglied im Ruderclub. Als ich mich den anderen gegenüber erstaunt darüber äußerte, dass sie es nach einer durchzechten Nacht schaffte, früh aufzustehen und zu trainieren, antwortete Ivor verkatert: »So sind die vornehmen Leute eben. Das sind die normannischen Gene. Sie muss losziehen und alles und jeden erobern.«
In Bezug auf ihre Vorfahren mochte er durchaus recht haben. Sie ist groß, blond und hat ein Profil, das man, glaube ich, aquilin nennt. Sie selbst findet, dass sie aussieht wie ein Ameisenbär. Wenn schon, dann handelt es sich allerdings um einen mit Grace Kelly verwandten Ameisenbären.
Ich habe die Aufgabe bekommen, auf Carolines fleckenloser, schwarz glänzender Arbeitsplatte aus Corian Limonen zu schneiden und die Ränder der Gläser in Salz zu tauchen, während Caroline Eis, Tequila und Cointreau in einem liebesapfelroten Mixer zu einer dickflüssigen Masse verrührt. In den Pausen zwischen den ohrenbetäubenden Ausbrüchen der Küchenmaschine bedenkt uns Mindy, die majestätisch auf dem Sofa thront, mit ihren üblichen Lebensweisheiten. »Der Unterschied zwischen dreißig und einunddreißig ist wie der Unterschied zwischen einem Begräbnis und der Trauerarbeit.«
Caroline löffelt die Margarita-Mischung in die Gläser. »Dreißig zu werden gleicht einem Begräbnis?«
»Dem Begräbnis deiner Jugend. Jede Menge Alkohol, Mitgefühl, Zuwendung und Blumen, und du triffst jeden, den du kennst.«
»Einen Moment lang haben wir uns wirklich Sorgen gemacht, dass der Vergleich geschmacklos sein könnte«, meint Ivor und schiebt seine Brille auf dem Nasenrücken zurecht. Er sitzt mit ausgestreckten Beinen auf dem Boden, reckt den Arm in die Höhe und richtet eine Fernbedienung auf einen rautenförmigen Gegenstand, bei dem es sich anscheinend um die Stereoanlage handelt. »Hast du tatsächlich die Eagles aufgelegt, Caroline, oder ist das ein schlechter Scherz?«
»Einunddreißig ist wie Trauerarbeit«, fährt Mindy fort. »Es ist viel schlimmer, damit klarzukommen, und keiner rechnet mehr damit, dass du über deinen Verlust klagst.«
»Oh, wir rechnen bei dir schon damit, Mindy«, sage ich und reiche ihr vorsichtig ein flaches Glas, das aussieht wie eine Untertasse mit Stiel.
»Diese Modemagazine geben mir das Gefühl, alt und unwichtig zu sein und dass ich mir allenfalls noch Gedanken über den Kauf von TENA Lady machen sollte. Kann man das essen?« Mindy zieht die Limettenscheibe vom Rand ihres Glases und betrachtet sie kritisch.
Sie ist eine verblüffende Mischung aus erstaunlichen Fähigkeiten und Dämlichkeit. Mindy hat ein kaufmännisches Studium absolviert, dabei ständig betont, dass sie davon rein gar nichts verstehe und ganz sicher nie in das Textilunternehmen ihrer Familie in Rusholme einsteigen würde. Daraufhin bestand sie ihr Examen mit Auszeichnung, arbeitete einen Sommer lang im Geschäft ihrer Eltern, baute den Versandhandel und den Internetverkauf auf, vervierfachte den Umsatz und sah widerstrebend ein, dass sie Talent besaß und ihre berufliche Karriere begonnen hatte. Aber als sie vor kurzem im Zoo war und Ivor sie vor dem Affengehege fragte, ob sie die Makaken gesehen habe, rief Mindy: »Ich warte doch nicht, bis die mal kacken!«
»Limetten? Äh … eigentlich nicht, würde ich sagen.«
»Oh. Ich dachte, ihr hättet sie vielleicht mit etwas getränkt.«
Ich hole ein weiteres Glas und reiche es Ivor, dann tragen Caroline und ich unsere Gläser zum Sofa.
»Prost«, sage ich. »Auf meine gelöste Verlobung und eine Zukunft ohne Liebe.«
»Auf deine Zukunft«, erwidert Caroline tadelnd.
Wir erheben unsere Gläser, schlürfen und zucken leicht zusammen – man schmeckt den Tequila sehr stark heraus. Er macht meine Lippen taub und verströmt Wärme im Magen.
Single. Es ist lange her, dass ich das von mir sagen konnte, und ich habe es noch nicht verinnerlicht. Ich bin irgendetwas anderes, befinde mich in einer Art Schwebezustand. Ich schleiche auf Zehenspitzen durchs Haus, schlafe im Gästezimmer und gehe meinem Ex-Verlobten, seinem brodelnden Zorn und seiner Enttäuschung aus dem Weg. Er hat recht: Das ist es, was ich wollte, also habe ich viel weniger Grund als er, mich aufzuregen.
»Wie läuft euer Zusammenleben?«, fragt Caroline vorsichtig, als hätte sie meine Gedanken erraten.
»Noch spannen wir keinen Stahldraht auf Kopfhöhe zwischen den Türrahmen. Wir gehen uns aus dem Weg. Ich muss mich noch intensiver nach einer neuen Bleibe umschauen. Im Augenblick suche ich jeden Abend nach einem Anlass, das Haus zu verlassen.«
»Wie hat deine Mum es aufgenommen?« Mindy beißt sich auf die Lippe.
Als eine der beiden vorgesehenen Brautjungfern war Mindy ihrer Meinung nach die einzige Person, die ebenso aufgeregt war wie meine Mum.
»Nicht gut«, erwidere ich und beweise damit mein Talent für Untertreibungen.
Es war grauenhaft. Das Telefonat durchlief verschiedene Phasen. Beginnend mit dem Teil: »Lass diese dummen Witze.« Gefolgt von: »Es ist ganz normal, dass du kalte Füße bekommst.« Daraufhin kam der Vorschlag: »Lass ein paar Wochen verstreichen und schau, wie du dich dann fühlst.« Zorn, Nichtwahrhabenwollen, gutes Zureden und schließlich – wie ich hoffe – eine gewisse Akzeptanz. Dad kam an den Apparat und fragte mich, ob ich mir Sorgen wegen der Kosten mache. Sie würden doch alles übernehmen. In diesem Moment begann ich zu weinen.
»Macht es dir was aus, wenn ich danach frage? Du hast uns bisher nicht gesagt, warum …«, sagt Mindy. »Was war das denn für ein Streit, der dazu geführt hat, dass ihr Schluss gemacht habt?«
»Oh …«, erwidere ich. »Es ging um Macclesfield Elvis.«
Es folgt ein kurzes Schweigen. Unser standardisierter Schlagabtausch funktioniert nicht mehr. Da meine seit Urzeiten währende Beziehung erst vor einer Woche in die Brüche gegangen ist, weiß niemand so recht, was jetzt angemessen ist. Es ist wie nach jedem großen tragischen Ereignis: Ab wann darf man Witze darüber per E-Mail verschicken?
»Du hast es mit Macclesfield Elvis getrieben?«, sagt Ivor. »Wie war es, vom King flachgelegt zu werden?«
»Ivor!«, protestiert Mindy.
Ich lache.
»Oh!«, ruft Caroline plötzlich in einer für sie absolut unüblichen Weise.
»Was ist? Hast du dich auf was Spitzes gesetzt?«, fragt Mindy.
»Das habe ich ganz vergessen. Ratet mal, wen ich diese Woche getroffen habe?«
Ich überlege, welche berühmte Persönlichkeit ganz oben auf meiner Liste steht. Vielleicht ist es jemand, über den ich eine Story geschrieben habe. Ansonsten habe ich es den ganzen Tag nur mit Leuten zu tun, die aus den falschen Gründen bekannt werden. Ich bezweifle, dass ein Triebtäter auf der Flucht diese Begeisterung hervorrufen würde.
»Coronation Street oder Manchester United?«, fragt Mindy. Die TV-Serie und die Fußballmannschaft sind die beiden Hauptquellen berühmter Menschen in der Stadt, das ist wahr.
»Weder noch«, erwidert Caroline. »Das ist ein Rätsel für Rachel.«
Ich zucke die Schultern und zerkaue mit den Backenzähnen einen Eiswürfel. »Äh … Darren Day?«
»Nein.«
»Lembit Öpik?«
»Nein.«
»Meinen Dad?«
»Wie sollte ich deinem Dad begegnen?«
»Er könnte aus Sheffield angereist sein, weil er hinter dem Rücken meiner Mum eine Affäre hat.«
»Würde ich daraus ein lustiges Quiz machen?«
»Okay, ich gebe auf.«
Caroline lehnt sich mit einem triumphierenden Gesichtsausdruck zurück. »Englisch-Ben.«
Mir wird gleichzeitig heiß und kalt, als hätte ich mir urplötzlich eine Grippe eingefangen. Direkt nach den Temperaturschwankungen überfällt mich eine leichte Übelkeit. Ja, der Vergleich passt.
Ivor dreht sich zu Caroline um. »Englisch-Ben? Was ist das für ein Spitzname? Im Gegensatz wozu?«
»Hat er irgendwas mit Big Ben zu tun?«, fragt Mindy.
»Englisch-Ben«, wiederholt Caroline. »Rachel weiß, wen ich meine.«
Ich fühle mich wie Alec Guinness in Krieg der Sterne, als Luke Skywalker vor seiner Höhle auftaucht und nach Obi-Wan Kenobi fragt. Diesen Namen habe ich schon seit Ewigkeiten nicht mehr gehört …
»Wo war er?«, frage ich.
»Er war auf dem Weg in die Zentralbibliothek.«
»Wie wäre es, wenn ihr dem alten Zweibein-Ivor sagt, um wen es hier geht?«, wirft Ivor ein.
»Ich könnte mich Hindi-Mindy nennen«, schlägt Mindy vor, und Ivor sieht so aus, als wolle er ihr etwas erklären, überlegt es sich dann jedoch anders.
»Er war ein Freund an der Uni, weißt du nicht mehr?« Ich hebe mein Glas vor den Mund für den Fall, dass meine Miene mehr verrät, als mir lieb ist. »Wir waren im gleichen Kurs. Daher Englisch. Und Ben.«
»Wenn er ein Freund von dir war, warum ist Caroline dann so … zappelig?«, erkundigt sich Mindy.
»Caroline hatte immer etwas für ihn übrig«, erwidere ich und bin froh, dass das die Wahrheit ist, wenn auch nicht die ganze Wahrheit, so wahr mir Gott helfe.
»Ah.« Mindy wirft mir einen abschätzenden Blick zu. »Dann kannst du nicht auf ihn scharf gewesen sein, denn du und Caroline hattet nie den gleichen Geschmack, was Männer betrifft.«
Ich könnte Mindy für diese Bemerkung küssen.
»Richtig«, stimme ich ihr nachdrücklich zu.
»Er sieht immer noch großartig aus«, erklärt Caroline, und mein Magen beginnt zu zucken wie ein Krustentier im China-Restaurant auf dem Weg in den Kochtopf. »Er trug einen schicken Anzug mit Krawatte.«
»Einen Anzug, sagst du? Ein faszinierender Mann«, sagt Ivor. »Was für ein toller Typ. Ich muss unbedingt mehr über ihn erfahren. Oh, warte – nein, lieber doch nicht.«
»Habt ihr jemals …?«, fragt Mindy Caroline. »Ich versuche gerade, ihn einzuordnen.«
»Gütiger Himmel, nein. Ich war ihm nicht glamourös genug. Das waren wir wohl alle nicht, oder, Rach? Er war ein kleiner Frauenheld. Aber trotzdem irgendwie nett.«
»Ja«, kiekse ich.
»Warte! Jetzt erinnere ich mich an Ben! Immer adrett, aufgeweckt und selbstbewusst?«, sagt Mindy. »Wir hielten ihn für reich, aber dann stellte sich heraus, dass er … sich einfach nur wusch.« Sie wirft Ivor einen Blick zu, der sofort anbeißt.
»Oh, das kommt mir irgendwie bekannt vor. Er war ein Angeber.« Ivor stellt seinen Kragen auf. »Sieht hier drin alles tatsächlich richtig gut aus, oder liegt das nur an mir?«
»So war er gar nicht!« Ich lache nervös.
»Hast du den Kontakt zu Ben ganz verloren?«, erkundigt sich Caroline. »Ihr seid keine Facebook-Freunde oder so?«
Der Kontakt ist abgerissen. In der Mitte durchtrennt wie das Band am Ende einer Rennstrecke.
»Nein. Ich meine, ja. Ich habe Ben seit der Uni nicht mehr gesehen.«
Und meine siebenhunderteinundachtzig Google-Suchen haben keine Ergebnisse gebracht.
»Ich habe ihn ein paarmal in der Bibliothek gesehen, aber erst jetzt hat es Klick gemacht, und ich habe kapiert, woher ich ihn kenne. Er lebt wohl in Manchester. Soll ich ihn von dir grüßen, falls ich ihn noch einmal treffe? Ihm deine Telefonnummer geben?«
»Nein!«, rufe ich, und in meiner Stimme klingt unterdrückte Panik durch. Ich habe das Gefühl, dass ich das erklären muss, also füge ich hinzu: »Es könnte so aussehen, als sei ich hinter ihm her.«
»Warum sollte er das denken? Ihr wart doch nur Freunde, oder?« Carolines Einwand klingt vernünftig.
»Ich bin nach so langer Zeit wieder Single. Ich weiß nicht, vielleicht könnte er das falsch verstehen. Und ich bin nicht auf der Suche nach … Ich will nicht, dass es so klingt wie: Meine Freundin ist Single und möchte, dass ich ihre Telefonnummer auf der Straße an Männer verteile«, stoße ich hervor.
»Nun, ich hatte nicht vor, deine Nummer auf eine Karte zu schreiben und sie in ein Telefonhäuschen zu legen«, sagt Caroline verschnupft.
»Ich weiß, ich weiß. Es tut mir leid.« Ich tätschle ihren Arm. »Ich bin nur einfach … total aus der Übung.«
Es folgt eine Pause, und Mindy und Caroline lächeln mich verständnisvoll an.
»Wenn du bereit bist, werde ich dich mit einem heißen Typen verkuppeln.« Mindy legt ihre Hand auf meinen Arm.
»Ach du Schande«, sagt Ivor.
»Was?«
»Wenn ich an die Männer denke, mit denen du dich verabredest, will ich mir gar nicht vorstellen, welche du dann weiterreichst. Mein Gehirn schickt mir dazu folgende Nachricht: Der Server hat Ihre Anfrage verstanden, weigert sich aber, sie auszuführen.«
»In Anbetracht deiner widerlichen Schlampen ist das wirklich lächerlich.«
»Nein, lächerlich war dieser unglaubliche Dummkopf Bruno. Erinnerst du dich an ihn?«
»Ähm, aber er hatte einen hübschen Po.«
»Na bitte«, wirft Caroline ein. »Haben wir dich aufgeheitert? Du strahlst schon deutlich mehr als zuvor.«
»Ja. Radioaktiv wahrscheinlich«, erwidere ich.
»Noch einen Cocktail?«, fragt Caroline.
Ich halte ihr mein Glas hin. »Immer her damit.«
Ich lernte Ben am Ende der ersten Woche an der Universität Manchester kennen. Zuerst glaubte ich, er wäre bereits im zweiten oder dritten Jahr, denn er stand bei einer Gruppe von Älteren, die in der Bar des Studentenwohnheims Tapeziertische aufgestellt hatten. Dort sollten wir unsere Wohnheimausweise bekommen. Tatsächlich war er genauso neu wie ich. Typisch Ben, war er auf die andere Seite der Tische gesprungen und hatte wortreich und großzügig angeboten zu helfen, als er hörte, dass Not am Mann war.
Ich wäre eigentlich noch gar nicht auf den Beinen gewesen, aber mein Kater hatte mich geweckt und mir mitgeteilt, dass er Schwarzen Johannisbeersaft bräuchte. Um neun Uhr morgens war das Gelände, auf dem sich das Studentenwohnheim befand, ebenso menschenleer wie in der Morgendämmerung. Ich schlenderte in der Herbstsonne von dem Laden zurück, leerte dabei die Flasche und entdeckte eine kleine Schlange vor den Doppeltüren der Bar. Als Britin und nervöse Erstsemesterstudentin beschloss ich, mich lieber dazuzustellen.
Als ich vorne angelangt war und vor Bens Tisch eine Lücke auftauchte, ging ich hin.
Seine leicht verwunderte, aber ganz und gar nicht unangenehm berührte Miene schien klar und deutlich zu sagen: »Oh, und wer bist du?«
Das verblüffte mich, zumal der Blick überhaupt nicht anzüglich war. An einem guten Tag (und das war keiner) konnte ich mich meiner Meinung nach durchaus sehen lassen, aber solche Blicke hatte man mir noch nicht oft zugeworfen. Es war beinahe so, als hätte jemand den Einsatz für die Musik gegeben, mein Haar aufgelockert, mich von oben beleuchtet und gerufen: »Achtung, Aufnahme!«
Ben war überhaupt nicht mein Typ. Ein bisschen zu dünn, zu augenfällig mit diesem braunen Rehblick und dem kantigen Kinn, ein bisschen spießig, wie Rhys sagen würde. (Er war vor kurzem in mein Leben getreten und hatte seine klar umrissene Weltanschauung mitgebracht, die ich nach und nach übernahm.) Ben trug Sportklamotten, und soweit ich aus der oberen Körperhälfte schließen konnte, trieb er darin tatsächlich Sport. Für mich als Achtzehnjährige mussten attraktive Männer Leadgitarre spielen, nicht Fußball. Sie waren abgerissen und finster, hatten Bartstoppeln und – das war ein neuer Zusatz nach entsprechender Feldstudie – Brusthaare, in denen sich eine Wüstenrennmaus verstecken konnte. Trotzdem war ich aufgeschlossen genug, um anzuerkennen, dass Ben dem Typ vieler Mädchen entsprach, und deshalb schmeichelte mir seine Aufmerksamkeit. Die erdrückenden Wolken meines Katers lösten sich langsam auf.
Ben sagte: »Hallo.«
»Hallo.«
Ein kurzer Moment verstrich, bevor wir uns daran erinnerten, warum wir hier waren.
»Name?«, fragte Ben.
»Rachel Woodford.«
»Woodford … W …« Er begann, einige Schachteln mit Karten zu durchforsten. »Hier haben wir es.«
Er zog eine rechteckige Karte aus Pappe hervor, auf der der Name unseres Studentenwohnheims stand. Daran war ein Foto befestigt. Ich hatte ganz vergessen, dass ich eine Handvoll wenig schmeichelhafter Passfotos aus einem Fotoautomaten im Einkaufszentrum eingeschickt hatte. Aufgenommen an einem wirklich miesen Tag in Meadowhall, kurz vor meiner Periode. Mein Gesicht sah aus, als wäre ich bei meiner eigenen Autopsie aufgewacht. Ich hätte wissen müssen, dass mich diese Bilder heimsuchen würden.
»Lach nicht über das Bild«, sagte ich hastig, was nicht gerade zielführend war.
Ben warf einen Blick darauf. »Da habe ich heute schon Schlimmeres gesehen.« Er spannte meine Karte in die Maschine ein, zog dann die in Plastik eingeschweißte Ausgabe heraus und betrachtete sie noch einmal.
»Ich weiß, das Bild ist grausig«, sagte ich und streckte die Hand aus. »Ich sehe aus, als würde ich eine Drachenfrucht herauspressen.«
»Ich weiß nicht, was eine Drachenfrucht ist. Wahrscheinlich eine Frucht, nehm ich an.«
»Sie ist stachelig.«
»Ah, okay. Ich verstehe. Das sticht dann wohl ein wenig.«
Na, das war ja super gelaufen. Verführungsregel Nr. 101: Bring den attraktiven jungen Mann dazu, sich vorzustellen, wie du dich auf der Toilette abplagst.
Das stammte geradewegs aus dem Katalog meiner besten Werke. Rachel ganz unverfälscht. Das Beste von Rachel. Einfach nur Rachel. Wenn ich unter Zugzwang stehe, verhält sich der für die Sprache zuständige Bereich meines Gehirns so unberechenbar wie ein einarmiger Bandit. Ich werfe das Ding an und warte gespannt, bis eine x-beliebige Wortkombination hervorsprudelt.
Ben grinste mich an und begann dann zu lachen. Ich erwiderte sein Lächeln.
Er hielt den Ausweis außerhalb meiner Reichweite in der Hand. »Studierst du auch Englisch?«
»Ja.«
»Ich auch. Ich habe keine Ahnung, wo ich morgen hinmuss. Weißt du es?«
Wir verabredeten, dass er mich am nächsten Morgen vor meinem Zimmer abholen würde, damit wir gemeinsam den Block für Geisteswissenschaften erkunden konnten. Er zog einen Stift hervor, und ich kritzelte meine Zimmernummer auf einen feuchten Bierdeckel, den Gegenstand, der am schnellsten zur Hand war. Ich wünschte, ich hätte mir am Abend zuvor nicht jeden Fingernagel in einer anderen Farbe lackiert. Bei Tageslicht sah das ziemlich albern aus. Ich malte feinsäuberlich »Rachel« in Großbuchstaben darunter, als würde ich in der Grundschule ein Schildchen für den Kleiderhaken beschriften.
»Was das Foto betrifft«, sagte er, während er den Bierdeckel entgegennahm. »Du siehst gut aus, aber beim nächsten Mal solltest du den Sitz höher stellen. So erinnert es ein wenig an den kleinen Komiker Ronnie Corbett.«
Ich holte den Ausweis noch einmal hervor und betrachtete ihn. Über meinem strubbeligen Kopf befand sich mindestens ein Meter weiße Fläche.
Ich errötete und begann zu lachen.
»Du musst ihn drehen«, formte Ben mit den Lippen und schraubte einen imaginären Hocker nach oben.
Meine Röte vertiefte sich, und ich lachte lauter.
»Ich heiße Ben. Wir sehen uns dann morgen.«
Wie ein Verkehrspolizist winkte mich Ben mit einer Hand weiter, während er mit der anderen die nächste Person gespielt gebieterisch aufforderte, zu ihm vorzutreten.
Als ich einen Bogen um den Rest der Schlange machte, fragte ich mich, ob das wortgewandte Mädchen im Zimmer neben meinem zu vornehm war, um sich gemeinsam mit mir ein bodenständiges Frühstück zu gönnen. Aus einem Impuls heraus drehte ich mich um und warf einen Blick auf Ben. Er schaute mir nach.