Patricia Schröder
Larabella und das Geheimnis der Nachtkatzen
Fischer e-books
Patricia Schröder, 1960 geboren, lebt mit Mann, zwei Kindern und einer Handvoll Tieren an der Nordsee. Sie hat Produktdesign studiert und arbeitet seit vielen Jahren als freie Autorin. Zuerst schrieb sie satirische Beiträge für den Hörfunk, später Texte für Anthologien. Inzwischen gehört sie zu den bekanntesten und erfolgreichsten Kinder- und Jugendbuchautorinnen Deutschlands.
Weitere Informationen zum Kinder- und Jugendbuchprogramm der S. Fischer Verlage, auch zu E-Book-Ausgaben, gibt es bei www.fischerschatzinsel.de
Fischer Schatzinsel
ist das Kinder- und Jugendbuchprogramm der S. Fischer Verlage
www.fischerschatzinsel.de
Veröffentlicht im Fischer Taschenbuch Verlag,
einem Unternehmen der S. Fischer Verlag GmbH,
Frankfurt am Main, September 2012
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2012
Lektorat: Maren Jessen
Covergestaltung: Carolin Liepins
Nach den Regeln der neuen Rechtschreibung
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-401884-3
»Larabella … Larabella … Larabella …«
Ganz ehrlich, manchmal glaube ich, dass meine Eltern sich diesen Namen ausgedacht haben. Oder Papa hat Arabella vorgeschlagen, Mama wollte aber lieber Klarabella, und irgendwann – vielleicht sogar erst nach meiner Geburt – haben sie sich dann auf Larabella geeinigt. Wie auch immer … Danach fragen werde ich sie jedenfalls nicht. Ich mag es nämlich, wenn es ein bisschen geheimnisvoll ist.
Und ich mag auch meinen Namen.
Larabella. Klingt irgendwie cool, finde ich, zumindest wenn man ihn ein paar Minuten lang ununterbrochen vor sich hin murmelt. Genau das mache ich nämlich immer abends, wenn ich im Bett liege, ähnlich wie andere Leute Schäfchen zählen. Schon nach wenigen Minuten schlummere ich weg, und wenn ich erst mal schlafe, kriegt mich nichts und niemand mehr wach.
Mama sagt immer, man könne neben mir einen Supermarkt betreiben, einen Verkehrsknotenpunkt errichten oder den Mond explodieren lassen, ich würde von all dem ganz sicher nichts mitbekommen.
Ich schlafe ein und wache auf, und dazwischen träume ich nicht, ich trinke nichts, und ich gehe auch nicht aufs Klo. Geschworen: Seit ich denken kann, hat mich noch nie etwas geweckt. – Zumindest ist das bis heute Nacht so gewesen.
Heute Nacht, das ist die Nacht von Sonntag, dem 23. auf Montag, dem 24. August.
Den Tag über habe ich nicht viel mehr gemacht, als man normalerweise an gewöhnlichen Sonntagen ohne Familienausflug so macht, nämlich mich im Garten herumgelümmelt und ansonsten ziemlich gelangweilt. Jedenfalls war ich froh, als es endlich Abend wurde und ich ins Bett schlüpfen konnte – mit dem angenehm freudigen Gefühl, dass ich am nächsten Tag wieder in die Schule gehen und meine besten Freundinnen Mirja und Kristin treffen werde.
Und als ich dann irgendwann nach meinem Larabella-Larabella-Einschlafritual wieder aufwache, will ich auch gleich los, schließlich habe ich mich noch nie lange mit Herumliegen oder Hin- und Herwälzen aufgehalten. Aber dann merke ich plötzlich, dass es da draußen hinter meiner grasgrünen Tüllgardine noch gar nicht richtig hell ist.
Ich lasse mich aufs Kissen zurückfallen und überlege, was ich jetzt tun soll, immerhin befinde ich mich in einer völlig ungewohnten Situation. Die einfachste Lösung wäre sicherlich: Augen zukneifen und weiterschlafen. Doch dann siegt meine Neugier. Irgendetwas wirklich Außergewöhnliches muss mich geweckt haben.
Ich richte mich auf und taste nach dem Schalter der Nachttischlampe. Ein sanfter heller Schein fällt auf mein Kopfkissen und hüllt mein Zimmer in ein goldgelbes Licht.
Auf den ersten Blick sieht alles so aus wie immer. Es gibt keine Regalreihen voller Konservendosen, Cornflakesschachteln oder Babywindeln, es rauschen auch keine Autos an mir vorbei, und der Mond liegt nicht in Trümmern neben meinem Bett.
Ich fühle mich putzmunter, und das bringt mich auf einen neuen, ziemlich logischen Gedanken: Ich bin genau wie jeden anderen Tag einfach aufgewacht, bloß eben etwas früher als gewohnt!
Die Sache ist also völlig undramatisch, sie hat nur einen Haken: Dummerweise dauert es jetzt noch viereinhalb Stunden, bis die Schule anfängt. – Brodelndes Ziegenblut nochmal, was mache ich bloß bis dahin?
Ich könnte lesen, aber dazu habe ich keine Lust. Lieber würde ich meine Anlage aufdrehen und durchs Zimmer fetzen. Ich fürchte allerdings, dass das weder meinen Eltern noch unseren Nachbarn gefiele.
Langweiliges Herumliegen oder dusseliges Hin- und Herwälzen, das wären die Alternativen. – O nein! Ich ziehe mir die Decke bis zur Nasenspitze hoch, schließe die Augen und murmele: »Larabella … Larabella … Larabella …«
Himmel, Hirn und Zwetschenmus – was für ein bescheuerter Name!
Ich reiße die Augen wieder auf, schaue zum Fenster und beobachte die hauchzarte, mit feinen lilafarbenen Blümchen bestickte Gardine beim Auf- und Abwehen. Moment mal. – Das ist absolut UNMÖG-LICH! Normalerweise halte ich das Fenster nachts geschlossen. Ich kann es nämlich nicht leiden, wenn mein Zimmer klammheimlich von Insekten bevölkert wird.
Ehe ich mich versehe, bin ich auch schon aus dem Bett gesprungen und zum Fenster gehechtet.
Und was sage ich? Es steht tatsächlich auf Kipp!
Ich will es gerade zuschlagen, da ertönt schräg über mir ein Brummen. Es klingt ein wenig nach Hummel, aber auch nach Libelle, hauptsächlich allerdings nach bläulich schillernder Mistfliege. – Na warte!
Ich knipse meinen Deckenfluter an – eine ovale Schale aus weißem Milchglas –, die ich mit bunten Murmeln gefüllt habe. Der Effekt ist ultragenial: angenehm buntes Licht auf Teppich und Möbeln, helles Licht an einem großen Teil der Zimmerdecke. Und genau dort sitzt sie, die Hummellibellenmistfliege.
Allerdings ist sie nicht blau, und sie schillert auch nicht.
Ich stelle mich direkt darunter und lege meinen Kopf in den Nacken, um sie genauer betrachten zu können.
Als Erstes fallen mir die riesigen Flügel auf. Von der Farbe her erinnern sie mich an meine Lieblingseissorte Stracciatella, cremefarben mit dunkelbraunen Sprenkeln, sie sind aber durchscheinend und haben wunderhübsch geschwungene Bögen, so wie man es sich von Engelsflügeln vorstellt. Der Körper darunter ist graugestreift und pelzig und der Kopf rund, er hat aber keine Fühler, ja, es kommt mir beinahe so vor, dass stattdessen spitz aufgestellte Ohren zu sehen sind.
»Hallo, Hummellibellenmistfliege«, sage ich. »Wer hat dir erlaubt, dich in mein Zimmer zu verirren?«
»Das Fenster stand offen«, antworte ich mit zart zirpender Insektenstimme. »Wie hätte ich ahnen sollen, dass es dir nicht recht ist?«
… recht ist … recht ist … recht ist … hallt es irgendwo weit hinten in meinem Schädel nach. Hilfe! Was ist denn jetzt los? Um diese komische Stimme loszuwerden, drehe ich mich blitzschnell um die eigene Achse. Dabei halte ich den Blick unbeirrt weiter auf die Zimmerdecke gerichtet. Und, beim angebissenen Rettich nochmal, man glaubt es nicht, die Hummellibellenmistfliege dreht sich doch tatsächlich mit!
Ich stoppe und warte, bis das Schwindelgefühl weg ist. Dann lasse ich mich aufs Bett sinken und versuche, meine panisch umhersausenden Gedanken einzufangen. Dafür habe ich eine einzigartige Taktik entwickelt: Ich spule einfach meinen Lebenslauf herunter.
Name: Larabella Walker
Alter: 11, nächster Geburtstag: 16. September (also bald – und dann bin ich 12! Juhuuu!!!)
Klasse: 6 auf der Anne-Frank-Gemeinschaftsschule
Haarfarbe: mittelbraun und schon ziemlich lang
Augen: ockerfarben, schmal und ziemlich weit auseinanderstehend (okay, diese letzten beiden Punkte gehören eigentlich nicht in einen NORMALEN Lebenslauf)
Geschwister: 1 Bruder, Harris, 14 Jahre, besucht die Hermann-Tast-Schule in der Innenstadt
Vater: Robert, 41 Jahre, Filialleiter der örtlichen Sparkasse, manchmal ein bisschen launisch oder konfus, aber im Großen und Ganzen voll in Ordnung
Mutter: Corinna, 38 Jahre, Zahnarzthelferin, Katzenhaarallergie, und ansonsten ebenfalls voll in Ordnung
Besondere Merkmale (womit ich natürlich von meinen spreche): träumt nicht, kreiert eigene Flüche, handelt zuweilen vor dem Nachdenken, kann keine Insekten leiden (zumindest nicht, wenn sie sich in geschlossenen Räumen befinden), hin und wieder Lähmungserscheinungen (insbesondere in Gefahrensituationen), ist noch nie krank gewesen, lässt sich von nichts und niemandem einschüchtern
Besondere Talente: kann superschnell rechnen, sieht Dinge, für die andere Leute ein Mikroskop brauchen
»Bist du ein Insekt?«, frage ich leise, ohne die Hummellibellenmistfliege dabei anzusehen.
»Srrruuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuummm«, macht es, und im nächsten Augenblick klatscht die pelzige Kreatur mitten auf meinen Oberschenkel.
»Aaarrrhhhg!«, schreie ich und bleibe wie in Harz gegossen sitzen.
Ein paar schrecklich lange Sekunden sehen wir uns an. Schließlich erhebt sich die Hummellibellenmistfliege mit einem leisen Srrruuuuuum von meinem Bein, braust zielstrebig auf das Fenster zu und sssumselbrummt durch den Spalt nach draußen.
Nur den Bruchteil einer Sekunde später fällt die Lähmungserscheinung von mir ab. Wie ein Ping-Pong-Ball schieße ich hoch, knalle das Fenster zu und lege den Griff um. Dann hechte ich keuchend aufs Bett zurück.
Das Pelzding hatte tatsächlich Ohren, spitz aufgestellt wie bei einer Katze. Dazu gelbe Augen, eine rosa Nase und – Schnurrhaare!
»Du bist aber früh auf«, wundert Mama sich, als ich um Viertel vor sieben in die Küche trete.
»Ich konnte nicht mehr schlafen«, brumme ich, setze mich auf meinen Platz und schütte Cornflakes in meine Schale.
»Aha«, sagt meine Mutter. »Aber sonst geht es dir gut?«
Ich rufe mir ihre Katzenhaarallergie ins Bewusstsein und nicke. »Jep.«
Bestimmt ist es besser, wenn ich ihr nichts von meiner seltsamen nächtlichen Begegnung erzähle.
»Fein«, sagt sie gedehnt. »Ähm … Hast du zufälligerweise nach Harris gesehen?«, erkundigt sie sich dann, während sie Kaffeepulver in einen Papierfilter löffelt.
»Oh, hätte ich das tun sollen?«, frage ich.
Normalerweise ist Harris nämlich immer schon vor mir auf.
»Ich wecke ihn meistens so gegen Viertel vor sieben«, erwidert Mama lächelnd. »Was du natürlich nicht wissen kannst.«
Auf der Treppe ertönen eilige Schritte, und kurz darauf erscheint mein Vater in der Küchentür. Er trägt eine dunkle Anzughose und ein hellblaues Hemd. Die Schnürsenkel seiner hochglanzpolierten Schuhe tanzen ihm um die Knöchel, und die elegante Streifenkrawatte baumelt ungebunden an seinem Hals.
»Guten Morgen, meine Holden«, begrüßt er uns, nimmt zwei Sandwichbrotscheiben aus der Packung und steckt sie in den Toaster. »Hat eine von euch schon nach Harris gesehen?«
»Ähm … Nee«, sage ich.
»Okay«, sagt Papa. »Dann hätte ich folgenden Vorschlag anzubieten …« Er macht eine bedeutungsvolle Pause, während Mama und ich ihn erwartungsvoll ansehen. »Wir lassen ihn verschlafen.«
»Kommt überhaupt nicht in Frage«, erwidert meine Mutter und drückt energisch auf den Einschaltknopf der Kaffeemaschine.
»Aber so lernt er es ja nie«, sagt Papa.
Er postiert sich vor der chromglänzenden Backofenklappe, die ein verzerrtes Spiegelbild von ihm wiedergibt, und wirft die beiden Krawattenenden schwungvoll übereinander.
»Mein Gott, der Junge ist vierzehn!«, ruft Mama.
»Eben«, sagt Papa. »Damit fällt er unter das Jugendstrafrecht.«
»Was hat das denn damit zu tun?«, fragt sie kopfschüttelnd.
»Nichts«, erwidert mein Vater. Dann zeigt er auf mich. »Larabella ist elf und kann auch alleine aufstehen.«
»Ich werde ja auch von alleine wach«, betone ich, wohlwissend, dass ich meinen Bruder auf diese Weise indirekt in Schutz nehme.
Nicht dass ich Interesse daran hätte, Harris eins auszuwischen. Überhaupt nicht! Genau wie meine Eltern ist auch er im Grunde voll in Ordnung. In dieser Hinsicht habe ich echt Glück. Na ja, wenn ich es mir recht überlege, habe ich das eigentlich in jeder.
»Larabella, du bist ein Glückskind. Ist dir das eigentlich klar?«, murmele ich, setze die Schale an meine Lippen und sehe dabei zu, wie der letzte Rest behäbiger Cornflakesmasse in meinen Mund läuft.
»Du bist ja auch eine Ausnahme, mein Lärchen«, höre ich meinen Vater sagen.
Ich schätze mal, dass er damit das Glückskind meint.
»Wann musst du eigentlich in der Filiale sein?«, fragt meine Mutter.
Am Tonfall erkenne ich, dass es sich um eine ihrer typischen Vom-Thema-Ablenken-Fragen handelt. Und es funktioniert auch diesmal.
Papa wird sofort wahnsinnig hektisch.
»Ähm … vor ungefähr fünf Minuten«, sagt er und zappelt vor der Backofentür herum.
Über den Rand meiner Schale hinweg beobachte ich, wie er die Krawattenenden abermals kunstvoll umeinanderschlingt und sich anschließend mit einem seiner berühmten Schifferknoten unter dem Hemdkragen und tiefer Verzweiflung im Blick vor meine Mutter hinstellt.
»Kannst du mir vielleicht ausnahmsweise mal helfen?«
»Klar«, sagt Mama grinsend. »Ausnahmsweise.«
Ich stelle die Cornflakes-Schale auf den Tisch zurück und frage mich, ob manche Männer aus biologischen Gründen keine Krawatten binden können oder ob es damit zusammenhängt, dass es in Spielfilmen immer wieder so gezeigt wird.
Während Mama sich an Papas Schlips zu schaffen macht, wirft sie mir einen Blick zu. Und obwohl dieser eher beiläufig ist, weiß ich sofort, was er bedeutet.
Lauf doch bitte mal rasch hoch zu Harris und schau nach, was er treibt.
»Jep«, sage ich, stelle mein Frühstücksgeschirr in die Spülmaschine und husche die Treppe hinauf.
Harris‘ Zimmer liegt meinem genau gegenüber. Das ist praktisch, weil wir einen vollkommen unterschiedlichen Musikgeschmack haben. Harris hört Hiphop und Rap und ich am liebsten Metal.
Im Augenblick ist es hinter Harris‘ dunkelblau lackierter Tür allerdings still. Alarmierend still. Da lange Herumfackeln nicht mein Ding ist, stürme ich sein Reich, stelle den Volumenregler seiner Anlage auf volle Pulle und drücke die Starttaste. Mein Bruder hat immer eine CD im Schubfach, das ist so verlässlich wie das Amen in der Kirche.
Ich bin noch nicht ganz zur Tür hinaus, da kracht Missy Elliott los wie ein Erdbeben der Stärke zwanzig Komma null.
Ich stecke mir die Finger in die Ohren und fange an zu zählen. Nach nur drei Sekunden herrscht wieder Ruhe.
»Er ist wahach!«, brülle ich über das Geländer, dann trabe ich in mein Zimmer, schnappe mir meinen Rucksack und renne wieder nach unten.
»Teufel nochmal, Larabella!«, donnert die Stimme meines Bruders hinter mir her. »Wer hat dir denn ins Gehirn geschissen?«
»Keine Panik, das habe ich nicht gehört«, sage ich zu meiner Mutter, die mit empörtem Gesichtsausdruck in der Küchentür erscheint. Ich schlinge ihr meinen Arm um den Hals und drücke ihr einen Kuss auf die Lippen.
»Vielen Dank, mein Schatz«, raunt sie mir ins Ohr. »Ich hätte mir das Ganze allerdings ein wenig dezenter gewünscht, aber ich nehme an, das weißt du.«
»Beim nächsten Mal«, verspreche ich und küsse sie noch einmal.
Heute, am Montag, dem 24. August, bin ich tatsächlich ziemlich früh dran. So früh, dass ich eine geschlagene Viertelstunde bei der Friedhofsbank auf Mirja und Kristin warten muss.
Die Bank steht gleich hinter dem Eingangstor zwischen einem Rotahorn und einer Kastanie. Vor der Schule kann man hier wunderbar sitzen, sich die Sonne auf die Nase scheinen lassen und all der Toten unter den Grabsteinen und Blumenbeeten gedenken.
Ich denke gern an die Toten, egal, ob ich die Leute kannte oder nicht. Ich finde einfach, dass sie es verdient haben. Das Leben ist schließlich kein Zuckerschlecken, sondern so etwas wie eine Aufgabe. Das sagt zumindest Oma Issy immer, und davon abgesehen ist nicht jeder ein solches Glückskind wie ich.
Mirja und Kristin wohnen in der Glockenstraße und damit zwei Häuserblocks von mir entfernt. Für uns drei ist der Weg über den Friedhof so etwas wie ein Trichterrohr, denn die Anne-Frank-Gemeinschaftsschule liegt genau am anderen Ende auf der gegenüberliegenden Straßenseite.
Leider zieht sich die Viertelstunde, die ich heute auf meine Freundinnen warten muss, dahin wie ein Gummiband, das ich in Gedanken im Zickzack über die Grabsteine spanne.
Ich gähne herzhaft und schließe die Augen. Sssruummm, surrt es in meinem Kopf.
Sofort stolpert mein Herz los.
Atme tief durch, Larabella, und reg dich ab, sage ich mir. Bestimmt ist das alles nur ein Traum gewesen. Es gibt keine Hummellibellenmistfliegen, schon gar nicht mit Engelsflügeln und Katzengesichtern.
Da ich noch nie geträumt habe und gar nicht wissen kann, wie das ist, fällt es mir leicht, mir genau das einzureden. Und ehe neue Zweifel in mir hochkommen können, ist die Viertelstunde um, und Mirja und Kristin stehen vor mir.
»Es ist erst zehn vor«, sagt Mirja.
Sie liebt es, in allen möglichen Situationen die Zeit anzusagen.
»Wieso bist du schon hier?«, fragt Kristin, während sie eine lange blonde Strähne um ihren Finger dreht.
Sonst bin ich nämlich immer die Letzte.
»Keine Ahnung«, sage ich. »Ich bin heute früher aufgewacht als sonst.«
»Und warum bist du nicht einfach noch eine Weile liegen geblieben?«, fragt Mirja. Sie hat Augen wie Schokobohnen und den Kopf voller kurzer dunkler Löckchen. Außerdem ist sie die Kleinste von uns und trägt immer total bunte Klamotten, heute natürlich ihr gerade neu erworbenes türkisfarbenes T-Shirt mit den gelben und roten Kringeln darauf.
»Du hättest lesen können oder Musik hören«, sagt Kristin.
»Ja, ich weiß«, erwidere ich. Stattdessen habe ich ewig wach gelegen und über diese seltsame Hummellibellenmistfliege nachgedacht. – Oder alles bloß geträumt. »Kennt ihr euch eigentlich mit Schmetterlingen aus?«
»Na ja, es gibt Zitronenfalter und Kohlweißlinge, Tagpfauenaugen, Admirale und noch so einige mehr«, zählt Kristin auf. »Wieso?«
»Heute Nacht war einer in meinem Zimmer.«
»Oh, ich hoffe, du hast ihn freigelassen!«, ruft Mirja.
»Jep«, sage ich, und Mirja nickt erleichtert.
»Es könnte natürlich auch ein Nachtfalter gewesen sein«, meint Kristin. »Von denen habe ich aber überhaupt keine Ahnung. Ehrlich gesagt, finde ich sie ziemlich gruselig.«
Sie schüttelt sich ein bisschen, so wie man das eben tut, wenn man das Gefühl hat, dass einem eine Gänsehaut über den Rücken rauscht.
Mirja wirft einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Es ist gleich sechs vor«, sagt sie, und wir setzen uns in Bewegung.
In der ersten Stunde haben wir Geschichte bei Herrn Gerber. Er ist ein gemütlicher kugelrunder Typ, der sich während des Unterrichts immer eine Tasse Pfefferminztee aufbrüht und eine Tüte mit Waffelkeksen herumreicht. Meistens bleibt sie irgendwo zwischen Nadine und Justin hängen. Die beiden sind die schwarzen Schafe in unserer ansonsten recht gut funktionierenden Klassengemeinschaft.
Nadine ist so etwas wie ein Swarovskistein, der keine eigene Strahlkraft besitzt und nur dann schillert, wenn von außen ordentlich Licht drauf fällt. Logisch, dass Nadine den lieben langen Tag nichts Besseres zu tun hat, als dafür zu sorgen, dass genau das der Fall ist.
»Oh, lieber Herr Gerber!«, flötet sie unserem Geschichtslehrer entgegen. »Ich hoffe, Sie haben heute wieder die Kekse mit der leckeren Orangenfüllung dabei!«
»Nein, habe ich nicht«, erwidert er und hebt bedauernd die Schultern. »Ich fürchte, wir werden eine ganze Weile auf diese Genüsse verzichten müssen. Meine Frau hat nämlich beschlossen, dass ich zu dick bin und mir eine Diät gut zu Bauche stünde«, fügt er erklärend hinzu und tätschelt dabei liebevoll die kleine Kugel über seinem Hosenbund.
»Aber Sie sind doch nicht dick!«, kreischt Nadine.
Wir anderen – das ist die Klassengemeinschaft minus Justin – sehen uns an und verdrehen die Augen.
»Na ja …«, meint Justin und mustert Herrn Gerber abschätzig von oben bis unten, »wenn man auf Gurkenfässer steht.«
Justin ist das genaue Gegenteil von Nadine. Er besitzt jede Menge innerer Strahlkraft, doch leider besteht die zum überwiegenden Teil aus fluoreszierendem Müll.
»Entschuldigung, Mama«, murmele ich. »Mein Gehirn denkt manchmal einfach drauflos. Tatsächlich käme mir so etwas natürlich nie über die Lippen!«
»Larabella?« Herrn Gerbers wasserblaue Augen ruhen wohlwollend auf mir. »Hast du etwas gesagt?«
»Nichts weiter«, erwidere ich und winke ab. »Ich habe bloß mit mir selbst gesprochen.«
Er nickt und lächelt, und ich und alle anderen minus Justin lächeln zurück.
Kollektive Nichtbeachtung ist die einzige Möglichkeit, sich gegen Justins verletzende Äußerungen zu wehren. Es hat eine Weile gedauert, bis wir das kapiert haben, aber mittlerweile sind wir und alle unsere Lehrer minus Herrn Merullius ein perfekt eingespieltes Team.
»Bevor wir mit dem Unterricht beginnen, muss ich noch etwas mit euch besprechen«, sagt Herr Gerber. »Das wäre zwar eigentlich die Aufgabe von Frau Reicherts, eurer Klassenlehrerin, aber wie ihr alle wisst, ist sie diese Woche mit dem zwölften Jahrgang auf Studienfahrt. Was einige von euch vielleicht nicht wissen …«, fährt er gedehnt fort und sieht uns über den Rand seiner dunkelbraunen Brille hinweg an. »Ich vertrete sie während ihrer Abwesenheit.«
»Na super«, brummt Justin.
Er holt eine Holzkugel aus seiner Hosentasche, lässt sie auf den Tisch klackern, fängt sie wieder auf, lässt sie erneut fallen und beginnt das Spiel von vorn. Klacker! Klacker! Klacker!
Es ist laut, es ist störend, und bei unserem Mathespezi Merullius hätte es unweigerlich zu einem Tobsuchtsanfall geführt. Nicht so bei Herrn Gerber. Denn er weiß, dass er sich auf uns verlassen kann.
Jetzt geht er an die Tafel, nimmt ein Stück Kreide aus der Ablage und schreibt zwei Wörter an.
Felidacy Moon
Klacker! Klacker! Klacker! macht Justins Holzkugel. Vor dem nächsten Aufschlag auf dem Tisch fischt Max, der rechts neben ihm sitzt, das Ding aus der Luft und gibt es blitzschnell an Bilal weiter, der es ebenso schnell in seinem Rucksack verschwinden lässt.
»Feli-da-cy Moon«, sagt Herr Gerber laut und betont jede einzelne Silbe überdeutlich.
Das empörte »Heeey!« erstirbt in Justins Kehle.
Er starrt unseren Geschichtslehrer an, als ob dieser den Inhalt des Kreidekörbchens über ihm ausgeleert hätte. Dann wandert sein Blick zur Tafel. Und jetzt starren wir alle minus Nadine Justin an. Der ist nämlich plötzlich so bleich wie die Wand hinter ihm.
Natürlich sind Felidacy Moon und Justins Reaktion auf ihren Namen Pausengespräch Nummer eins.
»Ich wette, er kennt sie«, sagt Mirja.
»Klar tut er das«, erwidert Kristin. »Was sonst?«
»Und er hat mächtig Schiss vor ihr«, sage ich, denn das halte ich für das Ausschlaggebende.
Kristin wiegt bedächtig den Kopf. »Wir werden sehen.«
»Wie meinst du das?«, frage ich.
»Na ja …«, meint sie gedehnt. »Klar hat er Angst. Die Frage ist bloß: Hat er Angst vor ihr, wegen ihr oder um sie?«
»Das Letzte schließe ich aus«, sage ich kopfschüttelnd. »Eher tauschen Erde und Mond die Umlaufbahn, als dass Justin sich jemals um jemand anders sorgt.«
»Stimmt«, bestätigt Mirja. »Oh, Mann, ich bin sooo gespannt auf sie!«
»Weshalb?«, entgegnet Kristin. »Wegen ihres ulkigen Namens? Weil ihre Vorfahren aus England stammen? Oder weil Justin so extrem auf sie reagiert hat?«
»Wegen allem natürlich«, sagt Mirja.
»Ich weiß nicht«, meint Kristin. »Ich hab einfach ein komisches Gefühl.«
Mir geht es ähnlich, aber das behalte ich für mich. Total gespannt auf unsere neue Klassenkameradin bin ich allerdings auch.
»Was denkt ihr, hat Herr Gerber damit gemeint, dass sie irgendwie besonders ist?«, fragt Mirja.
»Keine Ahnung«, sage ich. »Das kann alles Mögliche bedeuten. Vielleicht ist sie besonders schlau, besonders hübsch, besonders lustig, besonders scheu, besonders klein oder besonders groß …«
Kristin kichert in sich hinein. »Stellt euch vor, sie wäre so groß, dass sie den Kopf einziehen muss, um durch die Tür zu kommen.«
»Ja, das wär cool«, findet Mirja. »Dann könnten Nadine und Justin nämlich einpacken.«
»Und in dem Fall hätte er Angst wegen ihr«, sage ich.
Felidacy Moon ist nichts von all dem. Zumindest auf den ersten Blick scheint sie ein ganz normales Mädchen zu sein – abgesehen von ihren ungewöhnlich leuchtend grünen Augen. Ansonsten ist sie normal groß, normal schlank und hat ein normales Gesicht, und sie wirkt weder über die Maßen scheu oder gar ängstlich noch außergewöhnlich draufgängerisch. Und sollte sie überdurchschnittlich klug sein, so stellt sie es jedenfalls nicht zur Schau.
Mrs Bingles, die während Frau Reicherts Abwesenheit in unserer Klasse die Vertretung in Englisch übernommen hat, weist Felidacy den freien Platz neben Nadine direkt am Lehrerpult zu, wo diese sich ohne mit der Wimper zu zucken niederlässt.
»Sehr gut«, raunt Mirja. »So können wir sie alle anstarren, ohne dass Bingi auf die Idee kommt, wir würden dem Unterricht nicht folgen.«
Und schon starren wir, was das Zeug hält. Von Felidacy zu Justin und wieder zurück. Wie bei einem Tennismatch, bloß dass wir nicht den ganzen Kopf, sondern nur unsere Augen hin- und herbewegen.
»Er guckt sie nicht an«, wispert Kristin nach einer Weile. »Verdammt, er ist wie ausgewechselt.«
»Was ist so verkehrt daran?«, wispere ich zurück.
»Nichts«, erwidert Kristin. »Es ist nur irgendwie … langweilig.«
Ich zucke mit den Schultern, und Mirja säuselt: »Vielleicht kennt er sie wirklich und ist in sie verknallt.«
Kein schlechter Gedanke, ebenso spannend finde ich allerdings den Umstand, dass Felidacys Anwesenheit offenbar nicht nur Justin, sondern auch Nadine einschüchtert. Unser Swarovskisteinchen steht ganz im Schatten der Neuen. Bis zur letzten Schulstunde gibt sie keinen Pieps mehr von sich. Weder hat sie sich durch ihren albernen antrainierten Oxford-Akzent hervorgetan noch durch andere peinliche Schleimereien bei den Lehrern, die wir heute sonst noch hatten.
»Sie redet nicht«, sagt Mirja, während wir unsere Sachen in unseren Rucksäcken verstauen.
»Nicht mehr, meinst du wohl«, erwidere ich.
»Hä?« Mirja sieht mich irritiert an.
»Nadinella Funkelstein.«
»Stimmt.« Kristin nickt. »Die hat auch nichts mehr von sich gegeben.«
Moment mal … Jetzt komme ich nicht mehr ganz mit.
»Felidacy«, hilft Mirja mir auf die Sprünge. »Sie hat nicht einen Ton gesagt. Vielleicht ist sie stumm. Oder gehörlos.«
Kristin schultert ihren Rucksack und schüttelt den Kopf. »Nee nee, dann wäre sie garantiert nicht auf unsere Schule gekommen.«
»Wenn sie aber einfach nur stumm ist, schon, oder?«, überlegt Mirja laut. »Ach, ich wüsste zu gern, wo sie wohnt. Leider ist es schon drei Minuten vor halb zwei«, fügt sie nach einem Blick auf die Wanduhr seufzend hinzu. »Das Sekretariat hat nicht mehr auf.«
»Na, und?«, sagt Kristin. »Wir folgen ihr einfach.«
In ihren dunkelblauen Augen blitzt es abenteuerlustig.
»Keine gute Idee«, erwidere ich.
»Wieso nicht?«, entgegnet sie patzig.
»Versetz dich doch mal in ihre Lage«, sage ich. »Du bist neu in der Klasse. Alle starren dich an. Hinter deinem Rücken wird getuschelt. Und dann rennen dir auch noch alle nach.«
»Das tun sie übrigens tatsächlich«, sagt Mirja, die inzwischen ans Fenster getreten ist und aufs Schulgelände hinuntersieht. »Alle bis auf Justin und Nadine und uns, natürlich.«
Keine drei Sekunden später stehen Kristin und ich neben ihr.
Das Bild, das sich uns bietet, hat etwas Magisches: Felidacy läuft nicht gerade schnell, aber mit langen gleichmäßigen Schritten über den Schulhof. Und nur fünf Meter dahinter folgt ihr in der Formation eines eher unförmigen Dreiecks unsere gesamte Klasse. Bloß Justin, Nadine, Mirja, Kristin und ich fehlen.
»Wie beim Rattenfänger von Hameln«, wispert Mirja. »Glaubt ihr, sie ist irgendwie … böse?«
Ich tippe mir an die Schläfe. »Hast du sie noch alle?«
»Also, ich finde schon, dass sie ein bisschen was von einer Hexe hat«, murmelt Kristin. »Meint ihr nicht?«
»Nein, das meine ich ganz und gar nicht«, entgegne ich aufgebracht. »Felidacy ist gerade einen halben Tag hier. Ihr kennt sie überhaupt nicht. Ihr habt ja nicht mal versucht, mit ihr zu reden.«
»Niemand hat versucht, mit ihr zu reden«, betont Kristin. »Allein das ist ja wohl schon äußerst ungewöhnlich.«
»Das liegt doch nicht an ihr«, ereifere ich mich, »sondern nur an uns. Bloß weil Justin so komisch auf ihren Namen reagiert hat, haben wir sie angegafft und darauf gewartet, dass irgendwas zwischen den beiden abläuft. Das war wie im Kino. Felidacy und Justin sind die Akteure gewesen, und wir waren die Zuschauer. Wir wollten doch überhaupt nicht mit ihr reden, wir wollten nur, dass irgendwas Sensationelles passiert.«
Meine Freundinnen sehen mich an, als ob ich einen Dachschaden hätte.
»Das ist ja alles schön und gut«, erwidert Mirja schließlich und deutet nach draußen. »Jetzt ist von Justin aber weit und breit nichts mehr zu sehen. Und trotzdem rennen ihr alle hinterher.«
Als wir den Friedhof hinter uns gelassen haben, bin ich zum ersten Mal froh, dass ich allein weitergehen kann. Das Gerede über Felidacy hat mich ganz konfus gemacht, und es tut gut, noch ein bisschen ganz in Ruhe über sie nachzudenken.
Als Erstes versuche ich mich daran zu erinnern, was Herr Gerber uns über sie erzählt hat, und stelle verwundert fest, dass ich es nicht mehr bis in alle Einzelheiten weiß. Tatsächlich scheine ich sogar das meiste davon vergessen zu haben. Einzig die Tatsache, dass Felidacy den Nachnamen ihrer englischen Vorfahren trägt, ist mir im Gedächtnis geblieben. Moon klingt romantisch, aber irgendwie auch düster und geheimnisvoll. An Felidacy selbst kann ich jedoch nichts Mysteriöses finden. Im Grunde lässt sie doch nur die Art und Weise, wie wir – allen voran Justin – auf sie reagieren, so wahnsinnig interessant erscheinen.
Deshalb aber gleich zu glauben, dass sie so etwas wie eine Hexe sein könnte, halte ich für völlig bescheuert.
Mirjas Gedanke, dass Justin in sie verknallt sein könnte, wäre eigentlich die unspektakulärste Erklärung. Sie hat nur einen Haken. Würde Justin tatsächlich romantische Gefühle für Felidacy hegen, wäre er bei ihrem Anblick ganz sicher nicht so weiß wie ein Kalkeimer, sondern eher rot wie eine Tomate geworden.
Nein, es muss etwas anderes sein, das die beiden miteinander verbindet. Und nicht nur sie. Nadine scheint auf irgendeine Weise auch dazuzugehören. Weil Mirja, Kristin und ich sie nicht mögen, vergessen wir sie nur gerne. Justin ist zwar auch nicht gerade unser Herzblatt, aber er hat Nadine gegenüber einen entscheidenden Vorteil: Er ist ein Junge. Keine Frage, er nervt ohne Ende, aber er muss uns Mädchen deswegen nicht peinlich sein.
Plötzlich durchzuckt mich ein ganz neuer Gedanke: Anders als unsere Klassenkameraden sind Justin und Nadine Felidacy nicht gefolgt. Im ersten Moment scheint das nicht ungewöhnlich zu sein. Bei näherer Betrachtung könnte man allerdings auch auf die Idee kommen, dass Felidacy uns davon abgelenkt hat, darauf zu achten, wohin Justin und Nadine so schnell verschwunden sind.
»Hallo, mein Schatz, wie war dein Tag?«, begrüßt Mama mich, noch bevor ich die Haustür hinter mir geschlossen habe. »Essen ist schon fertig.«
»Prima«, sage ich, streife meine Sandalen ab und lehne meinen Rucksack neben dem Treppenaufgang gegen die Wand, ehe ich in die Küche gehe. »Ich habe nämlich einen Riesenhunger.«
Meine Mutter hat ihre karierte Latzschürze umgebunden und hantiert mit mehreren Töpfen, Löffeln und Kellen am Herd.
»Warst du heute gar nicht in der Praxis?«, frage ich, während ich Teller und Besteck für vier Personen auf dem Küchentisch platziere.
»Nein, ich habe mir freigenommen«, erwidert sie.
»Hatte das einen besonderen Grund?«
»Ja, den hatte es.«
»Aha«, sage ich und sehe sie erwartungsvoll an. »Aber du willst nicht drüber reden«, stelle ich fest, als ich nach gefühlten zwanzig Sekunden noch immer keine Antwort von ihr bekommen habe.
»Jetzt lass mich doch erst mal die Teller füllen«, meint sie lächelnd.
Ich reiche ihr meinen zuerst. »Kommt Papa auch?«
Sie nickt. »Ja, Papa kommt auch«, sagt sie gedehnt. »Er hat um drei Uhr einen Termin hier in der Siedlung.«
»Aha«, sage ich noch einmal.
Die Frage wo und mit wem kann ich mir getrost schenken. Das fällt nämlich unter das sogenannte Bankgeheimnis. So wie meine Mutter nicht erzählen darf, wer teure Ersatzzähne bekommt oder beim Bohren besonders viel Geschrei macht, schweigt mein Vater sich darüber aus, ob Frau Sowieso einen Euro fünfzig oder eine Million auf ihrem Sparbuch hat. Umso überraschter bin ich, als Mama nun freimütig zu erzählen beginnt: »Das alte Haus am Ende der Minzstraße hat einen neuen Besitzer, weißt du, dieses rote mit dem kleinen Erker unter dem Spitzdach.«
Natürlich weiß ich, welches Haus sie meint. Die Minzstraße ist eine Stichstraße, die von der Hauptstraße abzweigt und genau auf das Wäldchen am östlichen Stadtrand zuführt. Im vorderen Drittel drängen sich zu beiden Seiten mehrere Grundstücke dicht aneinander, dahinter folgen ungefähr zweihundert Meter Brachland, und erst dann kommt man zu dem Haus mit dem kleinen Erker.
Wenn man es so wie ich gern ein bisschen geheimnisvoll mag, könnte man glatt auf den Gedanken kommen, dass das Spitzdachhaus mit aller Macht versucht, sich die Häuser im ersten Teil der Minzstraße vom Leib zu halten.
Tatsächlich scheint es ein wenig kontaktscheu zu sein, es liegt nämlich etwas versteckt hinter einer stacheligen Weißdornhecke und hüllt sich vom Grundstein bis zum Gipfel seines Spitzdachs in ein dunkelgrünes Efeukleid. Nur ein kleiner Teil des roten Ziegelmauerwerks, die überdachte Haustür und besagter Erker ragen daraus hervor.
»Wann sind die alten Besitzer eigentlich weggezogen?«, frage ich.
»Hm …« In der einen Hand meinen Teller und in der anderen einen Schöpflöffel voller Möhrengemüse, hält meine Mutter in ihrer Bewegung inne. »Lass mich mal überlegen … Ich glaube, sie sind gar nicht weggezogen«, meint sie schließlich, gibt das Gemüse neben die Kartoffeln auf den Teller und stellt ihn vor mich hin.
»Sondern?«
»Ehrlich gesagt, weiß ich das gar nicht so genau«, erwidert sie mit nachdenklicher Miene.
»Gestorben sind sie aber nicht, oder?«, frage ich.
»Zumindest nicht alle auf einmal«, gibt Mama zurück.