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Impressum

Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel «Stray Skies» bei Jiangsu Phoenix Arts, Nanjing.

 

Die Übersetzung wurde gefördert vom Confucius Institute Publication Fund.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verlag, Hamburg, Oktober 2018

Copyright © 2018 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

«Stray Skies» Copyright © 2016 by Hao Jingfang

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Redaktion Lisa Kuppler

Umschlaggestaltung und Motiv HAUPTMANN & KOMPANIE Werbeagentur, Zürich

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Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen

ISBN Printausgabe 978-3-499-27418-3 (1. Auflage 2018)

ISBN E-Book 978-3-644-40350-5

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-40350-5

Rückkehr auf den Mars

Die jungen Leute waren in der einen Welt geboren und in der anderen Welt groß geworden.

Die eine Welt war ein Hochhaus, in dem strenge Regeln herrschten. Die andere Welt, in der sie erwachsen wurden, war ein verwilderter Garten. Hier ein erhabenes Projekt, das mit feierlichem Ernst betrieben wurde, dort ausschweifende Partys, auf denen alle ungeheuren Spaß hatten. Beide Welten waren über die jungen Leute hereingebrochen, ohne dass man sie um ihre Meinung gefragt oder auf ihre Gefühle Rücksicht genommen hätte. Das Rad des Schicksals war unaufhaltsam über sie hinweggerollt.

Was im Hochhaus erbaut wurde, wurde im Garten wieder zerstört, was bei den ausschweifenden Partys in Vergessenheit geriet, an das erinnerte man sich im Projekt. Wer nur im Hochhaus gelebt hatte, wusste nichts vom Krieg, wer nur gefeiert hatte, interessierte sich nicht für gesellschaftliche Visionen. Nur diese Gruppe junger Leute hatte den Wechsel zwischen beiden Welten bewusst erlebt. Nur sie hatte gesehen, wie mitten in der Wüste Regen fiel und über Nacht eine Wiese voll wundersamer Blumen erblühte.

Was das für junge Leute waren? Und warum das Los gerade auf sie gefallen war? Die Antwort auf diese Fragen lag irgendwo versteckt in zweihundert Jahren komplizierter Geschichte. Sie selbst hätten es nicht erklären können – und wohl auch sonst

Unsere Geschichte beginnt mit der Heimkehr dieser jungen Leute. Ihre lange Reise nähert sich dem Ende, doch ihr wahres Exil beginnt erst jetzt.

Diese Geschichte handelt davon, wie die letzte Utopie zugrunde ging.

Langsam wie ein Wassertropfen glitt das Schiff durch die dunklen Tiefen des Alls seinem Landeplatz entgegen. Es war ein altes Schiff, und es schimmerte in einem matten Silber wie eine Medaille, deren Prägung mit den Jahren unleserlich geworden war. In der schwarzen Leere wirkte es einsam und winzig. Es bildete eine Linie mit Sonne und Mars – die Sonne am fernen, der Mars am nahen Ende und dazwischen das Schiff. Sein Kurs war so gerade, als hätte ein unsichtbares Schwert ihn gezogen.

Das Schiff hieß Maerde, und es war die einzige Verbindung zwischen Mars und Erde.

Früher war dies eine vielbefahrene Route gewesen. Doch das Schiff wusste nichts von all den Transportschiffen, die einhundert Jahre vor seiner Geburt dicht an dicht auf dieser Strecke gefahren waren, ein breiter Strom, der sich auf den marsianischen Staub ergoss. Gegen Ende des 21. Jahrhunderts war das gewesen. Die Menschen hatten endlich die Grenzen durchbrochen, die ihnen die Schwerkraft, die Erdatmosphäre und ihr eigenes Bewusstsein gesetzt hatten. Ängstlich, nervös und manchmal auch voller Stolz hatten sie Waren und Rohstoffe zu jenem fernen Planeten ihrer Träume verfrachtet. Der wirtschaftliche Konkurrenzkampf erstreckte sich vom erdnahen Weltraum bis zur Oberfläche des Mars. Das Militär kontrollierte den Verkehr zum Mars, und eine internationale

Das Schiff hatte das alles nicht gesehen. Es wusste auch nichts von den kommerziellen Handelsschiffen, die siebzig Jahre später die staatlichen Transportschiffe verdrängten, um den Mars zu kolonisieren. Dreißig Jahre nach der Gründung der ersten Marsbasis waren die Fühler der Geschäftsleute wie die Riesenbohnenranke im Märchen hinauf bis zum Himmel gewachsen. Viele Abenteurer kamen an dieser Ranke empor zum Mars geklettert, um die sandige Weite auszukundschaften. Sie alle hatten sorgsam kalkulierte Geschäftspläne im Gepäck. Anfangs ging es bei den Geschäften noch um materielle Güter: Geschäftsleute taten sich mit Politikern zusammen und sicherten sich Besitz- und Nutzungsrechte am Marsland, Handelsrechte für die natürlichen Ressourcen und Entwicklungsrechte für neue, außerirdische Produkte. Mit ergreifenden Worten priesen sie den Handel zwischen den Planeten. Doch mehr und mehr ging es in ihren Businessplänen um das Wissen selbst. Der historische Wandel, der sich auf der Erde innerhalb von zweihundert Jahren vollzogen hatte, fand so auf dem Mars komprimiert in nur zwanzig Jahren statt. Immaterielle Werte wurden zur Hauptsäule des Handels, die Unternehmer angelten sich die klügsten wissenschaftlichen Köpfe und errichteten virtuelle Barrieren zwischen den einzelnen Stützpunkten. Die Schiffe, die damals durch den Nachthimmel glitten, konnten

Dann tauchten auf der Strecke zwischen Erde und Mars Kriegsschiffe auf. Auch von ihnen wusste das Schiff nichts. Der Marsianische Unabhängigkeitskrieg war vierzig Jahre vor seiner Geburt ausgebrochen. Auf den Marsstützpunkten hatten Forscher und Ingenieure ein Bündnis gegen das irdische Regime geschlossen. Sie nutzten ihre Raumfahrt- und Schürftechnologie, um gegen eine Politik Widerstand zu leisten, die nur auf Geld und Macht aus war. Ihre Kriegsschiffe bildeten eine lange Abwehrkette gegen die Angreifer. Wie eine mächtige Flutwelle wogten sie vorwärts, um sich im nächsten Moment lautlos wieder zurückzuziehen. Doch von ihren fernen Heimathäfen auf der Erde schossen kleine, flinke Schiffe herbei, die der Zorn auf die Verräter antrieb. Mit kühler Präzision, aber voll wilder Zerstörungswut warfen sie ihre Bomben ab. Im Wüstensand trieb das Blut seine stillen roten Blüten aus.

Von alldem wusste das Schiff nichts. Im Jahr, als das Schiff geboren wurde, erinnerte nichts mehr daran, dass hier noch vor zehn Jahren ein Krieg getobt hatte. Am nächtlichen Himmel war wieder Stille eingekehrt, und die Route durch das All war verwaist. Das Dunkel hatte alles ausgelöscht, und im Dunkel war das Schiff aus Metalltrümmern zusammengefügt worden. Allein befuhr es das Sternenmeer. Auf einer Route, die erst ausgedehnten Handel gesehen hatte und dann von Artilleriefeuer erschüttert worden war, verkehrte es als einsamer Pendler zwischen den Planeten.

Ruhig und still glitt es dahin. Kein anderer Reisender kreuzte seinen Weg. Wie ein einzelner Tropfen Silber überwand es den

Dreißig Jahre hatte das Schiff nun auf dem Buckel, und der Zahn der Zeit nagte an seiner Außenhaut.

 

Im Innern war es ein Labyrinth. Niemand außer dem Kapitän durchschaute seine Konstruktion.

Das Schiff war riesig. Seine Treppenfluchten führten nach allen Seiten, vorbei an endlosen Reihen von Kabinen und einem Gewirr von Gängen. Die imposanten Lagerhallen glichen verfallenen Palästen. Säulengänge liefen darin rings um die aufgetürmten Maschinen, und die Ecken waren mit Botschaften beschrieben, die niemand las. Lange, schmale Korridore, verwirrend wie eine Geschichte, die sich in zahllosen Handlungsfäden verliert, verbanden Wohnräume und Banketthallen miteinander. Das Schiff kannte kein Oben und Unten. Der Boden bestand aus der Innenfläche eines riesigen rotierenden Zylinders, in dem man dank der Fliehkraft umhergehen konnte. Die metallischen Säulen des Zylinders liefen wie Speichen im Zentrum zusammen. Das Schiff verströmte den Charme einer Antiquität: Die Säulen waren graviert, der Boden mit Mustern geschmückt, an den Wänden hingen altertümliche Spiegel und an den Decken Bilder. Auf diese Weise zollte das Schiff der Zeit seinen Respekt – zum Gedenken an eine Ära, als die Menschheit noch nicht gespalten war.

Auf dieser Fahrt waren drei Gruppen an Bord: eine fünfzigköpfige Delegation von der Erde, eine fünfzigköpfige Delegation vom Mars und eine Gruppe von zwanzig jungen Schülern und Schülerinnen.

Die Delegationen waren für eine gemeinsame interplanetarische Messe zuständig. Die erste Marsmesse auf der Erde war reibungslos über die Bühne gegangen, und nun stand die

Die Schülergruppe hieß «Merkur». Die jungen Leute – sie waren alle achtzehn Jahre alt – hatten die letzten fünf Jahre auf der Erde verbracht und kehrten nun heim. Der Name verwies nicht nur auf den Planeten Merkur, sondern auch auf den Götterboten der römischen Mythologie. In ihm drückte sich die Hoffnung auf Verständigung aus.

 

Vor vierzig Jahren war der Krieg zu Ende gegangen, und seit dreißig Jahren war das Schiff im Dienst, die einzige Verbindung zwischen Erde und Mars. Es hatte zwar etliche Verhandlungen gesehen, Geschäfte, Verträge und Streitigkeiten, aber ansonsten hatte es nicht viel erlebt. Eine lange Zeit hatte es untätig herumgelegen: Sein Inneres war gähnend leer gewesen, die Kabinen ohne Passagiere geblieben und die Lagerräume ohne Waren, in den Bankettsälen hatte keine Musik gespielt, und im Cockpit hatte niemand Befehle erteilt.

Der Kapitän und seine Frau waren ein altes Paar. Dreißig Jahre hatten sie auf dem Schiff ihren Dienst verrichtet, hatten hier gelebt und waren hier alt geworden. Das Schiff war ihr Zuhause, ihr Leben, ihre Welt.

«Und Sie sind nie von Bord gegangen?», fragte ein schönes junges Mädchen, das vor der Kapitänsunterkunft stand.

«In den ersten paar Jahren schon. Aber dann sind wir dafür zu alt geworden», antwortete ihr die Frau des Kapitäns mit einem liebenswürdigen Lächeln. Ihre Locken waren silbrig,

«Wieso zu alt?»

«Wir hätten die Veränderung der Schwerkraft nicht mehr verkraftet. Wenn man alt ist, spielen die Knochen nicht mehr mit.»

«Warum gehen Sie dann nicht in Rente?»

«Garcia will nicht. Er möchte bis zu seinem Tod auf dem Schiff bleiben.»

«Arbeiten viele Leute auf dem Schiff?»

«Wenn wir im Einsatz sind, über zwanzig. Sonst nur wir beide.»

«Und wie oft sind Sie im Einsatz?»

«Schwer zu sagen. Manchmal alle vier Monate, manchmal erst nach über einem Jahr.»

«So selten? Ist Ihnen da nicht einsam zumute?»

«Nein, das sind wir gewohnt.»

Das Mädchen schwieg einen Moment, und sie schloss kurz die Augen mit den langen Wimpern. «Mein Großvater redet oft von Ihnen beiden. Er vermisst Sie.»

«Wir vermissen deinen Großvater auch. Garcia hat seit Jahren ein Foto auf dem Tisch stehen, das zeigt sie alle vier. Jeden Tag schaut er sich das Bild an. Grüß deinen Großvater von uns, wenn du zurück bist.»

Das Mädchen lächelte warm und ein wenig melancholisch. «Ellie, ich besuche Sie beide später auf jeden Fall einmal.» Sie hatte die alte Dame gern. Aber sie würde in nächster Zeit kaum wieder auf das Schiff kommen, und das stimmte sie traurig.

«Gut.» Die Frau des Kapitäns erwiderte ihr Lächeln und strich ihr sanft über das Haar. «Du bist hübsch geworden. Ganz wie deine Mutter.»

Kapitän Garcia und der Großvater des Mädchens waren alte Kriegskameraden. Als junge Männer waren sie im selben Geschwader gewesen. Sie waren im Krieg geboren und später ein gutes Dutzend Jahre immer wieder in die Schlacht geflogen. Danach waren sie zu Säulen der marsianischen Gesellschaft geworden: der eine auf dem Boden, der andere im All.

Nach dem Krieg durchlebten die Marsbewohner eine äußerst harte Zeit. Der unfruchtbare Boden, die dünne Luft, die unzureichenden Wasserreserven, die schädliche Strahlung – jeden Tag aufs Neue sahen sie sich mit tödlichen Bedrohungen konfrontiert. Vor dem Krieg waren sie mit Raumschiffen von der Erde versorgt worden, wie ein ungeborenes Kind, das auf die Ernährung durch die Mutter angewiesen ist. Mit der Unabhängigkeit nach dem Krieg mussten sie die Schmerzen einer

Es war das zehnte Jahr nach dem Ende des Krieges. Viele Marsbewohner lehnten es ab, sich als Bittsteller an die Erde zu wenden, aber der Kapitän bestand darauf. Dieser erste Versuch einer marsianischen Diplomatie war noch beseelt vom Kampfgeist eines versprengten Trupps, den es an die irdische Peripherie verschlagen hatte. Besser als jeder andere verstand der Kapitän die Gefühle der Erdbewohner: ihren Hass und ihre Schadenfreude, nachdem sie durch die Niederlage im Krieg gedemütigt worden waren. Trotzdem gab es für ihn kein Zurück, denn das hätte bedeutet, dass seine neue Heimat auf ewig dazu verdammt gewesen wäre, eine kümmerliche Existenz zu fristen.

Ab diesem Zeitpunkt war Garcias Leben untrennbar mit dem Schiff verbunden. Dort lebte er, von dort schickte er seine Botschaften an die Erde. Er bat, drohte, lockte, und er bot marsianische Technologie zum Tausch gegen Rohstoffe von der Erde an, die sie zum Überleben auf dem Mars brauchten. Seit dreißig Jahren lebte er nun schon auf seinem Schiff, ohne dass er je wieder festen Boden unter den Füßen gehabt hätte. Kapitän Garcia stand für die marsianische Diplomatie. Während seiner endlos langen Reisen war es zum ersten Geschäftsabschluss zwischen Mars und Erde gekommen, zur ersten gegenseitigen Entsendung von Fachkräften, zur ersten

Nach ein paar höflichen Worten zum Abschied wandte sich das Mädchen zum Gehen, da rief die Frau des Kapitäns sie noch einmal zurück. «Ach ja, eine Sache noch: Garcia hat eine Nachricht für deinen Großvater. Die hat er gerade eben vergessen.»

«Was für eine Nachricht?»

«Garcia sagt: Der Kampf um einen Schatz ist manchmal größer als der Schatz selbst.»

Das Mädchen dachte einen Moment darüber nach. Fast hätte sie nachgefragt, aber dann sagte sie doch nichts. Die Nachricht des Kapitäns musste etwas mit irgendwelchen diplomatischen Angelegenheiten zu tun haben, und sie wollte ihre Nase nicht ungefragt in Dinge stecken, die sie nichts angingen. Also nickte sie bloß, versprach, die Nachricht zu überbringen, und ging. Der Name des Mädchens war Luoying. Sie gehörte zur Merkur-Gruppe, war achtzehn Jahre alt und studierte Tanz. Die Haltung kerzengerade und doch entspannt, die Fußspitzen leicht nach außen gebogen, entfernte sie sich mit federleichtem Schritt. Sie entschwebte wie eine Libelle, die über das Wasser streicht, eine Brise Wind, die nicht ein Staubkorn mit sich führt.

Erst als das Mädchen aus ihrem Blickfeld entschwunden war, betrat die Frau des Kapitäns ihre Unterkunft. Die Glöckchen an der Tür klirrten zart in der Stille der Nacht. Die Frau blickte in das finstere Zimmer und stieß einen stummen Seufzer aus. Nichts rührte sich, ihr Mann lag schon in tiefem Schlaf. Er wurde immer schwächer – eben hatte er nicht einmal bis zum Ende ihrer Unterhaltung durchgehalten, sondern sich vor

 

Das Schiff hieß Maerde. Sein Name war zusammengesetzt aus Mars und Erde und so ein Sinnbild für die Mission des Schiffs. Schön war der Name nicht, aber er verkörperte eindrucksvoll die Bereitschaft zu Verhandlungen und Kompromissen.

Die Technologie des Schiffs war denkbar einfach. Seine Konstruktion und sein Triebwerk entsprachen noch ganz der Tradition der Vorkriegszeit. Mit dem Solarenergiespeicher und dem rotierenden Zylinder, der die Schwerkraft erzeugte, war das Schiff stabil und zuverlässig konstruiert, aber auch schwerfällig. Zu Kriegszeiten hatte man sowohl auf der Erde als auch auf dem Mars die technologische Entwicklung mit Hochdruck vorangetrieben. Man hätte wendigere Schiffe bauen können, die die Entfernung zwischen den Planeten schneller zurücklegen konnten. Trotzdem war die Maerde das einzige Schiff geblieben. Dreißig Jahre waren vergangen, ohne dass ein anderes sie ersetzt hätte. Unförmig wie ein Wal zog sie ihre einsamen Bahnen durch die kalte Leere des Alls. Langsam und riesig, wie sie war, taugte sie nicht zu einem Angriff. Genau deshalb wirkte sie bei den Verhandlungen so vertrauenswürdig. Ihre Plumpheit und ihre Trägheit waren nun ein Vorteil. Denn das größte Hindernis einer Annäherung von Mars und Erde war nicht die räumliche Distanz zwischen den Planeten,

Der Zylinder im Inneren des Schiffes war in vier gleich große Zonen aufgeteilt. Frei zugängliche Korridore verbanden die Bereiche miteinander, aber die Entfernungen waren so groß und das Wegenetz so verwirrend, dass sich kaum jemand einmal in eine andere Zone vorwagte. Jeder Gruppe von Passagieren war eine Zone zugeteilt, und die Besatzung belegte die vierte Zone. Obwohl sie nun schon hundert Tage auf demselben Schiff reisten, hatten die Gruppen kaum Kontakt miteinander. Zwar waren sie bei einer Reihe von Festen zusammengekommen, hatten aber fast nur höfliche Floskeln ausgetauscht.

Jede Gruppe hatte ihre Eigenarten. Die Mars-Delegation hatte ihre Aufgaben erledigt, sie war auf dem Weg nach Hause und in bester Stimmung. Die Heimkehrer plauderten vergnügt über gutes Essen, ihre Kinder und die vielen Abenteuer auf der Erde. Während sie in der Kantine von dem heimatlichen Geschirr aßen, das sie so lange vermisst hatten, lachten und schwatzten sie und fühlten sich ausgesprochen wohl.

Für die zwanzig Austauschschüler vom Mars waren die hundert Reisetage ein einziges rauschendes Fest. Mit dreizehn Jahren hatten sie ihr Zuhause verlassen, und in den folgenden fünf Jahren hatten sie über die ganze Erde verstreut gelebt und einander kaum einmal sehen können. Deshalb freuten sie sich jetzt umso mehr über die gemeinsame Heimfahrt. Sie lachten und tranken, vergnügten sich in der Antigravitationskammer am Bug des Schiffs mit Ballspielen, machten Musik und sangen Nacht für Nacht.

Ein ganz anderes Bild gab die Delegation der Erde ab. Ihre Mitglieder kamen aus den unterschiedlichsten Ländern. Sie waren einander fremd und mussten sich erst noch

Gewöhnlich saßen sie grüppchenweise in ihren feinen Hemden mit den verzierten Säumen in der Bar der Erdzone und unterhielten sich. Die Bar war eingerichtet, wie es auf der Erde üblich war: schlicht und mit gedämpftem Licht. Auf dem Boden der dickrandigen Gläser schimmerte zwischen den Eiswürfeln eine dünne Schicht Whiskey.

«Also nun mal ehrlich: Hast du nicht gemerkt, dass zwischen Ivandonov und Wang dicke Luft herrscht?»

«Zwischen Ivandonov und Wang? Nein. Das glaube ich nicht.»

«Achte mal darauf. Gerade du solltest das im Auge haben.»

Der eine der beiden Männer war ein Glatzkopf mittleren Alters, der andere brünett und jung. Der Glatzkopf hatte die Frage gestellt. Ein breites Grinsen lag auf seinem Gesicht. Sein Kinn war glatt rasiert, und seine hellgrauen Augen glitzerten wie das Meer im Sommer. Der junge Mann redete nicht viel. Manchmal antwortete er nur mit einem Lächeln. Sein Gesichtsausdruck war schwer zu deuten, denn sein lockiges Haar fiel ihm in die Stirn, und seine dunkelbraunen Augen lagen unter dichten Brauen verborgen. Der Glatzkopf hieß Tynne. Auf der Erde war er der Erbe und Vorstandsvorsitzende der Taylors-Mediengruppe. Der junge Mann, Igor Lu, war

Ivandonov und Wang – die beiden Delegierten, von denen Tynne gesprochen hatte – waren als Vertreter Russlands und Chinas mit an Bord. Ihr frostiges Verhältnis rührte von den Territorialstreitigkeiten der beiden Länder her. Überhaupt waren sich die Delegierten von der Erde nicht gerade freundlich gesonnen, denn viele Nationen waren aus historischen Gründen miteinander zerstritten. Man gab sich freundlich, doch unter der Oberfläche schwelten alle möglichen Feindseligkeiten.

Tynne fühlte sich keinem Staat zugehörig. Er besaß vier Pässe, lebte in fünf Ländern, liebte das Essen von sechs landestypischen Küchen und litt in sieben Ländern am Jetlag. Konflikte zwischen Staaten beobachtete er aus einer amüsierten Distanz – er verstand sie, aber sie interessierten ihn nicht. Seine Weltanschauung war typisch für das späte zweiundzwanzigste Jahrhundert: Er hatte nur Spott und Verachtung übrig für das Konzept der Nation und für die geschichtlichen Probleme, die daraus erwachsen waren und die Globalisierung überdauert hatten.

Igor waren all diese Streitfragen vertraut, aber für gewöhnlich kümmerte er sich nicht darum. Dass die Delegierten völlig unterschiedliche Ziele verfolgten, war für ihn die normalste Sache der Welt. Jeder, der zum Mars flog, wollte dort etwas für sich erreichen – bei ihm selbst war es auch nicht anders.

«Weißt du, was der beste Stoff für deinen Film wäre?», fragte Tynne.

«Na?»

«Ein Mädchen.»

«Ein Mädchen?»

«Aus der Merkur-Gruppe. Sie heißt Luoying.»

«Luoying? Welche ist denn das?»

«Ich glaube, ich weiß, wen du meinst. Und was ist mit ihr?»

«Wenn sie zurück auf dem Mars ist, hat sie einen Auftritt. Ein Solotanz. Das wird bestimmt interessant. Häng dich mit deiner Kamera an sie ran, auf so etwas fährt das Publikum ab.»

«Und weiter?»

«Wie weiter?»

«Was … steckt dahinter? Dein wirkliches Motiv.»

«Du stellst zu viele Fragen.» Tynne lächelte. «Aber ich kann es dir ruhig verraten: Ihr Großvater ist der Generalgouverneur vom Mars. Sie ist die einzige Enkeltochter des großen Diktators. Ich habe das auch gerade erst erfahren.»

«Sollten wir uns dann nicht erst mal sein Einverständnis einholen, bevor wir sie filmen?»

«Nein. Diese Sache muss unter uns bleiben. Ich will keinen Ärger.»

«Hast du keine Angst, dass wir Ärger bekommen, wenn wir wieder zurück sind?»

«Kommt Zeit, kommt Rat.»

Igor schwieg, und Tynne hakte auch nicht nach. Ein stummes Einverständnis war am besten. Wirklich ausgemacht oder beschlossen hatten sie nichts: Igor hatte nichts versprochen, und Tynne brauchte sich nicht vorwerfen zu lassen, er habe den Regisseur zu irgendetwas angestiftet. Mit einem Grinsen sah er Igor dabei zu, wie er wortlos das Glas in seiner Hand schwenkte.

Tynne hatte schon viele Filme produziert. Er wusste genau, worauf das Publikum ansprang und welchen Themen man lieber aus dem Weg ging. Igor dagegen war neu im Geschäft. Er war noch von der Filmhochschule geprägt, steckte voller Ideen und verachtete den Mainstream. Aber die Zeit würde ihn schon

Durch die Bar wogte Elektro-Jazz und umhüllte die Besprechungen und vertraulichen Gespräche an den Tischen. Es war warm, und die Männer lockerten unauffällig ihre Krawatten. Kellnerinnen oder Kellner gab es nicht, die Getränke wurden automatisch aus gläsernen Behältern an der Wand eingeschenkt. Von der Decke hing eine halbkugelförmige bunte Glaslampe. Ihr gedämpftes Licht schmeichelte den Gästen, die sich zumindest oberflächlich freundlich gaben. Ab und zu hörte man ein Lachen, das klang, als würde man sich schon verabschieden.

So unterschiedlich die Ziele der Delegierten auch waren, sie ließen sich alle auf einen gemeinsamen Nenner bringen: Technologie. Technologie bedeutete Geld. Im zweiundzwanzigsten Jahrhundert waren Wissen und Technik die Schlüsselwörter gewesen. Auf diesen Fundamenten war die gesamte Welt erbaut. Technologisches Knowhow war zur Leitwährung, zum neuen Goldstandard des Finanzsystems geworden und damit zum Garanten für dessen Stabilität. Nur die weltweite Abhängigkeit von neuen Technologien hielt das labile internationale Kräfteverhältnis im Gleichgewicht. Das Geschäft mit dem Wissen spielte eine zentrale Rolle im globalen Wirtschaftsleben. Die tiefen Risse nach dem Krieg waren deshalb überwunden worden, weil der Mars ein Ort war, der Wissenschaftler und Techniker hervorbrachte. Sein Wissen machte ihn unabhängig – und profitabel. Der Rote Planet war ökonomisch attraktiv geworden.

Die Musik, die lächelnden Gesichter und die cleveren Pläne, alles wogte in dem sanften Licht.

Doch alle Konflikte waren beigelegt, alle Streitigkeiten dank der Akten als Missverständnisse aufgeklärt, alle Narben überdeckt. Die Fotos in ihren dunkelbraunen Rahmen waren geschmackvoll angeordnet. Die Bar hatte nichts von ihrer Eleganz eingebüßt.

 

Noch eine halbe Nacht bis zur Landung des Schiffs. Das Abschlussbankett der Reise würde bald zu Ende gehen. Die Bühne, die man für die Gäste errichtet hatte, würde man wieder abbauen, die Servietten und Blumen von den Tischen entfernen, die Kopfkissen und Schlafsäcke einsammeln, die Monitore ausschalten, den Staub wischen und die Lagerhallen leeren. In den Zimmern würde es wieder still werden. Zurückbleiben würden nur die glatten Böden, die Tische, Stühle und Bänke aus farblosem Glas und der leere Schiffsrumpf.

Das Schiff war schon tausendmal beladen und gelöscht worden. Seine Tische waren mit Tüchern aus verschiedenen Zeitaltern bedeckt gewesen, auf seinen Teppichen waren die Machtproben unterschiedlicher Epochen ausgetragen worden. Das Schiff war den Wechsel von Fülle und Leere, von trostlosem Grau und farbiger Pracht gewohnt.

Vor jeder Landung des Schiffes wurden sämtliche Gebrauchsgegenstände und Dekorationen in Schränken verstaut. Nur die Fotos blieben an den Wänden hängen. Niemand ahnte, dass der Kapitän in seinen Mußestunden allein die Gänge abschritt und sorgsam jedes Foto sauber wischte.

 

Während der gesamten Reise hatte Luoying sich nie in der labyrinthischen Konstruktion des Schiffs zurechtgefunden. Die Antigravitationskammer war der einzige verlässliche Orientierungspunkt für sie. Es handelte sich dabei um eine riesige Kugelkammer am Heck des Schiffes, die in entgegengesetzter Richtung zum Zylinder rotierte. Sie war von einer ringförmigen Aussichtsplattform umgeben – Luoyings Lieblingsplatz, wenn sie ihre Ruhe haben wollte. Durch die runden Panoramafenster blickte man direkt in die unendlichen Weiten des Weltalls.

Luoying kam vom Kapitänsquartier und eilte durch die Gänge. Die Plattform lag verwaist da, und vor den Fenstern erstreckte sich der schwarze Nachthimmel. Sie hatte die Plattform noch nicht erreicht, da hörte sie, wie in der Kugelkammer Jubel aufbrandete – das Spiel im Innern musste gerade zu Ende

Im Innern erwartete sie eine chaotische, bunte Menschenmenge.

«Wer hat gewonnen?», fragte sie den Zuschauer, der ihr am nächsten stand.

Noch bevor der antworten konnte, schlang jemand die Arme um sie. Luoying zuckte zusammen. Aber es war Ryan.

«Das war das letzte Spiel», sagte er. Seine Stimme war kaum zu verstehen.

Kingsley kam durch die Menge, und Ryan ließ sie los und umarmte ihn. Die beiden schlugen einander heftig auf die Schultern. Ankka schob sich durch die Menge auf Luoying zu, aber noch bevor er etwas sagen konnte, packte Sorin ihn von hinten am Arm. Shania glitt an ihnen vorbei. In ihren Augen sah Luoying Tränen schimmern.

Miller entkorkte zwei Flaschen Sekt, und der überschäumende Inhalt spritzte zur Mitte der Kammer, wo er in unzähligen funkelnden Goldkügelchen umherschwebte. Prompt stießen sich alle von den Seitenwänden ab und kreisten durch die Luft. Dabei versuchten sie, die Sektkügelchen mit offenem Mund aufzufangen.

«Auf unseren Sieg!», schrie Ankka so laut, dass das Echo von den Wänden dröhnte. «Und auf unsere morgige Landung», hörte Luoying ihn leise hinzufügen.

Sie lehnte den Kopf zurück und ließ sich mit geschlossenen Augen rückwärtstreiben. Es war, als würde eine unsichtbare Hand sie in den unermesslichen Sternenhimmel tragen.

Es war ihre letzte Nacht an Bord.

 

Um sechs Uhr morgens marsianischer Zeit näherte sich die Maerde im ersten Sonnenschein dem schlafenden Planeten.

Das Ankopplungsmanöver der Maerde dauerte volle drei Stunden, die schlafenden Passagiere an Bord hatten also noch genügend Zeit zum Träumen. Zentimeter um Zentimeter näherte sich die Maerde der Mitte des Rings. Er sah aus wie das Tor eines prachtvollen Tempels, und das Schiff glitt, die Sonne im Rücken, gemächlich darauf zu. Das Rund der Station glitzerte golden im Sonnenschein. Auf der anderen Seite reihten sich die Raumfähren aneinander wie Tempelwächter. Ihre Flügel waren wie Fächer ausgebreitet.

Von den einhundertzwanzig Passagieren an Bord waren in diesem Augenblick fünfunddreißig wach. Manche hielten sich in ihren Zimmern auf, andere standen in verwaisten Ecken, während sie dem Schiff beim Andocken zuschauten. Sobald das Schiff vollkommen zum Stillstand kam, huschten sie unbemerkt in ihre Betten zurück. Das Schiff war nie so still gewesen wie in diesem Moment. Eine halbe Stunde später ertönte eine sanfte Musik, und die Passagiere rieben sich die Augen und wünschten einander noch in ihren Schlafanzügen einen guten Morgen. Rasch packten sie ihre Sachen zusammen und trafen sich vor den Kabinen. Die Stimmung war freundlich und gelöst. Nachdem sie sich höflich verabschiedet hatten, trennten sie sich und bestiegen unterschiedliche Raumfähren.

Nach irdischer Zeitrechnung war es das Jahr 2190, nach marsianischer Zeitrechnung das Jahr 40.

Igor stand am Fenster und starrte lange hinaus. Beim Anblick des Mars kam ihm der Klang einer Flöte in den Sinn.

Das Hotelzimmer war sehr hell. Die Glaswände reichten von der Decke bis zum Boden und boten freie Sicht bis zum Horizont. Still und urtümlich erstreckte sich die grenzenlose rote Wüste wie ein Gedicht ohne Anfang und Ende.

Ist das der Ort, an dem du begraben sein willst?, fragte sich Igor.

Er war noch nie auf dem Mars gewesen, und doch war ihm die Landschaft vertraut. Mit fünfzehn Jahren hatte er zum ersten Mal seinen Lehrer zu Hause besucht, und dort hatte er dieses immergleiche Rot als Projektion an der Wand gesehen. Ängstlich und scheu hatte er an der Tür gestanden, den Blick auf die Gerölllandschaft gerichtet. Er hatte sich nicht getraut, das Zimmer zu betreten. Sein Lehrer saß mit dem Rücken zu ihm in einem Samtsessel mit einer hohen Lehne, das Gesicht zur Wand gedreht. Hinter der Lehne lugte sein blondes Haar hervor, glänzend im Licht der Abendsonne. Eine Melodie erklang, jemand spielte Flöte. Die Akustik war so gut, dass der Klang von allen Seiten zu kommen schien. Die gleichförmige Wüstenlandschaft wirkte auf den ersten Blick wie erstarrt, aber als Igor genau hinsah, erkannte er, dass sie sich ungeheuer schnell bewegte, so als würde sie von einem tief über dem Boden gleitenden Raumschiff gefilmt. Das Raumschiff fuhr

Er war an der Tür stehen geblieben und hatte gebannt die Projektion verfolgt, bis der Bildausschnitt ohne jede Vorwarnung in einen tiefen Graben hinabtauchte. Vor Schreck hatte Igor leise aufgeschrien und sich dabei den Kopf an der Türschnitzerei gestoßen. Hastig suchte er Halt, und als er wieder aufsah, hatte ihn sein Lehrer schon an der Schulter gepackt. «Igor, du bist es! Komm rein und setz dich.» Die rote Wüstenprojektion an der Wand war verschwunden. Stattdessen zeichnete sich dort nur noch vage das weiße Streifenmuster der Tapete ab. Die Flötenmelodie kreiste einsam im Raum. Eine jähe Enttäuschung machte sich in ihm breit.

Igor erzählte niemandem von diesem Erlebnis. Selbst mit seinem Lehrer sprach er in den zehn Jahren ihrer Bekanntschaft nur selten darüber. Aber sie hatten ein Geheimnis: Sie lebten in zwei Welten, auch wenn sein Lehrer den Mars nur selten erwähnte. Er lehrte ihn die Kunst des Filmens, aber er zeigte ihm nie wieder ein Video des fremden Planeten.

Nun, nach zehn Jahren, hatte Igor endlich wirklichen Marsboden betreten. Und in diesem Moment hatte die Flöte wie von selbst in seinem Kopf zu spielen begonnen. Er blieb noch lange am Fenster stehen und starrte hinaus.

 

Nachdem Igor ein heißes Bad genommen hatte, ließ er sich in einen Sessel fallen und streckte die Beine aus. Das Hotel war so gemütlich, dass man sich rasch entspannte.

Igor war gern allein. Für gewöhnlich kam er mit aller Welt gut aus, er erfüllte seine gesellschaftlichen Verpflichtungen bei Filmveranstaltungen souverän, und wenn er seine Filme drehte, arbeitete er mit den unterschiedlichsten Leuten zusammen. Aber am liebsten war er doch allein. In Gesellschaft anderer

Er ließ sich tief in den Sessel sinken und blickte zur Decke hinauf. Ihn interessierte alles hier, er brannte vor Neugier auf den Mars. Vor seiner Ankunft hatte er sich alles Mögliche vorgestellt, und vielleicht war der Mars in seiner Phantasie sogar spannender als der reale Mars – Igor hätte es nicht sagen können. Aber eines wurde ihm jetzt klar: Die Wirklichkeit war vollkommen anders. Seit er fünfzehn war, hatte er sich ausgemalt, was für ein Ort der Mars wohl sein mochte, dass sein Lehrer acht Jahre lang dort gelebt hatte und nicht ein einziges Mal zurück zur Erde gekommen war.

Für seinen Lehrer war der Mars das letzte Utopia der Menschheit gewesen, ein Reich von erhabener Weisheit jenseits der gewöhnlichen Welt. Ihm war durchaus bewusst gewesen, dass die meisten Menschen auf der Erde ein ziemlich anderes Bild vom Mars hatten, aber das hatte ihn nicht weiter bekümmert.

Igor schaute sich im Hotelzimmer um. Es ähnelte den Kabinen auf der Maerde: Schreibtisch, Kleiderschrank und Bettpfosten bestanden aus einem durchsichtigen Material und waren mal in dunkleren, mal in helleren Blautönen gehalten. Auch der Sessel war durchsichtig; er schien aus Glasfasern zu bestehen, die mit Luft gefüllt waren. Seine Enden schwangen in einem Bogen nach oben, und er passte sich Igors Körperform an. Die Außenwand des Hotels war ebenfalls durchsichtig, sodass Igor von seinem Sessel aus einen weiten Panoramablick genoss. Nur zum Gang hin waren die Wände aus einem undurchlässigen Milchweiß, um den Bewohner vor den Zimmernachbarn und den übrigen Gästen abzuschirmen. Der ganze Raum ähnelte einem Kristallkästchen. Selbst die Decke war

Igor saß in seinem Sessel und dachte darüber nach, was so viel Transparenz wohl bedeuten könnte. In gewisser Hinsicht war Transparenz ein heikler Begriff. Ein Haus sollte dem Einzelnen einen Rückzugsraum bieten, doch wenn die Wände durchsichtig waren, war das eher ein Hinweis auf Bespitzelung. Und wenn alle Häuser durchsichtig waren, wurde aus der Bespitzelung eine kollektive Observierung. Was das bedeutete, war ihm klar. In seinem Film könnte er es als Ausdruck einer politischen Ideologie nutzen, als Symbol für die Unterwerfung der Privatsphäre durch die Gemeinschaft.

Eine solche Sichtweise entsprach den klassischen Vorurteilen auf der Erde. Seinem Film wäre damit die Aufmerksamkeit des Publikums sicher. Die individualistischen Denker der Erde warteten bloß darauf, dass ein Augenzeuge, einer der wenigen, die wirklich in der «Hölle im Himmel» gewesen waren, ihnen bestätigte, was sie schon immer geahnt hatten. Igor würde ihnen ein nützliches Argument für ihre verbalen Attacken auf den Mars liefern. Aber das ging ihm gegen den Strich: So leichtfertig wollte er seine offene Einstellung nicht aufgeben. Er hatte sich seine Neugier bewahrt. Er konnte nicht glauben, dass sein Lehrer so lange – immerhin volle acht Jahre – an einem Ort geblieben wäre, der einen so massiven psychologischen Druck auf seine Bewohner ausübte.

Igor hatte niemandem erzählt, was er eigentlich auf dem Mars vorhatte. Vielleicht könnte es jemand erraten, sicher war er sich da nicht. Alle wussten, wessen Schüler er war, das war nie ein Geheimnis gewesen. Dass er für die Delegation ausgewählt worden war, lag nur vordergründig an dem Preis, den er im letzten Jahr gewonnen hatte. In Wahrheit – da gab er sich

Vorsichtig zog Igor einen winzigen Chip aus seiner Tasche und musterte ihn. Angeblich waren die Erinnerungen seines Lehrers kurz vor seinem Tod darauf gespeichert – seine Gehirnwellen, umgewandelt in einen binären Code aus Nullen und Einsen. Igor glaubte nicht, dass so etwas funktionieren könnte, aber er wünschte es sich. Wenn die Erinnerungen eines Menschen so überleben könnten, dann verlor der Tod seinen Schrecken.

Weil er hungrig geworden war, stand er auf und suchte an der Wand den Monitor, mit dem man Essen bestellen konnte. Auf der Speisekarte entdeckte er einige seltsame Bezeichnungen. Ohne viel Nachdenken wählte er ein paar Gerichte. Schon nach sechs oder sieben Minuten traf das Essen ein: Ein Lämpchen an der Wand leuchtete auf, und aus einem schwarzen Glasschacht kam wie mit einem winzigen Lift ein Tablett hochgefahren. Als es stillstand, öffnete sich die Klappe.

Igor holte das Tablett heraus und musterte die Speisen eingehend. Dies war seine erste direkte Begegnung mit marsianischem Essen. Auf der Maerde hatte die Delegation von der Erde nur Nahrungsmittel gegessen, die das Schiff von ihrem Heimatplaneten mitführt hatte. Die ganze Reise über waren sie mit nichts Marsianischem in Berührung gekommen. Dafür hatte er alle möglichen Gerüchte gehört: Die Marsianer,

Beim Anblick des Tabletts in seiner Hand überlegte Igor, ob er nicht einige Aufnahmen der marsianischen Gerichte machen sollte – stimmungsvolle Bilder, die mysteriös und stylish wirkten. Er könnte sie an Modemedien verkaufen und so vielleicht die Angst vor dem primitiven Mars in eine Sehnsucht nach einem fernen, exotischen Planeten verwandeln. Es wäre ein Kinderspiel, da war er sich sicher – die Medien machten so etwas oft genug.

Auf einmal erinnerte er sich an die Worte, die sein Lehrer kurz vor seinem Tod gesagt hatte: Wenn es interessant sein soll, benutz deinen Kopf. Wenn es glaubwürdig sein soll, benutz deine Augen und dein Herz. Nur wusste Igor nicht, ob sein Film interessant oder glaubwürdig werden sollte. Er sah die Gestalt seines Lehrers vor sich: Sein Haar war schütter geworden, und er saß zusammengekrümmt in dem Samtsessel mit der hohen Lehne. Das Sprechen bereitete ihm Mühe, aber er gestikulierte angestrengt und schwerfällig mit zitternden Händen.

«Wenn es interessant sein soll, benutz das. Wenn es glaubwürdig sein soll, benutz das und das», hauchte er kaum hörbar.

Beim ersten «das» deutete er auf seinen Kopf, beim zweiten und dritten mit der einen Hand auf seine Augen und mit der anderen auf sein Herz.

Igor hatte damals nur mit einem Ohr zugehört. Er hatte die dürren Finger seines Lehrers angestarrt, als wären es