Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Juni 2020
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ISBN 978-3-644-00505-1
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ISBN 978-3-644-00505-1
Die goldene Ära des Zeitreisens ist angebrochen. Zeitreisen sind heute sicherer, komfortabler und erschwinglicher denn je. Das eröffnet endlose Möglichkeiten für aufregende oder erholsame Ausflüge in die Vergangenheit. Vorbei die Zeiten, in denen man immer wieder in dieselben Jahre reiste, weil das Angebot überschaubar war. Vorbei auch das Problem mit den Nachbarn, die genau dieselben Fotos von ihren Urlauben mitbrachten wie Sie. Für eine Weile sah es so aus, als bestünde die Menschheitsgeschichte nur aus wenigen Momenten: Sonnenbaden auf der Doggerbank, großer Brand von Rom, Ausbruch des Vesuvs, Krönung von Queen Victoria und diese eine Minute, in der die Schiffe von Kolumbus vor der Küste der Bahamas auftauchen.
Heute haben Sie die Qual der Wahl zwischen Hunderten Reisezielen auf allen Kontinenten, verteilt über Millionen Jahre Erdgeschichte. Wir erleben den Übergang von der Pauschalreise zum Individualurlaub. Zeitreisende genießen ein ungeahntes Maß an Freiheit bei der Gestaltung ihres Urlaubs in der Vergangenheit. Mehr Freiheit bedeutet aber auch mehr Verantwortung, mehr Vorbereitung und mehr Wissen. Mit anderen Worten: Sie benötigen dringend einen neuen Reiseführer.
Dieses Buch ist eine Anleitung zum Zeitreisen in die Vergangenheit. Es richtet sich an Leserinnen und Leser, die ein Interesse an Zeitreisen oder ein Interesse an der Vergangenheit haben, also praktisch an alle. Wollten Sie schon immer herausfinden, wie Bachs Kantaten zu Bachs Zeiten geklungen haben, aufgeführt unter Leitung des Komponisten? Möchten Sie einmal vom Schnauben der Auerochsen geweckt werden? Mit Emmi Noether mathematische Rätsel diskutieren? Das Elmo-Ereignis aus nächster Nähe besichtigen? Urlaub auf einem mittelalterlichen isländischen Bauernhof machen? Kakao trinken mit Kukulkan? Der Entstehung des Mittelmeers beiwohnen? Eine Erde sehen, die nur aus brodelnder Lava besteht? Städte besuchen, die es nicht mehr gibt? Zivilisationen, die vergangen und vergessen sind? Oder nur die Lieblingseissorte aus Ihrer Kindheit noch einmal probieren? Gefällt Ihnen die Idee, in die gute alte Zeit zurückzukehren, wo auch immer sie sein mag? Möchten Sie ganz abschalten, kein Internet, kein Telefon, kein Handy, weil nichts davon erfunden ist? Die Kinder in einer Zeit ohne Atombomben und Umweltverschmutzung aufwachsen lassen? Alles, was Sie brauchen, ist eine Zeitmaschine und dieses Buch.
Es enthält viele neue Ideen für Zeitreisen, jeweils mit detaillierten Hintergrundinformationen und nützlichen Ratschlägen. Sie haben die Wahl zwischen ausgetretenen Pfaden und exotischen Zielen, zwischen Erholung und Extremsport, zwischen kurzen Wochenendausflügen und langen Expeditionen. Wer für ein Wochenende ins Königreich Neapel verreist, kann alles im Voraus buchen und wird vor Ort kaum Überraschungen erleben. Andere Reisen in die Vergangenheit können unbequem oder gar lebensgefährlich sein. Sind die Bewohner von Tiwanaku Menschenfresser, Außerirdische oder zuvorkommende Gastgeber? Wovon kann man sich in der Kreidezeit ernähren? Wie vermeidet man die unsäglich hässlichen Krankheiten, von denen es in manchen Vergangenheiten nur so wimmelt? Soll man sich in die Nähe von Kriegen wagen oder lieber nicht? Was isst man, wo schläft man, und wie benimmt man sich? Der umfangreiche Ratgeberteil am Ende des Buchs gibt Antworten.
Dies ist kein normaler Zeitreiseführer. Deshalb werden Sie ein paar der erwartbarsten Reiseziele hier nicht finden. Sie brauchen uns nicht, um das antike Rom, das alte Byzanz, die Seidenstraße oder den Hof von Versailles zu Zeiten Ludwigs XIV. zu besuchen. Wir legen den Schwerpunkt auf neue Erlebnisse, überraschende Einblicke in die Geschichte und neue Aspekte altbekannter Urlaubszeiten.
Dabei raten wir zu einer Abkehr von den üblichen Vorurteilen. Für die einen war früher alles besser, für die anderen besteht das Vergangene ausschließlich aus Seuchen, Kriegen und schlecht beheizten Wohnzimmern. Beide Ansichten sind nicht völlig unberechtigt, aber sie beruhen auf einem einseitigen Bild. Die Vergangenheit ist kein Entwicklungsland und nicht nur eine etwas dümmere Version der Gegenwart. Sie ist auch kein Zoo, kein Kuriositätenkabinett, kein exotisches Land, sondern eine eigene Welt, so wie unsere. Genauer gesagt ist sie unsere Welt, und Zeitreisende sollten sich dessen immer bewusst sein.
Außerdem wollen wir zu einem verantwortungsvollen Umgang mit der Vergangenheit anregen. Das heißt unter anderem: keine albernen anachronistischen Scherze. Kein Anlegen von Steinkreisen, nur um die Historiker der Zukunft zu verwirren. Kein Zurücklassen von Müll, kein Schmuggel mit Objekten aus der Vergangenheit. Und bitte in der Vergangenheit nicht als Prophetin auftreten, die alles schon weiß, bevor es geschieht.
Wir möchten, dass Sie im Urlaub etwas dazulernen, mehr noch, es wäre gut, wenn die Welt nach Ihrem Urlaub ein klein bisschen besser wäre, oder zumindest nicht schlechter. Sie werden selbst nichts davon haben, weil die Gegenwart, in die Sie nach dem Urlaub zurückkehren, durch Ihr Tun unangetastet bleibt (warum das so ist, werden wir noch erklären). Die gute Tat in der Vergangenheit ist pure Selbstlosigkeit. Sind Sie dazu imstande?
Sie sollten jedoch wissen, an welchen Stellen Sie verbessernd eingreifen können, und auch dafür bietet dieses Buch eine Anleitung. Möchten Sie dem Fortschritt mit einem sanften Schubs auf die Sprünge helfen? Vielleicht können Sie sich nützlich machen, indem Sie Informationen aus der Vergangenheit in die Gegenwart transportieren, zum Wohle der Wissenschaft? Können Sie Personen in der Vergangenheit von Dummheiten abhalten? Wo fängt man am besten damit an? Oder haben Sie höhere Ansprüche? Möchten Sie den Buchdruck ein paar tausend Jahre früher erfinden und damit den Lauf der Geschichte beschleunigen? Oder Hitler aus dem Weg räumen und damit den Holocaust ungeschehen machen? Kann man das überhaupt? Können Sie das?
Zeitreisen sind heute so sicher wie Bahnreisen. Sie können sich darauf verlassen, dass die hier beschriebenen Routen in die Vergangenheit geprüft und getestet sind. Alle von zugelassenen Zeitreiseanbietern verwendeten Strecken müssen hohe Standards an Stabilität und Haltbarkeit erfüllen. Sie können auch sicher sein, dass die Route noch existiert, wenn Sie zurück in die Gegenwart möchten. Nur noch selten stranden Touristen in der Vergangenheit und müssen mühsam auf dem konventionellen Weg, einen Tag nach dem anderen, zurückreisen. Nur noch selten landen sie versehentlich im falschen Jahr, zum Beispiel im Berlin des Jahres 1945 statt 1845, was für Touristen einen enormen Unterschied macht. Sie bekommen heute ziemlich sicher das, was Sie gebucht haben.
Das größte Risiko für Zeitreisende ist weiterhin die Geschichte selbst. Unsere Kenntnisse über vergangene Epochen sind immer noch lückenhaft und unsicher. Das klingt paradox, denn noch nie war die Vergangenheit so leicht zugänglich wie heute. Aber zum einen gibt es einfach sehr viel vergangene Zeit, deren Erforschung in die knappen Arbeitstage an einer Universität passen muss, zusammen mit Lehre und Verwaltung. Dieses Problem verschärft sich weiter, seit das Eröffnen von Tourismusunternehmen sich als wesentlich lukrativer erwiesen hat als eine universitäre Laufbahn als Historiker, Archäologin oder Paläoontologe. Vereinfacht gesagt: Je weiter man zurückreist, umso wackliger wird der Stand der Wissenschaft. Gute Reiseführer (so wie dieser) werden Sie auf diesen Umstand hinweisen und Ihnen sagen, an welchen Stellen wir etwas nicht genau wissen.
Der Vorteil des Zeitreisens: Wenn ein Urlaubsort einmal gut erforscht ist, dann besteht keinerlei Gefahr, am Ende etwas völlig anderes vorzufinden. Hotels können nicht teurer werden oder gar verschwinden. Vulkane können es sich nicht anders überlegen und drei Wochen früher ausbrechen. Die Informationen in Zeitreiseführern veralten nur, wenn die Geschichtsforschung vorankommt, aber nicht, weil sich die Vergangenheit auf einmal ändert.
Welche Zeitform beim Schreiben über die erlebte Vergangenheit zu verwenden ist, darüber streiten sich Enthusiasten und Expertinnen seit langer Zeit. Wie schreibt man über ein Ereignis, das vergangen und abgeschlossen ist, wenn man gerade dabei zusieht? Ist das noch Vergangenheit oder schon Gegenwart? Wie beschreibt man ein Ereignis, das in der eigenen Vergangenheit liegt, das man aber vermeidet, indem man zurückreist und eine andere Entscheidung trifft, zum Beispiel nicht das rote, sondern das grüne Kabel durchtrennt? Ist das noch Zukunft oder schon Vergangenheit? Manche gehen so weit, völlig neue Zeitformen einzuführen. In Douglas Adams’ Buch «Das Restaurant am Ende des Universums», einem frühen Tatsachenbericht über extreme Zeitreisen, erwähnt der Autor das Werk eines gewissen Dr. Dan Streetmaker mit dem Titel «Das Handbuch der 1001 Tempusbildungen für den Reisenden durch die Zeit», das unter anderem die Zeitform des Futurum des semiconditional modifizierten sub-umgedrehten Intentionals des subjunktiven Praeteritum Plagalis erklärt. Der Autor bemerkt allerdings auch, dass alle nachfolgenden Seiten in diesem Handbuch leer bleiben, weil danach sowieso niemand mehr weiterliest. In Wahrheit gibt es schon ohne Zeitreisen viel zu viele Zeitformen. Man benötigt für Zeitreisen keine neuen. Im Zweifelsfall kann man dazusagen, welches Jahr man meint und in welchem Jahr man sich gerade aufhält, eine Präzision, die man mit Grammatik allein kaum erzielen wird. Penible Gemüter können zusätzlich zu jedem Satz vierdimensionale Koordinaten im Raum-Zeit-Kontinuum angeben.
Große Teile dieses Buches sind im Präsens geschrieben, obwohl alle Reiseziele in der Vergangenheit liegen. Für Zeitreisende handelt es sich in jedem Fall um Gegenwart. Wer über die Vergangenheit in der Vergangenheitsform redet, kommt leicht auf die Idee, sie sei fixiert und unveränderbar, eine Art geschützte Zone, in der alles immer gleich bleibt und die eigenen Entscheidungen keinerlei Konsequenzen haben, weil sowieso alles so geschehen wird, wie es in den Geschichtsbüchern steht. Wer die Geschichte als Vergangenes abhakt, wird sie für etwas Langweiliges, Statisches, Lebloses halten. Oder andersherum, in den Worten des britischen Historikers Ian Mortimer: «Sobald man sich die Vergangenheit als etwas Geschehendes vorstellt (und nicht als Geschehenes), wird es möglich, Geschichte ganz neu wahrzunehmen.»
Eine letzte Bemerkung. Falls Sie zu den Leuten gehören, die Bücher selten bis zum Ende lesen: Machen Sie, bevor Sie diesen Reiseführer aus der Hand legen, eine kleine Zeitreise in die Zukunft und schauen Sie wenigstens ins Nachwort. Es ist nämlich ganz gut.
Zeitreisen sind heute so selbstverständlich geworden, dass es Überwindung kostet, uns eine Welt ohne Urlaub in der Vergangenheit vorzustellen. Aber in einer noch gar nicht lange zurückliegenden Vergangenheit sind Zeitreisen einerseits sehr teuer, andererseits mit vielen technischen Unwägbarkeiten verbunden. Noch ein paar Jahre davor streiten sich Wissenschaftler darüber, ob Zeitreisen prinzipiell möglich sind, und wenn ja, was das für Konsequenzen haben könnte. Die Geschichte des Zeitreisens ist selbst eine faszinierende Zeitreise, mit erstaunlichen Entdeckungen, aber auch vielen Irrwegen.
Die seriöse Wissenschaft des Zeitreisens beginnt mit Albert Einsteins Relativitätstheorien, von denen es zwei gibt, eine Spezielle und eine Allgemeine. Die Spezielle Relativitätstheorie erschließt schon im 20. Jahrhundert einen Weg, ein kleines bisschen in die Zukunft zu verreisen. Laut dieser Theorie hängt das Vergehen der Zeit davon ab, wie schnell man sich fortbewegt. Ein Mensch, der in einem Raumschiff die Erde verlässt und mit erheblicher Geschwindigkeit zu einem anderen Planeten verreist, wird langsamer altern als einer, der auf der Erde bleibt. Wenn das Raumschiff zurückkehrt, dann ist auf der Erde mehr Zeit vergangen als im Raumschiff. Reisende befinden sich – aus ihrer Sicht – in der Zukunft. Diesen Effekt weist man im Jahr 1971 zum ersten Mal nach, indem man sehr genaue Uhren eine Weile in Flugzeugen hin- und herbewegt. Man kann natürlich auch in die Zukunft gelangen, indem man sich hinsetzt und einfach abwartet. Wir können gar nicht anders, als in die Zukunft zu reisen, eine Sekunde pro Sekunde.
So viel zur Zukunft. Die Vergangenheit ist, was Zeitreisen angeht, deutlich interessanter. Aus der Speziellen Relativitätstheorie lernt man, dass Licht eine bestimmte Geschwindigkeit hat. Die Teilchen des Lichts legen 300000 Kilometer pro Sekunde zurück. Deshalb sieht man bekanntlich in die Vergangenheit, wenn man zum Nachthimmel aufblickt. Der Stern Sirius ist 8,6 Lichtjahre entfernt, man sieht ihn also so, wie er vor 8,6 Jahren war. Rigel, der hellste Stern im Sternbild Orion, ist knapp tausend Lichtjahre entfernt; man sieht ihn so, wie er im 11. Jahrhundert war. (Allerdings verändern sich Sterne äußerst langsam. Die allermeisten von ihnen sehen vor tausend Jahren im Wesentlichen so aus wie heute.) Der irische Wissenschaftler de Selby, erdacht von seinem Landsmann Flann O’Brien, erkennt als Erster, dass ein Spiegelbild das eigene Gesicht in der Vergangenheit zeigt, wiederum wegen der begrenzten Lichtgeschwindigkeit. Angeblich benutzt de Selby eine immense Anordnung von Spiegeln, um sich selbst im Alter von zwölf Jahren betrachten zu können.
Richtige Reisen in die Vergangenheit beruhen auf einer anderen Theorie und einer anderen Technik. Um in die Vergangenheit zu gelangen, benötigt man Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie, in der die Zeit eine der vier Dimensionen im Raum-Zeit-Kontinuum darstellt. Vorher und Nachher sind dann so etwas Ähnliches wie Hinten und Vorne oder wie Oben und Unten, bestimmte Richtungen in der Raumzeit. Außerdem spielt die Schwerkraft eine wichtige Rolle. Die Anwesenheit von etwas Schwerem krümmt diese Raum-Zeit-Struktur, in etwa so, wie man Sofakissen verbeult, wenn man sich draufsetzt. Setzt man sich in diese gekrümmte Raumzeit hinein, dann rutscht man an einen anderen Ort – oder in eine andere Zeit. Wir kennen das im Prinzip alle: Wenn man von einem Haus springt, befördert einen die Schwerkraft nach unten, ohne weiteres Zutun. Die Allgemeine Relativitätstheorie sagt uns, dass man ganz ähnlich auch durch die Zeit fallen kann, zumindest theoretisch. Die technische Herausforderung besteht darin, diesen Vorgang zu kontrollieren.
Die Vorhersagen der Allgemeinen Relativitätstheorie mit ihrer gekrümmten Raumzeit werden im 20. und 21. Jahrhundert vielfach bestätigt. Lichtstrahlen verbiegen sich in der Nähe von sehr schweren Dingen, etwa Sternen. Uhren laufen tatsächlich ein wenig schneller, wenn man sich weiter weg vom Zentrum der Erde aufhält, zum Beispiel auf einem Berg, weshalb man die Höhe von Bergen mit einer (sehr genauen) Uhr messen kann, wie deutsche Physiker im Jahr 2018 demonstrieren. Wegen dieses Effekts ist der Kern der Erde ein paar Jahre jünger als die Kruste. Die Kollision von großen Massen erzeugt Wellen in Raum und Zeit, so wie die Wellen, die man erzeugt, wenn man Steine ins Wasser wirft, nur ganz anders. Diese Wellen werden zum ersten Mal im Jahr 2016 direkt nachgewiesen. Die Allgemeine Relativitätstheorie ist eine phantastisch zuverlässige Theorie, auch wenn sie anfänglich völlig absurd erscheint. Diese Eigenschaft teilt sie mit vielen anderen Ideen in der Physik des 20. Jahrhunderts.
Auch die ersten spekulativen Ideen über Zeitmaschinen beruhen auf der Allgemeinen Relativitätstheorie. Seit Einstein darf man, ohne verlacht zu werden, behaupten, dass es Schleifen in Raum und Zeit geben kann – zumindest im Prinzip. Man verbiegt den Raum oder die Zeit immer mehr, bis sich zwei Punkte, die eigentlich viele Lichtjahre oder normale Jahre voneinander entfernt sind, ganz nah kommen. Leicht vorstellbar wird dieser Vorgang, wenn man statt der vierdimensionalen Raumzeit ein zweidimensionales Blatt Papier verwendet. Man klappt es zusammen, bis die beiden Enden sich berühren. Der Weg von einem Ende zum anderen ist jetzt viel kürzer. Der eine Rand der Galaxie liegt in der gefalteten Welt womöglich direkt neben dem anderen, obwohl beide Orte viele Tausend Lichtjahre entfernt sind. Das Mittelalter liegt direkt neben der Gegenwart.
Solche Abkürzungen in der Zeit sind lange als «Wurmlöcher» bekannt, ein Begriff, den der Physiker John Archibald Wheeler im Jahr 1957 einführt. Ein Wurmloch ist gedacht als ein Tunnel, in dem die Zeit anders abläuft als außerhalb, eine Autobahn durch die Zeit. Mit echten Würmern und Löchern hat die Zeitreise natürlich äußerst wenig zu tun. Heute kennen wir diese Hochgeschwindigkeitsrouten in der Raumzeit als «Polzunov-Tunnel», benannt nach Ivan Polzunov, dem russischen Erfinder der Dampfmaschine, der 1766 vor Vollendung der Maschine an Tuberkulose stirbt. Wie so oft hat der Namensgeber nichts mit der Erfindung zu tun, ein Prinzip, das als «Stiglers Gesetz» in die Geschichte eingeht (benannt nach Stephen Stigler, der es allerdings Robert Merton zuschreibt). Wie dem auch sei, man stellt sich jedenfalls lange vor, dass Zeitreisen irgendetwas mit Wurmlöchern zu tun haben. Allerdings ist die Herstellung von Wurmlöchern extrem energieaufwendig und nicht sehr umweltfreundlich. Daher ist man mittlerweile von diesem Verkehrsweg abgekommen.
Sobald man in der Wissenschaft ernsthaft anfängt, über Zeitreisen nachzudenken, tauchen noch ganz andere Probleme auf. Das bekannteste unter ihnen ist das sogenannte Großmutterparadox: Wenn ich in die Vergangenheit reise und dort meine Großmutter umbringe, bevor sie meine Mutter oder meinen Vater gebären kann, dann verhindere ich meine eigene Existenz – und damit auch meine Anwesenheit in der Vergangenheit. Das heißt, ich kann meine Großmutter gar nicht umbringen. Diese vertrackte Angelegenheit war in der Fachliteratur unter dem Namen Großvaterparadox bekannt, bis klar wurde, wie viele Menschen gar nicht von ihrem vermeintlichen Großvater abstammen, sondern von jemand ganz anderem. Am Problem ändert sich durch die Umbenennung allerdings nichts. Bringe ich die Großmutter um, gerate ich in eine teuflische Schleife, aus der es scheinbar kein Entkommen gibt.
Das kann man natürlich nicht zulassen. Dinge, die einmal geschehen sind, können nicht ungeschehen gemacht werden. Lange Zeit rätseln Wissenschafter, wie sich solche Paradoxa vermeiden lassen, und sie finden einige kreative Lösungen. Der russische Astrophysiker Igor Novikov formuliert das Selbstkonsistenzprinzip, dem zufolge Vorgänge, die zu Paradoxa führen, unmöglich sind. Novikovs Beispiel ist das einer Billardkugel, die in ein Wurmloch gestoßen wird, dort mit einer früheren Version von sich selbst zusammenstößt und sich dadurch selbst davon abhält, überhaupt erst in das Wurmloch zu fallen – eine weniger brutale und mathematisch einfachere Version des Großmutterparadoxons. Diese Möglichkeit, behauptet Novikov, ist einfach durch die Gesetze der Natur ausgeschlossen. Zeitreisenden wären damit nur ganz bestimmte Handlungen erlaubt. Der Mord an der eigenen Großmutter ist nicht nur durch das Strafgesetzbuch (oder seine Äquivalente in der Vergangenheit), sondern auch durch die Gesetze der Physik untersagt. Es ist, als würde man in eine autoritäre Diktatur verreisen, wo einem die Handlanger des Diktators ständig auf die Finger hauen, nur dass der Diktator und seine Handlanger in diesem Fall unsichtbar sind. Die Vergangenheit diktiert, was dem Zeitreisenden erlaubt ist. Novikov ist uns heute eher bekannt, weil er im Jahr 1964 vorschlägt, dass es neben Schwarzen Löchern auch Weiße Löcher geben könnte. Dieser Theorie ist mehr Erfolg beschieden. Weiße Löcher sind heute kaum noch aus unserem Alltag wegzudenken.
Andere Physiker kommen auf andere Ideen, um chronologische Paradoxa rund um Großeltern und Billardkugeln zu vermeiden. Manche hoffen darauf, dass Zeitreisen unmöglich sind, aus irgendeinem zu dieser Zeit unentdeckten Grund. Wieder andere vermuten, dass Zeitreisen zwar möglich sind, sich die Zeitmaschine aber automatisch zerstört, sobald man sie einschaltet. Beide Hypothesen haben den Vorteil, dass sie ein weiteres Problem mit Zeitreisen elegant aus der Welt schaffen: Wenn Zeitreisen in die Vergangenheit möglich sind, warum ist dann die Gegenwart nicht von Zeittouristen überlaufen? Menschen, die seltsame Gewänder tragen, alles besser wissen und Krankheiten aus der Zukunft einschleppen? Im Jahr 2009 richtet der legendäre Physiker Stephen Hawking eine Party aus, zu der die Einladungen erst hinterher verschickt werden, eine Feier also, zu der nur Menschen aus der Zukunft eingeladen sind. Niemand erscheint. Der Humor von Physikern ist zu allen Zeiten schwer zu verstehen.
All das sind Ideen, die uns heute absurd vorkommen. Aber es gibt auch Perioden in der Menschheitsgeschichte, in denen es ausgeschlossen scheint, Bilder und Informationen innerhalb von Sekundenbruchteilen von einer Seite der Erde zur anderen zu schicken. Es gibt Zeiten, in denen es unmöglich scheint, zum Planeten Jupiter zu reisen, der schließlich nur sechshundert bis tausend Millionen Kilometer von der Erde entfernt ist. Leute, die Zeitreisen für unmöglich halten, sind nicht automatisch naiv oder geistig zurückgeblieben. Sie leben nur in einer anderen Zeit.
Die ungelösten Probleme mit dem Zeitreisen haben in der Vergangenheit übrigens auch ihre Vorteile. Schriftsteller und Drehbuchautoren können so ohne große Verrenkungen logische Fehler in ihren Handlungen beseitigen oder erklären. Egal, ob sie versehentlich die Heldin umbringen, die Welt zerstören oder vergessen, das blutige Messer an den Tatort zu legen, mit dessen Hilfe später der Mord aufgeklärt wird: Mit Hilfe einer Zeitmaschine kommt alles wieder ins Reine.
Neben der Allgemeinen Relativitätstheorie ist die Quantenmechanik die zweite Säule der Physik des 20. Jahrhunderts. Auch hier arbeiten sich die Fachleute an grundlegenden Schwierigkeiten ab. Die meisten glauben zunächst an etwas, das man oft den «Kollaps der Wellenfunktion» nennt – einen Vorgang, bei dem sich eine Überlagerung von mehreren möglichen, aber unbeobachtbaren Versionen der Welt in eine einzige verwandelt. Der Kollaps findet statt, sobald man etwas misst oder beobachtet. Wenn man Elektronen oder ähnlich kleine Dinge beobachtet, kann man leicht auf solche Ideen kommen: Schießt man einen Strahl Elektronen auf einen Schirm, der zwei Löcher hat, dann sieht die Verteilung der Elektronen hinter dem Schirm so aus, als wären die Teilchen durch beide Löcher gleichzeitig gegangen – aber nur, solange man nicht konkret nachsieht, was mit einzelnen Teilchen geschieht. Sobald man das tut, fliegen die Elektronen nur durch eines der Löcher. Die seltsame Quantenwelt des Sowohl-als-auch verschwindet, sie «kollabiert». Der Kollaps der Wellenfunktion ist ein Versuch, die rätselhafte Welt der Quanten zu verbinden mit der Welt der normalen Dinge, die sich so anders verhalten und entweder hier oder dort, links oder rechts, rot oder blau, ganz oder kaputt sind, aber nie beides zugleich. Heute liegt der Kollaps der Wellenfunktion auf dem Schrotthaufen der Wissenschaftsgeschichte, zusammen mit Phlogiston, Äther und Marskanälen.
Erwin Schrödinger, einer der vielen Väter der Quantenmechanik, veranschaulichte den Konflikt zwischen Quantenwelt und normaler Welt mit Hilfe einer Katze, die in einer Kiste eingesperrt und dort einem todbringenden Quantenprozess ausgesetzt ist, der entweder stattfindet oder nicht. Wer sich fragt, wie winzige Teilchen den Tod einer Katze herbeiführen können: Man nehme ein radioaktives Atom, das innerhalb einer Stunde entweder zerfällt oder aber auch nicht. Wenn das Atom zerfällt, sendet es ein Teilchen aus, das wiederum einen Mechanismus in Gang bringt, an dessen Ende Gift freigesetzt wird. Am Ende dieser Stunde ist das Atom sowohl zerfallen als auch intakt, die Katze sowohl tot als auch lebendig. Die Katze ist nicht einfach nur eine Katze, sondern eine komplizierte Wellenfunktion, die eine Überlagerung aus mehreren Katzenversionen beschreibt. Erst wenn man die Kiste öffnet, entscheidet sich die Welt für eine Version. Das ist der Kollaps der Wellenfunktion. (Der Tod der Katze dient in diesem Gedankenexperiment übrigens nur als dramatisches Element, man könnte eine analoge Geschichte auch mit zwei lebenden Katzen erzählen. Der amerikanische Physiker Sean Carroll hat das im Jahr 2014 getan: mit einer Katze, die sich unter dem Sofa und gleichzeitig unter dem Tisch befindet. Diese Version wird heute aus ethischen Gründen in Lehrbüchern bevorzugt.)
Vielleicht geht es aber auch ganz ohne Kollaps, das vermuten schon einige Physiker im 20. Jahrhundert. Vielleicht ist die Quantenwelt die einzig relevante, die einzige, die es wirklich gibt, und es gibt zwei Versionen des Elektrons, eines für jedes Loch. Es gibt zwei Versionen von Schrödingers Katze, vor und nach dem Öffnen der Kiste. Die Katze ist tot in einem Teil der Welt und lebendig in einem anderen. Carrolls Katze ist unter dem Sofa in einem Teil der Welt und unter dem Tisch in einem anderen, auch nachdem wir nachgesehen haben. Die Katze gibt es weiter in beiden Zuständen. Aber dafür gibt es jetzt zwei Versionen des Beobachters, einen, der eine lebendige Katze aus der Kiste lässt, und einen anderen, der eine tote Katze vorfindet. Überhaupt gibt es von allem entsetzlich viele Versionen, die alle parallel existieren. Die sogenannte Vielwelten-Interpretation der Quantenmechanik erzeugt eine elegante, sanfte, überschwängliche Realität, in der es einfach alles gibt, ohne harte Übergänge zwischen Quanten und Katzen.
Die Möglichkeit von multiplen Welten oder Universen oder Multiversen wird im frühen 21. Jahrhundert immer populärer in der wissenschaftlichen Literatur. Der Physiker Max Tegmark unterscheidet vier unterschiedliche Arten von Multiversen, die alle ineinander verschachtelt sind. Laut Tegmark gibt es einerseits eine Vielzahl von Universen wie unseres, so wie es in einem Hochhaus viele Wohnungen gibt. Zudem existiert womöglich eine Vielzahl von Universen, in denen ganz andere physikalische Gesetze gelten und die deshalb völlig anders aussehen als unseres. Die allermeisten davon sind leer und unbewohnt. Dazu kommen die schon erwähnten quantenmechanischen multiplen Welten mit multiplen Katzen, zunächst postuliert von Hugh Everett III. in den 1960ern und später weiter ausgedacht von Heinz-Dieter Zeh und David Deutsch. Obendrauf setzt Tegmark noch ein mathematisches Super-Multiversum, das alle vorigen Multiversen enthält. Der Physiker und Autor Brian Greene schließlich erwähnt in seinem Buch «Die verborgene Wirklichkeit» sogar neun Arten von parallelen Welten (von denen mehrere gar nichts mit Quantenmechanik zu tun haben).
Warum wir das alles erzählen? Mit Hilfe der Vielwelten-Interpretation der Quantenmechanik kann man zum ersten Mal über Zeitreisen nachdenken, ohne entweder in logische Fallen zu stolpern oder aber die Freiheit von Zeitreisenden einzuschränken. In einer Version der Vergangenheit wird Großmutter von ihrem zeitreisenden Enkel umgebracht. In der anderen Version findet die Zeitreise nie statt, die Großmutter bleibt lange genug erhalten, um Nachkommen zur Welt zu bringen, und stirbt schließlich genau so, wie man immer glaubte, im Krieg oder im Pflegeheim. Die Geschichtsbücher bleiben intakt. Das Paradox ist aufgelöst. Gleichzeitig wird klar, warum man in der Vergangenheit nicht auf andere Reisende aus der Zukunft trifft – sie sind in einer Parallelwelt unterwegs, nicht weit entfernt, gleich nebenan, aber doch ungreifbar, wie die zweite Katze, die unter dem Sofa oder unter dem Tisch ist, jedenfalls nicht dort, wo wir sie gerade sehen.
Es gibt von Anfang an Widerstand gegen die Idee der Parallelwelten. Manche halten die Vielwelten-Interpretation für pure Verschwendung. Warum sollen wir uns unendlich viele Katzen ausdenken, nur um ein paar Unstimmigkeiten zu erklären? Die Befürworter erwidern: In Wahrheit denkt man sich die Katzen nicht aus, sie sind da. Die einfachste Erklärung der Welt besteht darin, ihre Existenz zu akzeptieren. Viel schlimmer ist es, sich den Kollaps der Wellenfunktion auszudenken.
Dann wiederum gibt es Leute, die einer Version des Universums eine Sonderstellung einräumen möchten: Die Schattenwelten mit ganz anderen Katzen sind sicher irgendwie nicht richtig da, so das Argument, nur so wie ein Traum, aus dem man gerade erwacht ist. So geht es nicht, sagen die Freunde der Parallelwelten. Jede Welt und jeder einzelne Moment in jeder Welt ist genau gleich bedeutungsvoll oder bedeutungslos. Es sind tatsächlich parallele Welten, nicht eine Hauptwelt und viele Nebenwelten. «Andere Zeiten sind nur Sonderfälle von anderen Universen», sagt David Deutsch im Jahr 1997, und er meint damit: Alle möglichen Parallelwelten sind schon da. Das Einzige, was man verändert, ist die eigene Erfahrung.
Aus diesen Diskussionen folgt unmittelbar die Frage, wie man sich in so einer Welt voller Parallelwelten verhalten soll, eine der großen philosophischen Debatten des 21. Jahrhunderts und unmittelbar relevant für Zeitreisende. Wenn alle Versionen der Welt schon existieren, so wie David Deutsch behauptet, dann gibt es auch die, in der Sie (oder eine Version von Ihnen) Ihre Großmutter (oder eine Version der Großmutter) umbringen. Sie haben keinerlei Einfluss darauf. Ob Sie Ihre Großmutter jetzt umbringen oder nicht, die Welt bleibt dieselbe. Was sollte Sie also davon abhalten? Wie viel Einfluss haben Sie als Zeitreisender auf die Welt? Welchen Einfluss haben Sie überhaupt, wenn jede Entscheidung, die Sie treffen, nur eine neue Version von Ihnen hervorbringt? Wer ist diese Person überhaupt, die da etwas entscheidet? Warum spüren Sie so gar nichts von den anderen Versionen? Sind Sie all die Versionen von sich, oder nur eine? Was bedeutet es, wenn ein Zehntel von Ihnen die Großmutter umbringt, der Rest aber nicht? (Lesen Sie mehr dazu im Kapitel «Neun Mythen über Zeitreisen».)
So geht die Debatte über einige Zeit. Man kommt zu keinem richtigen Ergebnis, aus zwei Gründen. Zum einen weiß man zu wenig, zum Beispiel über die Funktionsweise des menschlichen Bewusstseins und die Art und Weise, wie wir Entscheidungen treffen. Zum anderen arbeitet man mit falschen Voraussetzungen. Die Allgemeine Relativitätstheorie und die Quantenmechanik sind, wie wir heute wissen, falsch, oder netter ausgedrückt: unvollständig. Sie sind wie alte Ritterburgen – historische Monumente, die man bestaunt und bewundert, in denen man aber nicht wohnen möchte. Um die Welt zu erklären, braucht man eine Kombination aus beiden Theorien. Das wissen schon die Physiker des 20. Jahrhunderts. Sie suchen nach einer allgemein-relativistischen Quantentheorie oder einer gequantelten allgemeinen Relativitätstheorie. In Wahrheit findet man kurze Zeit später etwas völlig Neues.
Die alten Theorien haben noch kein Konzept von der Art Zeitreisen, wie wir sie heute betreiben. Die Vergangenheit zu besuchen, irgendein Jahr der Vergangenheit, scheint unmöglich oder sogar undenkbar. Man weiß noch nichts von der Transitzone, die alle Parallelwelten umgibt und die wir beim Zeitreisen durchqueren. Im Jahr 2013 spekulieren die Physiker Juan Maldacena und Leonard Susskind, es sei immerhin möglich, dass weit entfernte Punkte im Universum miteinander in Kontakt stehen. Nicht nur seien sie verbunden über die oben erwähnten Wurmlöcher, sondern auch in ihren kleinsten Teilchen miteinander verschränkt. Wenn man sich etwas anstrengt, kann man hier die ersten Ausläufer der Transitzone erkennen, die uns den Weg in die Vergangenheit eröffnet. Es ist die Morgendämmerung des modernen Zeitreisens.
Die Idee von unendlich vielen Welten, in denen es unendlich viele Versionen von einem selbst und allem anderen gibt oder zumindest geben könnte, bleibt lange schwer glaubhaft und schwer fassbar, auch wenn sie uns heute so natürlich vorkommt. Die Intuition ist geprägt von den vorherrschenden Ideen der Zeit, und es dauert oft eine Weile, bis man die beste Erklärung auch intuitiv für die richtige hält. Das heliozentrische Weltbild, bei dem die Erde sich in rasender Geschwindigkeit um die Sonne bewegt, leuchtet den meisten von uns heute unmittelbar ein, obwohl es genau betrachtet ganz schön unplausibel ist. Man merkt ja gar nichts von der Karussellfahrt! Nach langem Streiten und Hadern, nach dem Entwerfen und Verwerfen von bizarren Theorien landet die Wissenschaft irgendwann in der richtigen Zukunft. Und viel später stellt sich heraus, dass doch alles ganz anders ist.
Weltausstellungen gehören zu den unkompliziertesten Reisezielen der Vergangenheit. Viele Besucher sind zum Teil von weit her angereist und nicht ganz der örtlichen Mode entsprechend gekleidet. Unbeholfenes Verhalten, mangelnde Erfahrung im Umgang mit der Währung und ahnungslose Fragen zu den Ausstellungsstücken fallen nicht weiter auf. Zur Not kann man sich als Bestandteil eines entlegenen oder futuristischen Exponats ausgeben. Lassen Sie sich nicht durch den Anblick von Dampfmaschinen, Glühbirnen oder Robotern zu der Annahme verleiten, dass Sie sich quasi zu Hause befinden. Bringen Sie Wasserfilter mit und trinken Sie nur gefiltertes oder abgekochtes Wasser. Noch während der Weltausstellung in Chicago 1933 gibt es eine Amöbenruhr-Epidemie mit achtundneunzig Toten, weil das Trinkwasser in zwei Hotels mit Abwasser kontaminiert ist. (Meiden Sie, falls Sie dorthin reisen, das Auditorium Hotel und das Congress Hotel.) Folgen Sie den anderen Besuchern und beobachten Sie, worauf sich deren Interesse richtet und warum. Es ist nicht immer das, was man aus heutiger Sicht erwarten würde. Dass Maschinen Lärm erzeugen, beeindruckt das Publikum im 19. Jahrhundert beispielsweise wesentlich mehr als in der Gegenwart.
London 1851
Wann: 1. Mai bis 15. Oktober
Eintritt: Die Eintrittspreise liegen zwischen einem Pound für die Tageskarte an den ersten beiden Tagen und einem Shilling (20 Shilling = 1 Pound) an späteren Wochentagen.
Die erste Weltausstellung ist aus heutiger Sicht faszinierend langweilig. Es geht vor allem um Alltagsgegenstände: Geschirr, Möbel, Tapeten, Papier, das durch Anwendung von Leinöl und Hitze wasserfest gemacht wird, Kerzenleuchter, Stoffe, Statuen, einige besonders große Kohlebrocken und die ersten kostenpflichtigen öffentlichen Toiletten (Benutzung 1 Penny; 12 Pence = 1 Shilling). Die Herstellung von Textilien unter Zuhilfenahme von Spinn- und Webmaschinen – für Zeitgenossen eine der ausstellenswertesten Erscheinungen des Fortschritts – ist schwer zu würdigen für Zeitreisende, die nicht gerade auf historische Textilproduktion spezialisiert sind. Viele andere Bereiche der Wirtschaft sind selbst in Großbritannien, dem Vorreiterland der Industrialisierung, noch gar nicht besonders industrialisiert, von den übrigen Ausstellerländern ganz zu schweigen. Sehenswert ist hier also vor allem, dass es eigentlich nichts zu sehen gibt.
Außer natürlich den Tempest Prognosticator, ein Wettervorhersagegerät auf Blutegel-Basis: Die tortenähnliche Konstruktion aus Mahagoni und Messing enthält zwölf kreisförmig angeordnete Gläser, in denen je ein Blutegel in etwas Regenwasser lebt. Bei sinkendem Luftdruck klettern die Egel in den Gläsern nach oben. Im Hals jedes Glases ist eine kleine Nadel aus Fischbein angebracht, über die die Egel eine Glocke in der Mitte des Geräts läuten können. Der Tempest Prognosticator lässt sich auch ohne Zeitreise als Nachbau im «Barometer World»-Museum in Devon besichtigen, dort allerdings ohne Egel.
New York 1853/54
Wann: 14. Juli bis 30. November 1853, 1. Januar bis 15. April und 4. Mai bis 1. November 1854
Eintritt: um die 50 Cent
Die Exponate der «Exhibition of the Industry of All Nations» sind nicht viel interessanter als die in London zwei Jahre zuvor. Aber die Ausstellung bietet eine gute Gelegenheit, Manhattan zu einer Zeit zu erleben, in der Kirchtürme die Skyline dominieren. Es gibt noch keine Hochhäuser, keine verspiegelten Fassaden. Das Südende der Insel ähnelt, abgesehen von den vielen Pferdefuhrwerken, dem Berlin der Gegenwart: gepflasterte Straßen, vier- bis fünfstöckige Häuser. Schon am Central Park endet die durchgehende Bebauung und geht in Wiesen, Bauernhöfe, Dörfer und Villenviertel über. Der Central Park selbst wird erst einige Jahre später eröffnet. Zu beiden Seiten der Insel verkehren Segel- und Dampfschiffe in großer Zahl. Die Staten Island Ferry, bis heute ein bei Touristen beliebtes Verkehrsmittel, existiert bereits; für 6 Cent können Sie die einfache Strecke mit einem Raddampfer zurücklegen. Die beste Aussicht über New York genießen Sie vom Latting Observatory. Die 96 Meter hohe Holzkonstruktion wurde extra für die Weltausstellung errichtet, sie ist das höchste Gebäude in New York und dient Gustave Eiffel als Vorbild für den Eiffelturm. Allerdings gibt es den ersten Passagieraufzug erst drei Jahre später (verpassen Sie nicht Elisha Otis’ Demonstration einer Sicherheitsbremse für abstürzende Aufzüge auf genau dieser Weltausstellung). Der Aufstieg zu Fuß ist, wie die «New York Times» berichtet, «ein wenig ermüdend, befördert aber die Verdauung».
Paris 1855
Wann: 15. Mai bis 15. November
Eintritt: Je nach Termin und Wochentag zwischen 20 Centimes und 5 Francs
Die Pariser Weltausstellung im Jahr 1855 bietet eine günstige Gelegenheit zur Urlaubsfinanzierung. Das Metall Aluminium, bis dahin nur wenigen Chemikern ein Begriff, wird hier in Form von zwölf kleinen Barren zum ersten Mal der Öffentlichkeit vorgestellt. Das weckt das Interesse der Oberschicht an Knöpfen und Schmuck aus Aluminium. Napoleon III. (nicht der Napoleon, aber sein Neffe) erhofft sich vom neuen Material militärische Vorteile. Für eine kurze Zeit ist das neue Metall teurer als Gold, erst ab 1856 sinkt der Preis. Die Weltausstellung in Paris ist der richtige Moment, zerkratztes Alu-Campinggeschirr zu einem sehr stattlichen Preis zu verkaufen.
London 1862
Wann: 1. Mai bis 1. November, täglich außer sonntags
Eintritt: wechselnd, ab einem Shilling
In den elf Jahren seit der ersten Weltausstellung in London ist die industrielle Revolution vorangekommen. Es gibt einen elektrischen Telegraphen zu bestaunen, einen dampfbetriebenen Kühlschrank und das erste Plastik namens «Parkesine» (eine Art Zelluloid). Der Designer William Morris ist mit seiner Firma Morris, Marshall, Faulkner&Co. vertreten (Abteilung «Glas für Dekorations- und Haushaltszwecke», Ausstellernummer 6734). In der Abteilung «Photographische Apparate und Photographie» (Ausstellernummer 3011) kann man ein kleines Stück von Charles Babbages mechanischer Rechenmaschine Difference Engine besichtigen. Allerdings ist das Fragment zu diesem Zeitpunkt bereits ein Museumsstück, der Bau der vollständigen Rechenmaschine scheiterte aus verschiedenen Gründen, darunter Geldmangel. Der Erfinder ist selbst nicht anwesend und arbeitet sowieso längst an einer verbesserten Version, die ebenfalls nicht fertig wird. Wenn Sie ihm Ratschläge erteilen möchten, tun Sie das am besten per Post. Seine Adresse ist 1 Dorset Street, Marylebone, London. Aber beeilen Sie sich, Babbage stirbt 1871. Die unvollendete Difference Engine wird zwischen 1985 und 2002 im Londoner Science Museum nach Babbages Plänen schließlich doch noch gebaut. Man kann sie dort ganz ohne Zeitreise besuchen.
Internationale Elektrizitätsausstellung, Paris 1881
Wann: 15. August bis 15. November
Eintritt: Je nach Wochentag und Tageszeit zwischen 50 Centimes und 1,50 Francs
Keine offizielle Weltausstellung, aber sehenswert für alle, die eine Zeit kennenlernen wollen, in der Elektrizität und ihre Anwendungen noch echte Begeisterung hervorrufen. Unter anderem stellt Thomas Alva Edison die Glühlampe vor, Alexander Graham Bell das erste kommerzielle Telefon, Werner von Siemens steuert eine erste elektrische Straßenbahn mit Oberleitung bei und Gustave Trouvé zeigt ein experimentelles Elektroauto. Mit dem von Clément Ader entwickelten Theatrophon kann man der Live-Übertragung einer in zwei Kilometer Entfernung aufgeführten Oper lauschen. Kopfhörer gibt es noch nicht, man muss sich zwei Hörmuscheln an die Ohren halten. Publikum und Berichterstatter sind beeindruckt. Das Theatrophon mit Münzeinwurf wird in den nächsten Jahrzehnten in Frankreich, Belgien, Großbritannien und Schweden sehr beliebt, anderswo setzt es sich nicht durch.
Paris 1889
Wann: 6. Mai bis 31. Oktober
Eintritt: ein Franc, an manchen Tagen müssen zwei Tickets gelöst werden
Diese «Exposition universelle» feiert das hundertjährige Jubiläum der Französischen Revolution und ist deshalb im Ausland umstritten. Den brandneuen Eiffelturm, das höchste Bauwerk der Welt, muss man in der ersten Woche der Weltausstellung noch zu Fuß besteigen, da die Aufzüge nicht rechtzeitig fertig geworden sind. Nachts ist der Turm beleuchtet. Sie dürfen ihn fotografieren und die Fotos nach Belieben verwenden. Machen Sie davon Gebrauch, in der Gegenwart stellt das nämlich aus Bildrechtegründen ein Problem dar: Die Betreibergesellschaft beansprucht das Urheberrecht für nächtliche Aufnahmen des beleuchteten Eiffelturms.
Im Palais des Beaux-Arts gibt es konservative akademische Malerei zu sehen. Impressionismus ist dort nicht zu finden, weshalb der Maler Paul Gauguin im nahegelegenen Café des Arts (gegenüber vom Pressepavillon, außerhalb des Messegeländes) die «Exposition Volpini» veranstaltet. Dort hängen um die hundert Bilder verschiedener Impressionisten. Verkauft wird kein einziges. Einerseits könnten Sie also durch den Kauf einiger Bilder die Impressionisten ermutigen. Andererseits sollten Sie diese Bilder nicht mit nach Hause nehmen, so groß die Versuchung auch sein mag (siehe das Kapitel «Mitnehmen und Mitbringen»). Verschenken Sie sie im Jahr 1889 weiter, am besten an jemanden, der sie auch zu schätzen weiß und nicht gleich zum Flohmarkt tragen wird.
Im «village nègre» werden vierhundert Menschen aus verschiedenen französischen Kolonien in sechs Dörfern ausgestellt. Es ist einer der größten Menschenzoos dieser Zeit, aber keineswegs der einzige. Wie bei allen solchen Exponaten sind die gezeigten Rituale, Geräte, Kostüme, Tänze und Tätigkeiten zum größten Teil französische Erfindungen, die mit dem Alltag in den jeweiligen Kolonien wenig zu tun haben. Das Exponat soll dem Publikum den Unterschied zwischen französischem Fortschritt und fremder Barbarei verdeutlichen und so die Kolonialherrschaft rechtfertigen. Das ist nicht nur ein Problem dieser speziellen Ausstellung. Falls Sie bereits vorangegangene Weltausstellungen bereist haben, werden Ihnen auch dort Raubkunst und Ergebnisse der Ausbeutung von Kolonien begegnet sein – und beides finden Sie noch in den Museen der Gegenwart. Auch Buffalo Bills vielbesuchte «Wild West Show» ist ein fragwürdiges Unternehmen, das Sie nicht unbedingt unterstützen sollten. Im Unterschied zum französischen Publikum von 1889 haben Sie die Möglichkeit, sich ein realistischeres Bild von der Geschichte Nordamerikas zu verschaffen, und sind nicht auf solche Inszenierungen angewiesen. Machen Sie davon Gebrauch.
Chicago 1893
Wann: 1. Mai bis 3. Oktober
Eintritt: 50 Cent, Kinder 25 Cent
Die «World’s Columbian Exposition» findet nicht in Kolumbien statt, sondern in den USA; der Name bezieht sich auf die 400 (genau genommen 401) Jahre zurückliegende Landung von Kolumbus in Amerika. Auch hier beeindrucken einige Exponate durch große Langweiligkeit – so trägt der Staat Michigan einen elf Meter hohen Stapel Baumstämme bei, «eines der Weltwunder», wie es heißt. Aluminium («Geruchlos! Geschmacklos! Formbar! Elastisch!») ist immer noch das Metall der Zukunft, dank effizienterer Herstellungsverfahren aber nicht mehr teurer als Gold. Whitcomb Judsons neue Erfindung, der Reißverschluss, wird präsentiert, lässt das Publikum aber kalt Erst dreißig Jahre später setzt er sich durch. Teile der Veranstaltung ähneln einem Vergnügungspark, unter anderem enthält die Ausstellung ein Riesenrad, elektrisch beleuchtete Alpenpanoramen und einen zwölf Meter hohen Germania-Tempel aus Stollwerck-Schokolade. Auf dieser Weltausstellung lernen sich Thomas Edison und Ludwig Stollwerck kennen und entwickeln in der Folge gemeinsam die «Sprechende Schokolade», eine abspielbare Schokoladenschallplatte in «Qualität Extra-Zart».
USA
Wann: 14. April bis 12. November. Ein Besuchstermin in der zweiten Hälfte der Laufzeit ist ratsam, denn in der ersten Hälfte wird an einigen Stellen noch gebaut. Erscheinen Sie aber auch nicht zu spät, denn die Ausstellung gerät bald in finanzielle Nöte, und ein Teil der Attraktionen muss wegen mangelnder Rentabilität geschlossen werden. Viele Pariser haben Anteile an der Ausstellung erworben und verlieren ihr investiertes Geld, was zumindest in Frankreich dazu führt, dass die Begeisterung für Weltausstellungen nachlässt.
ein Franc. In den frühen Morgen- und späten Abendstunden müssen zwei Eintrittskarten gelöst werden.
CinéoramaMaréorama
Zu den Highlights gleich mehrerer Weltausstellungen gehören die «Kristallpaläste»: Dabei handelt es sich um gewaltige Konstruktionen aus Gusseisen, Holz und Glas, die beim Publikum äußerst beliebt sind. Die Begeisterung für Glaspaläste beginnt in London im Jahr 1851, mit dem eigens für die Weltausstellung im Hyde Park errichteten Crystal Palace, der mehr als fünfhundert Meter lang und einundvierzig Meter hoch ist. Im Innern des Palastes finden sich ganze Bäume, aber die damit ebenfalls eingebauten Vögel werden zum Problem. Ähnliche Glaspaläste entstehen auf der Weltausstellung in New York im Jahr 1853 sowie in München (1854), Toronto (1858), Montreal (1860), Madrid (1887). Abgesehen vom letztgenannten fallen alle diese Gebäude später Bränden zum Opfer. Deshalb ist ein Besuch mit der Zeitmaschine empfehlenswert – jedenfalls wenn Sie sich für historische Monumentalbauten aus Glas interessieren.