Mona Nikolay
Schrebergartenkrimi
Knaur eBooks
Mona Nikolay ist das Pseudonym von Eva Siegmund. Sie ist Schriftstellerin in Vollzeit und veröffentlicht spannende Bücher für Erwachsene und Jugendliche bei Droemer, Knaur und cbt. Ihre Krimis und Thriller wurden allesamt vertont. Mona ist gelernte Kirchenmalerin mit allem Zipp und Zapp und Gesellenbrief sowie studierte Juristin. Die ersten Sporen in der Verlagswelt hat sie sich in der Lizenzabteilung und dem Lektorat eines Berliner Hörbuchverlags verdient. Mona kann Strom verlegen, Hochbeete bauen, den Werkzeugschuppen verwalten, gute Geschichten erzählen, ihr Söhnchen durchkitzeln und versteht sich aufs geschriebene sowie gesprochene Wort.
Originalausgabe März 2022
Droemer Taschenbuch
© 2022 Droemer Verlag
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Covergestaltung: Carola Bambach
Coverabbildung: Collage von Carola Bambach unter der Verwendung von Bildern von Shutterstock.com
ISBN 978-3-426-46364-2
Auf der Welt gab es gute und schlechte Geheimnisse. Das war schon immer so gewesen. Geheimnisse konnten einen Menschen vernichten, sein gesamtes Leben zerstören oder vor Vernichtung schützen.
Aber gefährlich waren sie immer. Besonders seines.
Es war eines von den richtig gefährlichen. Doch er versuchte jetzt, das Beste daraus zu machen. Die Scharte auszuwetzen.
Sagte man doch so, oder? Passte jedenfalls zu dem, was er gerade tat und wo.
Hier war der perfekte Ort. Er kannte sich aus wie in seiner Westentasche, doch kaum jemand wusste das. In dieser Umgebung war er quasi unsichtbar. Zudem verband niemand dunkle Geheimnisse mit dieser Spießeridylle.
Er musste auch nicht besonders gründlich oder vorsichtig sein – im Winter war hier kein Mensch, und der starke Schneefall verwischte seine Spuren innerhalb weniger Minuten. Alles war nahezu absurd perfekt.
Nur der gefrorene Boden machte ihm zu schaffen. Er grub jetzt schon drei Abende hintereinander durch. Eigentlich hackte er mehr, als dass er grub. Die Arbeit war unglaublich mühsam, und die Finger fielen ihm fast ab. Mehrere blutige Blasen zogen sich über seine Handballen. Zum Teil hatte er das Gefühl, nicht Erde, sondern Granit zu bearbeiten.
Doch die Kälte war wichtig. Absolut notwendig. Sie würde ihm helfen, sein Geheimnis zu bewahren. Ihr gemeinsames Geheimnis.
Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und betrachtete das Loch, das tatsächlich eher wie eine Scharte aussah. Es war endlich groß genug.
Der Sack war mittlerweile ganz mit Schnee bedeckt; es würde gar nicht weiter auffallen, wenn er ihn einfach hier draußen liegen ließe. Bis es anfing zu tauen natürlich. Und selbst dann war es fraglich, ob er Aufmerksamkeit erregen würde. Doch er hielt sich jetzt an seinen Plan. Je mehr Zeit er sich verschaffen konnte, desto besser. Es hing zu viel für ihn daran. Außerdem … na ja. Auch er hatte einen gewissen Anstand im Leib.
Der Mann schob das Schaufelblatt unter den Sack und benutzte den Stiel als Hebel. Nach wenigen Momenten absoluter Kraftaufwendung rutschte der Sack ins Loch. Das plötzliche Geräusch schreckte ein paar Spatzen auf, die in der nahen Hecke geschlafen hatten.
Ein Fuchs saß unbemerkt im Schatten und schaute zu, wie der Mann sein dunkles Geheimnis begrub. Das Tier hatte keine Ahnung, was da vor sich ging, spürte aber trotzdem, dass es ein wenig ungewöhnlich war für diese Jahreszeit. Normalerweise hatte es die verschneite Welt ganz für sich.
»Erde zu Erde«, murmelte der Mann leise, als er die letzten Schaufeln Erde bewegte. »Abschaum zu Abschaum. Und Schnee zu Schnee.«
Es war ein herrlicher Morgen. Nicht zu heiß und nicht zu kalt. Klar und feucht, wie der gesamte Frühlingsbeginn – ein guter Start ins neue Gartenjahr. Vor zwei Wochen hatte es aufgehört zu schneien, und kurz danach war auch schon die Sonne rausgekommen. So war es schon lange nicht mehr gewesen.
»Hörst du mir eigentlich zu?«
Manne löste den Blick von seiner Frau, die gerade das neue Hochbeet bepflanzte, und wandte sich seiner Gesprächspartnerin zu: »Jaja.«
Christine Reichelt, zweite Vorsitzende des Kleingartenvereins Harmonie e.V. und seine rechte Hand im Vorstand, ließ genervt den Stift fallen. »Tust du nicht. Manne, ehrlich, wir haben das doch besprochen.«
»Das haben wir wohl, Tine«, brummte Manne und ließ sich auf einem der Terrassenstühle nieder. »Tausendmal.«
»Und du stellst jedes einzelne Mal auf Durchzug! Verdammt, du bist doch kein Kleinkind.«
Manne seufzte. Er wusste, worauf sie hinauswollte. Natürlich wusste er das. Seit Wochen lag sie ihm mit der brachliegenden Nachbarparzelle in den Ohren. Verlangte eine Entscheidung, legte ihm Bewerber vor und ließ einfach nicht locker.
»Als Vorstandsvorsitzender kann ich ja wohl auch mal ein paar Entscheidungen alleine treffen.«
Tine legte den Kopf schief. »Natürlich kannst du. Aber genau das hast du nicht.«
»Was?«
»Eine Entscheidung getroffen!« Sie hob den Stift wieder auf und begann, damit auf der Glasplatte seines Tisches herumzutippen.
»Tine, das nervt.«
»Du nervst mich auch«, gab sie patzig zurück und verschränkte die Arme. »Der Bezirksvorstand verliert die Geduld, die Bewerber rennen uns die Bude ein, und ich habe keine Lust mehr, irgendwelche Ausreden zu erfinden, damit du weiter stur auf vierhundert Quadratmeter Unkraut glotzen kannst. Völlig abgesehen davon, dass es überhaupt keinen Sinn ergibt und niemand sonst mit einem solchen Verhalten durchkommen würde. Du hockst wie eine trotzige Glucke auf der Parzelle, und ich weiß nicht mal genau, warum. Kleingärten boomen, jeder will ein Stück Grün, und ausgerechnet du verweigerst dich.«
Seufzend rieb er sich die Augen. »Früher lag so eine Parzelle doch auch locker mal ein paar Jahre brach.«
»Früher konnten sich die Leute auch noch Eigenheime mit handtuchgroßen Gärten leisten, und wir mussten um Mitglieder werben.« Sie legte den Kopf schief. »Was ist eigentlich dein Problem?«
Manne dachte nach. So genau wusste er das selbst nicht. Er wollte einfach keine neuen Nachbarn, und fertig. Dabei sollte es ihm als Vorstandsvorsitzendem des Vereins besonders am Herzen liegen, dass seine Anlage nicht verwilderte und jede verlassene Parzelle möglichst schnell in gute Hände kam, sonst wurden sie zu Schandflecken der Anlage, und das gab immer Zoff mit dem Bezirksvorstand. Und peinlich war es obendrein. Doch beim Gedanken an seinen früheren Nachbarn kochte der Zorn wieder hoch und brachte ein bisschen Schmerz mit.
»Ich will einfach nicht schon wieder so einen Ärger haben«, sagte er schließlich.
Tine lächelte. »Das wirst du nicht. Keine Sorge.«
Manne wurde unbehaglich zumute. Er mochte Tines Blick nicht. Sie kannten sich nun seit über zwanzig Jahren und waren ebenso lange eng befreundet. Und wenn sie so dreinschaute, dann hieß das nichts Gutes.
»Woher willst du das wissen?«
»Weil ich deine neuen Nachbarn sehr sorgfältig ausgewählt habe.«
Manne Nowak setzte sich abrupt auf. »Das hast du nicht!«
Tine lächelte sparsam. »Urlaubsvertretung«, sagte sie nur und zuckte die Schultern. »Zwei Wochen Malle haben eben ihren Preis.«
Manne atmete tief durch. Er fühlte, dass die Ader auf seiner Stirn bedrohlich zu pochen begann und sein Kopf heiß wurde. »Judas«, zischte er. »Wie kannst du mir nur so in den Rücken fallen?«
Tine stand auf und kam um den Tisch herum. Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter und hielt ihm mit der anderen ein kleines Schulti hin. Wo kam das denn auf einmal her? Die Bierflasche war schon geöffnet und ganz augenscheinlich gut gekühlt. Das Kondenswasser rann in Tropfen an der Seite herab. Auch über das Gesicht des Schultheiss, der in seiner Kindheit noch ganz anders ausgesehen hatte. Nicht wie ein gewöhnlicher Türsteher, den jemand in Schlapphut und Rüschenhemd gesteckt hatte.
»Es tut mir leid«, sagte sie. »Aber Schmidtchen hat mir die Pistole auf die Brust gesetzt. Entweder wir suchen jemanden, oder er schickt uns zum Saisonstart einen Bewerber von der zentralen Warteliste auf die Parzelle. Was hätte ich denn tun sollen?«
Manne nahm das Bier und hielt es sich gegen die pochende Ader. Das half irgendwie auch nicht. Er wusste, dass sie recht hatte, und er wusste, dass sie wusste, dass er es wusste. Was es sogar noch schlimmer machte.
Eine ganze Weile dachte er über eine Antwort nach, doch er fand keine.
»Hm«, machte er schließlich und nahm einen Schluck. Mehr kam ihm nicht über die Lippen. Aber seine Freundin kannte ihn offenbar gut genug, um zu wissen, dass es sich hierbei um ein Friedensangebot handelte. Sie nickte zufrieden.
Mannes Frau Petra trat zu ihnen auf die Terrasse und streifte sich die erdverkrusteten Handschuhe von den Fingern.
»Das werden riesige Kürbisse«, sagte sie lächelnd zu ihrem Mann. »So was hab ich im Gefühl. Es ist herrlich, sich nicht mehr tief runterbücken zu müssen, wir hätten das schon viel früher machen sollen.« Dann wandte sie sich an Tine: »Und? Wie hat er es aufgenommen?«
»Du wusstest auch davon?« Manne nahm noch einen Schluck Bier, um zu verhindern, dass sein Kopf wieder überhitzte. Noch vor wenigen Minuten hatte er das Gefühl gehabt, nichts könnte ihm die Laune verderben. Damit war jetzt Schluss. Schönen Dank auch.
»Natürlich«, sagte Petra und zwinkerte Tine zu. »Ich musste schließlich das Notfallset für solche Fälle besorgen. Und mit dem Schlimmsten rechnen. Außerdem war ich neugierig.«
»Du bist immer neugierig«, sagte Manne.
Petra kam zu ihm herüber und küsste ihn auf die Wange. »Ich weiß. Einer von uns muss es ja sein.«
Mannes Wut verrauchte, so schnell sie gekommen war. Das war einfach so, wenn Petra ihn küsste. Nach vierunddreißig Jahren immer noch. Er lächelte und hielt inne. »Moment. Was bedeutet, du hast ein ›Notfallset‹ besorgt?«
»Na, rate doch mal!«
Er überlegte einen Moment, dann zog er die Brauen hoch. »Heißt das, wir grillen heute an?«
»Ja, wir grillen heute an.« Tine und Petra grinsten.
»Du bist eben sehr leicht zu durchschauen.«
Manne lächelte schief und zuckte die Schultern. »Macht nichts. Wenn das bedeutet, dass hier gleich Kohle glüht, bin ich gerne leicht durchschaubar.«
»Das ist doch mal ein Wort!« Petra musterte ihren Mann. »Du solltest allerdings lieber reingehen und dich umziehen.«
Er blickte an sich herunter. Wie üblich trug er seine Gartenkluft. Kapuzenpulli von Union Berlin, eine kurze Anglerhose und knallgrüne Billigcrocs. »Warum das denn? Ich denke, wir grillen!«
»Weil du unsere neuen Nachbarn sicher nicht in diesem Aufzug begrüßen wirst. Sie übernehmen die Parzelle um …«
Petra schaute zu Tine, auch wenn Manne genau wusste, dass Petra genau wusste, wann die neuen Gartenfreunde eintreffen würden. Er war nicht der Einzige, der hier leicht zu durchschauen war.
»Um sechzehn Uhr. Eike hat heute noch beruflich zu tun, daher können sie nicht früher«, vollendete Tine ihren Satz.
Eike. Manne rollte mit den Augen. Jemand, der Eike mit Vornamen hieß und an einem Samstag beruflich Termine hatte, entsprach nicht unbedingt seinem Idealbild eines Gartennachbarn.
»Ich dachte, sie könnten mitgrillen«, sagte Petra fröhlich, schnappte sich ihre Sportmolle vom Tisch und nahm einen großen Schluck.
Manne seufzte. »Natürlich dachtest du das.«
Sie war so verflucht nervös. Das hier war schlimmer als ein Vorstellungsgespräch oder ein erstes Date. Wichtig für ihre eigene Zukunft und die ihrer ganzen Familie. Stundenlang hatte sie überlegt, was sie anziehen sollte, was Eike und Greta tragen sollten. Um einen guten ersten Eindruck zu machen, wie man so schön sagte. Aber was war das überhaupt?
In Wahrheit wusste Caro, dass sie nicht reinpassten. In einen Schrebergartenverein. Sie träumte zwar von selbst gezogenen Tomaten, hatte aber keine Ahnung vom Gärtnern und brachte jede Pflanze allein durch ihre Gedankenlosigkeit um. Außerdem mochte sie lackierte Nägel und Lippenstift. Ehrlich und von Herzen und nicht nur, weil sie anderen gefallen wollte.
Greta hatte Angst vor Insekten und fand Regenwürmer eklig, und Eike war … ja. Eben Eike. Sie hoffte auf seine Begeisterungsfähigkeit.
Mit einem tiefen Seufzer versenkte sie das vertrocknete Skelett ihres vierunddreißigsten Fensterbankbasilikums im Mülleimer und atmete tief durch.
»Hier steckst du also.« Mit großen Schritten betrat ihr Mann die Küche. Er trug noch seine Arbeitsklamotten und strahlte übers ganze Gesicht.
Caro lächelte. »Guter erster Tag?«
»Schatz, es war der Wahnsinn. Genau so habe ich es mir immer vorgestellt, es war einfach … ach!« Er warf die Hände in die Luft und schlang sie dann seiner Frau um die Taille. Caro drückte ihm einen Kuss auf das Kinn. Höher kam sie bei ihm nicht, er war riesig.
»Wie schön. Davon hast du immer geträumt.«
»Ja. Habe ich.«
»Ich will alles hören, aber erst heute Abend. Ab unter die Dusche, wir müssen gleich los.«
Eike legte den Kopf schief. »Lieb, dass du das sagst. Aber in Wahrheit interessiert es dich überhaupt nicht.«
Sie grinste. »Nicht im Geringsten. Und jetzt jalla, jalla. Avanti dilettanti. Ich will nicht, dass wir zu spät kommen.«
»Bist du etwa nervös?«
»Natürlich. Wir lernen heute Menschen kennen, mit denen wir hoffentlich viele Jahre Hecke an Hecke werkeln werden. Solche Vereine sind eingeschworene Gemeinschaften, und man muss aufpassen, wie man sich präsentiert.« Ihr Blick fiel auf den Salat, den sie mit Greta als Mitbringsel vorbereitet hatte. Noch vor zwei Stunden hatte sie die Idee originell und charmant gefunden, jetzt war ihr die pinke Glasschüssel, die Greta ausgesucht hatte, auf einmal peinlich. Ihre Schultern verkrampften sich. Warum war das alles nur so verflucht kompliziert?
»Caro, entspann dich. Wir sind einfach nett zu denen, dann werden die auch nett zu uns sein. Was soll schiefgehen?«
Sie atmete einmal tief durch und rief sich ins Gedächtnis, dass sie gerade genau das bekam, was sie die ganze Zeit gewollt hatte. Einen eigenen Garten. Mit Blumen und Wiese und einem Klettergerüst für Greta. Eine Oase in der Großstadt. Was sollte da schon schiefgehen?
Mit dem Garten ist für uns wirklich ein Traum in Erfüllung gegangen!«
Wie oft hatte er den Satz heute schon gehört? Hundertmal. Mindestens. Diese Frau war wie eine kaputte Schallplatte. Manne fragte sich, wann sie endlich gedachte, sich mal zu entspannen. Tine und er hatten die Schlüssel vor über einer Stunde übergeben und alle Formalitäten erledigt – jetzt war doch langsam mal gut.
»Hm. Schön.«
Manne stand neben seinem Grill und wendete Würstchen, allerdings schaute er gar nicht so genau hin. Viel amüsanter war es, den neuen Nachbarn Eike dabei zu beobachten, wie er mit sehr viel Aktionismus und sehr wenig Ahnung dem Unkraut auf dem Nachbargrundstück zu Leibe rückte. Der Kerl war tatsächlich ziemlich genau das, was sich Manne unter einem Eike vorgestellt hatte. Mit etwas zu langen, langsam grau werdenden Haaren und dem Optimismus eines Menschen, der sich noch nie wirklich hatte beweisen müssen. Dabei aber irgendwie entwaffnend charmant. Zu Beginn hatte Manne gedacht, der riesige Kerl hätte was Beruhigendes an sich, doch diesen Eindruck musste er revidieren. Nun wirkte Eike beinahe, als wollte er in den Krieg ziehen. Konzentriert, verbissen und zum Äußersten bereit.
Direkt nach Unterzeichnung der Papiere hatte er sich in die Arbeit gestürzt. Mit nigelnagelneuen Arbeitsgeräten, in ebenso neuer Kleidung. Ihm guckte hinten noch das Preisschild aus der Multifunktionshose.
Auch seine Frau Caroline hatte sich dem Anlass entsprechend offensichtlich neu eingekleidet. Ihre Latzhose, die roten Gummistiefel mit weißen Punkten, der zur Jahreszeit vollkommen unpassende Strohhut – all das machte die junge Frau eher zu einer Werbefigur für irgendein fettarmes Milchprodukt (»Schmeckt wie echte Butter!!!«). Zu den Gartenfreunden vom Harmonie e.V. passte so ein Aufzug nicht, was ihr wohl kaum entgangen sein konnte. Entgegen dem Wunsch seiner Frau hatte sich Manne nämlich nicht umgezogen. Er mochte es, wenn von Anfang an klare Verhältnisse herrschten. Hier schlunzten die Gartenfreunde in abgetragenen Klamotten herum beziehungsweise im Blaumann, wer direkt von der Arbeit kam.
Doch es war eindeutig, dass die Neuen sich Gedanken gemacht und offenbar vorhatten, sich ehrlich zu bemühen. Das wiederum konnte Manne anerkennen. Der Rest würde sich schon finden.
Tatsächlich hatten die von Ribbeks nicht nur eine ziemlich niedliche Tochter, sondern auch einen Quinoa-Salat zum Grillen mitgebracht. Von allen essbaren Dingen auf dieser schönen Welt! Manne hatte nur ein einziges Mal Quinoa gegessen – seinem Sohn zuliebe – und die kleinen Körnchen noch Tage später unter seiner Zahnbrücke gefunden. Aber auch diese Geste konnte er anerkennen. Hauptsache, sie kamen nicht auf die Idee, das Zeug hier in ihrem Garten anzubauen.
Trotzdem hätte er sich niemals vorstellen können, dass Menschen, die Caroline und Eike von Ribbek hießen, mal Schultheiss in seinem Schrebergarten trinken würden. Aber weil Caro ihm gerade mit angenehmer Selbstverständlichkeit ein neues Bier brachte und lächelnd mit ihm anstieß, war er bereit, über ihren Strohhut hinwegzusehen.
»Weißt du, ich hab überlegt, einen Instagram-Kanal zu machen. Übers Gärtnern.«
Oder vielleicht auch nicht. Mannes Mundwinkel fielen herab. »Wieso das denn?«
Seine neue Nachbarin zuckte mit den Schultern. »Ich bin Social-Media-Managerin. Das ist, was ich tue.«
»Ein Garten ist aber eigentlich dafür da, sich vom Alltag zu erholen«, gab Manne zurück und hoffte im Stillen, dass dieser Quatsch nicht auf Tines Mist gewachsen war. Sie hatte ihm schon ein paarmal mit Social Media in den Ohren gelegen. Für Manne indes war sein Garten ein Rückzugsort. Auch vor … so was eben.
»Bei den sozialen Medien ist die Grenze zwischen Arbeit und Privatem fließend. Wenn ich es gut mache, bekommt die Anlage viel Publicity.«
»Wir brauchen keine Publicity«, murrte Manne.
»Und oftmals unterstützen Firmen solche Kanäle«, fuhr Caro unbeirrt fort. »Da kann man viel draus ziehen.«
Manne hob nun doch milde interessiert die Brauen. Wenn es etwas zu sparen gab, war das natürlich was anderes. »Und was zum Beispiel?«
»Gartengeräte, Saatgut. Vielleicht sogar einen Mähroboter.«
»Ach so?«
Gegen einen Mähroboter hätte er wirklich nichts einzuwenden. Petra fand das ja unnötig. Allerdings war er es und nicht Petra, der den Rasen jede Woche stutzte. Und ja: Er mochte es, wenn sein Garten gut ausgestattet war. Schließlich war er der Vorstandsvorsitzende. Alle Augen schauten auf seine Parzelle.
Caro bemerkte sein Interesse und nickte eifrig. »Eine Freundin von mir hat einen Brotback-Account. In ihrer Küche stehen eine Kitchenaid, ein Hochleistungsmixer, ein Thermomix und ein Sous-vide-Garer. Nichts davon hat sie bezahlt.«
Mannes Brauen schossen in die Höhe. »Seit wann braucht man einen Sous-vide-Garer zum Brotbacken?«
Caro lachte laut auf. »Glaub es oder nicht. Aber darin kann man den Teig ganz wunderbar gehen lassen. Sagt meine Freundin.«
Manne schüttelte den Kopf. »Daran sieht man, dass wir Menschen keine echten Probleme mehr haben.«
»Wohlstandsverrohung«, nickte Caro wissend und nahm einen Schluck Bier.
Eine Weile standen sie einträchtig nebeneinander und sahen Eike dabei zu, wie er mit der Entschlossenheit eines Terriers das hintere Beet beackerte.
»Dein Mann hat keine Zeit zu verlieren, oder?«
»Eike hat gerade einen neuen Job angefangen und wird viel arbeiten müssen. Am Anfang muss ich hier wohl alleine werkeln. Er hat ein schlechtes Gewissen.« Sie lächelte. »Und versprochen, Vorarbeit zu leisten.«
»Vorarbeit ist gut. Es sieht eher so aus, als wollte er das Unkraut hinter die feindlichen Linien zurückdrängen.«
Manne drehte die Würstchen und legte ein paar davon auf einen bereitgestellten Teller. Dann zeigte er mit seiner Bierflasche auf Eike. »Soll ich mal rübergehen und ihm zeigen, wie man es richtig macht?«
»Ich glaube, das ist nicht nötig.« Caro nahm noch einen Schluck Bier. »Er ist gerade so glücklich.«
»Ist er das?«
Sein neuer Nachbar sah gar nicht so übermäßig glücklich aus. Er war gerade laut fluchend dabei, den Spaten in die Erde zu stoßen, kam dabei aber offenbar nicht richtig voran.
Irgendetwas an Eikes Bewegungen sah merkwürdig aus. Nicht ganz richtig. Manne runzelte die Stirn, und auch Eike hielt inne und kniete sich hin. Er wühlte einen Moment mit seinen neuen Gartenhandschuhen in der Erde herum und schaute dann abrupt auf.
»Hier hat jemand seinen Müll vergraben«, rief er über die Hecke.
Manne fluchte leise und schob die restlichen Würstchen an den Rand des Grillrostes. Auch das noch! Es kam immer wieder vor, dass andere Gartenfreunde ihren Unrat auf freien Parzellen abluden, anstatt ihn ordentlich zu entsorgen. Aber meist machten sie sich nicht die Mühe, das Zeug zu vergraben. Das war bestimmt irgendetwas besonders Unappetitliches. Der Inhalt einer Sickergrube oder ein altes Asbestdach.
Er nahm die Abkürzung über die Wasserpumpe im hinteren Bereich des Gartens, die Petra nur das »Mahnmal des Wahnsinns« nannte, und gesellte sich zu Eike. Sein neuer Nachbar stand ein bisschen ratlos und mit hängenden Schultern vor einem schwarzen Plastiksack, der ein Stück aus dem Beet herausragte. Dieser Mann hatte wirklich auffallend lange Arme. Wie merkwürdig die zwei Gliedmaßen doch aussahen, wenn man sie gerade nicht benutzte.
»So eine Sauerei«, murmelte Manne, während er sich hinhockte und sein Staudenmesser aus der Hose zog.
»Du willst das aufmachen?«, fragte Eike leicht beunruhigt, und Manne sah zu ihm hoch.
»Ich muss. Wenn ich nicht weiß, worum es sich handelt, kann ich nicht entscheiden, wie wir es entsorgen müssen.«
Er griff sich ein Stück der Plastikfolie und trennte sie mit der frisch geschärften Klinge durch. Das Loch geriet etwas größer, als er geplant hatte, und das Messer glitt noch durch etwas, das sich im Sack befand.
Manne schlug die Folie beiseite und wich so plötzlich zurück, dass er gegen Eikes Beine prallte und im Beet landete. Der Neupächter sog scharf Luft ein, und Manne wurde kurz schwarz vor Augen. Was für eine grausige Überraschung.
Aus dem schwarzen Plastiksack ragte eine menschliche Hand. Nicht irgendeine Hand. Manne hatte sie sofort an dem auffälligen Siegelring am Mittelfinger erkannt. Ihm wurde schwindelig, und er war froh, dass er schon saß.
»Scheiße!«, stieß er so laut hervor, dass sich alle Köpfe zu ihm drehten. Hektisch wedelte er mit der rechten Hand in Richtung seines Grundstücks.
»Bleibt, wo ihr seid. Und lasst die Kleine auf keinen Fall in die Nähe!«
Caro ließ sich von seiner Warnung nicht abhalten und kam durch das Gartentor gerannt, nur um beim Anblick der leblosen Hand, die aus ihrem neuen Gemüsebeet ragte, so abrupt stehen zu bleiben, dass auch sie fast hinfiel. Sie schnappte nach Luft. »Ist das …?«
»Es ist«, bestätigte Manne tonlos mit Blick auf die von Verwesung schwarzen Fingerspitzen.
Er versuchte, sich zu sammeln. Das konnte nicht sein. Es war zu verrückt. Und doch hätte er diese Hand unter Tausenden erkannt. »Hier versteckst du dich also«, murmelte er nach einer Weile und fuhr sich mit der dreckverschmierten Hand übers Gesicht.
Hinter ihm sackte Eike in sich zusammen und holte damit sowohl Caro als auch Manne aus der Starre.
»Gott verdammt«, murmelte Caro, während sie sich Eikes Beine schnappte und nach oben riss. Die dreckigen Schuhe lehnte sie dabei mit großer Selbstverständlichkeit gegen ihre neue Latzhose.
»Das ist nicht das erste Mal, dass ich mich frage, wie er durchs Medizinstudium gekommen ist«, bemerkte sie mit einem Blick auf Eike und fügte fast schon entschuldigend hinzu: »Frisches Blut macht ihm nichts aus, aber mit dem Tod kann er nicht umgehen.«
Manne nickte. Wer konnte das schon?
Er selbst hatte dieses Kunststück in dreißig Jahren Polizeidienst nicht vollbracht.
Als er das Handy endlich in einer der vielen Taschen seiner Gartenhose gefunden hatte, wählte er den polizeilichen Notruf, schilderte die Situation und half Caro anschließend, Eike bis zu einer Bank in seinem Garten zu schleppen.
Karl Wischnewski. Manne hätte ehrlich gedacht, er würde ihn nie wiedersehen.
Was für ein furchtbarer Irrtum.
Zwar hatte Manne den Polizeidienst vor über acht Jahren aufgrund einer Netzhautablösung aufgeben müssen, doch mit der Polizeiarbeit war es wie mit dem Fahrradfahren: Man verlernte es nicht.
Die gewohnten Abläufe gaben ihm ein Stück Sicherheit in einer Situation, die er überhaupt nicht unter Kontrolle hatte. Er war sofort in alte Muster verfallen, hatte schaulustige Gartenfreunde verscheucht und die Ankunft der Beamten organisiert. Allerdings war er freundlich, aber bestimmt von der Parzelle geworfen worden, als die Leute vom LKA eintrafen.
Nun stand er also wieder auf seiner Seite der Hecke und hielt ein Würstchen mit Schrippe in der Hand, von dem Bautz’ner Senf auf seinen linken Fuß tropfte. Er bemerkte es nicht einmal. Auch dass er überhaupt aß, nahm er nicht richtig wahr. Es war mehr ein mechanischer Prozess. Überlebenstrieb, quasi.
In seinem Garten war es eng geworden. Weil sie an diesem Wochenende das Wasser wieder angestellt hatten, war es regelrecht voll in der Kleingartenanlage – ausgerechnet. Die Nachricht vom Leichenfund hatte sich wie ein Lauffeuer in der Anlage verbreitet, und immer mehr Gartenfreunde hatten sich an den Zäunen und auf Mannes Parzelle eingefunden. Zurückhaltung war nicht unbedingt ihre Stärke, und normalerweise machte es ihm nichts aus, wenn auf seinem Grundstück ein reges Treiben herrschte. Aber heute war es ihm irgendwie zu viel. Vielleicht auch, weil er zusätzlich zu der Unruhe im Kopf nicht auch noch Unruhe um sich herum oder unter seinen Mitgliedern brauchte. Er hatte das Gefühl, viele freuten sich geradezu darüber, dass bei ihnen in der Anlage mal richtig was los war. Ein Toter in der Kleingartenanlage Harmonie e.V. – Manne wollte sich die Schlagzeilen, die das nach sich ziehen würde, gar nicht erst ausmalen. Es war leider eine Steilvorlage für schreckliche Wortspiele.
Sie hatten die kleine Greta in ihrer Laube mit ein paar Würstchen und in Gesellschaft von Tinas Pudel Knorke vor dem Fernseher geparkt. Nicht gerade pädagogisch wertvoll, aber endlich war der Flachbildschirm, den sie vor zwei Jahren angebracht hatten, mal zu etwas gut. Eike von Ribbek war mithilfe einiger Schnäpse wieder auf die wackeligen Beine gekommen und starrte nun fassungslos auf das, was in seinem neuen Garten vor sich ging.
»Und du bist sicher, dass es Kalle ist?«, fragte Petra leise, nachdem sie eine Weile schweigend neben Manne gestanden hatte.
»Es ist auf jeden Fall seine Hand«, gab er zurück. »Also muss ich davon ausgehen, dass der restliche Körper ebenfalls zu Kalle gehört. Erinnerst du dich an diesen albernen Ring?«
»Der mit den Initialen? Natürlich.«
»Und das fehlende Fingerglied am kleinen Finger? Vom Sägeunfall?«
»Okay. Ich hab’s verstanden.« Petra zog die Schultern hoch. »Meinst du, er lag die ganze Zeit auf seiner eigenen Parzelle vergraben?«
»Du meinst, seitdem er verschwunden ist?«
»Hm.«
Manne schüttelte den Kopf. »Ausgeschlossen.«
»Warum?«
Der ehemalige Polizist deutete in den Nachbargarten. »Der Zustand der Leiche ist zu gut. In sechs Monaten wäre der viel stärker verwest. Die Fingerspitzen waren zwar schon schwarz, aber der Rest sah gut aus. Und der Sack war auch noch relativ neu. Maden habe ich auf den ersten Blick auch keine gesehen.«
Petra nahm einen großen Schluck aus ihrem Rotweinglas und verzog das Gesicht. »Wann werde ich endlich lernen, nicht mehr nachzufragen?«
Manne schielte zu seiner Frau und legte ihr einen Arm um die Schulter. »Vermutlich nie. Wie hast du heute noch so schön festgestellt: Einer von uns beiden muss ja neugierig sein.«
Sie beobachteten, wie die Kripo ihre Arbeit verrichtete. Der Polizeifotograf war mittlerweile fertig und die Rechtsmedizin eingetroffen. Die junge Ärztin sah aus, als wäre sie gerade frisch aus der Uni gestolpert, doch Manne wusste, dass der Ausbildungsweg zum Rechtsmediziner ein verflixt langer war, also musste sie zumindest älter sein, als sie aussah. Trotzdem hatte die Generation seines Sohnes eine Zielstrebigkeit am Leibe, die ihm manchmal unheimlich war. Was war aus dem guten alten »in den Tag hinein leben« geworden?
Einer der Beamten unterhielt sich gerade mit Eike und Caroline von Ribbek, die beide zwar noch recht blass um die Nasenspitze waren, sich jedoch ziemlich wacker hielten. Schließlich kam ein Mann zu ihnen an den Zaun.
»Und Sie sind der Vorstandsvorsitzende hier?«, fragte er ohne Umschweife, und ohne sich vorzustellen.
Manne nickte. »Manfred Nowak mein Name. Das ist meine Frau Petra.«
Der Mann warf ein kurzes Lächeln in Petras Richtung, ohne sie überhaupt anzusehen. Was ihn Manne gleich unsympathisch machte. Petra übersah man nicht einfach.
Zu lange ansehen durfte man sie allerdings auch nicht, wenn man ihn fragte. Wie immer im Leben ging es auch hier um das gesunde Mittelmaß.
»Herr Nowak, die von Ribbeks haben die Vermutung geäußert, dass Sie den Toten erkannt haben. Ist das richtig?«
Manne zuckte die Schultern. Es war eine dieser Fangfragen, wie er sie in seiner aktiven Zeit sicherlich auch ein Dutzend Mal gestellt hatte. »Ich habe den Toten ja noch gar nicht gesehen. Nur seine Hand. Aber die habe ich erkannt, das ist richtig.«
Der Beamte zog die Brauen hoch. »Sie haben seine Hand erkannt?«
»Den Siegelring, den er immer am rechten Mittelfinger trug, ja. Außerdem fehlte ihm seit 2010 ein Teil des rechten kleinen Fingers. Was seiner rechten Hand zusammengenommen doch einen eher überdurchschnittlichen Wiedererkennungswert verleiht. Aber sicher kann ich natürlich nicht sein.«
»Verstehe.« Der Polizist machte sich ein paar Notizen. »Würden Sie bitte mal rüberkommen?«
Manne löste sich von seiner Frau und ging auf das Nachbargrundstück, wo der Kriminalbeamte ihn am Törchen in Empfang nahm.
»Sagen Sie mal, wie heißen Sie eigentlich?«, erlaubte sich Manne zu fragen, während er zur Leiche eskortiert wurde, die mittlerweile vom Plastiksack befreit mitten im Beet lag. Das Wort »Gottesacker« schoss Manne durch den Kopf.
»Polizeihauptkommissar Lohmeyer«, gab dieser zurück, ohne sich umzudrehen, blieb dann stehen und deutete auf die Leiche. »Können Sie uns bitte sagen, ob sich Ihre Vermutung bestätigt?«
Manne warf einen Blick auf die Leiche. Was ihm sofort auffiel, war die merkwürdige Position des Körpers. Er lag nicht auf dem Rücken, sondern auf der Seite und hatte die Beine angewinkelt. So wirkte er wie ein Mensch, der sich vor Bauchschmerzen krümmt. Mannes Blick fiel auf das Loch. Ja, das passte.
Dann sah er dem Toten endlich ins Gesicht und musste schon nach wenigen Momenten die Augen schließen. Es war vollkommen zertrümmert. Die Züge, die einen Menschen unverwechselbar machten, waren zerstört worden. Wo einmal Augen, eine Nase und ein Mund gewesen waren, herrschte nur noch Verwüstung. Unmöglich zu sagen, ob es sich hierbei wirklich um Karl Wischnewski handelte.
»Soll das ein Witz sein?«, fragte er den Kommissar ungehalten, doch dessen Miene blieb vollkommen ausdruckslos.
»Sehe ich aus, als wäre ich zu Scherzen aufgelegt?«
Manne seufzte und fragte sich, ob der Mann überhaupt jemals so aussah, als wäre er zu Scherzen aufgelegt. Die grimmigen Falten um seinen Mund herum verdienten einen Eintrag im Guinnessbuch der Rekorde. In Berlin sah man nicht oft so hübsche Bergkämme – oder so tiefe Schluchten.
»Nein. Sehen Sie nicht. Aber wie sollte ich denn bitte bei dem Zustand der Leiche erkennen können, ob es sich nun um Karl Wischnewski handelt oder nicht?«
Lohmeyer kramte einen Notizblock hervor und zückte den Kugelschreiber. »Wischnewski, sagen Sie?«
Manne nickte. »Karl Dieter Wischnewski, um genau zu sein.«
»Und Sie vermuten, dass es sich hierbei um besagten Wischnewski handelt?«
»Wie schon gesagt.« Manne streckte die Hand aus und deutete auf den Siegelring. »Ich erkenne den Ring. Wenn Sie ihn säubern, sollten Sie dort die Buchstaben KDW vorfinden.«
»Kaufhaus des Westens?«, fragte Lohmeyer überrascht, und Manne musste sich nun doch ein Schmunzeln verkneifen.
»Nein. Karl Dieter Wischnewski. Aber er war immer sehr stolz auf die Initialen KDW. In unserer Jugend galt das Kaufhaus noch was. Vor allem, wenn man im Osten aufwuchs, war das ’ne Art Legende. Deshalb hat er sich den Ring ja überhaupt erst machen lassen. Ich fand das immer albern, er hielt es für feingeistig und hing an dem Schmuckstück.«
Manne brach ab, weil ihm auffiel, dass Lohmeyer ihn aufmerksam beobachtete.
»Sie kannten diesen Wischnewksi offenbar sehr gut.«
Manne lächelte traurig. »Das kann man wohl sagen.«
Lohmeyer schwieg eine Weile. »Sie sind ein alter Kollege«, sagte er dann, und Manne war ehrlich überrascht.
»Stimmt. Woher wissen Sie das?«
»Spielt keine Rolle.«
Manne konnte den Kerl nicht leiden.
»Jan!«, rief eine Kollegin quer über das Grundstück, und über Lohmeyers Nase bildete sich eine schnurgerade Falte.
Manne konnte sich gerade noch eine Bemerkung darüber verkneifen, dass Kriminalhauptkommissar ja gar nicht sein richtiger Vorname war.
»Was?«, rief Kriminalhauptkommissar Jan Lohmeyer unwirsch zurück, doch die Polizistin winkte ihn nur mit einer sehr nachdrücklichen Geste zu sich.
»Warten Sie hier bitte einen Augenblick«, bat Lohmeyer, und Manne nickte.
Er versuchte, nicht allzu auffällig hinzusehen, während Lohmeyer sich mit seiner Kollegin ein Stück von den anderen Beamten entfernte und sie ihm mit aufgeregter Miene etwas ins Ohr flüsterte. Meinte Manne das nur, oder wurde diese Nasenwurzelfalte noch tiefer? Bekam man von so was keine Kopfschmerzen? Wahrscheinlich drückte diesem Lohmeyer das Ding auf den präfrontalen Kortex, was eine Erklärung für seine Unhöflichkeit sein konnte.
Lohmeyer hob abrupt den Kopf und starrte zu Manne rüber, als hätte er seine Gedanken gelesen. Sofort fühlte er sich unbehaglich und senkte den Blick.
Nun schaute er den Kriminaltechnikern dabei zu, wie sie die Hände und nackten Füße des Toten vorsichtig in Baumwollsäckchen packten, damit keine Spuren verloren gingen. Wie sie das Gleiche dann auch noch mit dem Kopf vollführten, was seltener vorkam, in dem Fall aber durchaus sinnvoll war. Wenn es dort verwertbare Spuren gab, dann bargen sie Hinweise auf die Tatwaffe. Und die war immer ein wichtiges Puzzlestück.
Ein Teil von Manne wünschte sich, jetzt gleich mit den Beamten aufs Präsidium zu fahren und mit der Arbeit zu beginnen. Nicht nur, weil es hier um Kalle ging. Die vertrauten Abläufe, das Vokabular, das durch die Luft flog – all das verursachte ein Gefühl in ihm, das sonst nur mit Heimweh vergleichbar war. Konnte man Heimweh nach einem Beruf haben? Offensichtlich schon.
»Ich muss Sie bitten, mit uns zu kommen«, hörte er Lohmeyer plötzlich in scharfem Ton sagen, und Manne zuckte zusammen. Er hatte den Kommissar gar nicht kommen hören, so verstrickt war er in seine eigenen Gedanken gewesen.
»Was?«, fragte er etwas verwirrt und blickte in das strenge, kantige, irgendwie undurchdringliche Gesicht. Auf einmal dachte er an die Matrix-Filme. An diesen Agenten Smith, der überall war, sich duplizieren konnte und niemals lachte. Lohmeyer war genau so ein Typ. Ein Agent Smith.
Und er seufzte gerade sehr tief. »Ich brauche Ihnen doch nicht zu sagen, wie das läuft, oder? Sie müssen natürlich nicht mitkommen, aber …«
Manne stöhnte. Das war noch so eine Polizeistrategie. Den Satz in der Luft hängen zu lassen, damit sich das Gegenüber das »schlechte Licht«, das eine Weigerung auf ihn werfen würde, selbst in den düstersten Farben ausmalen konnte. Wer war der Kerl? Ein Mensch gewordenes Lehrbuch mit dem Titel Grundkenntnisse für Kriminalbeamte?
Er überlegte einen Moment. Eigentlich wollte er alles andere, als jetzt die Anlage zu verlassen. Schon gar nicht mit diesem speziellen Kommissar und vor aller Augen. Die Frage war nur, was ihm eine Weigerung einbringen würde. Typen wie Lohmeyer waren Wadenbeißer. Wenn er jetzt nicht kooperierte, hatte er den ewig am Hosenbein kleben.
Also nickte er. »Kann ich noch schnell meiner Frau Bescheid geben?«, bat er, doch Lohmeyer hatte schon eine Hand auf seine Schulter gelegt. So ein Aas.
»Das erledigt meine Kollegin gleich. Keine Sorge, Herr Nowak. Ich habe nur ein paar Fragen an Sie.«
Manne schnaubte. »Wollen wir wetten?«, murmelte er leise.
»Bitte?«
»Ach, nichts. Gehen wir.«
Alle Augen folgten ihnen, während sie durch den Holunderblütenweg und über den Hauptweg zum Parkplatz gingen, wo Lohmeyers Wagen stand.
Natürlich. Das hier war eine Kleingartenanlage. Nichts, was Manne tat oder sagte, blieb unbemerkt. Das letzte Mal, dass ihm das wirklich was ausgemacht hatte, war, als herausgekommen war, dass Kalle und er hinten bei den Bienenstöcken heimlich Zigaretten versteckten.
Und das war vierzig Jahre her.