Gordon Tyrie
Todesströmung
Thriller
Knaur e-books
Gordon Tyrie, geboren 1966 in der schottischen Grafschaft Renfrewshire, wuchs auf einer Farm auf und wollte ursprünglich Tierarzt werden. Er hat Jura studiert und als Gerichtsreporter gearbeitet, bevor er mit dem Schreiben begann. Todesströmung ist sein erster Roman.
© 2018 der eBook-Ausgabe Droemer eBook
© 2018 Droemer Verlag
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit
Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Redaktion: Greta Frank
Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Coverabbildung: robertharding / Alamy Stock Photo
ISBN 978-3-426-43865-7
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sprich: Lisha
Hynch drückte nicht ab. Behutsam nahm er den Finger vom Abzug. Er hatte auf den Punkt zwischen Auge, Ohr und Kiefer gezielt. Von Mallards Kopf wäre wenig mehr übrig geblieben als ein hässlicher Fleck auf einer Backsteinwand.
Sein Atem war flach, der Ruhepuls lag bei fünzig. Etwas hatte Hynch zögern lassen. Ein Gefühl für Entfernungen, für die Verteilung von Masse und Körper im Raum, für Menschen und ihre verborgenen Absichten. Und noch etwas jenseits seines Argwohns, das er nicht benennen konnte. Als sei der Fluss der Zeit angehalten worden, nur für wenige Sekunden, und als habe er, Hynch, einen Blick zurückgeworfen und weit hinter sich Dinge gesehen, die zu vergessen ihm fast geglückt war.
Dann bemerkte er die Motorhaube in der nächstgelegenen Seitenstraße. Langsam schob sie sich zwischen den parkenden Autos hindurch und blockierte einen der Fluchtwege.
Dreiunddreißig Jahre Erfahrung sagten ihm: Weg hier.
Doch sie sagten ihm auch: Eine bessere Gelegenheit kriegst du nicht. Schieß!
Hynch entschied sich dagegen.
»Abbruch«, raunte er Rick zu. »Lass uns verschwinden.«
»Aber –«
»Das Gewehr bleibt hier. Keine Zeit, es zu zerlegen.«
Er spürte, dass er einen folgenschweren Fehler beging. Hynch hatte seine Ausrüstung noch nie zurückgelassen, zu kostspielig, zu verräterisch. Aber um heil aus dieser Sache herauszukommen, musste er den Verlust des Barrett M82 in Kauf nehmen. Die Risiken abwägen.
Rick ließ sein Fernglas sinken. Er hatte gelernt, Hynchs Instinkten zu vertrauen und keine Fragen zu stellen. Sie krochen vom Rand des Hoteldaches weg, durch Taubendreck und Unrat.
»Bullen?«
»Mallards Männer können es nicht sein. Die hätten gar nicht erst zugelassen, dass ihr Boss in Gefahr gerät.«
»Dann muss die Polizei einen Tipp bekommen haben«, meinte Rick. »Oder Mallard steht unter besonderem Schutz.«
»Darüber unterhalten wir uns später.« Hynch ging in die Hocke. »Wer auch immer uns da unten auflauert, kennt unseren Standort noch nicht, sonst hätten wir hier schon längst Besuch. Vorschläge?«
Rick holte sein Krypto-Handy hervor. »Plan B. Ich gebe Winslow Bescheid.«
Sie streiften ihre Handschuhe und die Overalls von der Gebäudereinigungsfirma ab. Darunter trugen sie Businessanzüge, das Bankenviertel lag gleich um die Ecke. Früher hätte Hynch Aktenkoffer für diese Tarnung als ratsam erachtet, doch inzwischen belastete sich kein Manager mehr mit derlei Gepäck. Nachdem sie auch noch andere Schuhe angezogen hatten, packte Hynch das Gewehr mit dem Schalldämpfer, das Fernglas und die Kleidungsstücke in eine große Sporttasche und stopfte sie in den gebogenen Auslass eines Lüftungsschachts. Ein schlechtes Versteck, aber es ging nicht anders.
Sie trugen nichts mehr am Leib, was auf ihren Auftrag hindeutete. Wenn die Polizei im Hotel oder auf der Straße Kontrollen durchführte, waren sie sauber.
Rick öffnete die Tür zur Treppe, die vom Dach zum obersten Geschoss des Prince Albert führte, und machte sich auf alles gefasst. Doch kein Sondereinsatzkommando erwartete sie. Der Gang war leer. Den Überwachungskameras des Hotels hatte er ein Standbild in Endlosschleife untergejubelt, die Objektive waren tot. Keine Gefahr, dass sie erkannt wurden.
»Zuerst gehen wir ein paar Stockwerke zu Fuß. Dann nehmen wir den Aufzug in die Lobby. Bereit?«
Winslow las die Nachricht und schüttelte den Kopf. »Was krieg ich immer zu hören? Verlier bloß nicht die Nerven! Und jetzt das!« Hastig stopfte er die Reste seines Cheeseburgers in sich hinein, ein verspätetes Frühstück. Was sprach gegen einen Exit mit dem Van? Er hatte ihn eigenhändig umlackiert und die verdammten Aufkleber draufgemacht: Clyde Cleaning Company. Scheiß auf Plan B!
Dann fielen ihm die Audis und Fords im Rückspiegel auf, die in der Nähe des Hotels Stellung bezogen. Bullenwagen, Audis für die Chefs, Fords fürs Fußvolk. Eines musste man Rick lassen: er war ein gründlicher Scout. Musste daran liegen, dass er aus Deutschland stammte. Die Krauts zogen sogar die Spülung, bevor sie aufs Klo gingen. Sicherheitsfanatiker.
Winslow verließ den Van um 10 Uhr 36, auf den Straßen war wenig los. Einen Block weiter hatte er den metallicgrauen Peugeot geparkt, die Scheiben im Fond waren abgedunkelt. Er durchquerte eine der unscheinbaren, schäbigen Gassen, von denen es in Glasgow so viele gab, schlüpfte im Schutz eines Müllcontainers aus seinem Overall und wurde mithilfe der Mütze auf dem Beifahrersitz des Peugeots zum Chauffeur.
Während er im Wagen wartete, malte er sich aus, was er mit seinem Anteil von 20000 Pfund machen würde. Erst mal bunkern und den Kopf aus der Schusslinie halten, so lauteten die Regeln.
Er hasste Regeln.
Hynch und Rick machten ein großes Ding daraus. Seit einem knappen Jahr arbeitete Winslow nun schon mit den beiden zusammen. Im Grunde war es das Beste, was ihm passieren konnte. Hynch war ein echter Profi, steinalt, aber ein Ass mit dem Gewehr. Schoss einem Dealer, der die Grenzen seines Reviers nicht kannte, den Geldzähldaumen weg, noch aus einem Kilometer Entfernung, überhaupt kein Thema. Angeblich ein Ex-Marine, er hatte schon die Argentinier auf den Falklands aufgemischt, danach war er im Nahen Osten tätig gewesen, Libanon, Iran, alles undercover. Für so einen gab es in Schottland immer Bedarf, vor allem in Glasgow, wo das Verbrechen quasi erfunden worden war. Und Rick bildete mit Hynch schon seit Jahren ein Gespann, verstand sich auf Computer und Internet, beschaffte das Material, spähte die Hitpoints aus. Die beiden galten als die besten Killer, die man nördlich von Birmingham kriegen konnte. Und sie standen in Diensten von Mister Crime himself, Black Eyed Bruce, der Nummer eins der schottischen Unterwelt.
Winslow war nur ein Gehilfe. Fluchtwagenfahrer. Doch damit konnte er leben. Zur vereinbarten Zeit hielt er vor dem Hintereingang des Prince Albert. Ein Feueralarm ging los, den musste Rick in einem angrenzenden Bürogebäude per Fernsteuerung ausgelöst haben. Der Bastard verstand sein Geschäft.
Rick riss die Tür auf, er und Hynch sprangen in den Fond. Winslow gab Gas. Er fuhr eine extra für diesen Fall abgesprochene Route, stieß auf keine Straßensperre. Machte einen weiten Bogen ums Bankenviertel, mied die großen Ausfallstraßen. Nach einiger Zeit verließen sie die City und gelangten in die Vororte im Westen der Stadt. Niemand folgte ihnen.
»Wir tauchen unter«, sagte Hynch. »Und zwar komplett. Die Flughäfen sind tabu, auch das Farmhaus am Loch Lomond, wo wir ursprünglich hinwollten.«
»Bleibt noch die Wohnung in Edinburgh«, sagte Rick.
»Kein Versteck, das wir schon einmal benutzt haben. Wir müssen vollständig vom Radar verschwinden und herausfinden, was da heute gelaufen ist.«
»Wie wär’s mit den Hebriden?«, schlug Rick vor. »In Inveraray wechseln wir den Wagen und alles andere, dann weiter nach Kennacraig und mit der Fähre nach Islay.«
»Islay, die Whiskyinsel? Ist da nicht zu viel los?«
»Und von dort nach Jura. Im Vergleich mit Islay ist es da viel ruhiger – hab ich mir schon seit Längerem für den Notfall aufgespart. Die Westküste ist unbesiedelt, wir verzichten auf Hotels oder B&Bs, um keine Spuren zu hinterlassen. Lasst uns Touristen spielen, Naturfreunde. Kontrastprogramm.«
Von der Isle of Jura wusste Winslow so gut wie nichts. Außerdem wunderte er sich, dass Hynch nicht die große Sporttasche mit dem Gewehr dabeihatte. Kein Gewehr, kein Schuss. Kein Schuss, keine Kohle.
Irgendetwas war gewaltig schiefgegangen.
Ideale Wellen. Nicht zu hoch, nicht zu niedrig, ausreichend lang, ein endloser, nie versiegender Strom, mit genau der richtigen Periode für die Seeschlange. Gracie kontrollierte den langen Driftkörper und nahm ein paar zusätzliche Messungen vor. Später würde sie alle Daten ins Notebook übertragen, akribisch, das war ihr Job.
Sie richtete sich in dem kleinen Motorboot auf. Die Mündung des Loch Tarbert, eines Meeresarms, war im Februar menschenleer. Selbst im Sommer sah man an der Westküste von Jura nur wenige Segler, Kajakfahrer und Wanderer. Dagegen war die Ostseite geschützter, die Unbilden des Nordatlantiks ferner. So ging das seit Jahrhunderten: hier Wildnis und Freiheit, dort menschliche Besiedlung.
Gracie liebte die spröde Schönheit der Hebriden, das Wechselspiel zwischen Gewitterschauern, Nieselregen und Sonnenschein. Banalitäten, gewiss, doch wenn man sich den ganzen Tag im Freien aufhielt wie sie, gewann der Rhythmus des Wetters zwangsläufig an Bedeutung.
Auf Jura fühlte sie sich besonders wohl. Als ob diese Insel nur auf eine junge, sportliche Ozeanologin aus Liverpool gewartet hätte, geduldig, gleichmütig, in der Gewissheit, irgendwann werde schon jemand kommen, der eine Auszeit von der Welt da draußen brauchte. Manchmal ließ sie solch romantische Anwandlungen zu.
Es begann zu regnen, langsam und stetig. Über den bleischweren Himmel zogen Wolkenbänke.
Seit fünf Monaten untersuchte sie die Gewässer um Jura. Erneuerbare Energien waren Schottlands Zukunft. Die Mehrheit des Parlaments sah das so, obwohl die Öllobby immer noch stark war, viel stärker, als öffentliche Verlautbarungen es glauben machten. Bohrinseln in der Nordsee sollten noch den letzten Tropfen aus dem Meeresgrund herausquetschen. Allerdings gingen die Fördermengen seit Jahren zurück.
Die Ölvorkommen befanden sich östlich von Schottland. Doch im Norden und Westen lagen jene Gebiete, die sich gut für Wellen- und Strömungskraftwerke eigneten. An der verwinkelten Küstenlinie fiel die Seeschlange kaum auf und bildete kein Hindernis für die Schifffahrt. Sie bestand aus mehreren Stahlrohrsegmenten, gekoppelt über Gelenke, an denen hydraulische Pumpen befestigt waren, die ihrerseits einen Generator antrieben. Die Energieanlage hing an einer Ankerkette, deshalb ließ sich ihr Standort jederzeit wechseln. Eingriffe in die Natur wie der Bau eines Fundaments oder dergleichen waren nicht vonnöten. Nach neuesten Erkenntnissen konnte der Stahl der Rohrsegmente durch ein gummiartiges Material ersetzen werden, das erhöhte den Auftrieb.
Gracie streifte sich Handschuhe und Haube ihres dicken Neoprenanzugs über. Sie setzte die Taucherbrille auf und ließ sich ins Wasser fallen. Für einen kurzen Routinecheck brauchte sie kein Atemgerät mit Druckluftflaschen.
Der Kälteschock. Sie war ihn gewohnt. Ließ sich hinabsinken.
Der Algenbewuchs hielt sich in Grenzen. Die Seeschlange schien einwandfrei zu funktionieren, alles in bester Ordnung. Auch Benoît hatte so gedacht, als er vor den Orkneys getaucht war, um die Turbinen auf dem Grund des Pentland Firths zu überprüfen. Er war nie zurückgekehrt. Nicht einmal seine Leiche hatte man nach einem überraschend aufgezogenen Sturm gefunden.
Der Pentland Firth war eine völlig andere Größenordnung als Loch Tarbert. Wegen des intensiven und deshalb besonders energiereichen Gezeitenstroms galt die Meerenge als extrem schwieriges Seegebiet. MeyGen entstand hier, ein Strömungskraftwerk. Es machte sich die hohe Durchflussmenge zwischen den Orkneyinseln und dem schottischen Festland zunutze und zählte zu den ambitioniertesten seiner Art. In der Testphase des Projekts waren vier Turbinen auf dem Meeresboden installiert worden. Gracie und Benoît hatten dem Forschungsteam angehört, das ständig an Verbesserungen arbeitete, zum Beispiel was Form, Anzahl und Größe der Rotorblätter betraf, das Material, aus dem die Rotoren hergestellt waren, dessen Anfälligkeit für Umwelteinflüsse und vieles mehr. Es war geplant, im Lauf der Jahre insgesamt fast 270 Turbinen einzusetzen. Dadurch würde MeyGen noch nie da gewesene Dimensionen erreichen. Die Technologie stand kurz vor dem Durchbruch. Noch waren die Maschinen nicht serienreif und die Kosten zu hoch für eine kommerzielle Nutzung in Form riesiger unterseeischer Energieparks.
Nach Benoîts Unfall war Gracie aus ihrem Vertrag bei MeyGen ausgestiegen und zu ScottishPower Renewables gewechselt. Ihre Aufgabe bestand darin, die Seeschlange zu warten und alles, was mit der Versuchsanlage zusammenhing, zu dokumentieren. Darüber hinaus sollte sie untersuchen, welches Potenzial zur Energiegewinnung die Gewässer rund um Jura besaßen. Dazu gehörten kleinere Wellenkraftwerke, die auf dem Wasser schwammen, aber auch Strömungskraftwerke wie das MeyGen. Denn im Norden der Insel befand sich der Corryvreckan, ein gewaltiger Strudel, der durch die starke Tide verursacht wurde. Gracie hütete sich, dem Corryvreckan zu nahe zu kommen, sei es mit dem Boot oder erst recht bei einem Tauchgang. Nur bei bestimmten Gelegenheiten, etwa bei Ebbe oder in der kurzen Zeit, bevor die Flut einsetzte und die Gezeitenströme sich nahezu ausglichen, wagte sie es, vor Ort Messungen vorzunehmen. Bei Flut, vor allem wenn starker Wind aus Westen blies, mied sie den Corryvreckan oder achtete darauf, in Begleitung zu sein. Dann bat sie Calum, einen befreundeten Farmer, um Unterstützung.
An der Mündung des Loch Tarbert war es jedoch ruhig. In gewisser Weise nahm sie auf Jura eine Art bezahltes Sabbatical. Ein wenig Feldforschung, mehr wurde nicht von ihr verlangt. Kein Teamwork.
Nachdem Gracie aufgetaucht war und tief Luft geholt hatte, ließ sie sich erneut sinken. Vorbei an der Seeschlange, zum Meeresgrund. Langsam nahm das Licht im trüben, nährstoffreichen Atlantikwasser ab und der Druck zu. Was hatte Benoît zu seinem verhängnisvollen Tauchgang getrieben? Schiere Abenteuerlust? Das hatte sie ihm unterstellt, während er in die schwere Ausrüstung gestiegen war. Dass er den Helden spielen wollte, unerschrockener Ingenieur im Kampf mit den Elementen, noch dazu im Dienste einer höheren Sache. Der Geist, der unter den Mitarbeitern von MeyGen herrschte, hatte tatsächlich etwas Pionierhaftes, auf eine bessere Zukunft Gerichtetes, das steckte an. Und es machte manchmal unvorsichtig, leichtsinnig. Deshalb hatten sie sich gestritten: weil Benoît Gracies Einwände bewusst ignoriert und seinen Kopf durchgesetzt hatte. Sie war so wütend auf ihn gewesen, dass sie gedroht hatte, ihre Beziehung zu lösen. »Wenn du jetzt gehst, brauchst du gar nicht erst zurückzukommen«, hatte sie ihm nachgerufen, als er mit zwei Technikern in den Pentland Firth hinausgefahren war.
Es war das Letzte, was er von ihr gehört hatte.
Es machte ihr furchtbar zu schaffen.
Wenn sie den Meeresboden berührte und spürte, wie die Luft knapp wurde, stellte sie sich sein Gesicht vor. Immer war es hinter einer Tauchmaske verborgen. Sie konnte keine Einzelheiten erkennen.
Die fensterlose Lagerhalle wurde von ein paar Neonröhren erhellt. Es roch nach Pappbecherkaffee.
»Was soll das werden?«
»Das ziehst du jetzt an.« Rick hielt Winslow eine wetterfeste Jacke aus Funktionsstoff hin. Das Ding war dunkelblau mit grauen Einsätzen an den Seiten, Größe XXL.
»Damit seh ich aus wie mein Opa. Ich will ’ne schwarze Jacke. So eine wie Hynch sie hat.«
Gegen dreizehn Uhr hatten sie bei anhaltendem Regen Inveraray erreicht, eine Ortschaft am Loch Fyne. Im Sommer quoll sie vor Touristen über, die das berühmte Castle besichtigen wollten. Doch jetzt waren nur ein paar Einheimische auf den Straßen und erledigten ihre täglichen Besorgungen.
Von hier aus konnten sie schnell nach Oban im Norden gelangen. Oder sie wandten sich nach Süden zur Halbinsel Kintyre, wo der Fährhafen Kennacraig lag. Ein guter Platz für ein Depot. Zu diesem Zweck hatte Rick schon vor Jahren eine kleine Lagerhalle angemietet. Darin stand ein alter, schwarzer Land Rover, ein häufiger Fahrzeugtyp in ländlichen Gebieten, er wurde regelmäßig in Schuss gehalten. Sie beabsichtigten, den grauen Peugeot gegen ihn auszutauschen. Auf diese Weise verschwand der Wagen von der Straße.
In dem Rover lag Outdoor-Bedarf für drei: Funktionskleidung, Wanderschuhe, allerlei Campingartikel und ein Zelt. Rick und Hynch hatten ungefähr die gleiche Größe, sie waren schlank, Hynch maß knapp 1,90 Meter, Rick war etwas kleiner und muskulöser. Sie entledigten sich ihrer Businessanzüge und sahen im Handumdrehen wie zwei Männer auf einem Jagd- oder Angelausflug aus, vielleicht wie Vater und Sohn, denn Hynch hatte schon siebenundfünfzig Jahre auf dem Buckel, Rick war erst Mitte dreißig. Allerdings hatte Derek, ihr letzter Fahrer, eine völlig andere Statur als Winslow besessen.
Dumm, was mit Derek passiert war. Hätte besser hören sollen, wie Hynch immer sagte.
Winslow war zwar noch jung, zweiundzwanzig, wie er behauptete, aber er glich einem Kühlschrank auf zwei Beinen, einem von diesen verbeulten Schrottteilen, mit denen die Kinder in Abrisshäusern spielten. Er hatte kurze rote Stoppelhaare und eine bleiche, von Sommersprossen übersäte Haut, die nur selten Sonne abbekam. Und über Weihnachten hatte er noch einmal deutlich an Gewicht zugelegt.
Deshalb war Rick in einen Laden an der Main Street gegangen und hatte entsprechende Klamotten gegen Barzahlung gekauft. Das Zeug passte Winslow. Aber es gefiel ihm nicht.
»Warum hab ich mir meine Jacke nicht selbst aussuchen dürfen?«, protestierte er.
»Du fällst zu sehr auf.« Rick checkte den Ölstand des Rovers. »Ich meine, schau dich an! Die Leute halten dich für Moby Dick auf Landgang.«
»Bisher war das für euch kein Problem.« Winslow klang beleidigt.
»Bisher hatten wir auch keinen Ärger mit den Bullen. Bei den Jobs, die wir zusammen mit dir durchgezogen haben, musstest du nur auf deinem Arsch sitzen bleiben und die Karre aus der Gefahrenzone bringen. Jetzt –«
»Ihr habt euch nie beklagt.« Winslow sah Hilfe suchend zum Kopf des Trios. »Hynch sagt, ich bin gut.«
»Bist du auch, Junge, auf deinem Gebiet.« Hynch verteilte ungern Streicheleinheiten, er wollte nur das Gemaule beenden. »Für Außenkontakte ist Rick zuständig, das weißt du doch. Solange dieser Auftrag noch läuft, zeigen du und ich uns so wenig wie möglich. Ende der Diskussion. Kommst du mit dem Rover zurecht? Der hat eine Differentialsperre fürs Gelände.«
Widerstrebend zog Winslow die Jacke an. »Ich bin auf ’ner Farm aufgewachsen. Klar kann ich einen Rover fahren.«
»Hoffentlich«, sagte Rick.
»Was soll das heißen, unser Auftrag läuft noch? Ich dachte, wir wären fast aufgeflogen. Ist die Sache nicht durch?«
»Kann immer passieren, dass etwas dazwischenkommt. Wir ziehen uns zurück und warten ab, bis wir verständigt werden. Wir brauchen Informationen. Vielleicht gibt es neue Order. So lange halten wir Funkstille.« Hynch setzte in sein Smartphone eine neue SIM-Karte ein, die ebenso wie die alte nicht auf ihn registriert war. Er befahl Winslow, dessen eigenes Gerät abzuschalten. Dadurch waren sie garantiert nicht zu orten. Künftig sollte die Kommunikation mit der Außenwelt ausschließlich über Ricks Krypto-Handy laufen.
Dann öffnete Hynch eine Werkzeugkiste, die mit einem massiven Bügelschloss gesichert war, und entnahm ihr mehrere Geldbörsen, drei Pistolen, Gürtelholster aus Nylon, Reservemagazine und mehrere Packungen Munition. Methodisch überprüfte er die Waffen und vergewisserte sich, dass sie geladen und funktionsbereit waren. Beretta 92 in Standardausführung, aus US-Army-Beständen, zuverlässig, praktisch. Eine Pistole behielt er für sich und schnallte sie samt Holster an. Die beiden anderen schlug er in ein Silikontuch und legte sie in einen Kasten zwischen Fahrer- und Beifahrersitz, ebenso die Patronen.
Rick schaute ihn zweifelnd an. »Die möchte ich lieber nicht benutzen.«
»Wird wahrscheinlich nicht nötig sein.« Hynch zuckte mit den Schultern. »Wir müssen uns verteidigen können, das ist alles.« Ganz unten in der Werkzeugkiste fand er noch ein Stiefelmesser samt Scheide und Futteral. Er befestigte es an seinem Unterschenkel.
»Und was ist mit mir?«, fragte Winslow.
»Was soll mit dir sein? Du fährst.«
»Aber bis ich die Kanone aus dem Kasten rausgefummelt hab –«
»Du fährst, das ist deine einzige Aufgabe«, beharrte Hynch. »Für den Rest sind Rick und ich zuständig. Lass die Finger von den Waffen.«
»Von mir aus.«
»Zu viel Beiwerk ist ein Fehler. David Hume. Schon mal von ihm gehört?«
»Von wem?«
»Schraub die Kennzeichen von dem Peugeot ab«, wies Rick ihn an. »Und dann breitest du die Abdeckung drüber. Lass es möglichst vergammelt aussehen.«
Murrend ging Winslow an die Arbeit.
Hynch war kein Zielfernrohrjunkie wie so manche Irakkriegrückkehrer, denen schon einer abging, wenn sie lange genug durch das Visier blickten und ihre Ziele beobachteten. Die konnten nicht mehr unter Leute gehen, ohne alles und jeden nach Scharfschützenkriterien zu scannen. Er dagegen hatte zum operativen Teil seines Berufs kein spezielles Verhältnis, auch nicht zu Waffen. Hynch tat, was erforderlich war, möglichst effizient und schnörkellos, er musste niemandem etwas beweisen. Seit er für Bruce arbeitete, hatte er noch nie einen Unschuldigen umgebracht. Seine Zielpersonen hatten alle Dreck am Stecken, mehr oder weniger. Das hielt er sich zugute, wenn er allein in seiner Dachwohnung in Paisley saß, die startenden und landenden Flugzeuge des Glasgow International Airport beobachtete und überlegte, wann er sich zur Ruhe setzen sollte.
Er konnte Schottland nicht leiden. Weder die Städte noch die Natur. Und die Menschen schon gar nicht. Heimat war für ihn da, wo er die Füße hochlegen konnte mit einem Drink in der Hand und Blick aufs türkisfarbene Meer. Ohne dass jemand hinter ihn trat und eine alte Rechnung begleichen wollte. Und ohne diesen nasskalten Regen, der ihm in die Knochen kroch wie ein Kindheitstrauma. Die Azoren hatte er wieder verworfen, ebenso die Karibik. Zu viel los, zu leicht erreichbar. Inzwischen peilte er Rodrigues an. Das war eine Insel, die zu Mauritius gehörte, 600 Kilometer weiter westlich im Indischen Ozean. Hübsch abgelegen, angenehmes Klima. Für ein Häuschen an der Baie aux Huîtres hatte er bereits eine Anzahlung geleistet, obwohl er nie dort gewesen war. Die Fotos im Internet wirkten ansprechend, das reichte ihm. Auf Rodrigues gab es gerade mal drei Taxis. Unter den knapp 36000 Bewohnern befand sich niemand, den er umbringen musste. Beste Voraussetzungen.
»Glaubst du, das war eine Falle?«, fragte Rick. »Wir sind da glatt rausgekommen, zu glatt für meinen Geschmack. Anscheinend haben die das Gebiet nicht vollständig abriegelt.«
Hynch schreckte hoch. »Wie?«
»In letzter Zeit bist du oft in Gedanken. Alles in Ordnung?«
»Klar. Ich …«
»Du denkst wieder ans Aussteigen?«
Rick wusste immer ganz genau, was in ihm vorging. Deshalb bildeten sie ein erfolgreiches Team, sie verstanden sich blind. Dennoch war es Hynch unheimlich, dass jemand in ihm lesen konnte wie in einem Buch. »Man muss den richtigen Zeitpunkt erwischen. Keine Sorge, wenn etwas spruchreif ist, bist du der Erste, der es erfährt.«
»Ich wollte nicht indiskret sein.«
»Übertreib’s nicht mit der Höflichkeit«, gab Hynch zurück.
»Das gefällt dir doch. Unterscheidet uns von dem kriminellen Pöbel. Wie lange kennen wir uns schon? Starke Sprüche überlasse ich Winslow, der braucht das, um seine Unsicherheit zu überspielen.« Dass Rick beim Umsteigen auf den Peugeot eine seiner neuen Pillen eingeworfen hatte, musste er Hynch ja nicht unbedingt verraten. Der Stoff euphorisierte wie Koks, hielt ihn auf einem konstanten Konzentrationslevel und sorgte zugleich dafür, nicht die Beherrschung zu verlieren. Perfekt ausbalanciert. »Also, was geht in deinem Dickkopf vor?«
»Schmiedest du etwa keine Pläne? Mit einem neuen Partner würdest du weiter im Geschäft bleiben. Du hast einen ausgezeichneten Ruf.«
»Zehn Jahre sind genug. Hab mir überlegt, in die Sicherheitsbranche zu wechseln.«
»Wirklich?«
»Man muss an die Zukunft denken. Warum nicht ehrlich werden?«
»In Schottland?« Hynch zog eine Grimasse, als hätte Rick ihm vorgeschlagen, bei den Anonymen Alkoholikern einzutreten. »Hier kannst du das vergessen.«
»Ein Freund von mir arbeitet in der Golfregion, Personenschutz. Die brauchen da dringend qualifizierte Leute, am besten ohne militärischen Hintergrund. Laufen ja schon genug durchgeknallte Ex-Soldaten herum. Ich besorge mir eine neue Identität und gehe dahin, wo das große Geld sitzt.«
»Nein danke, da war ich schon.«
»Vor einer halben Ewigkeit! Inzwischen haben sich die Zeiten geändert.«
»So richtig ändern die sich nie.«
»Ich bin nicht wie du, Hynch. Ich war noch nie länger im Ausland, zumindest nicht beruflich.«
»Du meinst, du willst noch etwas machen aus deinem Leben.«
»So würde ich das nicht sagen …«
»Da unten kannst du keinem trauen.«
»Hier auch nicht.«
Hynch seufzte. »Hat keinen Sinn, sich den Kopf über ungelegte Eier zu zerbrechen, nicht solange Mallard noch im Spiel ist. Wenn er herausfindet, dass wir auf ihn angesetzt sind, ist er gewarnt. Dann fangen die Probleme überhaupt erst an.«
»Wie soll er das denn rauskriegen? Ist doch gar nichts passiert. Wo kein Schaden …«
»Wird sich zeigen.«
Rick musterte seinen Partner. Trotz seiner Größe hielt sich Hynch stets kerzengerade, was vermutlich der Militärzeit bei den Royal Marines geschuldet war. Er hatte ein hageres, leicht gebräuntes Gesicht und trotz seines Alters und der Geheimratsecken relativ langes, mittelblondes Haar. Auf den ersten Blick wirkte er wie ein Pensionär, der auf dem Golfplatz seine Runden zog, wären da nicht die tiefen Furchen an seinen Mundwinkeln und die schlecht verwachsene Narbe am Kinn. Normalerweise trug er gut geschnittene Anzüge, und was andere als dünnes, wissendes Lächeln interpretierten, war in Wirklichkeit sein illusionsloser Kommentar zu einer Welt, in der sich fast alles, nicht zuletzt er selbst, als käuflich erwiesen hatte. Mit dem Unterschied, dass er seine Käuflichkeit für weniger durchschaubar hielt als die der meisten anderen. Weniger durchschaubar, aber de facto unkomplizierter, direkter, mit klar definierten Grenzen.
Diese Auffassung von Professionalität hatte sich Rick schon früh zu eigen gemacht. Er fühlte sich davon angezogen, sie bildete das unsichtbare Band zwischen ihnen. Was zählte, waren nur die Aufträge und ein gewisser Zusammenhalt untereinander.
Doch im Lauf der Jahre war Hynch vorsichtiger geworden. Zunehmend sicherte er sich nach allen Seiten ab, tarnte seine Jobs als terroristische Anschläge oder Taten psychisch gestörter Einzeltäter – was Rick immer mehr abverlangte. Dabei war Bandenkriminalität noch nie so einfach gewesen wie heute. Kein Mensch interessierte sich mehr für das jähe Ableben eines Drogenbarons oder eines Waffenhändlers. Derlei Revolvergeschichten wurden höchstens von Lokalblättchen aufgegriffen und heruntererzählt wie ein schlechter Fernsehkrimi. Die Glasgower Medien waren es auch gewesen, die den Spitznamen »Black Eyed Bruce« erfunden hatten für einen Mann, der zwar alte Schule war, aber weder auf den Namen »Bruce« hörte noch schwarze Augen oder eine Augenklappe besaß. In Wahrheit hieß er Brewster Wright. So viel zu Spitznamen.
Nur bei Mallard hatte ihr Auftraggeber auf dem klassischen Muster bestanden: ein Headshot bei helllichtem Tage. Damit all die kleinen und großen Rivalen merkten, dass Bruce keine Götter neben sich duldete. Das Honorar konnte sich sehen lassen: hundert Riesen für Hynch, fünfzig für Rick und zwanzig für Winslow, weil er noch nicht so lange dabei war. Alles weit über dem üblichen Satz.
Ein hübsches Sümmchen, Startkapital für die Emirate. Rick wollte ungern darauf verzichten.
»Warum hast du nicht geschossen?«, fragte er. »Das bisschen Polizei – aus welchem Grund auch immer die da waren, unangekündigter Besuch des Finanzministers, ein fetter Geldtransport … Wir haben schon kniffligere Situationen überlebt, ohne erwischt zu werden.«
»Wäre eng geworden«, sagte Hynch.
»Wir hatten zig Exitstrategien! Über die Dächer. Der Versicherungskongress im Nebengebäude. Ich hatte sogar einen Heli in der Hinterhand mit BBC-Aufdruck. Wäre ein spektakulärer Abgang geworden.«
»Ich hatte so ein Gefühl.«
»Seit wann hast du Gefühle?«
»Ich dachte, wenn ich abdrücke, zieht sich das Netz blitzartig zusammen.«
»Welches Netz? Da war kein Netz, Hynch, ich hab das doppelt und dreifach gecheckt. Unsere Informanten sind hundertpro zuverlässig.«
Hynch schwieg. Er setzte eine Miene auf, die keinen weiteren Widerspruch zuließ. Trank von seinem Kaffee.
Winslow war mit seiner Arbeit fertig und gesellte sich hinzu. »Hynch hatte bestimmt seine Gründe, den Auftrag zu canceln.«
»Misch dich da nicht ein!«, entfuhr es Rick.
»Ich gehöre zum Team. Klar mische ich mich ein.«
Hynch warf seinen leeren Kaffeebecher in einen Mülleimer. »Schluss jetzt. Wir rücken ab.«
Rick verharrte einen Augenblick. Kein Troubleshooting? Er fragte sich, ob Hynch nicht doch zu alt wurde für den Job. Im Alter ließ die Kritikfähigkeit nach. Dann machte er eine wegwerfende Geste und öffnete die Lagerhalle. Winslow fuhr den Rover nach draußen, Rick stieg ein. Hynch sperrte ab und überprüfte die Umgebung.
Zwei Spaziergänger im Regen, unter einem Schirm vereint. Älteres Paar, eng untergehakt. Sie unterhielten sich, schauten gar nicht in seine Richtung. Ansonsten war die Straße menschenleer.
Er tastete nach der Pistole. Was hatten die hier verloren? Waren es Spitzel von Mallard, der von dem Depot in Inveraray wusste? Sollte er die beiden gleich an Ort und Stelle beseitigen, im Vorbeifahren? Oder sie erst in die Lagerhalle locken? Nein, das würde zu viel Krach machen ohne Schalldämpfer.
Die Outdoor-Tarnung musste genügen.
Hynch erschrak über sich selbst. Das Paar war doch harmlos. Seit wann zog er in Erwägung, auf Passanten zu schießen? Wenn sein Leben nach dem Kriegseinsatz anders verlaufen wäre, geordneter, mit einer Festanstellung beim Militär oder den Behörden, hätte er vor Jahrzehnten geheiratet, glücklich oder unglücklich sei dahingestellt, und jetzt würde er allmählich seinem Ruhestand entgegendämmern. Dann könnte er der Mann dort unter dem Regenschirm sein. Schottlands Westküste war zwar nicht die Côte d’Azur, aber zumindest friedlich.
Diese Mallard-Geschichte machte ihn auf eine Weise nervös, die er gar nicht an sich mochte.
Plötzlich hob der Mann den Blick.
Hynch nickte ihm zu. Ja, das Wetter war mies. Und wurde bestimmt nicht besser. Dann stieg auch er in den Wagen. »Los! Schön langsam.«
Winslow tat wie geheißen. Er bugsierte den Rover an dem Pärchen vorbei zur Ortsmitte und nahm die Landstraße in den Süden. Sie verließen Inveraray auf der A 83, den Loch Fyne zur Linken, der wie ein nasses Tuch aussah, das man mehrmals ausgewrungen hatte. Nach der Ortsgrenze drückte Winslow aufs Gas, damit sie die Fähre in Kennacraig rechtzeitig erreichten.
Ricks Krypto-Handy klingelte. Er stellte auf Lautsprecher.
Es war die Stimme von Chief Inspector Crawford.
Warum Crawford?
»Wo sind Sie?«
»Mussten den Auftrag leider abbrechen«, antwortete Rick.
Pause.
»Spezifizieren Sie abbrechen.«
»Exit fraglich, kein Zugriff. Haben umdisponiert, brauchen Unterstützung. Der Van muss abgeholt werden.«
»Kam der nicht zum Einsatz?«, wunderte sich Crawford.
»Nein. Und wir benötigen ein liegen gebliebenes Paket von der Gebäudereinigung. Offenbar wurde es am vereinbarten Standort vergessen.«
Crawford stand auf der Lohnliste von Black Eyed Bruce, er war ein korrupter Bulle im Innendienst, dicht an den Schaltstellen der Staatsmacht. Schon oft hatte er wertvolle Tipps gegeben und Hynch davor bewahrt, nach einem erfolgreichen Hit einer ahnungslosen Polizeistreife oder einer Spezialeinheit in die Arme zu laufen, die aus irgendwelchen Gründen an der Zielperson dran gewesen war. Aber er gehörte definitiv nicht zum Führungsstab ihres Auftraggebers. Crawford war so etwas wie ein externer Berater, gut vernetzt nach allen Seiten. In der Verwaltung der Strathclyde Police hatte er sich zum Abteilungsleiter hochgeboxt. Während der schottischen Polizeireform, als Organisationstalente für den Stellenabbau gebraucht wurden, war er auf seinen gegenwärtigen Posten gelangt. Beamte seines Ranges befehligten normalerweise ein mittelgroßes Polizeirevier. Doch echte Ermittlungsarbeit leistete Crawford im Innendienst nicht. Er wertete aus, stufte ein, gab Empfehlungen, ein Typ, mit dem sich jedermann gutstellen wollte – und für Bruce ein willfähriger Bote, dem nach einer kostspieligen Scheidung auf die Füße geholfen werden musste. Er stank nach billigem Rasierwasser, das war sogar über Satellit zu riechen.
»Wissen Sie überhaupt, was los ist?«, fragte er.
»Nein, erbitten Aufklärung.« Ricks Handy brauchte eine Weile für die Datenübertragung. Kurz darauf stand die Verbindung wieder. »Keine Angst, das Gespräch kann nicht abgehört werden.«
Kurzes Zögern. »Ihr seid tot. Ihr verdammten Mistkerle seid tot.«
Gracie stemmte sich am Dollbord hoch und kletterte über das Heck ins Boot. Sie streifte die Flossen ab, startete den Motor und fuhr zurück zur Anlegestelle am östlichen Ende des Loch Tarbert. Das dauerte eine Weile, sie musste mindestens fünf Kilometer zurücklegen auf einer gewundenen Strecke, die von zahlreichen winzigen Inseln und Riffen gesäumt war. Es machte ihr nichts aus, im Gegenteil: je gewundener, desto besser.
Benoît fehlte ihr. Sie trauerte um ihn. Jedenfalls fühlte es sich so an, die anfängliche Lähmung, der Trennungsschmerz, das Rekapitulieren der letzten gemeinsamen Stunden, ihre Niedergeschlagenheit. Doch zu spüren, wie Stille und Alleinsein sie allmählich ausfüllten, hatte auch etwas Tröstliches. Jahrelang war sie zum Essen in Mensen und Kantinen gegangen, hatte ihr Leben in Gesellschaft von Kollegen und Freunden verbracht. Und mit Benoît. Er hatte den Ton angegeben, und sie hatte sich gefügt, erleichtert, dass ihr all die kleinen Entscheidungen einer Beziehung abgenommen wurden. Bevor sie sich bei einer Tagung in Caen kennengelernt hatten, war sie mit ihrem brachliegenden Universitätswissen durchs Leben geirrt, hatte Bewerbungen geschrieben ohne viel Hoffnung auf Erfolg. Hier und da ein Vortrag, Stipendien, die sie keinen Schritt weiter brachten, befristete Kleinprojekte in Frankreich und Spanien.
Und dann, als hätte jemand den Schalter umgelegt – in Wahrheit war es die schottische Politik –, wurden sie ein Teil von MeyGen, noch dazu als Paar. Die Mühen der Forschung hatten sich ausgezahlt, qualifizierte Wissenschaftler wie Gracie und Benoît waren plötzlich gefragt.
Es erschien ihr wie die Wahrwerdung einer Utopie. Ja, Energie aus dem Meer war möglich, nicht nur in den Gehirnen von Theoretikern und Idealisten, sondern ganz konkret, man musste nur entsprechende Anlagen bauen, ganze Turbinenfelder in großem Stil. Schon heute bezog Schottland über die Hälfte seines Stroms aus Wind- und Wasserkraft, die letzten Kernkraftwerke waren vor Kurzem abgeschaltet worden – im Gegensatz zu England, dessen konservative Regierung den Ausbau der Atomenergie sogar noch förderte.
Gracie hatte den Arbeitsumfang unterschätzt. Vor MeyGen waren sie froh gewesen, das Geld für die Miete zusammenkratzen zu können. Die Reisen zu Kongressen hatten sie aus eigener Tasche bezahlt, vor allem von Benoîts Ersparnissen. Wenigstens konnten sie hin und wieder ausgehen oder einfach nur zusammen sein, auf die Stadt hinunterschauen, die Nähe des anderen fühlen. Damals hatten sie in Edinburgh gelebt, im Wartestand, wenn man so wollte. Sie hatten diese Zeit genossen in der Annahme, es ginge ewig so weiter: von der Hand in den Mund leben, abgelehnte Bewerbungen zerreißen, im Pub einen drauf trinken und sich danach lieben, bis sich die Nachbarn über den Lärm beschwerten.
MeyGen hatte alles verändert. Kaserniert in einer Forschungseinrichtung auf den Orkneyinseln, keine größere Stadt weit und breit, Kirkwall als der Hauptort hatte gerade einmal 7000 Einwohner. Doch plötzlich landeten Summen auf ihrem gemeinsamen Konto, die sie sich immer nur ausgemalt hatten. Allein von den Zuschlägen für die Wochenenden hätten sie zuvor einen ganzen Monat gut leben können. Beide waren wie elektrisiert gewesen von den fachlichen Problemen, die man ihnen zu lösen auftrug, eingebunden in einen engen Terminplan. Sie hatten sich wie Rennpferde gefühlt, die unnütz im Stall gestanden hatten und von heute auf morgen Derbysieger werden mussten. Und sie hatten sich voll ins Zeug gelegt.
Doch das Ganze war eine Nummer zu groß gewesen, zumindest für Gracie. Sie beide hatten nur noch isoliert für sich gearbeitet und gelebt in dem Versuch, den Erwartungen des European Marine Energy Centre gerecht zu werden. Daran waren sie letztlich gescheitert, nicht an einem Sturm oder Benoîts Leichtsinn, sondern an ihrer Blindheit für das, was ihnen verloren gegangen war.
Sie hätten sich nie auf MeyGen einlassen sollen.
Gracie machte das Boot an einer Mooring fest, deckte es mit einer Persenning gegen Spritz- und Regenwasser ab, schulterte ihren Rucksack und watete zur eigentlichen Anlegestelle. Das Wasser war so dunkel und unbestimmt wie ihre Gefühle. Ein Otter tauchte ein paar Meter neben ihr auf und schaute neugierig in ihre Richtung.
Die Tiere hier waren nicht besonders scheu. An der Küste begegnete sie häufig Robben, an Land kreuzten Hirsche oder wilde Ziegen ihren Weg. Es gab sogar Adler, die über den drei großen Bergen der Insel, den Paps of Jura, ihre Kreise zogen. Gracie war ein Stadtkind, mit Wildtieren kam sie erst in Berührung, seit sie als Ozeanologin arbeitete. Jedes Mal musste sie zunächst den Schreck der plötzlichen Begegnung überwinden, die Unmittelbarkeit, die solchen Situationen anhaftete. Stets hatte sie dabei den Eindruck, eine Grenze überschritten zu haben und gedankenlos in fremdes Territorium eingedrungen zu sein, in eine Welt, deren wahre Natur ihr immer verborgen bleiben würde, obwohl sie sich auf Jura viel in freier Wildbahn bewegte und sich anzupassen versuchte, so weit das trotz ihrer technischen Ausrüstung möglich war. Wenn Gracie einen Otter sah oder auch nur einen Kuckuck hörte, fühlte sie sich von etwas komplett Unberechenbarem gestreift. Und doch kam es ihr seltsam vertraut vor, als fände ein Teil von ihr es ganz normal, meilenweit das einzige menschliche Wesen zu sein.
Der Otter verschwand.
Bei ihrem silbernen Suzuki angelangt, schälte sie sich aus den Tauchsachen samt Lycraunterzeug, trocknete sich ab und zog ihre normale Kleidung wieder an. Sie stieg in den Geländewagen und wärmte sich mit Tee aus der Thermoskanne auf. Ein heißes Gebräu war besser als Erinnerungen.
Dann stellte sie das Radio an.
Breaking News. In Glasgow sei es zu einer Schießerei zwischen Polizisten und Gangmitgliedern gekommen. Dabei habe ein bekannter Bandenchef namens Brewster Wright den Kugelhagel nicht überlebt.
Gracie drehte die Lautstärke auf. Der Kommentator des Privatsenders schlug einen sensationsheischenden Tonfall an.
Wir reden hier von einem Massaker! Brewster Wright, den die Unterwelt nur als Black Eyed Bruce kennt, Nummer eins im Glasgower Drogengeschäft, wurde regelrecht exekutiert. Beim derzeitigen Stand der Ermittlungen schließt die Police Scotland nicht aus, dass ein Auftragskiller für diesen Mord – und noch weitere – verantwortlich ist. Neben der Tatwaffe, einem professionellen Scharfschützengewehr, und anderen Ausrüstungsgegenständen, wurde ein als Lieferwagen getarntes Fluchtfahrzeug sichergestellt.
Der Ladenbesitzer Kiran Solanki beschreibt die Bluttat wie folgt: »Plötzlich hat es furchtbar geknallt. Ich hab durchs Schaufenster nach draußen geschaut, und da hab ich gesehen, wie der Kopf von Mister Wright explodiert ist wie eine reife Melone.«
Danke Kiran, das war bestimmt schockierend. Doch nicht nur Wright musste dran glauben, sondern auch sein sogenannter »Führungsstab«. Ernie McClure, Kenneth Hadley und John Dickinson starben ebenfalls per Kopfschuss. Es ging in Sekundenschnelle. Als die Polizei eintraf, konnte sie nur noch Beweismittel sichern.
Nun stellt sich die Frage: Wer hat die tödlichen Schüsse abgegeben? Wurde Black Eyed Bruce von seinen eigenen Auftragskillern umgebracht? Hat da jemand die Seiten gewechselt? Stehen wir gar vor einem Bandenkrieg? Was ist los auf den Straßen von Glasgow? Eines steht schon jetzt fest: Wir sind unseres Lebens nicht mehr sicher.
Nach den Nachrichten kam Musik. Rick stellte das Autoradio leiser. »Sieht schlimmer aus, als ich dachte.«
»Wir sind in einen Riesenhaufen Scheiße reingeschlittert! Meinst du das?« Winslow hämmerte gegen das Lenkrad. Er konnte nicht fassen, was da verbreitet wurde.
»Hat dir jemand gesagt, dass du ausflippen sollst? Nein? Dann lass es.«
»Leck mich!«
Rick drehte sich zu Hynch um. »War ein Fehler, den Frischling ins Team zu holen. Ruft nach seiner Mama, wenn’s nicht so läuft, wie er sich das vorstellt.«
»Wenn du meine Mutter kennen würdest …«, sagte Winslow. »Die willst du nicht rufen.«
Hynch schwieg.
Nach einem kurzen Aufenthalt in Port Askaig auf Islay waren sie schließlich auf Jura gelandet. Sie fuhren mit dem Rover von der Fährstation, die nur aus einem Slipway und einem Wartehäuschen bestand, Richtung Craighouse, einmal von West nach Ost. In der Ortschaft lebte ein Großteil der Inselbewohner, rund 150 Menschen. Hinzu kamen vereinzelte Gehöfte, die über das ganze Eiland verteilt waren. Laut Internet maß Jura knapp 45 Kilometer in der Länge und zwölf in der Breite. Seit sie Islay verlassen hatten, wurde der Handyempfang immer schlechter.
Die Straße war schmal, aber ganz gut in Schuss. Zur Rechten lag in ein paar Hundert Metern Entfernung das Meer, zur Linken stieg das eintönige Gelände sanft an.
Seit Stunden verfolgten sie die Berichterstattung im Radio. Zuerst waren es nur Kurzmeldungen gewesen. Nach und nach wurden immer mehr Einzelheiten bekannt gegeben. Inzwischen schlug die Stunde der sogenannten »Experten«, die mit allerlei Einschätzungen und Kommentaren die Stimmung anheizten.
Langsam begriffen sie, was Crawford gemeint hatte.
»Bruce ist tot«, sagte Winslow. »Und ausgerechnet uns wollen sie es anhängen?«
»Mir«, korrigierte Hynch vom Rücksitz aus. »Ihr seid wahrscheinlich außen vor.«
»Kannst du vergessen.« Rick drehte sich um. »Wir stecken da alle mit drin. Ein einziger Sündenbock wird denen nicht reichen.«
Hynch versuchte, die Tragweite der Ereignisse zu erfassen. »Wer sind ›die‹? Mallard? Die Polizei? Der Geheimdienst?«
»Bin ich im falschen Film?«, fragte Winslow mit seinem weichen Ayrshire-Akzent. »Wir sollten Mallard im Auftrag von Bruce ausschalten – und plötzlich trifft es Bruce selber? Das ist doch seltsam.«
Hynch nickte. »Es war eine Falle, richtig, aber sie war nur dazu gedacht, dass ich das verdammte Gewehr zurücklasse. Ich kann es mir dadurch erklären, dass Mallard den Spieß umgedreht hat. Er wusste, dass wir auf ihn angesetzt waren. Also ist er zum Gegenangriff übergegangen. Er hat unseren Anschlag nicht nur abgewehrt, sondern ihn dazu benutzt, seinen Konkurrenten auszuschalten. Bruce hat ihn sträflich unterschätzt.«
»Crawford ist völlig neben der Spur«, meinte Rick.
»Wahrscheinlich denkt der, dass es ihm als Nächstem an den Kragen geht und jetzt der gesamte Polizeiapparat gesäubert wird«, erwiderte Hynch. »Von dem ist keine Hilfe zu erwarten. Crawford sitzt in seinem miefigen Büro und klappert mit den Zähnen. Ihr habt es doch gehört, die Organisation wurde quasi enthauptet. McClure, Hadley und Dickinson hat es ebenfalls erwischt, das war so etwas wie ein schottischer Valentinstag. Es gibt niemanden mehr, von dem Crawford seine Befehle empfängt. Wir sind auf uns allein gestellt.«
»Und wenn wir den Laden übernähmen?«, schlug Rick vor. »Nur so ins Blaue gedacht …«
»Wie stellst du dir das vor? Selbst wenn ich solche Ambitionen hätte – dafür braucht man jede Menge Manpower, eine Gefolgschaft, Angestellte.«
»Die meisten von Bruce’ Leuten sind bestimmt noch da draußen und fragen sich, wie es weitergeht. Mallard wird ihnen wohl kaum Jobangebote machen. Ich könnte mal die Fühler ausstrecken, wer sich auf unsere Seite schlägt.«
»Nein, am besten ist es, wir halten eine Zeit lang die Füße still und warten, bis sich der Rauch verzogen hat. Was wissen wir denn? Zu wenig. Auf das Geplapper der Medien gebe ich nichts, und Crawford ist übernervös. Schauen wir, wie sich die Dinge entwickeln.« Hynch beobachtete, wie die Regentropfen an dem Wagenfenster abperlten und sich verflüchtigten. Die Sonne brach durch – oder das, was man in Schottland dafür halten konnte, eine schmutzige, schlierige Scheibe.
Ein bisschen tat es ihm leid um Brewster Wright. Sie waren beide vom alten Schlag gewesen, gelegentlich hatten sie sich in einem Pub in Motherwell getroffen, wo sich die Tapeten von den Wänden lösten und das Mobiliar so abgenutzt war wie die überwiegend grauhaarigen Gäste, zuletzt vor einer Woche. Bruce hatte wie immer gewirkt, einnehmend, einen Hauch großspurig, aber so down-to-earth, dass man ihn für den Besitzer der Kneipe halten konnte – was er inoffiziell auch war, die alte Allie hinter der Theke führte nur den Laden und passte mit ihren Söhnen auf, dass keine ungebetenen Gäste hereinkamen. Bruce hatte Hynch an einem Nischentisch den Auftrag dargelegt und ihm alles über Mallard erzählt, was seine Leute in Erfahrung gebracht hatten. Nichts davon war verfälscht oder übertrieben gewesen. Bruce hatte Hynch gegenüber mit offenen Karten gespielt wie sonst auch. Das hatte Rick, der zur Sicherheit eigene Nachforschungen anstellte, später bestätigt. Abgesehen davon musste man Hynch wenig über die Verhältnisse in Glasgow erzählen. Die kannte er genau. Er hatte dazu einen nicht unerheblichen Beitrag geleistet.
Bruce blickte auf eine Laufbahn zurück, die man skrupellos nennen mochte – doch nur, wenn man Kriminelle generell für schwer integrierbare Elemente hielt und den Politikern Glauben schenkte, all jenen Heuchlern, die der bürgerlichen Mitte weismachten, es gebe so etwas wie einen zivilen Kern der Gesellschaft. Bruce war der Albtraum der Anständigen, der Bogeyman der Aufsteiger, der Brunnenvergifter der Gutmenschen – und der Reinemachmann für all jene ehrbaren und weniger ehrbaren Gestalten, die in der Stadt wirklich das Sagen hatten: Er brachte den Müll nach unten.