Firefly Creek

Lilian Kaliner

FIREFLY CREEK

Das Glück findet dich

Roman

Roman

FISCHER E-Books

Inhalt

Über Lilian Kaliner

Lilian Kaliner (*1984) lebt mit ihrem Mann, zwei Kindern, einem Hund und vielen Hühnern in einem kleinen Örtchen in der Nähe von Freiburg. Mit ihrem heutigen Mann reiste sie in einem uralten Campingbus durch Australien. Sie haben bei knapp vierzig Grad Kirschen gepflückt, um die Reise zu finanzieren, haben an einsamen Stränden übernachtet, sind in Tasmanien von der Kälte überrascht worden – und haben kurz danach geheiratet. Als ihr die Idee zu einer Romanreihe mit einer turbulenten Großfamilie kam, war klar, dass sie in Australien spielen würde.

 

 

Weitere Informationen finden Sie unter www.fischerverlage.de

Impressum

Originalausgabe

Erschienen bei FISCHER E-Books

 

© 2021 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main

 

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München unter Verwendung von Getty Images und Shutterstock

 

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

ISBN 978-3-10-491331-5

Lass dich niemals einschränken,
sondern folge stets deinem Herzen!

32 Jahre zuvor

Das fahle Licht des aufkommenden Morgens drang durch die dunkelgrünen Vorhänge. Harry sah blinzelnd Charlotte an, die ihr Nachthemd zuknöpfte und dann behutsam das Baby hochnahm. Einen Augenblick lang betrachtete sie es mit einem verträumten Lächeln auf den Lippen, dann legte sie den Säugling in der Wiege neben dem Bett ab. Gähnend sank sie zurück aufs Kissen und drehte sich auf die Seite. Als sie Harry anblickte, erschien es ihm, als würden ihre Augen lachen. »Hast du mich beobachtet?«, flüsterte sie und rutschte an ihn heran. Sie legte ihren Kopf auf seine Brust, und Harry fuhr mit den Fingern durch ihre langen dunkelblonden Haare.

»Es gibt keinen schöneren Anblick«, brummte er.

»Jim ist das hübscheste Baby, das es gibt.« Sie fuhr mit ihrer Hand über seinen Hals und ließ sie schließlich auf Harrys Oberarm ruhen. »Auch wenn ich seine Mutter bin, stimmt es dennoch.«

Harry brummelte amüsiert und legte seine Wange an ihre Haare. »Das hast du auch schon bei unseren letzten beiden Babys gesagt.«

»Wir machen wohl einfach schöne Kinder.« Ihr sanftes Lachen kitzelte in seinen Ohren. Charlotte stützte sich auf die Ellbogen und sah ihn an. »Wir brauchen noch ein kleines Mädchen«, sagte sie mit Nachdruck.

»Ach was, unser Jim ist ein Sonnenschein und immer gut gelaunt. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob er wirklich schreien kann«, hielt sie dagegen.

Harry musste ihr zustimmen. Nach John, der die ersten Monate quasi durchgebrüllt hatte, und Samuel, der kaum ein Jahr später in der Wiege gelegen und nur selten mal geschlafen hatte, war dieses Neugeborene eine wahre Wohltat. »Ich glaube nicht, dass ich mehr als drei Kinder verkrafte«, sagte Harry leise. »Egal wie still der Bursche jetzt noch ist, in ihm steckt ein Bennett. Eines Tages wird er es zeigen.«

»Die meiste Arbeit mit den Jungs habe ja ich. Und ein weiteres Baby traue ich mir noch zu.« Charlotte bedachte ihn mit einem frechen Grinsen.

»Ich weiß nicht, wie du es schaffst, mit drei Söhnen so entspannt zu sein.« Mit einem Arm zog er sie an sich und küsste sie. Charlotte schloss die Augen, und Harry spürte, wie sehr sie den Kuss genoss. Dann richtete sie sich wieder auf. »Willst du etwa kein kleines Mädchen?«, fragte sie nach und zog eine Schnute.

Dieser Blick. Harry konnte Charlottes himmelblauen Augen nur selten widerstehen. Und tatsächlich hatte er dieses Mal selbst auf eine Tochter gehofft, auch wenn er es nicht ausgesprochen hatte. »Es könnte wieder ein Junge werden«, gab er zu bedenken.

»Nächstes Mal wird es ein Mädchen, das habe ich im Gefühl. Ganz sicher.«

»Lass uns ein oder zwei Jahre abwarten, und dann sprechen wir noch mal darüber«, schlug er vor.

»Ich werde dich daran erinnern«, flüsterte Charlotte, setzte sich auf und half den beiden kleinen Jungen auf die Matratze.

Harry schob Johns Fuß aus seinem Gesicht und zog den kleinen Samuel zu sich unter die Decke. Es war kurz nach fünf, und sicherlich hatten die Racker nicht vor, noch einmal einzuschlafen. Gähnend wuschelte er durch Johns dunkle Haare. Seit vier Jahren hatten Charlotte und er keine Nacht durchgeschlafen. John und Samuel strotzten nur so vor Energie und gönnten ihren Eltern selten eine Verschnaufpause. Ein Lächeln umspielte Harrys Mundwinkel. Das hier war die beste Zeit seines Lebens, da war er sich sicher.

Kats Fingerspitzen fuhren andächtig über das glatte, kalte Metall des Untersuchungstischs. Erneut sah sie sich in dem in die Jahre gekommenen Raum um. Einrichtung und Geräte waren veraltet, aber sie würden ihren Zweck erfüllen. Allerdings musste das Chaos, das Doc Harlow ihr hier hinterlassen hatte, dringend beseitigt werden. Nach ihrer Ankunft am gestrigen Abend hatte sie versucht, dessen Sortierung der Medikamente zu verstehen, doch das Ablageprinzip ergab keinerlei Sinn. Vermutlich hatte der Doc die Ampullen, Schachteln und Spritzen einfach dort verstaut, wo noch Platz war. Kat öffnete den Aktenschrank und betrachtete die vergilbten Patientenordner. Hier war natürlich auch nichts elektronisch erfasst worden.

»Ms. Roberts, wir können jetzt die Verträge unterschreiben.« Die Stimme des alten Tierarztes riss sie aus ihren Gedanken. Er stand in der Tür und beobachtete sie mit nachdenklichem Blick.

Kat ahnte, wie schwer es ihm fiel, sein Lebenswerk zu übergeben. Was für Kat dringend erneuerungsbedürftig erschien, war für Doc Harlow der Mittelpunkt seines Lebens gewesen. Und ab jetzt sollte es ihrer sein. Mit einem lauten Knall schob sie die Schublade in den Schrank zurück und nickte ihm zu. »Ich komme gleich.«

Doc Harlow unterhielt sich angeregt mit einem Mann, der einen Stapel Papiere in der Hand hielt. Als sie auf die beiden zutrat, streckte der Fremde ihr eine Hand entgegen. »Ethan Bennett, Sie müssen Katherine Roberts sein.«

Angespannt griff sie nach seiner Hand und musterte den großen, Mann in der dunklen Jeans und dem perfekt gebügelten Hemd. Wenn Ethan Bennetts Arbeit nur halb so akkurat war wie sein Haarschnitt, dann würde Kat in wenigen Minuten ihre eigene Praxis besitzen.

»Der Doc hat mir die Einzelheiten der Übernahme beschrieben, die Sie beide abgesprochen haben. Die notwendigen Unterlagen haben Sie mir ja vorab zugeschickt. Alle Punkte, die Sie und der Doc ausgehandelt haben, sind hier aufgeführt.« Er überreichte ihr mehrere Blätter. »Bitte lesen Sie alles gründlich durch. Sollte etwas nicht stimmen, können wir es direkt abändern. Ich sende es dann heute noch zur Beglaubigung an den Notar.«

Kat bemühte sich, das Zittern ihrer Hände nicht zu zeigen, und nahm auf einem der abgewetzten Stühle Platz, die entlang der Wand aufgereiht standen. Zeile für Zeile las sie das Dokument durch, das sie zur niedergelassenen Tierärztin von Firefly Creek machen sollte. »Es ist alles richtig so«, sagte sie erleichtert.

»Dann dürfen Sie jetzt unterschreiben.« Ethan Bennett lächelte charmant und reichte ihr einen Kugelschreiber.

Entschlossen setzte sie ihren Namen unter den Vertrag und gab ihn dann an Doc Harlow weiter.

Dieser zog langsam eine Lesebrille aus der Brusttasche

»Ich gratuliere dir zum Ruhestand, Doc«, sagte Ethan Bennett, schlug dem alten Tierarzt freundschaftlich auf die Schulter und sah dann Kat an. »Und Ihnen zur neuen Praxis.«

Erleichtert atmete Kat durch. »Nachdem das geschafft ist, nenne mich doch bitte Kat«, antwortete sie und nahm ihre Ausfertigung des Vertrags von Ethan entgegen.

»Gerne. Ich schätze, wir werden uns in Zukunft öfter sehen.« Mit einem Zwinkern steckte er den Kugelschreiber ein und ging zur Tür. Das Glöckchen darüber klingelte, als sie hinter ihm zufiel.

Kat sah ihm grübelnd nach. »Hat er einen Hund oder eine Katze?«, fragte sie den Doc. Sie machte sich einen Spaß daraus zu erraten, welches Haustier die Menschen, die ihr begegneten, besaßen. Doch Ethan hatte weder Haare an der Hose gehabt, die ihr etwas hätten verraten können, noch sah er überhaupt danach aus, als ob er ein Tierliebhaber wäre. Und Kat lag selten falsch mit ihrer Intuition.

»Weder noch.«

»Aber Ethan meinte doch, wir würden uns jetzt öfter sehen?«, überlegte sie laut.

»Seine Familie besitzt eine Rinderfarm, die Sie von nun an betreuen werden«, löste Doc Harlow das Rätsel auf. »Um genau zu sein, liegt Silverwood auf der Runde, die wir heute gemeinsam abfahren werden.«

Kat war dankbar, dass der Doc vorgeschlagen hatte, sie auf den größeren Farmen als seine Nachfolgerin

»Am besten sofort«, schlug Doc Harlow vor und spielte schon wieder an seinem Hörgerät herum, das, wie sie inzwischen wusste, ab und an Aussetzer hatte. Kat war beeindruckt von dem alten Mann, der mit siebzig Jahren noch weit über fünfzig Stunden in der Woche gearbeitet hatte. Sie verstand dessen Leidenschaft für den Beruf nur zu gut. Zwar waren die Bewegungen des alten Mannes ein wenig langsam, doch in ihren Gesprächen zur Praxisübernahme war er Kat sehr kompetent erschienen. Doc Harlow fuhr sich über die beinahe weißen Haare, die sich um die beginnende Halbglatze gruppierten. Als er sich die Jacke anzog, ging Kat zum Anmeldetresen, schlüpfte aus ihren Turnschuhen und stieg in die festen Lederstiefel, die dahinterstanden. Dann nahm sie ihre Tasche mit den Instrumenten und Medikamenten von der Tischplatte. »Bereit für Ihre letzte Runde?«, fragte sie mitfühlend.

»Wohl oder übel.« Doc Harlow nickte und hielt ihr die Tür auf.

 

Drei Farmen hatten sie nun schon besucht, einige Routineuntersuchungen an Schafen gemeinsam durchgeführt und mehrere Zuchtbullen begutachtet. Der Doc hatte sie bei

»Machen Sie sich nichts draus, Sie werden Richard mit Ihrer Arbeit früher oder später sicherlich überzeugen.« Offensichtlich hatte der Doc ihre Gedanken erraten.

»Ob es ihm passt oder nicht, er wird mit mir vorliebnehmen müssen.«

»Das ist die richtige Einstellung«, stimmte der Doc ihr zu.

»Und wohin geht es jetzt?« Kat ließ ihren Blick über die weitläufige Landschaft schweifen. Wie endlos der Himmel hier draußen erschien. Am Horizont waren dicke dunkle Wolken zu erkennen. In Südaustralien hatte mit dem Juni der Winter begonnen, und sie war froh, in der etwas ruhigeren Jahreszeit ihre neue Tätigkeit aufzunehmen. Das bot ihr die Gelegenheit, die Praxis umzustrukturieren und die Akten zu digitalisieren, bevor sie im Frühjahr deutlich mehr zu tun bekäme.

»Und hier kommen wir nach Silverwood.«

Die Farm von Ethans Familie also. Noch immer fiel es ihr schwer, sich den elegant gekleideten Mann auf einer Rinderfarm vorzustellen. Aber sie selbst entsprach ebenfalls nicht der geläufigen Vorstellung einer typischen Landtierärztin, wie man sie schon öfter hatte spüren lassen.

»Das dürfte Sie interessieren: Silverwood hat kürzlich auf biologische Rinderhaltung umgestellt«, sagte Doc Harlow.

Der Doc gab ein zustimmendes Brummen von sich. »Das hat ganz schön für Gelächter bei den anderen Farmern gesorgt.« Der alte Mann lachte auf. »Aber Harry hat schon immer für eine Menge Gesprächsstoff gesorgt.«

»Harry?«

»Harry Bennett, der Vater von Ethan.« Der Doc legte einen anderen Gang ein, und der Wagen rumpelte schneller über die unebene Straße. »Anscheinend war die Sache mit dem Bio-Fleisch Ethans Idee.« Er sah zu ihr hinüber. »Der Junge ist ein ganz cleverer Kopf, wenn Sie mich fragen. Hat lange Zeit in Sydney Karriere gemacht, bis er vor ein paar Monaten nach Silverwood zurückgekehrt ist. Jetzt berät er Farmer und Selbständige. Kümmert sich um alles, was mit Finanzen zu tun hat. Deshalb habe ich ihn auch bei dem Übergabevertrag um Hilfe gebeten. Wenn Sie je einen Kredit brauchen, um neue Ausstattung zu kaufen, dann wenden Sie sich an Ethan. Er vermittelt Ihnen einen Kredit zu den besten Konditionen.«

Kat unterdrückte einen Seufzer. Tatsächlich würde sie sich wohl oder übel mit dem Gedanken anfreunden müssen, sich weiteres Geld zu beschaffen, wenn sie die Praxis jemals auf einen modernen Standard bringen wollte. »Danke für den Tipp. Es ist immer gut, in diesem Bereich jemand Vertrauenswürdiges zu kennen.«

»Es gibt mehrere Söhne?« Die Ausführungen des Docs weckten Kats Interesse.

»Einen ganzen Stall voll, und Harry hat sie größtenteils alleine aufgezogen, nachdem seine erste Frau gestorben und die zweite über Nacht verschwunden ist.« Der alte Mann schüttelte den Kopf und fuhr bedenklich nahe an den Straßenrand, ehe er das Steuer herumriss. »Ich sage ja: Die Bennetts haben schon immer für Gesprächsstoff gesorgt.« Er lachte dröhnend.

Der alte verbeulte Pick-up mit dem Praxislogo an der Seite, den Kat ebenfalls übernommen hatte, bog auf eine Schotterstraße ein. Ab morgen würde sie hinter dem Steuer sitzen, doch heute genoss Kat es, die neue Umgebung auf sich wirken zu lassen, während der Tierarzt sie durch die Gemeinde chauffierte. Der Weg führte an mehreren Weiden entlang, und ihr geschulter Blick nahm den erstklassigen Zustand der Rinder wahr. Schließlich kam am Ende der Straße ein großes rotes Backsteinhaus in Sicht. Es wirkte romantisch, von Eukalyptusbäumen eingerahmt und mit Efeu bewachsen. Der Doc parkte den Wagen auf dem großen Parkplatz davor, dann kramte er in seiner Tasche und reichte ihr eine dünne Akte mit der Aufschrift Fred Bennett. Kat schlug die Mappe auf und überflog die wenigen Eintragungen. Ein junger Cattledog, dessen nächste Impfung fällig war. Ein Hund mit diesem Namen war ihr bisher nicht untergekommen. Amüsiert stieg Kat aus.

Von der Scheune neben dem Haus kam ein ernst

»Das ist Ms. Roberts, die neue Tierärztin«, stellte er sie erneut vor.

»John Bennett«, gab der großgewachsene Farmer kurz angebunden zurück, nahm den Lederhut ab und wendete sich dann wieder ihrem Vorgänger zu. »Ich habe Quentin angefunkt, als ich deinen Wagen gesehen habe. Er ist mit Fred hinten bei den Schafen und kommt gleich.«

Kaum hatte er den Satz beendet, vernahm Kat ein näherkommendes Motorengeräusch. Suchend sah sie sich um und entdeckte ein Geländemotorrad, das sich in beeindruckender Geschwindigkeit über einen schmalen Wirtschaftsweg näherte, gefolgt von einer dicken Staubwolke. Grollend donnerte das Bike auf die Gruppe zu und hielt wenige Meter vor ihnen abrupt an. Kat beobachtete überrascht, wie ein Cattledog fröhlich bellend vom Schoß des Mannes sprang, der das Motorrad fuhr. Intuitiv beugte sie sich ein wenig hinunter und streckte ihre Hand aus, damit der Hund ihren Geruch aufnehmen konnte. Schnuppernd umrundete er die Gruppe.

»Macht Fred sich gut?«, wollte der Doc wissen.

Als der Fahrer den Helm abzog, kam ein junger Kerl mit wilden Locken und Sommersprossen auf den Wangen zum Vorschein. Kat schätzte ihn auf Mitte zwanzig, während die schmalen Furchen auf Johns Stirn und die ersten grauen Haare an seinen Schläfen ihn etwa zehn Jahre älter wirken ließen. Damit kannte sie nun drei der Bennett-Brüder, stellte Kat fest, wobei ihr auffiel, dass sie zwar alle ausgesprochen gut, aber dennoch recht unterschiedlich aussahen. Während Ethan blond und blauäugig war, hatten seine Brüder dunkelbraune Haare und Augen.

»Er versucht sogar, die Rinder einzukreisen«, brummte John Bennett.

»Aber er ist schnell genug, um abzuhauen, wenn sie genug davon haben«, sagte sein jüngerer Bruder. Dann blickte er Kat an. »Ich bin Quentin – und du wohl die neue Tierärztin?«

»Genau, Kat.« Erleichtert über seine freundliche Art, lächelte sie ihm zu. »Und Fred bekommt gleich eine Impfung, wenn ich richtig informiert bin.«

»Dann lasse ich euch mal machen und gehe wieder an die Arbeit. Doc, du kommst morgen wie besprochen, um Buster die Zähne abzuschleifen?« Fragend sah John ihn an.

Abwehrend hob der alte Mann die Hände. »Diesen Satansbraten übergebe ich mit Freude an Ms. Roberts.«

Mit zusammengezogenen Augenbrauen sah John Kat an. »Na dann. Wann passt es Ihnen morgen?«

John Bennett hatte im Gegensatz zu seinen Brüdern entschieden, sie zu siezen, und Kat hatte Mühe, angesichts seiner steifen Art ein Schmunzeln zu unterdrücken. Nur schwer brachte sie in ihren Gedanken Ethan mit seinem gepflegten Auftreten und diesen ruppigen John, der in verfleckter Jeans und einem schlichten schwarzen Shirt vor ihr stand, als Brüder zusammen. Sie kam wieder auf seine Frage zurück. Ganz offensichtlich handelte es sich hier um ein Pferd. »Bedeutet Satansbraten, wir können es nur mit einer Beruhigungsspritze machen?«, hakte sie nach.

John nickte und sah sie starr an. Unter dem Dreitagebart

»Dann komme ich als Erstes morgen früh hierher, und Sie sorgen dafür, dass er nüchtern ist.«

John nickte, setzte den Hut auf und stapfte zurück in Richtung der Scheune.

»Und jetzt bist du dran, kleiner Fred«, flötete Kat fröhlich und kniete sich auf den Boden. Der Hund stupste sie mit der Nase an und schnupperte vorwitzig in die Tasche hinein, als Kat die Spritze und das kleine Glasfläschchen mit dem Impfstoff herausnahm. Rasch schätzte sie Freds Gewicht und zog die Spritze auf. Quentin kniete sich neben sie hin, hielt den Hund am Halsband fest und lenkte ihn ab, während Kat die passende Stelle an Freds Hinterteil suchte und zielsicher die Nadel ansetzte. Kurz zuckte der drahtige Körper zusammen, dann leckte Fred ihr fiepend über das Gesicht. Kat gluckste, strich ihm über das kurze Fell und stand auf. »Diesen Patienten habe ich jetzt schon ins Herz geschlossen«, verkündete sie begeistert.

»Ist dein Vater im Haus?«, hörte Kat den Doc fragen.

»Müsste im Büro sitzen«, sagte Quentin und schwang sich auf das Motorrad. Er pfiff, und Fred machte einen Satz und sprang zu ihm hinauf.

»Dann stelle ich Ihnen jetzt noch Harry Bennett vor.« Der Doc spielte einmal mehr genervt an seinem Hörgerät herum.

Kat folgte ihm neugierig auf dem schmalen Weg entlang dem Haus zu einer Seitentür. Als sie eintrat, fand sie sich in einer großen Küche wieder.

»Hallo?«, rief Doc Harlow ungeduldig in den Flur hinein, und kurz darauf waren Schritte auf der Treppe zu hören.

Eine Frau mit blondem Bob trat in die Küche. Eine Hand

»So ist es. Kat Roberts«, erklärte Kat heute zum gefühlt hundertsten Mal.

»Und das ist Liz Bennett, die Lebensgefährtin von Ethan«, stellte der Doc ihr die hübsche Frau vor.

»Ethan hat mir schon von dir erzählt. Möchtet ihr was trinken?« Fragend sah Liz von einem zum anderen.

»Gerne ein Wasser«, bat Kat. Ausgerechnet heute hatte sie ihre Wasserflasche vergessen, und bisher war ihr auf keiner Farm etwas zu trinken angeboten worden. Inzwischen war es Nachmittag, und außer einem Müsliriegel hatte sie seit dem Frühstück nichts zu sich genommen.

»Und du möchtest sicher wie immer einen Kaffee.« Verschwörerisch zwinkerte Liz dem Doc zu und deutete auf eine Thermoskanne auf dem Tisch. Dann ging sie zum Kühlschrank und nahm eine Flasche heraus.

»Wann ist es denn so weit?«, erkundigte sich Kat, während Liz ihr ein Glas eingoss.

»Nicht mehr lange, Mitte Juli ist der errechnete Geburtstermin. Aber die letzten Wochen sind ja immer die beschwerlichsten. So langsam glaube ich, dieses Baby wird nie geboren.« Hell lachte Liz auf und tätschelte ihren Bauch.

»Früher oder später kommen sie alle raus«, brummte der Doc und sah ungeduldig in den Flur. »Harry!«, rief er durch die Tür.

Endlich hörte sie schwere Schritte im Gang. Kat nahm das

Liz stellte sie vor.

»Freut mich, Sie kennenzulernen, Mr. Bennett«, sagte Kat und streckte ihm eine Hand entgegen.

Mit dem gleichen Blick wie zuvor John musterte Harry Bennett sie und zog eine Hand aus der Hosentasche. Sein Händedruck war kräftig, und Kat bemühte sich, ihn fest zu erwidern.

»Bei Mr. Bennett muss ich an meinen Vater denken, nennen Sie mich Harry«, brummte er unter seinem grauen Schnauzbart und wandte sich dem Doc zu: »Hast du einen Moment Zeit?«

»Ich komme gleich wieder. Sehen Sie sich doch etwas um«, sagte Doc Harlow zu Kat, dann folgte er Harry Bennett aus dem Raum.

»Die beiden trinken einen Whisky zusammen und reden über alte Zeiten«, klärte Liz sie auf.

»Das bedeutet, an dem Tag, an dem Harry mir auch einen Drink anbietet, bin ich hier akzeptiert?«, fragte Kat grinsend nach.

»Das nehme ich an.« Liz beugte sich zum Backofen hinunter und öffnete die Klappe. Sie griff nach einem Geschirrtuch und nahm einen dampfenden Kuchen heraus. »Wenn der Apfelkuchen etwas abgekühlt ist, packe ich dir ein Stück ein. Ich nehme an, der erste Tag ist hart?« Sie warf ihr einen mitfühlenden Blick zu.

Kat nickte. »Es ist ein Wechselbad der Gefühle. Ein Stück Kuchen für heute Abend klingt wunderbar.«

»Komme gleich!«, schallte es zurück.

Kat leerte ihr Glas in einem Zug und stellte es in die Spüle. »Danke für die Gastfreundschaft.«

»Jederzeit. Wenn du herkommst und keinen siehst, dann geh einfach ins Haus und ruf. Irgendeiner ist immer da«, sagte Liz.

Wie wohl Kat sich hier fühlte, im Gegensatz zu den anderen Farmen, auf denen sie kritisch beäugt worden war. Dieser Raum mit den alten Holzdielen und dem großen Esstisch hatte etwas Gemütliches. Das Haus strahlte den Charme längst vergangener Zeiten aus, und beim Duft des Kuchens lief ihr das Wasser im Mund zusammen.

»Was gibt’s?«, fragte eine tiefe, warme Stimme hinter ihr.

***

Jims Blick fiel auf leuchtende dunkelrote Haare. Erstaunt betrachtete er die Frau, die bei seiner Schwägerin in der Küche stand. Als sie sich umdrehte, wirkte auch sie überrascht, zumindest glaubte er zu bemerken, wie sich ihre Augen weiteten.

»Jim, das ist Kat Roberts, die neue Tierärztin. Kannst du sie etwas über die Farm führen? Dein Vater ist mit dem Doc

»Natürlich.« Jim bedeutete der Tierärztin, ihm zu folgen, und trat hinaus auf den Hof. »Was willst du sehen?«, fragte er.

»Was gibt es denn zu sehen?«, gab sie die Frage zurück. Ihre graugrünen Augen strahlten ihn an, und Jim wandte verlegen den Blick ab. »Wir haben da tatsächlich ein Problem«, sagte er und zeigte an der Scheune vorbei zu einer kleinen Weide.

»Na dann.« Mit schnellen Schritten lief sie los.

Jim musste einen kleinen Sprint einlegen, um sie einzuholen. Wie konnte eine so kleine Frau derart schnell gehen? Unauffällig sah er zu ihr hinüber. Kats rotgefärbte offene Haare hatten bei Tageslicht beinahe einen Lilastich. Über ihrer Jeans trug sie eine braune Lederjacke. Links in ihrer Unterlippe war ein Piercing zu erkennen. Ein silberner Ring, der sich durch die sanft geschwungene Lippe bohrte. Jim fand es merkwürdig, solch einen schönen Mund derart zu verschandeln. Und das sollte tatsächlich die neue Landtierärztin von Firefly Creek sein? War sie dazu nicht viel zu zierlich? Jim versuchte, sich vorzustellen, wie diese schmale Person einen Bullen untersuchte oder ein Kalb, das stecken geblieben war, auf die Welt brachte. Man brauchte eine Menge Kraft für den Job.

»Also, was haben wir hier?« Kat lehnte sich gegen den Zaun und musterte die Kühe. »Sind die hoch trächtig? Um diese Jahreszeit?« Die Verwunderung in ihrer Stimme war nicht zu überhören.

Jim nahm den Hut vom Kopf und fuhr sich durch die dunkelbraunen Haare. »Einer unserer Zuchtbullen hat im

»Allerdings.« Schmunzelnd hob Kat einen Finger und zählte lautlos. »Gleich dreiundzwanzig Kühe, das ist beeindruckend«, sagte sie.

»Eigentlich wollten wir die Kühe erst in der nächsten Saison zur Zucht einsetzen, daher waren sie noch nicht gedeckt, als der Bulle es zu ihnen geschafft hat. Die Kälber müssten in ein paar Wochen kommen, wenn es nachts schon empfindlich frisch werden kann, und wenn wir Pech haben, kommt starker Regen hinzu. Für Rinder haben wir keinen Stall vorgesehen, und ich mache mir über die Jungtiere Gedanken.«

»Es ist ungewöhnlich, aber es wird schon gehen. In anderen Ländern kalben Kühe häufig noch bei Schnee im Frühjahr. Ich denke, da machst du dir als Australier, der keine richtige Kälte kennt, zu viele Sorgen. Der Regen ist eher das, was mich beunruhigt, auch wenn das in dieser Region selten vorkommt.« Stirnrunzelnd sah Kat in den bewölkten Himmel. »Könnt ihr nicht zur Sicherheit irgendwo einen mobilen Unterstand ausleihen, bis die Kälber gut durch die erste Zeit gekommen sind?«

Seufzend setzte Jim sich den Hut wieder auf. »Das haben wir schon überlegt. Auf der High Valley Farm haben sie sicher einen.«

Kat kniff die Augen zusammen. »Das ist die Farm von Richard Smith, oder? Ich war heute Morgen dort.«

»Genau. Harry weigert sich, Geschäfte mit Smith zu machen, und hat es uns untersagt, dort um Hilfe zu bitten.«

Kat lachte. »Dein Vater hat eine gute Menschenkenntnis, würde ich sagen.«

»Erinnere mich nicht daran.« Sie stellte genervt einen Fuß auf die unterste Holzlatte. »Ganz offensichtlich ist er mit mir als Nachfolgerin für die Praxis nicht sonderlich einverstanden. Jedenfalls hat er sich keine Mühe gegeben, seine Abneigung mir gegenüber zu verhehlen«, sagte Kat.

Das wunderte Jim nicht. Wenn schon er Schwierigkeiten damit hatte, sich diese Frau als Landtierärztin vorzustellen, was würde dann ein arroganter, aufgeblasener und rückständiger Großgrundbesitzer wie Richard Smith von einer Frau wie Kat denken? »Richard Smith wird keine andere Wahl haben, als deine Dienste in Anspruch zu nehmen. Wir haben hier in einem Umkreis von über hundertfünfzig Kilometern keinen anderen Veterinär. Sicherlich will er sich gern die Fahrtkosten sparen, um einen Kollegen von dir hierher einzubestellen.«

»Ich weiß. Das habe ich alles recherchiert, bevor ich Doc Harlow ein Angebot für die Praxis gemacht habe.« Sie zwinkerte ihm zu. »Was die Kälber angeht, werde ich mir was überlegen. Etwas Zeit haben wir ja zum Glück noch, um diesen Schlamassel zu lösen.« Ausgelassen lachte Kat und sah ihn dann auf eine Art an, die Jim verlegen machte. Sie kräuselte die schmale Nase und schien ihn genau zu betrachten. »Ihr seid hier eine Menge Brüder, welcher bist du?«, fragte sie unvermittelt.

»Was meinst du?«, hakte er nach. Kat kannte doch seinen Namen.

Sie stützte sich mit einem Arm auf den Zaun und legte ihren Kopf gegen die Hand. »Ich habe jetzt den Schönling,

Schallend lachte er auf und schüttelte den Kopf. Ihre forsche Art brachte ihn aus dem Konzept, aber Kats Bezeichnungen für seine Brüder trafen den Nagel auf den Kopf. »Steckst du alle Menschen so schnell in Schubladen?«, wollte er wissen.

»Das machen die Leute für gewöhnlich auch mit mir, daher nehme ich mir diese Freiheit heraus.«

Erwischt. Hatte er sich nicht ebenfalls gerade erst eine vorschnelle Meinung über Kat gebildet? »Dann lass mich mal überlegen.« Einen Augenblick lang dachte Jim nach. »Ich nehme an, die anderen würden mich als den Ruhigen beschreiben.«

Kat schob das Kinn vor und ließ ein wenig beeindrucktes »Hmmm« hören.

»Bist du jetzt etwa enttäuscht?« Zischend stieß er Luft durch die Schneidezähne aus.

»Der Ruhige klingt jetzt ehrlich gesagt etwas langweilig«, sagte sie und zuckte mit den Schultern.

»Den Schönling hast du ja bereits vergeben und außerdem, wie heißt es doch so schön: Stille Wasser sind tief.«

»Touché«, antwortete sie grinsend. »Ich nehme an, stille Wasser sind nicht so ganz mein Ding, schäumende Gischt schon eher.«

Auch wenn Jim selten längere Gespräche mit Frauen führte, vor allem mit so aufgekratzten wie dieser Kat, war ihm dennoch klar, dass sie ihm gerade ihre Männervorlieben offenbart hatte. »Dann kann ich dir den Mürrischen empfehlen, der schäumt ständig über«, schlug er ihr vor.

»Das war jetzt sehr direkt für einen, der sich selbst als den

»Ich habe mich nur angepasst«, brummte Jim. Tatsächlich verwunderte es ihn, dass die Worte in Kats Gegenwart nur so aus ihm heraussprudelten.

»Vier Söhne unter einem Dach, da muss echt was los sein«, kommentierte sie.

»Das ist nicht ganz korrekt. Den jungen Wilden gibt es in doppelter Ausführung, aber River, Quentins fünf Minuten jüngerer Zwillingsbruder, arbeitet in der Werkstatt im Ort. Wenn die alte Kiste vom Doc mal streiken sollte, frag nach ihm. River bekommt alles wieder zum Laufen.«

»Quentin und River«, wiederholte Kat und lachte auf. »Was ist denn da mit Harry losgewesen, dass es plötzlich derart ausgefallene Namen wurden?«

Jim presste die Lippen aufeinander und sah von ihr weg. »Quentin stammt vom lateinischen Quintus ab, was so viel wie der Fünfte bedeutet«, murmelte er.

»Ich weiß, ich habe Latein fürs Studium gebraucht.«

Jim nickte. »Quentin ist der Fünftgeborene, daher hat seine Mutter diesen Namen ausgewählt. Warum River seinen Namen hat, ist eine ganz andere Geschichte, die erzähle ich dir vielleicht irgendwann mal.«

Kats Augen ruhten auf ihm. Ihr forschender Blick war ihm unbehaglich, doch Jim hielt ihm stand. »Und welcher Bruder ist gestorben?«, fragte sie leise.

»Samuel.« Mit zusammengekniffenen Augen sah Jim zum Horizont. Die Nachmittagssonne stand tief über den sanften Hügeln und leuchtete auf die Weideflächen. Hier und da ragten krumme Bäume in die Höhe. »Samuel war der

»Das tut mir leid.« In Kats Gesicht zeichnete sich Bedauern ab. »Manchmal ist meine Zunge schneller, als mir lieb ist. Ich wollte mich nicht darüber lustig machen«, beteuerte sie.

»Schon gut.« Nachdenklich lächelte er sie an. Diese Frau lockte mehr aus ihm heraus, als ihm lieb war. Besser, er passte auf, was er von sich gab.

»Also, was gibt es sonst noch, das ich über Silverwood wissen muss?«

»Über unsere Biohaltung hat dich der Doc sicherlich schon informiert«, überlegte Jim laut. »Wir haben haufenweise Rinder, eine Schafherde von gut achthundert Tieren, siebzehn Hühner, fünf Pferde, einen Hund und jede Menge Fliegen«, fasste er den Tierbestand der Farm zusammen.

»Dann hatte Ethan wohl recht, als er meinte, wir würden

»Ach ja, Busters Zähne. Da bist du nicht zu beneiden. Dafür darfst du mindestens einmal im Jahr antanzen, das Vieh hat furchtbare Beißer. Und leider setzt er sie auch oft genug ein.«

Kat drehte sich um und sah zum Haus hinüber. »Wie lange brauchen dein Vater und der Doc wohl noch?«

»Lass uns zurückgehen. Vielleicht haben wir ja Glück, und die beiden sind schon fertig damit, sich ihre alten Heldentaten zu erzählen«, schlug Jim ihr vor.

 

Gerade als sie das Haus erreicht hatten, waren der Doc und sein Vater aus der Seitentür gekommen. Nun sahen Jim und Harry zu, wie der verbeulte Pick-up vom Parkplatz rumpelte.

»Und, was denken wir über sie?«, brummte John, als er auf sie beide zukam. »Du hast dich ja ganz schön lange mit Ms. Roberts unterhalten«, bemerkte er mit einem Seitenblick auf Jim.

Jim ignorierte Johns süffisanten Unterton. »Kat ist«, er suchte nach dem richtigen Wort, »quirlig würde ich sagen. Redet viel und schnell. Ich bin mir noch nicht sicher, was ich von ihr halten soll.« Dann grinste er seinen Bruder an. »Aber sie hat treffende Spitznamen für jeden hier gefunden.«

»Spitznamen?« John schnaubte verächtlich. »Sind wir im Kindergarten?«

Jim zuckte mit den Schultern und sah noch einmal zum Wagen, der langsam kleiner wurde.

»Welche denn?«, fragte John nun doch nach.

»Ethan ist der Schönling, Quentin der junge Wilde und du«, Jim lachte auf, »du bist der Mürrische.«

»Und wie nennt sie Harry?«, wollte sein Bruder wissen.

»Ich schätze, nicht einmal Kat traut sich, Harry Bennett einen Spitznamen zu verpassen«, sagte Jim.

»Das will ich ihr auch geraten haben«, brummte sein Vater. »Aber der Doc meinte, sie sei mehr als qualifiziert. Anscheinend war er auch etwas überrascht, als er Ms. Roberts vor ein paar Monaten zum ersten Mal gesehen hat. Damals war sie für einen Tag in Firefly Creek, um die Übergabe mit ihm zu besprechen, und ihre Referenzen sollen top sein. Zur Sicherheit hat er ihre vorherigen Arbeitgeber angerufen, und alle haben nur Gutes berichtet.«

»Konnte er keinen Mann finden?«, fragte John und schüttelte den Kopf.

»Der Doc hat sich zwei Jahre lang bemüht, einen Nachfolger zu finden«, sagte Harry. »Offensichtlich ist es für die meisten jungen Veterinäre nicht sehr verlockend, so weit aufs Land zu ziehen. Und dann ist die Praxis inzwischen auch ziemlich veraltet.«

Jim fuhr sich über den Nacken und sah zur Schotterstraße, an deren Ende nur noch eine große Staubwolke zu erkennen war. Dass es ausgerechnet jemanden wie Kat aufs Land zog, wunderte ihn. Aber immerhin konnte sich der Doc endlich in den wohlverdienten Ruhestand verabschieden.

»Morgen werden wir sehen, was sie wirklich draufhat«, knurrte John und stapfte davon.

Mit Busters Zahnbehandlung würde Kat tatsächlich ins sprichwörtliche kalte Wasser geworfen werden. Aber etwas sagte ihm, dass John nicht zu sehr auf seinen verrückten Hengst setzen sollte.

 

»Ich habe deinen Teller in die Mikrowelle gestellt«, sagte Liz, während sie für ihren Sohn Ollie das Fleisch kleinschnitt.

River lief zur Mikrowelle, stellte sie an und wuschelte durch die Haare seines Neffen, woraufhin ihm der Vierjährige die Zunge rausstreckte.

»Habt ihr schon das Neuste gehört?«, fragte River.

»Dass du mal wieder zu spät kommst?«, brummte Harry und sah mit zusammengekniffenen Augen seinen Sohn an.

»Der alte Reynold hat vorhin seinen Traktor gebracht, und ich bin nicht eher fertig geworden«, antwortete River augenrollend. »Jedenfalls hat er erzählt, dass der Doc heute Morgen mit der neuen Tierärztin bei ihm war. Eine Frau!« Erwartungsvoll sah er in die Runde.

Jim schmunzelte über den Blick seines Bruders. »Wir haben sie schon kennengelernt.«

»Echt?« River nahm den Teller aus der Mikrowelle und ließ sich auf einen Stuhl fallen. »Reynolds meinte, sie sieht aus wie ein Punk. Stimmt das?«

Es war, wie Jim es vorhergesehen hatte. Kats Ankunft verbreitete sich bereits wie ein Lauffeuer im Ort. »Sie sieht nicht aus wie ein Punk, höchstens etwas ungewöhnlich.«

River schien mit der Antwort nicht zufrieden zu sein und stieß seinen Zwillingsbruder in die Seite. »Was meinst du

Enttäuscht griff River nach der Gabel.

Quentin sah zu Ethan. »Heißt sie wirklich Kat mit Vornamen, oder steht in dem Vertrag, den du aufgesetzt hast, etwas wie Katherine?«, fragte er.

Jim beobachtete, wie Ethans Augen für einen Moment schmal wurden. »Lass die Frau in Frieden und spionier ihr nicht hinterher«, schnauzte er Quentin an.

»Das ist abchecken, das macht man so.« Quentin zog eine Schnute und packte das Handy wieder weg.

Jim lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Die heftige Reaktion passte nicht zu Ethan. Auf diese Art reagierte sonst meist nur John. Was genau störte Ethan derart an ihrer Neugier? »Ich schätze, sie wird früher oder später bei dir in der Werkstatt auftauchen, dann kannst du dir ein eigenes Bild von ihr machen«, versuchte Jim, die Stimmung zu entschärfen.

Fragend sah River ihn an.

»Sie hat die Karre vom Doc mitübernommen«, klärte Jim ihn auf.

»Dann kann es ja nicht lange dauern, bis sie bei mir anklopft«, lachte River und stürzte sich auf sein Essen. Er runzelte die Stirn. »Wo genau hat sie denn das Piercing?«, nuschelte er in Richtung seines Zwillingsbruders.

»Das verrate ich nicht«, sagte Quentin grinsend.

Zur Abwechslung war einmal nicht seine Familie das aktuelle Klatschthema von Firefly Creek, stellte Jim fest. Ob Kat ahnte, worauf sie sich hier eingelassen hatte?

Der Wecker klingelte erbarmungslos schrill, und Kat brauchte einen Moment, um sich zu orientieren. Sie stellte ihn aus und setzte sich gähnend auf. Müde schweifte ihr Blick durch das Zimmer. Im hinteren Bereich des Hauses befanden sich zwei Wohnräume, die mit einer Verbindungstür an den schmalen Praxisflur angeschlossen waren. Vorne lagen das winzige Büro, der Behandlungsraum, ein Zimmer für die stationäre Pflege von Haustieren und die Röntgenkammer. Früher hatte Doc Harlow die enge und ein wenig dunkle Wohnung wohl vermietet, doch die letzten Jahre stand sie leer. Obwohl Kat gestern erst spät von ihrer Einführungsrunde zurückgekommen war, hatte sie das Schlafzimmer bis spät in die Nacht geputzt und die dicke Staubschicht von den Möbeln gewischt. Erst dann hatte sie ihre Koffer aus dem Auto ins Haus gehievt und war beinahe besinnungslos ins Bett gefallen. Die Matratze war hart und unbequem, und das Gestell quietschte bei jeder noch so kleinen Bewegung. Doch für den Anfang musste es reichen. Es war wichtiger, die Praxis auf Vordermann zu bringen, als sich um die Einrichtung der Räume zu sorgen, in denen sie sich in der nächsten Zeit sowieso kaum aufhalten würde.

Rasch zog sie den Pulli über, den sie achtlos neben das Bett geworfen hatte, und schlurfte in den Wohnraum

Dank der vielen Farmen im Umland musste sie sich um ausreichende Einnahmen keine Gedanken machen, und Firefly Creek war zumindest weit genug entfernt von ihrem früheren Leben und den Schatten, die sie verfolgten. Es war ein weiterer Neuanfang, so wie es in den letzten Jahren schon viele gegeben hatte. Doch das hier, diese Praxis und alles, was dazugehörte, sollte endlich zu so etwas wie einem Zuhause für sie werden. »Ein letzter Neuanfang«, murmelte sie.

Kats Blick fiel auf die Uhr, und sie sprang eilig auf. Sie brauchte nach dem Großputz am gestrigen Abend dringend eine Dusche, und bald würde ihre Mitarbeiterin kommen. Der Doc hatte von Edna White in den höchsten Tönen geschwärmt, doch beim Anblick der schludrig geführten Patientenakten hatte Kat ihre Zweifel, was deren Fähigkeiten als Sprechstundenhilfe betraf. Dennoch erhoffte sie sich

 

Kat betrachtete sich zufrieden im Spiegel. Die Haare hatte sie zu einem lockeren Knoten gebunden, und sie trug ihren geliebten dunkelgrünen dünnen Parka der ihr seit Jahren hervorragende Dienste leistete. Dieses unverwüstliche Teil war schon mit allem beschmutzt worden, mit dem sie es in ihrem Job zu tun hatte, doch selbst Blut ließ sich aus dem groben Stoff problemlos auswaschen. Gerade rechtzeitig, um das Klingeln des Glöckchens über der Eingangstür zu hören, betrat sie den Untersuchungsraum. Leise öffnete Kat die Schiebetür und schielte ins Wartezimmer. Sie sah, wie eine Frau gerade dabei war, die Eingangstür wieder zu schließen. Warum war sie eigentlich so aufgeregt? Vermutlich deshalb, weil sie zum ersten Mal der Chef von jemandem war? Kat atmete tief ein und ging auf die Frau zu. »Guten Morgen. Sie müssen Edna White sein«, rief sie freundlich.

Die Frau drehte sich um und starrte sie kritisch an. Kat hatte ebenfalls Mühe, ihre Irritation zu verbergen. Von hinten hatte Edna schon etwas älter gewirkt, aber erst jetzt erkannte Kat, dass sie um die siebzig sein musste, wenn nicht älter.

»Miss Roberts?« Langsam streckte die ältere Dame ihr die Hand entgegen. »Jetzt verstehe ich, was der Doc meinte, als er sagte, ich solle nicht überrascht sein.«

Kat ignorierte die Aussage und schüttelte Ednas schmale, knochige Hand. »Also, dann werden wir von nun an wohl zusammenarbeiten«, erklärte sie mit einem breiten Lächeln.

»Das scheint so«, antwortete Edna White, trug ihre Handtasche zum Schreibtisch hinter dem Tresen und nahm Platz.

»Wir sollten uns korrekt anreden, gerade auch vor den Kunden. Ich halte nichts von diesem neumodischen Gehabe, sich direkt beim Vornamen zu nennen.« Mit zitternder Hand kramte Edna White ein Brillenetui aus der Tasche und setzte sich eine Brille mit erstaunlich dicken Gläsern auf.

»Ganz wie Sie meinen.« Zögernd überlegte Kat, was sie als Nächstes tun sollte, doch Mrs. White klappte einen großen, in Leder gebundenen Kalender auf und deutete auf die Spalten. »Hier, Ms. Roberts, tragen Sie all Ihre Termine ein, dann weiß ich immer, wo Sie gerade sind, falls es einen Notfall geben sollte, während Sie außer Haus sind«, sagte die alte Dame bestimmt. »Die Akte vom nächsten Patienten lege ich Ihnen während der Sprechstunde immer ganz links auf den Tresen«, fuhr sie fort.

»Was das angeht«, hakte Kat ein, »werden wir bald einige Neuerungen einführen.«

»Neuerungen?« Die Falten auf Mrs. Whites Stirn wurden noch tiefer.

»Wir digitalisieren die Patientenakten. Dann kann sowohl ich alle Daten im Behandlungsraum sehen als auch Sie hier am Computer.« Zweifelnd betrachtete Kat den Röhrenbildschirm auf dem Schreibtisch. »Wobei ich vermute, dass ich zwei neue Computer werde anschaffen müssen. Mit diesem Teil können wir sicherlich kein Praxisnetzwerk nutzen.« Seufzend rieb sie sich über das Gesicht. Hier war wirklich kaum etwas zu gebrauchen.

»Das bisherige Prinzip funktioniert wunderbar. Der Doc hat sich nie darüber beschwert«, sagte Mrs. White pikiert.

»Sicher hat es das nicht. Aber wissen Sie, wir wollen doch

»Ich bestelle mein Rheumamittel im Internet«, erklärte Edna White selbstsicher.

»Na wunderbar. Dann bin ich mir sicher, wir schaffen das zusammen«, antwortete Kat und lächelte ihr versöhnlich zu, in der Hoffnung, die angespannte Stimmung aufzulockern.