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Brian Clegg

Eine kleine Geschichte der Unendlichkeit

Aus dem Englischen von Monika Niehaus und Bernd Schuh

Informationen zum Buch

Philosophen und Mathematiker hat das Nachsinnen über das Wesen des Unendlichen buchstäblich den Verstand geraubt – und dennoch ist es ein Konzept, das immer wieder unser Leben bestimmt. In diesem mit Anekdoten und Geschichten gespickten Buch nimmt uns Brian Clegg mit auf eine Reise durch das Grenzland zwischen dem extrem Großen und dem Ultimativen, von Archimedes, der die Zahl der Sandkörner bestimmte, die das Universum füllen würden, bis zu den neuesten Theorien über die physikalische Realität des Unendlichen.

Informationen zum Autor

Brian Clegg lehrt Naturwissenschaften an der Universität Cambridge. Er ist Mitglied der Royal Society of Arts, hält regelmäßig Vorträge an anderen hochkarätigen Universitäten und schreibt für verschiedene Magazine. Seine Radio- und TV-Beiträge sind legendär. Er gilt als einer der brillantesten Science-Autoren weltweit.

 

 

 

Für Gillian, Rebecca und Chelsea

und auch für Neil Sheldon von der Manchester Grammar School dafür,

dass er so viel Geduld für die Sache

mit den Fröschen und den Seerosenblättern aufgebracht hat.

1

Bis zur Unendlichkeit und darüber hinaus

In diesem unglaublichen Universum, in dem wir leben,
gibt es nichts Absolutes. Selbst Parallelen
schneiden sich irgendwo im Unendlichen.

Pearl S. Buck, Zuflucht im Herzen

 

Die Unendlichkeit ist ein so außergewöhnliches, so seltsames Konzept, dass das Nachsinnen darüber mindestens zwei große Mathematiker in den Wahnsinn getrieben hat.

In seiner SF-Reihe Per Anhalter durch die Galaxis beschreibt Douglas Adams, wie die Autoren seines imaginären Reiseführers in der Einleitung kein Halten mehr kennen:

 

«Der Weltraum», heißt es da, «ist groß. Verdammt groß. Du kannst dir einfach nicht vorstellen, wie groß, gigantisch, wahnsinnig riesenhaft der Weltraum ist. Du glaubst vielleicht, die Straße runter bis zur Drogerie ist eine ganz schöne Ecke, aber das ist einfach ein Klacks, verglichen mit dem Weltraum. Pass mal auf …», und so weiter. Nach einer Weile beruhigt sich das Buch stilistisch ein bisschen und berichtet nun von Dingen, die man wirklich wissen muss …1

 

Die Unendlichkeit lässt den Raum klein erscheinen.

Dennoch begleitet uns dieses widerspenstige Konzept tagein, tagaus. Meine Töchter waren kaum 6 Jahre alt, als sie zum ersten Mal begannen, schneller und immer schneller zu zählen, was stets in einem Wortsalat und dem triumphierenden Schrei «Unendlich!» endete. Und obgleich die Unendlichkeit den Raum tatsächlich klein erscheinen lassen mag, ist unendlich gleichzeitig wohl das beste Etikett, das wir etwas so Riesigem wie dem Universum verpassen können.

Jeder, der über die Grundrechenarten hinausgelangt ist, stößt irgendwann unweigerlich auf das kleine Symbol ∞ (auch wenn wir noch sehen werden, dass diese betrunkene, in den Schmutz gefallene Acht nicht die wahre Unendlichkeit ist, sondern ein geisterhafter Blender). Physiker gehen mit einer Nonchalance und Leichtfertigkeit mit diesem Konzept um, die jeden Mathematiker zusammenzucken lässt. Im Physikunterricht meiner Schule hieß es oft: «Der Toastständer ist unendlich.» Das bezog sich auf ein nahe gelegenes Gebäude, Teil des Manchester Catering College, das die Form eines riesigen Toastständers aufwies. (Die Ähnlichkeit ist beabsichtigt, ein seltenes Beispiel für Humor in der Architektur. Das angrenzende Gebäude sieht aus der Luft wie ein Spiegelei aus.) Wir benutzten die Ziegel dieser fantasievollen Struktur, um optische Instrumente zu fokussieren. Tatsächlich meinten wir mit «unendlich», dass das Gebäude «weit genug entfernt war, um so zu tun, als sei es unendlich weit entfernt».

Die Unendlichkeit fasziniert uns, weil sie uns über etwas nachdenken lässt, das jenseits unserer Alltagsprobleme, jenseits von allem liegt – als Thema ist sie im wahrsten Sinne des Wortes bewusstseinserweiternd. Sobald das Unendliche die Bühne betritt, scheint der gesunde Menschenverstand sie zu verlassen. Hier ist eine Größe, die die Arithmetik auf den Kopf stellt und es durchaus plausibel macht, dass 1 = 0 ist. Hier ist eine Größe, die uns erlaubt, so viele zusätzliche Gäste in ein bereits volles Hotel zu stopfen, wie wir wünschen. Und was das Bizarrste ist: Es lässt sich recht leicht zeigen, dass es etwas geben muss, das größer als unendlich ist – wo dies doch eigentlich die größte Menge ist, die es geben kann.

Obgleich keine Wissenschaft so abstrakt ist wie die Mathematik, hat es sich im Fall der Unendlichkeit als schwierig erwiesen, spirituelle Erwägungen außer Acht zu lassen. Wenn Menschen über das Unendliche nachdenken, ist es so gut wie unmöglich, theologische Gefilde außen vor zu lassen, ganz gleich, ob man versucht, die Existenz von etwas Größerem als dem Universum zu beweisen oder zu widerlegen. Unendlichkeit hat die seltsame Fähigkeit, vieles in einem zu sein. Sie ist gleichzeitig praktisch und unbegreiflich. Naturwissenschaftler und Ingenieure benutzen sie ganz ungeniert, weil sie funktioniert – aber sie sehen sie als Black Box an, denn sie stehen zu ihr im selben Verhältnis wie die meisten von uns zu einem Computer oder einem Handy – etwas, das tut, was wir wollen, wenn wir auch nicht genau wissen, wie.

Mathematiker nehmen in dieser Hinsicht eine ganz andere Haltung ein. In ihren Augen erschüttern moderne Überlegungen zur Unendlichkeit die komfortable, traditionelle Welt genauso in ihren Grundfesten, wie die Quantenmechanik das in sich geschlossene, klassische Bild zerstörte, das sich die Physiker vom Funktionieren der Welt gemacht hatten. Physiker haben sich widerwillig mit Konzepten wie Teilchen beschäftigen müssen, die gegen den Zeitstrom schwimmen oder sich gleichzeitig in zwei verschiedenen Zuständen befinden. Als menschliche Wesen verstehen sie nicht, warum das so sein sollte, aber als Wissenschaftler sind sie sich im Klaren, dass eine Akzeptanz dieses Bildes ihnen hilft vorherzusagen, was da gerade passiert. Wie der große Physiker Richard Feynman (1918  1988) in einem Vortrag vor einem Laienpublikum einmal meinte:

 

Ich möchte Sie davon abhalten sich abzuwenden, nur weil Sie die Sache nicht verstehen. Meine Physikstudenten verstehen die Sache ebenfalls nicht … weil ich sie nicht verstehe. Niemand versteht sie.2

 

Unendlichkeit bietet uns einen ähnlich verlockenden Mix aus Normalem und Kontraintuitivem.

All das macht Unendlichkeit zu einem faszinierenden, schwer zu fassenden Thema. Sie kann wie ein Reh sein, das man in den Tiefen eines Dickichts erspäht. Man erhascht einen Blick auf etwas Schönes, der einen innehalten lässt, aber einen Moment später ist man sich nicht sicher, ob da überhaupt etwas war. Und dann tritt das wunderbare Tier plötzlich ein paar Schritte vor und zeigt sich sekundenlang in seiner ganzen Pracht.

Ein echtes Problem bei der Unendlichkeit hat schon immer darin bestanden, sich durch das dichte Unterholz aus Symbolen und Fachbegriffen zu schlagen, mit denen die Mathematiker sich umgeben. Diese Fachsprache hat einen sehr guten Grund. Das Thema lässt sich ohne einen gewissen Gebrauch dieser beinahe magischen Beschwörungsformeln kaum handhaben. Aber es ist durchaus möglich, sie so transparent zu machen, dass sie den Weg nicht verstellen. Dann können wir einen klaren Blick auf eines der bemerkenswertesten mathematischen Geschöpfe werfen – ein Konzept, das weit über reine Zahlen hinausgeht und uns zwingt, unser Verständnis der Wirklichkeit auf den Prüfstand zu stellen.

Willkommen in der Welt der Unendlichkeit.

2

An den Fingern abzählen

Als Alexander von Anaxarch hörte, es gebe eine unendliche Zahl von Welten, brach er in Tränen aus. Auf die Frage seiner Freunde, ob ihm ein Unglück widerfahren sei, antwortete er:

«Meint ihr nicht, es sei der Klagen wert, wenn es eine derart große Fülle von ihnen gibt und wir noch nicht einmal eine einzige erobert haben?»

Plutarch, Von der Ruhe des Gemüts und andere philosophische Schriften

 

Eine Folge von Zahlen eine nach der anderen aufzusagen, ist uns seit Kindertagen vertraut. Das einfache, schrittweise Fortschreiten der Ziffern hat sich uns so eingeprägt, dass es überraschend schwierig sein kann, aus der Abfolge auszubrechen. Versuchen Sie einmal, so rasch Sie können, in Französisch (oder einer anderen Sprache, deren Grundlagen Sie beherrschen, die Sie aber nicht besonders flüssig sprechen) laut von 1 bis 10 zu zählen. Nun versuchen Sie’s andersherum – von 10 bis 1 –, ohne dabei langsamer zu werden. Gewöhnlich führt das zum Stolpern; der Rhythmus stockt, während wir nach der nächsten Zahl suchen. Wir verheddern uns in dieser tief eingeschliffenen Progression.

Zahlenfolgen sind Teil unserer Kultur; oft stehen sie im Zentrum von Abzählreimen, wie sie Kinder lieben. Die einfachsten sind simple Gedächtnishilfen, die auf unsere ersten Zählversuche zurückdatieren:

 

One, two, buckle my shoe,

Three, four, knock on the door,

Five, six, pick up sticks,

Seven, eight, lay them straight,

Nine, ten, a big, fat hen,

Eleven, twelve, dig and delve,

Thirteen, fourteen, maids a’courting,

Fifteen, sixteen, maids in the kitchen,

Seventeen, eighteen, maids in waiting,

Nineteen, twenty, my plate’s empty.1*

 

In einigen der späteren Reime spürt man eine gewisse Verzweiflung, aber sie beschwören auch eine faszinierende vergangene Welt voller Mägdelein in Schnallenschuhen herauf. Der repetitive, hypnotische Rhythmus hilft, die Zahlenwerte an die richtige Stelle zu setzen.

Andere Knittelverse eignen sich mehr zum Singen als die skandierte Wiederholung von «One, two, buckle my shoe»; ein typisches Beispiel ist:

 

One, two, three, four, five,

Once I caught a fish alive,

Six, seven, eight, nine, ten,

Then I let it go again.2*

 

Ebenso nützlich zum Zahlenlernen sind Lieder wie Ten Green Bottles (entspricht dem deutschen Kinderlied Zehn kleine Negerlein), bei dem die Zahlen rückwärts laufen, damit Kinder einen flexibleren Umgang mit Zahlen lernen.

Aber Zahlenreime beschränken sich nicht darauf, uns zu helfen, die Grundlagen des Zählens zu erlernen. Komplexere Verse bereichern die Zahlenfolge um Symbolik. Es ist schwer, sich der Magie der Zahlen zu entziehen, die sich in Reimen wie der Elstern-Prophezeiung widerspiegelt. Diese traditionelle Versform, Zuschauern des britischen Kinderfernsehens der 1970er Jahre als Titelsong des Magazins Magpie (Elster) bekannt, verknüpft die Zahl der gesehenen Elstern (oder Krähen) mit einer Vorhersage der Zukunft. Es geht nicht so sehr ums Zählen wie ums Prophezeien.

Die TV-Show verwendete den ersten Teil einer häufigen, gesäuberten Fassung:

 

One for sorrow, two for joy,

Three for a girl and four for a boy,

Five for silver, six for gold,

Seven for a secret, never to be told,

Eight for a wish and nine for a kiss,

Ten for a marriage never to be old.33*

 

Die folgende, frühe Lancashire-Version zeichnet sich jedoch durch einen handfesteren Realismus aus:

 

One for anger, two for mirth,

Three for a wedding and four for a birth,

Five for rich, six for poor,

Seven for a bitch [or witch], eight for a whore,

Nine for a burying, ten for a dance,

Eleven for England, twelve for France.44*

 

Viele Kinder entwickeln eine Faszination für einfache Folgen von natürlichen Zahlen. Sobald Kinder die Regeln verstanden haben, wie man Zahlen benennt, passiert es nicht selten, dass ihre Eltern sie bitten müssen aufzuhören, weil sie übermäßig viel Zeit damit verbringen, weiter und immer weiter zu zählen. Vielleicht wollen sie bis ans Ende kommen, die ‹höchste Zahl› benennen. Aber das ist eine Aufgabe, bei der sich der Wunsch nach Vollständigkeit nie erfüllen wird. Ein Kind kann für den Rest seines Lebens zählen und würde nie ans Ziel kommen. Kinder sind offenbar fasziniert von der Ordnung, dem einfachen Muster einer solchen elementaren, sich Schritt für Schritt entwickelnden Zahlenreihe.

Der Wunsch nach Ordnung gehört zur menschlichen Natur; wir sehen selbst dort Muster, wo keine sind. Wenn wir die Sterne anschauen, stellen wir uns Sternbilder vor – Formen, die diese leuchtenden Punkte zu einer Strichzeichnung verknüpfen, obwohl es in Wirklichkeit keinerlei Verbindung zwischen ihnen gibt. Denken Sie nur an das Sternbild Centaurus am Südhimmel. Deren hellster Stern, Alpha Centauri, ist uns am nächsten, nur vier Lichtjahre entfernt; der zweithellste Stern des Sternbilds, Beta Centauri (oder Agena, auch Hadar), ist 400 Lichtjahre entfernt, fast 100 Mal weiter. Wir verbinden irrigerweise zwei Objekte, die durch einen Abstand von mindestens 3 746 476 800 000 000 Kilometern getrennt sind.

Unsere eigene Sonne liegt viel näher an Alpha Centauri, als es Beta Centauri tut, aber wir würden kaum auf den Gedanken kommen, dass unsere Sonne und Alpha Centauri ein Muster bilden. Alpha und Beta Centauri sind nicht enger verknüpft, als es Houston und Kairo sind, nur weil sie auf annähernd demselben Breitengrad liegen. Unsere Augen und Gehirne, die in den Myriaden blinkender Punkte am Himmel nach einer Struktur suchen, täuschen uns, indem sie uns Muster vorgaukeln.

Wir suchen vor allem deshalb nach Mustern, um uns das Wiedererkennen zu erleichtern. Unser Gehirn zerlegt die komplexen Konturen eines Fressfeinds oder eines menschlichen Gesichts in einfache Muster, die uns erlauben, beide aus verschiedenen Blickwinkeln und Entfernungen zu erkennen. Genauso, wie wir bei den materiellen Objekten rund um uns herum nach Mustern suchen, halten wir nach Mustern in Zahlengruppen Ausschau, und wenige sind einfacher und leichter zu begreifen als die Folge der natürlichen Zahlen 1, 2, 3, 4, 5, 6, …

Die Auslassungszeichen am Ende der Folge, diese Gruppe von drei Punkten (…), ist eine Kurzschrift, die über den Bereich der Mathematik hinausreicht, obwohl wir ein wenig darauf achten müssen, wie sie verwendet wird. Normalerweise bedeutet sie lediglich «und so weiter» im Sinne von «mehr desselben», doch für Mathematiker, penibler als wir Übrigen, heißt dieses Kürzel «und so weiter ohne irgendein Ende». Es gibt keinen Punkt, an dem man sagen könnte, die Folge sei beendet, sie geht immer weiter. Und weiter. Und weiter.

Seit frühester Zeit, schon, als es noch keine Wissenschaft gab, aber der Mensch begann, die natürliche Welt und die Welt des Geistes zu erforschen, wurden solche Zahlenreihen voller Faszination studiert. Sie sind Ureinwohner der mathematischen Gefilde, ebenso reich und vielfältig wie irgendeine Tierfamilie auf biologischem Gelände. Einige Zahlenreihen sind fast so einfach wie die ersten Zählzahlen; so führt die Verdopplung der vorangegangenen Zahl beispielsweise zu der Folge

 

1, 2, 4, 8, 16, 32, 64, 128, …

 

Aber die Dinge müssen nicht immer derart hübsch geordnet sein. Es gibt Folgen, deren Richtung variiert, sodass sie zu tänzeln scheinen – zwei Schritte nach vorn und einen Schritt zurück:

 

1, 3, 2, 4, 3, 5, 4, 6, 5, 7, …

 

Oder es gibt Zahlenfolgen, die dadurch entstehen, dass man die beiden vorangegangenen Zahlen addiert, um die folgende zu erhalten, die sogenannten Fibonacci-Zahlen:

 

0, 1, 1, 2, 3, 5, 8, 13, 21, …

 

Ebenso können wir über Addition und Subtraktion hinausgehen und ungestümere Ausflüge unternehmen, die sich vervielfachen und abheben wie ein Schwarm Vögel, der am Seeufer aufgescheucht wird; die Quadratzahlen, die ursprünglichen natürlichen Zahlen, mit sich selbst multipliziert, beispielsweise

 

1, 4, 9, 16, 25, 36, 49, …

 

oder das sich rasch beschleunigende Fortschreiten einer Folge, bei der die beiden vorangegangenen Terme multipliziert werden:

 

1, 2, 2, 4, 8, 32, 256, 8192, …

 

Die meisten Folgen dieses Typs waren den griechischen Philosophen bekannt, die sich als Erste mit der Natur der Zahlen beschäftigten. Eine bestimmte Klasse von Folgen scheint sie jedoch besonders fasziniert zu haben. Dabei handelte es sich nicht um Folgen ganzer Zahlen, sondern von Brüchen.

Bei der einfachsten Folge von Brüchen nimmt man jede ganze Zahl und stellt sie in den Nenner des Bruchs:

 

1, 1/2, 1/3, 1/4, 1/5, 1/6, …

 

Diese Zahlenfolge ist nichts Besonderes. Wenn wir jeden Term zum nächsten addierten, würde die Summe ohne Grenze weiterwachsen. Aber die griechischen Philosophen bemerkten ein ganz anderes – ein bizarr anderes – Verhalten, wenn sie eine winzige Veränderung vornahmen. Statt die aufeinanderfolgenden Zahlen in den Nenner des Bruchs zu setzen, wird die neue Folge dadurch gebildet, dass man die Zahl im Nenner verdoppelt. Das Ergebnis

 

1, 1/2, 1/4, 1/8, 1/16, 1/32, …

 

hat eine sehr seltsame Eigenschaft, so seltsam, dass der Philosoph Zenon darauf zwei seiner immer noch berühmten Paradoxien aufbaute.

Wir wissen sehr wenig über Zenons Werk. Seine gesamten Schriften gingen bis auf ein paar hundert Worte verloren (und selbst bei diesen ist zweifelhaft, ob sie Zenon zugeschrieben werden können). Geblieben sind uns nur Kommentare aus zweiter Hand, von Autoren wie Platon und Aristoteles, die keineswegs mit Zenons Ideen sympathisierten. Zenon war, das wissen wir, ein Student des Parmenides, der um 539 v. Chr. geboren wurde. Parmenides schloss sich der Schule von Elea in Süditalien an. Man kann die Ruinen dieser phönizischen Kolonie heute noch vor den Toren der modernen italienischen Stadt Castellammare di Velia besichtigen. Dort betrieb die eleatische Schule eine Philosophie, die ein einziges, unveränderliches Sein postulierte – man ging davon aus, dass alles im Universum so ist, wie es ist, und jede Veränderung, jede Bewegung, nichts als eine Illusion ist.

Soweit wir wissen, könnte Zenon viel zur eleatischen Philosophie beigetragen haben, doch heute wird er allgemein als mathematisches One-Hit-Wonder erinnert. Was bei uns – wenn auch nur als schwacher Abglanz in Kommentaren anderer – angekommen ist, ist seine Begeisterung dafür, die Art und Weise zu hinterfragen, wie wir über Bewegung denken. Das demonstriert eine feste Überzeugung der Eleaten, die Leugnung der Existenz jedweder Veränderung, aber selbst in dieser indirekten Form meint man, ein metaphorisches Glitzern in Zenons Augen zu erkennen, während er seine Argumente darlegt. Die späteren Autoren, die die Paradoxien weitergeben, verweisen darauf, dass Zenon damals noch grün hinter den Ohren war. Zwar tun sie dies in herabsetzender Absicht, doch es lässt sich nicht leugnen, dass seinen Ideen ein durchaus positives Element jugendlicher Herausforderung anhaftet.

Insgesamt sind vierzig Betrachtungen Zenons über die statische Natur des Universums überliefert, doch vier von ihnen sind es, die auch heute noch unsere Fantasie beschäftigen, und es sind diese vier, die sich besonders auf die Betrachtung von Bewegung und der seltsamen Zahlenfolge 1, 1/2, 1/4, 1/8, 1/16, 1/32, … auswirken.

Das einfachste der vier Paradoxa erzählt die Geschichte von Achilles und der Schildkröte. Achilles, der wohl schnellste Mann seiner Zeit, vergleichbar einem modernen Spitzensportler, tritt im Wettlauf gegen die gravitätische Schildkröte an. Wenn man an das Ergebnis eines sehr ähnlichen Rennens in einer Fabel von Äsop (etwa zeitgleich mit Zenons Paradoxien) denkt, ahnt man schon, dass die Schildkröte gewinnt. Aber anders als das Resultat beim Wettlauf zwischen Schildkröte und Hase ist dieses unwahrscheinliche Ergebnis nicht Faulheit und Einbildung geschuldet. Vielmehr nutzt Zenon die schiere Mechanik der Bewegung, um der Schildkröte den Siegerkranz zuzusprechen.

Zenon geht davon aus, dass Achilles der Schildkröte großzügigerweise einen Vorsprung einräumt – schließlich handelt es sich kaum um einen Wettkampf zwischen Gleichstarken. Die Schildkröte startet daher eine beträchtliche Strecke vor Achilles. In kurzer Zeit (Achilles ist ein hervorragender Läufer) erreicht der durchtrainierte Held den Punkt, an dem die Schildkröte gestartet ist. Inzwischen hat die Schildkröte, so langsam sie auch ist, ein kleines Stück Wegs zurückgelegt. Sie liegt noch immer vorn. In noch kürzerer Zeit erreicht Achilles die neue Position der Schildkröte – doch diese kleine Zeitspanne hat die Schildkröte genutzt, um sich ein weiteres Stück Richtung Ziel zu bewegen. Und so geht der endlose Wettlauf, die physische Entsprechung der drei Punkte, immer weiter – Achilles verfolgt die Schildkröte bis in alle Ewigkeit, kann sie aber niemals ganz einholen.

Ein anderes von Zenons Paradoxa, das Teilungs- oder Dichotomieparadox, ist eng mit dem Schildkrötenparadox verwandt. Es zeigt, dass es unmöglich sein sollte, einen Raum zu durchqueren und ihn zu verlassen. Bevor man den Raum ganz durchquert, muss man zunächst einmal die halbe Strecke zurücklegen. Aber das gelingt nur, wenn man zuvor ein Viertel der Strecke zurücklegt. Und das erfordert, zunächst einmal ein Achtel des Wegs zurückzulegen – und so weiter. Die Folge

 

1/2, 1/4, 1/8, 1/16, 1/32, …

 

lässt erkennen, was geschieht. Sie werden niemals auch nur den Punkt 1/2 erreichen, weil Sie zuvor nicht den Punkt 1/4 erreicht haben, denn Sie sind nicht einmal bis zum Punkt 1/8 gekommen, und so fort – Sie können gar nicht starten, weil Sie den Anfangspunkt nicht definieren können. Sie können die Reihe immer weiter verfolgen und bis in alle Ewigkeit in immer kleinere Teilstrecken zerlegen. Welches ist der erste Punkt, den Sie erreichen? Das lässt sich nicht sagen, und daher, so argumentiert Zenon, ist Bewegung unmöglich.

Diese beiden Paradoxien lassen sich leicht mit dem Hinweis auflösen, dass Achilles’ Schritte nicht immer kleiner werden; daher wird er die Schildkröte, wenn er nur noch einen Schritt Abstand von ihr hat, im nächsten Schritt überholen. Dasselbe gilt für das Verlassen des Raums, nur umgekehrt – der erste Schritt, den Sie machen, umfasst all die kleineren Teile der Folge, bis zu welchem Bruchteil der Strecke quer durch den Raum auch immer er sie führt. Aber das geht am Kern der Geschichte vorbei. Schließlich wollte Zenon zeigen, dass die ganze Vorstellung von Bewegung als einem kontinuierlichen Prozess, der sich beliebig unterteilen lässt, unhaltbar war.

Es ist hilfreich, Zenons Paradox von Achilles und der Schildkröte mit unserer Folge

 

1, 1/2, 1/4, 1/8, 1/16, 1/32, …

 

zu vergleichen. Lassen Sie uns von der recht kühnen Annahme ausgehen, dass die Schildkröte halb so schnell läuft wie Achilles (vielleicht hat der Held einen schlechten Tag oder die Schildkröte ist gedopt). Dann legt die Schildkröte in der Zeit, in der sich Achilles um einen Meter vorwärts bewegt, einen halben Meter zurück. In der Zeit, in der Achilles diesen halben Meter bewältigt, kommt die Schildkröte einen weiteren Viertelmeter voran. Hat Achilles diesen Viertelmeter ebenfalls zurückgelegt, ist die Schildkröte einen Achtelmeter weitergekrochen. Plötzlich erscheinen all diese Zahlen sehr vertraut. Aber diese Parallele ist nicht das einzig Interessante. Denn sobald wir beginnen, die Zahlen dieser Folge zu addieren, passiert etwas Seltsames. Schauen wir uns dieselbe Folge von Brüchen an, doch diesmal addieren wir jede neue zur vorangegangenen Zahl, um die Gesamtsumme der zurückgelegten Strecke zu erhalten. Nun sieht die Folge so aus:

 

1, 11/2, 13/4, 17/8, 115/16, 131/32, …

 

Ganz gleich, wie weit man die Folge führt, man endet mit 1 und etwas mehr, und dieses «etwas mehr» nähert sich immer stärker dem Wert 1 (sodass insgesamt 2 herauskommt), erreicht diesen Wert aber nie ganz. Es ist gleichgültig, wie weit Sie die Folge fortführen, das Ergebnis bleibt immer unter 2. Nehmen Sie das größte Vielfache von 2, das Sie sich vorstellen können – wir wollen ihm den Fantasienamen «Quibbel» geben. Dann erhalten Sie, wenn Sie diesen Wert erreicht haben

aber nicht ganz 2.

Einer sehr großen Zahl einen willkürlichen Namen wie Quibbel zu geben, ist nicht so seltsam, wie es scheinen mag. Die größte Zahl mit einem nicht zusammengesetzten Namen, das Googol, hört sich nicht nur kindisch an, sondern wurde tatsächlich von einem Kind erfunden. Der Legende zufolge arbeitete der amerikanische Mathematiker Edward Kasner 1938 zu Hause und hatte aus irgendeinem Grund die unten aufgeführte Zahl an die Tafel geschrieben. «Das sieht wie ein Googol aus», meinte sein neunjähriger Neffe Milton Sirotta. Und der Name blieb hängen. Dieser Teil der Geschichte klingt unwahrscheinlich – plausibler ist anzunehmen, dass Kasner einfach nach einem Namen für eine Zahl suchte, die größer war, als sich irgendein vernünftiger Mensch vorstellen konnte, und den kleinen Milton um Vorschläge bat. Wie dem auch sei, ein Googol ist die völlig willkürliche Zahl

 

10 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000

     000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000

     000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000

 

oder eine 1 mit 100 Nullen.

1 Das verschwindende Photon

Kehren wir zur Folge 1, 1/2, 1/4, 1/8, 1/16, 1/32, … zurück. Wir stellen fest: Ganz gleich, wie viele Male wir einen Posten zu der Liste addieren, wir können die 2 niemals erreichen. Sobald Achilles diese scheinbare Barriere durchbricht, verliert die Schildkröte ihre Führung, doch die Folge selbst kommt nicht über eine immer stärkere Annäherung an 2 hinaus.

Ein modernes Äquivalent, das diese Folge in eine physikalische Realität übersetzt, ein Achilles-und-die-Schildkröte-Szenario des 21. Jahrhunderts, bestünde darin, sich eine Reihe von Spiegeln vorzustellen, die ein Lichtteilchen, ein Photon, reflektieren. Dabei sind die Spiegel spiralig angeordnet, und zwar so, dass sich die Wegstrecke, die das Photon von einem zum nächsten durchläuft, jeweils halbiert. Das offensichtliche Paradox ist hier, dass das Licht nur eine begrenzte Strecke zurücklegen wird, ganz gleich, wie viele Spiegel man in der Spirale unterbringen kann und wie viele Reflexionen man erlaubt. Doch es gibt noch eine andere, subtilere Überlegung.

Was passiert mit dem Photon am Ende des Prozesses? Wohin geht es? Wir wissen, dass es nach dem ersten Spiegel beginnt, sich auf einer Spirale nach innen zu bewegen, aber Licht kann nicht einfach anhalten. Das Photon muss sich weiterhin mit einer Geschwindigkeit von 300 000 Kilometer pro Sekunde fortbewegen. Wohin geht das Teilchen also?

In der Praxis scheint dies eine der Fragen zu sein, die ohne Bedeutung sind, weil wir uns über die Grenzen der physikalischen Realität hinausbewegen müssten, um zum Endergebnis zu kommen. Selbst wenn es möglich wäre, den Raum in unendlich viele kleine Einheiten zu unterteilen (wir werden im vorletzten Kapitel auf die Praktikabilität eines solchen Vorgehens zurückkommen), wissen wir, dass physikalische Materie keine kontinuierliche Substanz ist, die sich beliebig oft unterteilen lässt, wobei stets eine kleinere Version derselben Sache entsteht. Die Spiegelung des Lichts hängt von einer Wechselwirkung zwischen dem Photon und einem Elektron des reflektierenden Materials ab. Wenn die Spiegel immer kleiner werden, um in den verbleibenden Raum zu passen, müssen sie schließlich kleiner als ein Atom, kleiner als ein Elektron werden – und an diesem Punkt ist keine Reflexion mehr möglich, und das Photon setzt seine Reise ohne weitere Ablenkung fort.

Gleich werden wir wieder zu dieser schwer fassbaren Folge 1, 1/2, 1/4, 1/8, 1/16, 1/32, … zurückkehren, die so aussieht, als sollte sie sich zu 2 addieren, diesen Wert aber niemals ganz erreicht, doch lassen Sie uns der Ordnung halber erst die Sache mit Zenon und seinen Paradoxien abschließen.

Die beiden anderen Gedankenexperimente, die Zenon skizzierte, fordern die konventionelle Sicht der Bewegung in unterschiedlicher Weise heraus. Am berühmtesten ist wohl Zenons Pfeil. Zenon beschreibt einen Pfeil, der durch den Raum fliegt. Nach einer gewissen Zeitspanne hat dieser eine neue Position erreicht. Aber nun wollen wir uns den Pfeil an einem bestimmten Zeitpunkt vorstellen. Der Pfeil muss irgendwo sein. Man kann ihn sich wie ein Einzelbild eines Films im Raum hängend vorstellen. Das ist der Ort, an dem sich der Pfeil, sagen wir, genau zehn Minuten nach zwei befindet.

An dieser Stelle ist es praktisch, aufs Filmen zurückzugreifen. Es gibt inzwischen eine Videotechnik, die den Eindruck erweckt, sie könne die Zeit anhalten. Ein Objekt friert im Raum ein, während die Kamera rundherum fährt und es aus verschiedenen Richtungen zeigt. (Tatsächlich fangen mehrere Kameras den Moment aus verschiedenen Blickwinkeln ein, und ihre Aufnahmen werden von einem Computer miteinander verknüpft, um den Eindruck zu erwecken, die Kamera werde geschwenkt.) Stellen Sie sich vor, wir täten dies tatsächlich. Wir halten die Zeit in einem bestimmten Moment an und schauen uns den Pfeil an.

Nun lassen Sie uns dasselbe Manöver mit einem anderen Pfeil durchführen, der sich gar nicht bewegt. Wir verschwenden nicht allzu viele Gedanken daran, wie dieser zweite Pfeil im Raum aufgehängt ist. Wenn das für Sie wirklich ein Problem ist, könnten wir das Paradox mit zwei Lastern nachstellen, einer in Bewegung, der andere unbewegt, aber Zenon hat nun mal einen Pfeil benutzt, und ich würde gern dabei bleiben. Die Frage, die Zenon stellte, lautet: Wie unterscheiden wir die beiden Pfeile? Woher kennt der Pfeil den Unterschied? Woher weiß der erste Pfeil, dass er im nächsten Moment seine Position verändern muss, während der andere, der auf unserem Schnappschuss identisch aussieht, in Ruhe bleibt?

Das ist ein wunderbares Problem – während man Achilles und die Schildkröte fast als semantisches Problem ansehen kann, ist dies eine wirklich harte Nuss. Tatsächlich war es wohl nicht möglich, Zenon eine vernünftige Antwort zu geben, bis ein anderer großer Denker sich ebenfalls vorstellte, etwas anzuhalten. Wir müssen einen Sprung von 2400 Jahren machen, zu Albert Einstein, der auf einer Wiese am Ufer liegt und den Sonnenschein genießt.

An einem schönen Sommertag Anfang des 20. Jahrhunderts stellte sich Einstein in einem Berner Park vor, einen Lichtstrahl einzufrieren, nicht durch einen Schnappschuss, sondern dadurch, dass er sich mit derselben Geschwindigkeit längsseits fortbewegte. Nun befand sich der Lichtstrahl relativ zu Einstein in Ruhe. Das ist genauso, als säßen Sie im Auto und ein Laster führe mit gleicher Geschwindigkeit neben Ihnen her – aus Ihrer Sicht würde sich der Laster nicht bewegen. Aber Einsteins Tagtraum, das Licht anzuhalten, war ein echtes Problem, denn der Mechanismus, den der schottische Physiker James Clerk Maxwell rund 50 Jahre zuvor verwendet hatte, um die Natur des Lichts zu erklären, erlaubte dies nicht.

Maxwells Deutung des Lichts basierte auf Elektrizität und Magnetismus, die einander fortwährend umtanzen, ein Pas des deux, der nur bei einer einzigen Geschwindigkeit funktionieren konnte: bei Lichtgeschwindigkeit. Falls Licht seine Geschwindigkeit verringern könnte, würde das fein austarierte Wechselspiel zwischen Elektrizität und Magnetismus zusammenbrechen, und das Licht würde aufhören zu existieren.

Wenn Maxwell recht hatte, und das nahm Einstein an, dann konnte Licht nur dann existieren, wenn es sich mit dieser einen Geschwindigkeit fortbewegte. Und so kam Einstein zu der bemerkenswerten Erkenntnis, dass sich Licht stets mit dieser Geschwindigkeit fortbewegen müsse, ganz gleich, wie schnell man sich auf einen Lichtstrahl zubewegt oder sich mit ihm längsseits bewegt. Wo wir normalerweise Geschwindigkeiten addieren, wenn wir uns auf ein anderes, sich bewegendes Objekt zubewegen, oder Geschwindigkeiten subtrahieren, wenn wir uns in dieselbe Richtung wie ein anderes Objekt bewegen, ist Licht ein Spezialfall und hält sich nicht an die Regeln. Das ist die Vorstellung, die im Zentrum der speziellen Relativitätstheorie steht und Zenons Pfeil die Spitze nimmt. Denn Einstein wurde bald klar, dass die Festlegung von Licht auf eine einzige Geschwindigkeit (rund 300 000 Kilometer pro Sekunde im Vakuum) die scheinbare Natur der Wirklichkeit veränderte.

Einstein kombinierte diese feste Geschwindigkeit des Lichts mit der Grundgleichung der Bewegung, die sich seit Newtons Zeiten nicht geändert hatte. Er konnte zeigen, dass das Aussehen eines Objekts vom Bewegungszustand des Beobachters abhängt. Alltägliche, scheinbar feste Eigenschaften wie Größe, Masse und selbst der Fluss der Zeit erscheinen, so Einstein, dem Beobachter und dem beobachteten Objekt unterschiedlich. Dieser Effekt wird erst in der Nähe der Lichtgeschwindigkeit deutlich, doch er ist stets vorhanden. Wenn man sich relativ zu einem anderen Beobachter mit einer beliebigen Geschwindigkeit bewegt, konnte Einstein zeigen, verändert dies die Art und Weise, wie man dem Beobachter erscheint und wie man selbst den anderen sieht.

In Bewegung zu sein, verändert die eigene Weltsicht. Und das liefert dem Pfeil einen Mechanismus, zu «wissen», dass er sich in Bewegung befindet, denn seine Welt sieht anders aus als die Welt eines statischen Pfeils.

Mit Relativität hat auch Zenons letztes und am wenigsten eingängiges Paradox zu tun. Dieses sogenannte Stadion-Paradox geht von zwei Reihen Menschen aus, die einander in entgegengesetzter Richtung passieren. Ein Athlet in einer dieser beiden Reihen passiert doppelt so viele Körper in der anderen Reihe, als er passiert hätte, wenn er an stehenden Menschen vorbeigelaufen wäre. Selbst wenn seine Geschwindigkeit eine physische Grenze hat, scheint er doppelt so schnell gelaufen zu sein. In gewisser Weise rechtfertigt unser besseres Verständnis von Relativität Zenons Sichtweise. Er benutzte das Beispiel, um zu zeigen, dass die Vorstellung, sich mit einer bestimmten Geschwindigkeit zu bewegen, bedeutungslos ist – und damit hatte er recht. Von einer Geschwindigkeit kann man sinnvollerweise nur relativ zu einem Bezugspunkt sprechen.

Nachdem wir Zenons vier Paradoxien abgehandelt haben, wollen wir zu der Folge 1, 1/2, 1/4, 1/8, 1/16, 1/32, … zurückkehren. Gibt es eine Anzahl von Brüchen, die wir addieren könnten, sodass die Gesamtsumme 2 ergibt? Es wäre kaum überraschend, wenn Sie «eine unendliche Zahl» antworten würden. Aber was bedeutet das? Wenn man Kinder fragt, was Unendlichkeit ist, sobald sie erstmals mit dem Konzept in Berührung kommen, entgegnen sie oft, es sei «die größte Zahl, die es geben kann». Doch wie bereits erwähnt – ganz gleich, wie oft man einen dieser abnehmenden Brüche addiert, die 2 wird nie erreicht. Wenn Unendlich «die größte Zahl ist, die es gibt», dann führt uns das zu einem Bruch

und der ergibt immer noch keine glatte 2.

Das war ein Problem, das die alten griechischen Philosophen irritierte, die viel Zeit damit verbrachten, über solche Reihen nachzudenken. Aber um uns in die geistige Verfassung eines Zenon oder Platon hineinzuversetzen, müssen wir uns Zahlen so anschauen, wie es die Griechen selbst taten. Die Formulierung des letzten Satzes im vorangegangenen Abschnitt wäre für die Griechen unverständlich gewesen, denn sie besaßen ein völlig anderes Konzept von Brüchen als wir heute. Zur Blütezeit der griechischen Zivilisation ging man mit Zahlen im Allgemeinen ganz anders um.