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Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Mai 2015

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ISBN Printausgabe 978-3-499-63076-7 (1. Auflage 2015)

ISBN E-Book 978-3-644-54771-1

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-54771-1

Auf zum Härtetest!

Vieles erscheint von weitem verlockend, doch je geringer der Abstand wird, desto unangenehmer wirkt es. Zum Beispiel ein Familienfest. Anfang des Jahres haben wir für die Taufe oder Hochzeit oder den runden Geburtstag im Sommer zugesagt. Damals schien die Aussicht harmlos. Jetzt müssen wir tatsächlich hin und ärgern uns.

Damit die Zeit nicht völlig vertan ist, beschließen wir, eine kleine Reise daraus zu machen. Es ist mal wieder nicht so, dass ein steinreicher Onkel in herrlicher Gegend in einem Luxushotel feiert und uns samt Suite und Anreise alles bezahlt. Sondern unser armer Cousin hat sich zur Heirat entschlossen und erwartet ein Geschenk von uns. Wir haben die Wahl, bei ihm zu Hause unterm Schreibtisch zu schlafen, dazu lädt er ausdrücklich ein, oder uns selbst ein Hotel zu suchen. Als wäre das noch nicht genug, wird uns die Reise durch sein Ansinnen verdorben, wir mögen eine Rede halten.

Doch wir denken positiv. Damit die Zeit nicht gänzlich verloren ist, stellen wir eine idyllische Reiseroute zusammen. Dank klug gewählter Abstecher werden wir uns dem Ort des Schreckens betont langsam nähern. Es gibt alte Städtchen auf dem Weg, eine ruhmreiche Kathedrale, ein Schlosshotel sowie empfohlene Feinschmeckerlokale. Darüber werden wir den Anlass der Reise vergessen. Leider müssen wir mehr Gepäck als gewöhnlich mitnehmen, weil wir in edler Robe erwartet werden. Für die paar Stunden formeller Heuchelei schleppen wir also zwei Koffer extra mit. Na gut. Wir fahren ja mit dem Wagen.

«Fahrt ihr mit dem Wagen?», erkundigt sich der Cousin einen Tag vor unserem Aufbruch. Zum Lügen fehlt uns der Mut, obwohl wir ahnen, was kommt. «Könnt ihr dann vielleicht einen Abstecher nach Bottrop machen und Tante Helga mitbringen?» Abstecher? Wir wissen nicht mal, wo Bottrop liegt. «Ihr würdet uns allen einen großen Gefallen tun.» Die Tante sei bereits informiert.

Die Wogen des Unglücks schlagen zusammen. Ade, alte Städtchen, Burgen, gemütliche Weinlauben. Guten Tag, graue Tante. Wir hätten rigoros abgelehnt, wenn wir nicht ebenfalls an Helga interessiert wären, zumindest an ihrer Hinterlassenschaft. Schließlich gehören wir zur sogenannten Erbengeneration, auch unsere eigenen Kinder zeigen bereits Interesse.

Jedenfalls sind wir nun mittendrin im Familiendesaster. Erholsam kann die Reise nicht mehr werden. Die Tante möchte vorne sitzen, sonst wird ihr schlecht. Außerdem berichtet sie, dass Onkel Peters Neffe auf der Hälfte des Weges wohnt. Onkel Peter? Wer soll das denn sein? Sie hat uns bereits bei seinem Neffen angekündigt. Wir dürfen uns auf das Etagenbett der Kinder freuen; die sind in den Ferien. Na, wunderbar. Wer oben schläft, wird nachts beim Abstieg auf den Bauklötzen ausrutschen und gegen das Bügelbrett stürzen.

Die herrlichsten Landschaften werden getrübt, weil Helga auf dem Vordersitz unablässig aus ihrer Jugend berichtet. Wir malen uns schon mit Schrecken aus, wen wir sonst noch auf dem Familienfest treffen. Witzige Zwischenrufe während unserer Rede sind zu erwarten. Obendrein kommen wir vielleicht mit neuer Partnerin. Sie wird von der Seite inspiziert und erfährt durch kleine Bemerkungen Dinge, die sie eigentlich nicht wissen sollte.

Einige Verwandte sind einfach peinlich. Oder sind etwa wir ihnen peinlich? Andere haben wir so lange nicht gesehen, dass wir sie nicht erkennen. Ihr Name ist uns ohnehin entfallen. Cliquen sondern sich ab. Gesprächige Jugendliche werden einsilbig. Uns fallen auch keine bessere Fragen ein als: «Was machst du denn jetzt so? Und was willst du dann machen?»

Längst bereuen wir, dass wir für diese Reise Urlaub genommen haben. Wir können uns nicht mal bei einem gesetzten Essen für die Konversation schadlos halten. Der knickerige Cousin hat lediglich ein Buffet aufbauen lassen, im Gemeindesaal einer evangelischen Kirche. Die Stühle sind hart, der Anzug kneift. Im Halbdunkel der Bühne spielt eine Dame Saxophon zur Tonband-Begleitung. Wir beschließen, wenigstens den aufgeschobenen Tanzkurs demnächst anzufangen. Zum Glück bekommen wir plötzlich Migräne.

«Schade, es ist so ein tolles Fest!», sagen wir dem Cousin, als wir schmerzverzerrt das Feld räumen. Im Ausgang treffen wir regennasse Gestalten, die erst jetzt eintreffen, weil sie sich beim Spaziergang zwischen Mittag und Kaffeetrinken verirrt haben. Einige sehen aus, als könne eine psychiatrische Begutachtung nicht schaden. «Waren das auch deine Verwandten?» Keine Ahnung. Möge man sich erst zur Beerdigung wieder treffen.

Zermürbt und übermüdet schlingern wir am nächsten Tag heimwärts. Erst aus weiter Entfernung und nach langer Zeit wird uns diese Reise lustig oder wenigstens kurios vorkommen. Als erzählenswertes Abenteuer. Wir vergessen die Misshelligkeiten. Nur so ist es zu erklären, dass wir uns auch noch zu einer Reise mit unserer Schwester und ihrem Mann überreden lassen. Anschließend bricht der Kontakt ab. Wir hatten gedacht, die beiden seien ein nettes Paar. Hinterher wissen wir es besser.

Oder wir nehmen unseren Onkel Christian mit, der früher als humorvoll galt. Jetzt lebt er schon einige Zeit allein. Deshalb wohl hat niemand ihm gesagt, wie grauenhaft dieses Quietschen und Krachen in seinen Kinngelenken klingt, wenn er morgens sein Müsli zermalmt. Wir sagen es auch nicht. Wir möchten nur nie wieder mit ihm auch nur einen einzigen Tag verbringen. Bei einem Familienurlaub lernen wir, dass unsere nicht mehr ganz junge Mutter ziemlich früh aufsteht. Im Morgengrauen räumt sie den Geschirrspüler leer. Jeden Tag. Kein Vorwurf, dass wir in den Ferien lange schlafen. Nur demonstratives Klappern um sechs Uhr früh. Anschließend Stille. Sie ist auf ihren langen Morgenspaziergang aufgebrochen. Dürfen wir schon frühstücken? Die Kinder wollen. Also frühstücken wir. Und dann steht sie plötzlich in der Tür: Ach, ihr habt schon angefangen? In der Hand als blühenden Vorwurf einen Feldblumenstrauß.

Reisen mit Verwandten sind ein Härtetest. Einerseits, weil an unseren Verwandten plötzlich Gewohnheiten zutage treten, die wir so genau gar nicht kennenlernen wollten. Weil zum Beispiel derselbe Witz, täglich gehört, irgendwie an Charme verliert. Und andererseits und vor allem, weil es immer darum geht, wer das Sagen hat. Weil – zunächst subtil, dann immer deutlicher – um die Macht gerungen wird. In besonderen Fällen sogar um die Erbschaft. Ach ja! Da war doch was! Allmählich dürfen wir uns wohl auf die nächste Reise zu einem Familienfest freuen, zum letzten großen Fest, das Tante Helga feiert. Oder das zumindest ihr gewidmet ist. Da treffen wir dann alle anderen wieder. Mal sehen, was die inzwischen so erlebt haben. Hier kommen sie.

Edgar Wilkening

Der wahre Jakobsweg

«Wird aber auch Zeit, Mann», lachte der Lockenkopf, der lässig auf den Steinstufen vor der mittelalterlichen Kirche fläzte. «Dachte schon, ich hätte dich hier verpasst, Alter. Hab schon angerufen. Immer nur Mailbox dran bei dir.» Ich muss den schlaksigen jungen Mann, der sich von den Stufen erhob, angestarrt haben, wie man eine Marienerscheinung anstarrt, wenn sie Push-up und Strapse trägt.

«Stephan? Was machst du denn hier?»

«Ich warte auf dich. Halb neun war ich da. Jetzt ist es gleich eins.» Ich schüttelte konsterniert den Kopf. Ein Versuch, meine Marienerscheinung abzuschütteln. Als ich die Augen wieder aufschlug, war er immer noch da. Mein Cousin.

«Können wir dann endlich?», fragte er und griff nach einem voluminösen Rucksack.

«Können wir was?»

«Na, wandern!» Er wies mit dem Kopf auf ein Schild auf dem Vorplatz der Kirche. Auf leuchtend blauem Grund zeigte es ein knallgelbes Objekt, das aussah, als hätte jemand eine halbe Sonne gemalt, mit unterschiedlich langen Strahlen.

«Bußfertig pilgern», half er mir auf die Sprünge. «Oder was hast du vor?»

Ja, klar, das war mein Plan: den Jakobsweg wandern. Etappe sechs meiner höchstpersönlichen Pilgerroute. Heute war Tag eins. Und deshalb war ich hier, am Ausgangspunkt des fränkisch-schwäbischen Teil des Weges. An der Don-Bosco-Kirche im Mainviertel Würzburgs, unweit der Residenz. Und natürlich war mein Plan, die Pilgerroute allein zu gehen, wie schon die früheren Etappen. Ohne Begleiter und Konsorten, die einen ablenken und sich in die innere Einkehr mischen.

Was in drei Teufels Namen machte diese Ausgeburt von Verwandtschaft hier? Im Grunde mochte ich den Burschen. Wenn wir uns bei Familienfeiern von weitem sahen, kamen wir gut miteinander aus. Stephan war als Nesthäkchen der Familie zur Welt gekommen. Mein Onkel und meine Tante hatten ihm einiges durchgehen lassen. Er hatte mehr Freiheiten genossen als seine Geschwister. Deshalb lebte er mit Anfang dreißig immer noch als Student. Und zwar der Wirtschaftsphysiologie oder der Betriebssozionomie. Oder so was von der Art, was überall jederzeit dringend gebraucht wird.

Aber das erklärte absolut nicht, was er hier und jetzt auf meinem persönlichen Jakobsweg zu suchen hatte. «Hab ich doch gesagt: Vielleicht sieht man sich», grinste der ewige Student.

«Das hast du gesagt?»

«Oder habe ich geschrieben. Auf Facebook. Als du gepostet hast, dass es heute von hier aus losgeht.» Mist! Ich erinnerte mich an dieses Posting. Und an Stephans Like. Und an seinen Kommentar. Das «Vielleicht sieht man sich» hatte ich allerdings auf das nächste Familientreffen bezogen. Ziemlich leichtfertig, wie sich jetzt zeigte.

«Das ist ja wirklich toll! Ganz liebe Idee von dir, mich persönlich zu verabschieden! Dem Pilger ein Lebewohl zu winken. Danke! Ich schreib dir, ich maile dir, ich poste was. Und grüß mir inzwischen Tante Tine, Onkel Bernd und den Rest der Bande, und genieß die Zeit. Also, bis dann!»

Damit drehte ich mich um und marschierte los, mit einem extrem unguten Gefühl im Magen. Aber stracks in die Richtung, die das blaue Schild mit halber Sonne wies.

«He, Alter, warte mal!», hörte ich Stephan. «Jetzt bleib mal fünf Minuten stehen. Bin ja schon so weit.»

In meinem Alter hört man nicht mehr so gut. Ich beschleunigte meinen Schritt. Meine jährliche Etappe Jakobsweg war und ist mir heilig. Eine Woche weg von allem, raus aus dem Alltag, aus der Hektik. Entschleunigen. Niemandem Rechenschaft schulden. Nur bei mir selbst sein. Besinnung finden. Ruhe. Einkehr. Ich wusste, dass meine Familie voller Anerkennung und Respekt war, dass ich diese Auszeiten auf den Pfaden alter Pilger machte. Dass ich konsequent auf alles Weltliche verzichtete. Dass ich wenigstens eine Woche lang in Einfachheit, Demut und Bescheidenheit lebte.

Was ich nicht wusste: dass mein kindsköpfiger Cousin glaubte, diese Leidenschaft zu teilen. Und jetzt auch ganz real mit mir teilen wollte. Ich musste den Knaben loswerden, und zwar möglichst schnell. Ich zog mein Marschtempo noch mal an. Als ich die Brücke über den Main passierte, hatte er mich trotzdem eingeholt. Kein Wunder bei seiner Schrittlänge. Er überragte mich um mehr als einen halben Kopf.

«Sag mal, was ist denn los?», keuchte er neben mir. «Erst nicht in die Hufe kommen und dann so ein Affenzahn?» Der voluminöse Rucksack auf seinen Schultern machte ihm hörbar zu schaffen. Sehr gut. Er rang nach Atem. Wunderbar.

Am Ende der Brücke führte der Weg hinab zum Fluss und dann am Mainufer entlang. Es war ein lauer Septembertag. Er hätte schön sein können.

«Wie machst du das bloß mit deinem Gepäck?», hechelte Stephan und blickte neidisch auf das Beutelchen auf meinem Rücken. Es wirkte zwergenhaft im Vergleich zu seinem Trumm. «Da hast du alles drin? Für eine Woche? Wahnsinn, Alter. Der sieht aus, als wäre bei Shampoo und Zahnbürste schon Obergrenze.»

«Die Kunst liegt im Verzichten», entgegnete ich mürrisch. «Pilgern ist Entsagung. Weniger, noch weniger, am wenigsten! Nur das Allernötigste, kein bisschen mehr. Aber es geht den meisten Pilgern so, dass sie beim ersten Mal zu viel mitnehmen.»

Stephan staunte aufrichtig. «Wow, da sieht man, wie viel Erfahrung du hast. Ich stand nämlich zu Hause und wusste nicht, was ich noch weglassen könnte. Muss ich echt noch üben, Mann. Und das sind richtig amtliche Wanderschuhe?» Er deutete auf die leichten, hellbraunen Lederslipper an meinen Füßen.

War das ein Verhör? Hätte ich mich heute Morgen lieber für Stiefel entscheiden sollen? Das ging den Knaben überhaupt nichts an, dass die Schuhe stinknormale Freizeitslipper waren. Angesichts der heiteren Wetterlage hatte ich am Vormittag, als ich mit weinschwerem Kopf erwacht war, den Gedanken an klobige Wanderbecher nicht ertragen können.

«Wanderschuhe sollen doch Halt geben?», bohrte Stephan. «Besonders an den Knöcheln? Und griffige Sohlen haben, so wie meine hier, für festen Tritt?»

«Meinst du, die Pilger im Mittelalter hatten solche Hightech-Outdoor-Trekking-Texapore-Stiefel?»

«Ach so, nein, nein.»

Hörte ich da immer noch einen skeptischen Unterton? Irgendeine Form von Misstrauen? War der Herr Cousin ein Spitzel? Wollte meine Sippschaft mir eine Falle stellen?

«Wer hat dich geschickt?», fuhr ich ihn an. «Tante Tine? Mein Bruder? Oder wer?»

«Nein, nein, Mann!» Eingeschüchtert wich er zur Seite. «Die wissen nicht mal, dass ich hier bin. Ich wollte das einfach probieren mit dem Pilgern. Ob das was ist für mich. Machen ja viele jetzt. Und alle bewundern dich, wegen der Einfachheit und Genügsamkeit und so. Deshalb bin ich gestern hergekommen, weil ich ja wusste, dass du hier loswillst, und habe bei einem Freund übernachtet und dann an dieser Kirche auf dich gewartet. Niemand weiß davon. Echt nicht! Jetzt tut es mir fast schon leid.»

Ich knurrte und schwieg. Und auch mein Mitläufer hielt für eine Weile den Mund. Der Main wand sich malerisch um einen Hügel. Und ich machte mir Gedanken, wie ich diesen Anhänger loswerden könnte. Denn es hatte sich schon beim ersten Mal so ergeben, vor Jahren, auf der ersten Etappe, gleich am ersten Tag, dass ich meine ganz eigene Art entwickelt hatte, den Jakobsweg zu gehen. Eine so persönliche Weise, dass Begleiter nur störten. Damals war ich mit meinem bekannten eisernen Willen gestartet. Es war ein lausiger, verregneter Sommer gewesen. Und ich hatte ihn sofort zu spüren bekommen, als ich den Bahnhof unter der Last eines schweren Rucksacks verlassen hatte.

So wie Eskimos mehr als zwanzig verschiedene Worte für Schnee kennen, kann ich seit jenem Tag mehr als zwanzig unterschiedliche Arten vom Himmel fallender Feuchtigkeit benennen. Allerdings enthalten die Bezeichnungen einige Fäkalbegriffe, sodass es sich verbietet, sie hier einzeln zu nennen. Okay, vielleicht trug ich die falsche Ausrüstung. Vielleicht war ich ungenügend vorbereitet gewesen. Als ich gegen Nachmittag die Herberge erreichte, die mir ein Pilgerführer empfohlen hatte, trieften mein Gepäck und ich und hinterließen große Pfützen, sobald ich irgendwo stehen blieb.

Die Herberge war nicht beheizt. Klar. Es war ja Sommer. Mein karges Zimmer musste ich mit zwei Pilgern teilen, die mich mit erleuchteten Augen grüßten und zum gemeinsamen Dankgebet luden. Sie wirkten etwas irritiert, als ich drei, vier meiner Regenbezeichnungen in den Raum schleuderte und ihnen erklärte, dass ich im Augenblick keinen Grund für Dank finden könnte. Aber vielleicht später. Viel später.

In der Gemeinschaftsküche hatte es einen Wasserkocher gegeben und einen Pappkarton mit schlappen Beutelchen für Hagebutten- und Kamillentee. Außerdem verschlissene Blechtöpfe zur Bereitung trübsinnigen Pilgerbreis. Ich beschloss, der Tristesse der Herberge durch frühes Zubettgehen zu entfliehen. Schlafsack und Kleidung hatte ich zum Trocknen über einen Stuhl gebreitet. Die dünne Decke, die mir die Herbergsleitung geliehen hatte, zog ich bis zu den Ohren und rang in dem Bett, das bei jeder Bewegung knarzte, um Schlaf oder wenigstens ein bisschen Wärme.

Ja, ich hatte es versucht! Wirklich! Aber als sich früh am Abend die beiden Demütigen über mich beugten und angesichts meiner Blässe fromme Sorge äußerten, fasste ich meinen Entschluss. Ich erhob mich, griff meine Sachen, verließ Raum und Flur und Teebeutel und Hospiz und checkte in jenem nahe gelegenen Hotel ein, das mir schon bei der Ankunft aufgefallen war. Es hatte fünf Sterne. Ich buchte die De-luxe-Suite, bat um eine Elektroheizung zum Trocknen meiner Sachen und meldete mich im Restaurant zum Essen an.

Habe ich jemals im Leben größere Demut empfunden als in jener Badewanne, die mich an diesem Abend mit nichts anderem umgab als mit wohliger Wärme? Habe ich jemals im Leben heiligere Hingabe verspürt als beim Anblick der fünf Gänge, die man mir im Restaurant servierte? Habe ich jemals tiefer in mir selbst geruht als beim letzten Glas einer wuchtigen Flasche Côte de Nuits?

Nein. Es war genau die Art von Erleuchtung, die nur jemandem zuteilwerden kann, der sich von ganzem Herzen auf den Jakobsweg einlässt. Und ich begriff: Wenn auf dem Pfad von innerer Einkehr die Rede ist, war die Einkehr in ein Fünf-Sterne-Haus gemeint.

Das Hotel, in dem ich zu Gast war, hatte sich mit anderen Häusern in der Region zu einem Verbund zusammengeschlossen. Einige von ihnen befanden sich in unmittelbarer Nähe der Wanderstrecke. Das versprach eine Pilgerwoche voll spiritueller Erkenntnisse. Mit Demut und Bescheidenheit auf höchstem Niveau! Ich war versöhnt. Ich hatte den Grundstein gefunden für meinen höchstpersönlichen Jakobsweg.

Im Laufe der Jahre und Etappen hatte ich es zu einer gewissen Meisterschaft des Pilgerns gebracht. Dazu gehörte für den Ankunftstag eine Nacht im besten Hotel der Stadt. Ein Menü im feinsten Restaurant zur Vorbereitung auf die anstehenden Entbehrungen. Und eine kleine Prozession durch die örtlichen Weinkeller. Das gründliche Ausschlafen am nächsten Morgen stand schon ganz unter dem Segen des heiligen Jakobus.

Allerdings sagte mir eine fromme Ahnung, dass Pilger, die Wasser predigten, während sie Wein verkosteten, nicht bei allen Zuhörern die angemessene Bewunderung gewinnen. Freunde und Familie würden skeptisch das Haupt wiegen, obwohl sie wissen mussten, dass auch Jesus aus gutem Grund Wasser zu Wein verwandelt hatte. Also erfüllte ich bei meiner Rückkehr die berechtigten Erwartungen meines Publikums und schilderte so anschaulich wie möglich die schlichten Unterkünfte, die brettharten Pritschen, die kargen Mahlzeiten. Das hatte mir einigen Respekt eingebracht.

Umso dringender wurde es jetzt, den ehrgeizigen Augenzeugen an meiner Seite loszuwerden. Die Gelegenheit ergab sich, als wir eine Wegkreuzung am Main erreichten. «Diese Strecke mit dir war wirklich schön, Stephan! Aber man pilgert allein. Und hier trennen sich unsere Wege. Du folgst einfach der Ausschilderung.» Ich zeigte auf das blaue Schild mit der halben Sonne, das streng geradeaus wies.

«Und du?», forschte Stephan ein wenig verzagt.

«Ich biege links ab. Rüber nach Gundelstedt.»

«Aber der Jakobsweg geht hier weiter.» Er deutete mainabwärts. Er hatte also doch was gelernt im Studium.

«Vollkommen richtig», sagte ich mit der Güte eines gesättigten Bischofs. «Der offizielle Jakobsweg geht hier am Main entlang weiter. Nur gibt es seit einiger Zeit Stimmen, von Historikern, die sagen: Er könnte auch über Gundelstedt gegangen sein, früher. Das ist bis jetzt nicht hundertprozentig bestätigt. Die Erkenntnisse sind frisch. Aber möglicherweise ist dieser noch ganz unerschlossene Pfad der eigentliche. Die Archäologen sind noch uneins.»

«Verstehe», nickte er. «Du nimmst an der Erforschung teil. Du willst unbedingt das Ursprüngliche.»

«Wenn du es so ausdrücken willst – ja. Aber für den Einsteiger ist es seriöser, der immer noch gültigen Ausschilderung zu folgen. Auf der Strecke müsstest du heute nach Ochsenfurt kommen, morgen schaffst du es nach Uffenheim, am dritten Tag nach Rothenburg, am vierten nach Wallhausen, am fünften nach Oberspeltach, am sechsten nach Hohenberg, und am siebten sehen wir uns dann am Eremitenhaus von Wöllstein! Einverstanden?»

«Na ja, ich habe so eine App, aber …»

«Auf die kannst du dich verlassen. Also dann, geh mit Gott, Pilger, die Engel seien mit dir! Wir sehen uns!»

Ich klopfte ihm weihevoll auf die Schulter. Damit stapfte ich los und bog zielstrebig ab. Dass mich in Gundelstedt am Ende meiner heutigen Etappe der mehrfach prämierte Gasthof «Zum Goldenen Ochsen» mit seinen Annehmlichkeiten erwartete, hätte ich dem Aspiranten schlecht auf die Nase binden können. Es hätte seinen hehren Sinn entmutigt.

«He, Mann, geht das schon wieder los? Jetzt warte doch einen Moment!», hörte ich es hinter mir fluchen.

Ich marschierte weiter, mit hochgezogenen Schultern.

«Nun warte doch!» Er schnaufte hinter mir her. «Ich komme mit dir! Ich will doch was lernen von meinem Vorbild!»

«Stephan, die erste Lektion hast du offenbar nicht begriffen. Man geht allein! Und der offizielle Weg ist nicht nur mit Weihrauch geheiligt worden, sondern auch wesentlich besser ausgebaut. Mit Unterkünften voller Pritschen und Teebeuteln. Er ist immer noch der echtere! Wo ich langgehe, gibt es so gut wie keine Übernachtungsmöglichkeiten.»

Er zögerte. Ich deutete auf den offiziellen Pfad, der nur ein paar Schritte entfernt war. «Da geht es lang!»

«Bitte», flehte er und schwitzte Buße. «Ich möchte wenigstens heute, am ersten Tag, einmal schauen, wo du bleibst und wie du das machst, und dann frag ich einfach, ob noch was frei ist. Und zur Not kann ich vor deiner Tür auf dem Boden schlafen. Das wäre doch echt demutsvoll.»

Ich biss mir auf die Lippe. Der junge Mann war es einfach zu sehr gewohnt, unselbständig und auf Kosten anderer Leute zu leben. Ich traute mich nicht, ihn anzuschreien. Aber ich musste mir was einfallen lassen. Die reservierte Suite im Goldenen Ochsen war zweifellos groß genug für uns beide. Vermutlich verfügte sie sogar über ein zweites Bett. Aber das ganze Haus musste bei einem Pilgerneuling einen falschen Eindruck erwecken hinsichtlich der Beschwerlichkeiten der Route. Wir wanderten stumm weiter.

«Bist du nun böse?», fragte er kleinmütig.

«Ich meditiere.»

Als wir den Ort erreichten, trafen wir einen älteren Herrn, der sich mittels Hut und Dackel als Einheimischer zu erkennen gab. Ich fragte ihn, ob es im Ort eine preiswerte, einfache Unterkunft gebe, für ehrbare Jakobspilger. Der Mann stutzte. «Da seid’s hier falsch. Der Jakobsweg ist da unten, in Randersacker, den Main lang.»

«Schon richtig», nickte Stephan dem Mann gutmütig zu. «Der offizielle Weg ist unten am Main. Aber wir folgen jetzt den neuen Forschungsergebnissen. Die sagen, der wahre Jakobsweg ist früher hier durchgegangen, durch Gundelstedt.»

«Aha», brummte der Mann. «Davon weiß ich nichts.»

«Seien Sie froh, dass der Ort noch nicht überlaufen ist», griff ich ein. «Wahrscheinlich gibt es hier noch nicht mal Unterkünfte?»

«Hier im Ort? Nein. Hier gibt’s nur den Goldenen Ochsen. Der ist nicht ganz billig. Gleich da drüben.»

«Oje», seufzte ich. «Und was anderes? Preiswerteres? Pilgermäßig?»

Der Mann schob den Hut seitwärts, um sich am Kopf zu kratzen. «Zwei Orte weiter, oben in Bietigbach, da mag was sein. Eine einfache Pension. Aber hier?» Er schüttelte den Kopf. «Nur der Ochse.» Er lupfte den Hut und zerrte an seinem Dackel.

«Na, dann wandern wir weiter», entschied Stephan. Er schaute auf seine Smartkarte. «Nach Bietigbach. Wir haben sowieso erst drei, vier Kilometer hinter uns.»

«Gute Idee», fand ich. «Dann geh du schon mal vor und check die Pension. Ich komme nach. Muss nur schnell beim Goldenen Ochsen mal rein.»

«Für jakobinische Königspilger?», zwinkerte Stephan. «Komm ich mit.»

Der Goldene Ochse befand sich auf einem aufwändig restaurierten Anwesen, dessen Kern mal ein traditioneller Bauernhof gewesen sein mochte, der dann über Generationen immer wieder erweitert und mit viel Geld und Geschmack restauriert worden war. Verständlich, dass Gastrokritiker voll des Lobes waren für das historische Ambiente. Vor dem Eingang spendeten zwei uralte Kastanien Schatten. Rustikale Tische und Bänke luden den betuchten Landlüstling ein.

Als Klette und ich das Foyer betraten, tauchte hinter dem Empfangstresen eine Dame in Trachtenkleid auf und begrüßte uns mit tief ausgeschnittener Herzlichkeit. Normalerweise hätte ich jetzt nur meinen Namen genannt, meine Suite bezogen und den Pilgertag in Ruhe ausklingen lassen.

Stattdessen hörte ich meinen Cousin rausposaunen: «Dürfen zwei aufrechte Jakobspilger mal Ihr Örtchen benutzen?»

«Hinten rechts», lächelte die Wirtin. «Aber vom Jakobsweg sind Sie hier ziemlich weit entfernt.» Stephan winkte großmütig ab. «Gibt da neue historische Erkenntnisse. Der Jakobsweg führte wahrscheinlich hier direkt bei Ihnen vorbei.»

«Oh, das klingt ja vielversprechend», freute sich die Wirtin. «Warum hat uns darüber noch niemand informiert?»

Mein Blick fiel auf dicke, vergoldete Zimmerschlüssel, die in schmalen Regalfächern aufgereiht lagen. Einer davon war für mich bestimmt und dennoch in diesem Moment unendlich weit weg. Auf dem Tresen zeigten Prospekte den opulenten Romantikcharme der Zimmer. Eines davon war auf meinen Namen gebucht. Nur bestand jetzt keine Chance, es zu betreten. Durch eine Glastür erhaschte ich einen Blick auf damastgedeckte Tische, auf denen abends ein Stück vom Paradies serviert wurde. Einer der Plätze war für mich reserviert. Und doch schimmerte er in unerreichbarer Ferne, solange diese Pestbeule von Verwandtschaft neben mir lungerte.

«Und kann ich sonst noch was für Sie tun?», sprach die Wirtin in die Stille.

«Ja, ja, ja!», wollte ich rufen.

«Nein», hörte ich mich sagen. «Nein, vielen Dank. Ich, also wir, das ist das Problem, also, wir kommen zurecht.»

Als wir uns aufmachten, den Goldenen Ochsen zu verlassen, überfielen mich stechende Wadenkrämpfe. Brachte ich es wirklich fertig, jetzt einfach zu gehen? Der Schmerz brach mein Pilgerherz. Was sollte denn werden aus üppiger Demut und lustvoller Bescheidenheit am Ende des Tages? Was sollte werden aus meiner barriquegereiften inneren Einkehr? Doch nicht Kamillentee plus Discounterschnittbrot mit Scheiblette zwei Dörfer weiter? Ich hatte Tränen in den Augen.

«Alles okay bei dir?», forschte Stephan, der bereits draußen im Schatten der alten Kastanien wartete und mich sorgenvoll anblickte. Ich muss mich wie in Zeitlupe vorangeschleppt haben. Jeder Schritt auf den Ausgang zu fiel schwerer und schmerzte nachhaltiger in den Beinen. Es war, als watete ich durch den immer zäher werdenden Morast der Hölle.

«Stephan», räusperte ich mich, als ich ihn schon fast erreicht hatte. «Hör mal.» Ich kratzte mich am Kopf wie vorhin der Dackelmann. «Du weißt doch, dass dein Namensgeber, der heilige Stephanus, erst verprügelt und dann gesteinigt wurde.»

Stephan hatte den Kopf schräg gelegt und schaute mich mit großen, fragenden Augen an. «Kann sein.»

«Dass dieses Schicksal sich wiederholt, muss verhindert werden.»

«Häh?»

Nein, so ging das nicht. Obendrein wollte ich ja keinen Märtyrer schaffen, im Gegenteil. «Also, mal ganz anders. Stell dir mal vor, es wäre heute kein sonniger Tag. Stell dir vor, es würde gießen wie aus Eimern. Den ganzen Tag schon. Immerzu. Du würdest hier stehen mit durchweichtem Gepäck, pitschnass bis auf die Knochen, schlotternd vor Kälte. Stell dir das mal vor!»

«Okay?»

Ich hatte den Eindruck, direkt in die Leere seines Pilgerhirns zu schauen.

«Ach, vergiss es», winkte ich ab. «Weißt du, was? Ich check hier jetzt mal ein. Einfach so.» Damit drehte ich mich um, schwebte federleichten Schrittes zum Empfang und legte meine Kreditkarte auf den Tresen. «Ich habe ein Zimmer reserviert. Und einen Tisch im Restaurant.»

«Na, das ist doch wunderbar», freute sich die Wirtin. «Der erste Pilger auf dem neuen, also ursprünglichen Jakobsweg. Dann willkommen im Goldenen Ochsen.»

«Sind meine Koffer schon eingetroffen?», erkundigte ich mich.

«Vor einer halben Stunde vom Taxi gebracht und schon auf Ihrem Zimmer.»

«Du hast Koffer dabei?» Stephan war mir unaufgefordert gefolgt. «Du lässt sie mit dem Taxi transportieren?» Er rang offenkundig um Fassung. «Als Pilger? Während ich mein Zeug auf dem Buckel schleppe?» Ich überlegte. War es tatsächlich so? Ja, doch. So ähnlich. Und er war jetzt dem Märtyrertod ganz nahe.

«Haben Sie ebenfalls reserviert?», fragte ihn die Wirtin.

«Nein», antwortete ich, «der Kollege pilgert noch zwei Dörfer weiter, auf seiner eigenen historischen Route. Er sucht sich dort was. In Bietigbach soll es ja eine einfache Pension geben.»

Stephan schnaubte. Er drehte sich verächtlich um und stapfte aus dem Haus. Ich ahnte, was er durchmachte. Der erste Tag beim Pilgern ist oft der härteste. Armer Kerl. Ich war bereit, ihn später seligzusprechen.

Den Nachmittag verbrachte ich im Schatten der Kastanien. Dann begab ich mich auf mein Zimmer, um mich frisch zu machen fürs Dinner, und betrat gegen sieben das Restaurant.

«Ich habe Ihnen einen Tisch auf unserer Sommerterrasse eingedeckt», flötete die adrette Servicedame. «Ihr Gast ist schon da.»

Meine Laune stürzte ab. «Ich erwarte niemanden.»

«Der Herr sagte, Sie würden ihn gerne am Tisch haben.»

«Das hört sich schrecklich an.» Als ich der Dame durchs Restaurant zur Sommerterrasse folgte, sah ich ihn schon von weitem. Das Abendlicht wob einen Heiligenschein um seinen Lockenkopf. Vor sich hatte er ein Glas Champagner.

«Schau an», staunte er süffisant, als ich an den Tisch trat. «Der Pilger in Sakko und frischem Hemd. Erstaunlich, was der fromme Wanderer von heute alles dabeihat. Aber immer nur das Allernötigste.» Er trug noch dieselbe Kleidung wie tagsüber.

Ich setzte mich an den liebevoll gedeckten Tisch. «Du hast einen schönen Nachmittag gehabt?»

«Ich habe ein bisschen gegoogelt. Aber so akribisch ich auch gesucht habe – über neue Erkenntnisse zum Verlauf des Jakobswegs hier am Main habe ich nicht das Geringste gefunden.»

«Hast du denn richtig recherchiert? Hast du den Goldenen Ochsen eingegeben?»

«Kann es sein, dass die Erkenntnisse derartig neu sind, dass es sie erst seit heute Nachmittag gibt?»

«Haben die Herrschaften schon gewählt?» Die Frage kam gerade rechtzeitig. Ich bestellte das Menü mit den begleitenden Weinen. Und Stephan das Gleiche.

«Eine noble Pilgermahlzeit für einen Studenten», nickte ich anerkennend. «Hast du eine passende Unterkunft gefunden?»

«Hier im Ochsen war noch was frei», grinste er. «Da konnte ich nicht widerstehen.»

«Du verbrätst deine Reisekasse an einem einzigen Tag?», rügte ich. «Das hätte ich in deinem Alter nicht gewagt.»

Er lächelte fromm. «Edgar, du hast das Zimmer schon im Februar reserviert. Du sitzt in frischen Klamotten am Tisch. Du hast Koffer mit dem Taxi hierherbringen lassen. Vom Grand Hotel Steintor in Würzburg. Dort hast du gestern eine dreistellige Rechnung im Restaurant gehabt. Du pilgerst in Slippern. Deine Tagesstrecke beläuft sich auf vier Komma zwei Kilometer.»

«Schon gut, schon gut», winkte ich ab. Mir wurde klar, warum er im Studium scheiterte. Er vergeudete seine Zeit mit Plunder und Lappalien.

«Also», seufzte ich, «was willst du von mir?»

Er erhob sein Glas. «Ich kann noch so viel lernen von einem erfahrenen Pilger wie dir. Nach meinem Eindruck hast du das Wesentliche des Jakobsweges erfasst.» Er nahm einen Schluck, beugte sich vor und schaute mir fest in die Augen. «Ich will nun einfach nur wissen – wohin geht es morgen?»

Ich seufzte. «Oberdietzenbach. Hotel Alte Post. Viereinhalb Sterne. Tisch ist reserviert. Distanz: knapp vier Kilometer. Entfernung zum offiziellen Jakobsweg: sechs Kilometer.»

Er wirkte zufrieden. «Darf ich meinen Rucksack zu deinen Koffern ins Taxi packen?»

Ich nickte widerwillig. «Gegen Mittag geht’s los.»

«Die Verwandtschaft wird nichts erfahren», versprach er lächelnd. «Als erste Lektion in Sachen Jakobsnachfolge habe ich mir vorgenommen, deine Einladungen zu Kost und Logis anzunehmen, in gottesfürchtiger Demut und frommer Bescheidenheit.»

«Du bist ein wahrer Christ», murmelte ich.

«Ja, ich glaube, dies ist der Beginn einer wunderbaren Pilgerschaft.»

Christian Ritter

Lalodamu!

Und wieder kommt kein Wasser. Bei diesen Duschen muss man alle drei Sekunden auf den Knopf drücken, um einen konstanten Wasserfluss annähernd herstellen zu können. Wie bei einem Pumpbrunnen. Nur dass der Schwall beim Brunnen doch eher heftig ausfällt, wenn man eine Weile gepumpt hat. Die Dusche geizt sogar mit dem Wasser, das sie gelegentlich abzugeben bereit ist. Für je drei Sekunden. Wenn man eben drückt. Keine Chance, gegen wirklich hartnäckige Verschmutzungen anzukommen. Ein selbsttätiger Abschuss mit einer Wasserspritzpistole hätte mehr Wirkung. Nach dem Duschgang muss man mit einer Lamelle am Stock die Kabine reinigen, damit der nächste Dreckige das Wellness-Programm voll auskosten kann. Sein eigenes Klopapier muss man auch mitbringen. Das ist Urlaub!

Vor dem Dusch- und Klohaus sind die Spülbecken. Zwei Frauen aus Schwaben schrubben ihr Geschirr und reden über Böblingen. Wo man dort besonders gut essen gehen kann. «Sauber und gmütlich isch es bei dem», sagt die eine. Daneben steht der Mann der anderen, an den Waschtisch gelehnt, in kurzer Hose mit Gürtel und hellgrünen Crocs an den Füßen. Die Arme hat er verschränkt und die Augen geschlossen. Er lässt seinen Bauch besonnen und sieht dabei besonnen aus. Sehr sauber und gemütlich auch. Vor dem Klohäuschen in der Sonne stehen und der Frau beim Spültratsch lauschen. Das ist Urlaub!

Auf Parzelle 24 wohnen die Duisburger, sie liegen in ihren Liegestühlen, lesen in der Bild-Zeitung und einem Ken Follett und grüßen mich. Ich nicke freundlich zurück.

Auf Parzelle 26 wohnen die Potsdamer, sie sitzen an ihrem Plastiktisch, spielen Scrabble und grüßen mich. Ich nicke freundlich zurück.

Auf Parzelle 134 sitzen die Kinder der Straubinger. Sie spielen «Wer zuerst blinzelt» – wahrscheinlich. Sie sitzen sich still und steif gegenüber und schauen sich in die weit aufgerissenen Augen. Entweder spielen sie das Blinzelspiel, oder sie sind ein bisschen behindert, auch möglich. Für ernsthafte Meditation sind sie jedenfalls zu jung.

Auf Parzelle 130 ist großes Hallo. Ich glaube ja, dass diese Redewendung, «großes Hallo», ihren Ursprung auf Campingplätzen hat. Wenn Neuankömmlinge eintreffen, ist großes Hallo. Sie bringen Staugeschichten und gute Laune mit, die wahre Urlaubseuphorie der ersten Tage. Die Pflicht und die Neugier treibt die Nachbarn zum neuen Wohnmobil, und man bietet seine Hilfe an, egal wobei. Man verleiht auch gern freimütig Dinge, die dem anderen nützlich sein könnten. Die Betonung liegt auf könnten. «Wenn du die Tage mal einen 13er-Schlüssel brauchst, kein Problem, ich lass dir meinen gleich da.» So hat man wenigstens einen Anlass, sich bald wieder zu treffen. Denn zurückgegeben wird alles, Verlässlichkeit ist oberstes Campergebot.

Es wird viel gelacht beim großen Hallo, über Dinge, über die kein normaler Mensch je lachen würde. Darüber, dass man an der Mautstelle auch eine Stunde warten musste, zum Beispiel, oder darüber, ein Wohnmobil vom gleichen Hersteller zu haben. Da wird gelacht. Wirklich.

«Auch ein Hymer?»

«Ja, auch ein Hymer! Habt ihr auch einen Hymer?»

«Wir haben auch einen Hymer! HAHAHA

«HAHAHA! Den musst du mir mal zeigen, du!»

«HAHAHA, du bist mir einer!»

«HIHIHOHOHO!!!»

Und geduzt wird sich leidenschaftlich; sehr, sehr leidenschaftlich.

Ich nicke Parzelle 130 mit seinen neuen Aufstehenden und eingelebten Umstehenden freundlich zu und gehe weiter.

Auf Parzelle 46 wohnen die Saarbrücker. Sie sind nicht da. Ich werde früh genug erfahren, wo sie den Tag verbracht haben. Sie reden gern. Jeder redet hier gern. Damit eben geredet wird. Damit man den Nachbarn zu Hause erzählen kann, wie die Urlaubsnachbarn so waren.

Auf Parzelle 114 wohnen die Heidelberger. Sie rupfen Salat und hören Heidelberger Lokalradio über Weltempfänger. Sie bemerken mich nicht. Ich nicke ihnen trotzdem freundlich zu.

Auf Parzelle 58 wohnen wir. Dreißig Quadratmeter verdorrter Rasen an der französischen Atlantikküste, mitten unter Deutschen. Das ist Urlaub!

Onkel Mike hat wieder seine Hose ausgezogen. Er meint, außer mir habe ihn noch niemand ermahnt deswegen. Das sei zwar kein FKK-Campingplatz, aber das müsse nicht zwangsläufig heißen, dass es verboten sei, nackt herumzulaufen.

«Man darf sich ja schließlich auch auf einen Schwerbehindertenplatz in der Bahn setzen, solange man wieder aufsteht, wenn wirklich mal ein Schwerbehinderter kommt.»

Das ist sein Argument für und gegen so ziemlich alles, manchmal passt der Vergleich sogar.

«Sobald sich irgendeiner von Rang beschwert, zieh ich mir wieder ’nen Schlüpper an, keine Sorge», sagt er aus seinem Klappstuhl heraus. Ich bin niemand von Rang, ich bin nur zu Gast.

Onkel Mike wohnt hier, so richtig, in diesem Sommer hat er Parzelle 58 für zwei Monate gemietet. Er lässt sich auch gern besuchen. «Wenn du mal in der Gegend bist, komm vorbei», hat er im April auf der Geburtstagsfeier von Tante Margit gesagt. Mit Blick auf meinen Kalender stellte ich fest, tatsächlich zur passenden Zeit in der Gegend zu sein – in der weitläufigen Gegend. Von zu Hause aus betrachtet, ist so ein fünfstündiger Trip in der französischen Regio-Bahn ab Paris Gare de l’Est, dann Bus ab Rouen, keine große Sache. Und Onkel Mike würde sich sicher freuen, dachte ich. Hat er auch.

Die Sache ist nur, dass ich so gar keine Campingerfahrung habe und mit meinem Reiserollkoffer und sonst nichts angereist bin, in der Erwartung, es würde schon alles vor Ort sein, was man zum Leben braucht. In einem Hotelzimmer ist das schließlich so, und ich verkehre nun mal hauptsächlich in Hotelzimmern oder meiner Wohnung. Die ist fast so gut ausgestattet wie ein durchschnittliches Hotelzimmer. An einen Schlafsack hatte ich nicht gedacht, genauso wenig an alles andere, was man wohl dringend zum Campen braucht, eine Taschenlampe etwa oder ein Zelt.

Onkel Mike ist einer von der altmodischen Sorte. Er hat kein Wohnmobil von Hymer, nicht mal eines von Dethleffs, nicht mal einen Retro-Wohnwagen. Er reist mit Mitsubishi und Iglu-Zelt. Dementsprechend euphorisch fiel vorgestern die Begrüßung aus.

«Da ist er ja!»

«Ja, da bin ich.»

«Da bist du also. Wo ist dein Kram?»

«Im Koffer.»

«In den Koffer passt ein Zelt?»

«Ein Zelt?»

«Wir trinken erst mal einen Schnaps.»

Die erste Nacht mussten wir zu dritt in seinem Iglu-Zelt verbringen. Onkel Mike ist nämlich vor allem so lange hier, weil er eine Freundin in der Gegend hat, Carla. Ich weiß nicht, wie die beiden zueinandergefunden haben, und habe mich noch nicht getraut, zu fragen. Carla ist neben den Betreibern die Einzige auf dem Campingplatz, die Französisch spricht. Weil sie Französin ist. Und abenteuerlustig ist sie auch, wie wir in der Nacht zu dritt im Zelt festgestellt haben. Sie hat es am nächsten Morgen auf den Wein geschoben, dass sie zwischenzeitlich nicht mehr genau wusste, an welchen Deutschen sie sich in der Dunkelheit kuschelt. Wir hätten sie einfach nicht in der Mitte liegen lassen sollen, aber hinterher ist man immer schlauer.

Die Verwechslungsgefahr zwischen Onkel Mike und mir ist eigentlich sehr gering. Ich sehe, in aller Bescheidenheit, dem jungen Sascha Hehn sehr ähnlich. Das wird mir oft von älteren Damen gesagt. Onkel Mike dagegen sieht aus wie der alte Iggy Pop. Da Iggy Pop erstaunlicherweise noch immer lebt, sieht Onkel Mike also so aus, wie Iggy Pop zur Zeit aussieht. Falls man Iggy Pop nicht kennt: Der sieht aus wie Hulk Hogan, wenn man die Luft rauslässt. Oder wie Ruth Maria Kubitschek. Runzliges Gesicht mit dünnen, blonden, langen Haaren, Alter irgendwas zwischen 50 und 80, das ist Onkel Mike. Carla ist relativ deutlich Ende dreißig und offensichtlich nicht so glücklich damit, weil sie sich kleidet wie ein Teenager. Sie trägt gerne Basecaps und bunte Armbändchen aus Plastik. Die beiden passen überhaupt nicht zusammen. Aber mit mir passt Carla noch viel weniger zusammen. Und Eifersüchteleien will im Urlaub niemand. Also einigten wir uns im Interesse aller (Carla wurde nicht gefragt) recht schnell darauf, mir ein eigenes Zelt zu kaufen. Ein blaues. Eher spitz als Iglu. Mehr kann ich dazu nicht beitragen, ein Zelt eben, in Zeltform. Mit genug Platz für meinen Koffer und mich. Onkel Mike hat es mit meiner tatkräftigen Hilfe (Heringe anreichen) aufgebaut, und die erste Nacht darin war gar nicht so übel. Jetzt befinden wir uns am Morgen danach. Die Nachbarn auf Parzelle 105 hissen wie jeden Morgen die Flagge, weiß-rot gezackt, sie sind aus Franken, und sehr stolz darauf. Bei ihnen gibt es jeden Abend Nürnberger Rostbratwürste, zweihundert ungefähr. Sie teilen gern. Man ist ja eine große Familie hier in der Fremde. Dafür ist man schließlich da. Um sich mit Fremden zusammen zu Hause zu fühlen und deutsch zu reden. Deutsch im weitesten Sinne. Zwischen den gerollten Rs der Nachbarfranken fällt es mir manchmal schwer, die Worte herauszuhören. Wenn alle vier durcheinanderreden, könnte man auch meinen, dass jemand verzweifelt versucht, ein Moped anzutreten. Rrrr. Rrrr. Rrrrrrrr.

Dass Parzelle 105 gegenüber Parzelle 58 liegt, erklärt sich so: Es gibt nur eine Straße auf dem Campingplatz. Straße ist eigentlich zu viel gesagt, es ist ein Kiesweg. Er ist ziemlich lang. Gleich nach dem Empfangshäuschen auf der rechten Seite ist Parzelle Nummer 1, danach auf der rechten Seite Nummer 2 und so weiter. Auf der rechten Seite wird aufwärts gezählt. Der Wendehammer ist bei den Parzellen 70 bis 74, ab da geht das Zählen auf der anderen Straßenseite weiter. Das Dusch- und Klohaus ist auf Höhe der Parzelle 22, zwischen den Parzellen 144 und 145. Ich war sehr stolz, als ich ganz alleine hinter das Anordnungsprinzip kam, das war vorhin auf dem Weg zum Duschen.

Carla kann übrigens überhaupt kein Deutsch und Onkel Mike kaum Französisch. Wie sie uns dann mitteilen konnte, dass sie uns in der Nacht «aus Versehen» verwechselt hat, fragt sich da manch einer sicherlich. Ganz einfach: Die Kommunikation zwischen den beiden läuft über den Google Translator. Wenn sie sich wirklich etwas mitteilen wollen, tippen sie es auf Carlas Telefon in der eigenen Sprache ein, und das Wunder Internet erledigt den Rest. Aber sie teilen sich nur sehr selten etwas auf diese Weise mit. Meistens redet einfach jeder in seiner Sprache vor sich hin, unterstreicht das Gesagte durch Gesten, dann wird gehofft. Genau das ist grade das Thema.

«Unsere gemeinsame Sprache», erklärt Onkel Mike pathostriefend, «unsere gemeinsame Sprache ist die Sprache der Liebe. Lalodamu!»

«Lalodamu?», frage ich.

«Lalodamu!»

«La langue d’amour», korrigiert Carla, während sie gelangweilt auf ihrem Telefon herumwischt.

«Genau! Lalodamu!», ruft Onkel Mike, nimmt Carlas freie Hand und reißt sie sich an den Mund. Er schmatzt sie geräuschvoll ab, und Carla wirkt etwas angeekelt davon. Ich frage mich wirklich, was genau ihre Motivation für diese Beziehung ist.

«La langue d’amour», korrigiert sie noch mal und zieht ihre Hand weg. Dann muss Onkel Mike mal zum Klohaus. Dafür zieht er sich immerhin eine Hose an – um die Klopapierrolle hineinstecken zu können. Es muss ja nicht jeder wissen, aus welcher Motivation heraus man auf dem Platz herumspaziert. Sonst wäre es aber kein Problem, den Weg nackt anzutreten. Ich vermute, dass Onkel Mike bei Parzelle 130 «kurz» haltmachen wird, um sich dem großen Hallo anzuschließen.

Da ich mir noch keinen Wi-Fi-Code für zehn Euro die Stunde am Empfangshäuschen geholt habe, bin ich relativ beschäftigungslos. Im Gegensatz zu den anderen 159 Campingtischen liegt auf unserem keine Bild-Zeitung, mit der man sich für drei Minuten die Zeit vertreiben könnte. Also warte ich darauf, dass irgendwelche Nachbarn zum Grüßen vorbeikommen. Es kommt niemand. Aber genau das, denke ich nach einer kurzen Phase der Unruhe, genau das ist doch Urlaub. Mal eine Pause davon machen, sich ständig selbst zu entertainen, auch mal einfach so dasitzen, die Gedanken und den Blick schweifen lassen, über Wohnwägen und Autos aus Nürnberg und in den Himmel hinauf und wieder herunter auf Carla, die mir gegenübersitzt.

Sie hält ihr Telefon hoch über sich und verzieht ihr Gesicht, als ob sie in eine Zitrone gebissen hätte. Sie betrachtet das Selfie kritisch, streckt ihr Telefon wieder so weit wie möglich weg von sich und macht einen Schmollmund, dann ein Duckface, dann ernst, dann verträumt, ich wohne einer ausufernden Selfie-Session bei.

Bei fünfzehnjährigen Mädchen finde ich das schon eigenartig, aber bei ihnen ist es wenigstens Teil ihrer Sozialisation und völlig natürlich irgendwie. In der Pubertät ist von außen betrachtet alles peinlich, da sind Selfies nur ein Mosaik des grotesken Gesamtbilds. Carla musste sich die virtuose Bedienung ihres Telefons in ihrem Alter noch mühsam selbst beibringen. Als sie jung war, gab es auch in Frankreich nur Commodore 64. Jetzt schaut sie entsetzt, jetzt kritisch, jetzt deutet sie auf irgendwas hinter sich.

Sie könnte genauso gut mir das Telefon geben und frei posieren, aber wahrscheinlich hat sie Angst vor Kontrollverlust. Und die Sprachbarriere und alles – es ist doch sehr kompliziert mit uns. Wir sind Fremde. Dass sie vor ein paar Stunden ganz aus Versehen an meinem Dingdong herumgespielt hat, hat sie schon wieder «vergessen», sagte vorhin der Google Translator. Ich sollte das auch dringend tun. Der Hintergrund auf ihren Selfies muss ein Stück Rasen mit einer Schlauchschleife sein, Onkel Mike hat vorhin den Platz gewässert. Vielleicht findet Carla das besonders hip und hashtaggt das Bild mit dem französischen Wort für Schlauch: #utricule.

Wahrscheinlich ein Gigabyte Selfies später kommt Onkel Mike wieder zurück. Er zieht sich erst mal seine Hose aus, macht fünf Hampelmänner, «damit es nicht so klebt da unten», und berichtet darüber, was auf seiner Reise alles passiert ist. Das Komische daran ist, dass es mich tatsächlich interessiert. Onkel Mike ist zum Klo und zurück gelaufen und hat mit ein paar Nachbarn gesprochen. Das sind die News. Aber im direkten Vergleich hat er enorm viel erlebt in den fünfzig Minuten, in denen er weg war.

Carla winkt ihn zu sich und zeigt ihm ihre Fotos. «Bon», sagt er bei jedem und als Steigerungsform, wenn ihm eines besonders gut gefällt: «Bonbon.» Nebenbei kratzt er sich an seinem Durchgehangenen. Schließlich küssen sie sich wild und verschwinden in ihrem Zelt. In Carlas Sinn hoffe ich, dass er sie dafür bezahlt. Sonst hätte sie wirklich ein gewaltiges Realitätswahrnehmungsproblem.

Ich mache einen kleinen Spaziergang, um dem akustischen Drama nicht beiwohnen zu müssen. Bei den Heidelbergern ist niemand am Platz, aber ihr Radio läuft. Der Heidelberger Lokalsender hat grade «Spendierhosen-Tag» und heute Morgen einfach so einen Porsche an einen 18-Jährigen verschenkt. Einen Porsche! An einen 18-Jährigen! Plus Fahrsicherheitstraining, versteht sich, sagt die Moderatorin. Na immerhin. Der Anruf bei dem jungen Mann wird grade eingespielt. Er sagt: «Aha, yeah. Gut, danke.» Die nächste Beschenkte bekommt ein Bauchschläferkissen für ihren Mann spendiert, im Wert von 50 Euro. Sie freut sich ein wenig mehr. Ob französische Radiosender auch solch schwachsinnige Aktionen veranstalten? Oder sind die zu sehr damit beschäftigt, ausschließlich französische Musik zu spielen, um die Entkulturisierung des Landes zu bremsen? Fragt sich der deutsche Tourist auf dem reindeutschen französischen Campingplatz. Dann läuft er weiter bis zum Eingang des Platzes, um die Schranke herum und wieder zurück, dabei grüßt er einige Fremde.

Zurück am Platz, liegen Onkel Mike und Carla in ihren Liegen und sind eingeschlafen. Carla ist jetzt auch nackt. Das heißt, sie hat sich einfach nicht mehr angezogen danach. Sie ist schon etwas bequem. Ich zerre meine neue Luftmatratze aus meinem neuen Zelt und tu es ihnen gleich. Hinlegen, Augen zu, schließlich ist schon fast Mittag. Das ist Urlaub!

Acht Stunden später.

«Vamos a la playa», brüllt Onkel Mike Richtung Carla, was dem Französischen zumindest sehr nahe kommt. Sie hat Kopfhörer im Ohr und reagiert nicht. «Ich hab gehört, da hängen die jungen Leute ab», fügt er zu mir gewandt hinzu, nur etwas leiser. Ich habe keine Kopfhörer.