Guten Tag,
hier schreibt Renate Bergmann. Wissen Se, ich bin ein bisschen im Zwiespalt. Ich kann mich nicht entscheiden, ob ich mich Ihnen nun groß vorstellen soll oder nicht.
Tu ich’s, denken womöglich manche, die mich schon kennen: «Och nee, jetzt erzählt die olle Bergmann wieder von ihren vier Männern und dass sie in Berlin-Spandau wohnt und ein Händi hat, die wird doch langsam tüdelig.» Tu ich’s nicht, sagen sich andere, die vielleicht noch nie was von mir gehört haben: «Was für eine unhöfliche Person. Schreibt einfach drauflos und stellt sich nicht mal vor.»
Wie man es macht, macht man es verkehrt. Wissen Se, ich habe nämlich schon ein paar Geschichten aus meinem Leben aufgeschrieben. Stellen Se sich nur vor, da war ich längst fix und fertig mit dem Schreiben, als das Fräulein vom Verlag ankam und meinte: «Nee, nee, Frau Bergmann, so geht das nicht. Da müssen Se noch mal dran, Sie müssen den Leuten vorab kurz erklären, wer Sie sind und worum es in dem Buch geht.»
Jetzt habe ich mir überlegt: Bevor die wieder das Meckern anfängt, mache ich es lieber gleich so, wie sie’s verlangt. Aber kurz und knapp, schließlich möchte ich niemanden langweilen. Falls der eine oder andere von Ihnen doch mehr wissen will, kann er das gerne in den beiden anderen Büchleins nachlesen, nich wahr?
Ich heiße Renate Bergmann, bin 82 Jahre alt und pensionierte Reichsbahnerin. Die Leute finden es oft ungewöhnlich, dass eine alte Dame wie ich ein Scheibentelefon mit Äppsen hat und beim Fäßbock schreibt. Dabei bin ich eine ganz gewöhnliche ältere Frau, die gern reist, Handarbeit mag, ab und an einen schönen Korn trinkt, mit ihren Freundinnen zur Wassergymnastik geht und mit Vorliebe volkstümliche Musik hört. Nur dass ich ins Interweb schreibe, was ich jeden Tag erlebe.
Und ich erlebe eine Menge, das glauben Se mir mal! Wissen Se, zu Hause rumsitzen und darauf warten, dass das Leben vorbeigeht und der Tod mich holt – das ist nicht meine Sache. Ich bin unterwegs, sooft es geht und wann immer meine schmale Rente und die betagten Knochen es zulassen. Besonders gern bin ich bei meinem Neffen Stefan und seiner Frau Ariane. So liebe junge Leute, die sich ganz reizend um ihre alte Tante kümmern. Egal, ob was mit dem Händi ist oder mit dem Fernseher – Stefan ist da. Auch Ariane kennt sich aus, sie studiert Information und weiß deshalb mit dem Computer prima Bescheid … und mit dem Mixer ebenfalls. Aber man muss sich rarmachen, sonst fällt man der Jugend auf die Nerven. Seit die beiden die kleine Lisbeth haben, die nun bald sechs Monate alt wird und schon sitzt und die ersten Zähnchen hat, halte ich mich noch mehr zurück. Junge Familien müssen unter sich sein und ihre eigenen Fehler und Erfahrungen machen, da dürfen wir Alten ihnen nicht reinpfuschen. Umso schöner ist es, wenn sie sich von selber melden.
Oft bin ich mit meiner Freundin Ilse – die ist mein Jahrgang, eine sehr damenhafte und bescheidene Person – und ihrem Mann Kurt unterwegs. Kurt ist 87 und noch gut in Schuss, nur seine Augen tun’s nicht mehr so richtig, aber was will man in dem Alter auch erwarten? Da muss man dankbar sein, wenn das Gehör noch gut ist. Das reicht zum Autofahren.
Apropos Autofahren: Meine Tochter Kirsten lebt ein paar Stunden Fahrt von Berlin entfernt in einem Dorf im Sauerland, und das ist auch gut so. Sie schlägt irgendwie aus der Art, erst recht seit sie Tante Hildas schöne Meißen-Terrine als Klangschale hernimmt, wenn sie mit den Katzen in ihrer «Praxis» meditiert.
Ihr Vater und meine anderen Gatten sind alle verstorben. Die Grabpflege hält einen ganz schön auf Trab, da hat man sein Tun, sag ich Ihnen. Außerdem muss ich ständig zum Arzt und zum Friseur, habe eine Katze zu versorgen, meinen Haushalt zu machen und drauf zu achten, dass das Haus nicht verkommt … Sie müssen wissen, ich wohne in einem Mietshaus mit sechs Parteien. Sehr gediegen, alles ruhige, umgängliche Leute, nur zwei Damen muss ich ab und an ein bisschen auf die Sprünge helfen, weil sie sonst den Flur verlottern lassen. Manja Berber und Doris Meiser, beide alleinerziehend mit jeweils einem Jamie-Dieter. Also einem Kind mit Doppelnamen, die ich mir nicht merken kann. Der Knilch von der Berber ist in der zweiten Klasse, bei dem ist die Vaterschaft bis heute ungeklärt. Der von der Meiser ist jetzt sechzehn. Sein Vater ist immerhin bekannt und zahlt auch. Der Jens-Jemie … herrje. Also der Bengel von der Meiser, der hat doch tatsächlich seine Lehrerin geschwängert, denken Se sich das mal. Was meinen Se, was da los war! Die Meiser – lassen Se die Frau ein loses Weibsbild sein, aber das hat se nich verdient! – saß bei mir in der Küche und hat geweint. Sie tat mir so leid, dass ich ihr ein paar Korn eingeschenkt habe. Danach ging es ihr gleich besser. Sie hat dann auf der Couch in der Wohnstube geschlafen, weil ich se nicht mehr die Treppe runter gekriegt habe. Die jungen Dinger vertragen ja alle nichts mehr … und schnarchen! Nee, Sie machen sich kein Bild.
Aber ich bin schon mitten im Schwatzen, dabei wollte ich doch nur kurz «Guten Tag» sagen und mich vorstellen. Entschuldigen Se bitte, ja?
Sie sehen, bei mir ist immer was los. Langeweile gibt es bei Renate Bergmann nicht. So rostet man wenigstens nicht ein, ich sage immer: Ich hab gar keine Zeit zum Altwerden!
Wenn wirklich mal ein bisschen Ruhe ist, dann treffe ich die Damen vom Witwenclub, gehe in den Seniorenverein, zum Rentnerwandern oder einfach mit meiner besten Freundin Gertrud, die wie ich 82 ist, spazieren. Gertruds Doberschnauzer Norbert braucht jeden Tag seinen Auslauf, so ein wildes, junges Tier muss bewegt werden. Wir tummeln uns gern im Park und füttern die Enten – Letzteres ohne Norbert, sonst frisst er sie nur wieder. Wenn man nicht guckt, dass die Viecher ab und an ein bisschen Brot kriegen, haben sie zu wenig auf den Rippen, außerdem werden sie nicht zahm, und man hat dann Probleme, sie im November zu fangen, wenn es ans Schlachten ge… Oh, ich glaube, das schreibe ich jetzt lieber nicht, oder? Sonst gibt’s bloß wieder Ärger, weil es bestimmt verboten ist.
Aber die gekauften Enten aus dem Frierer in der Kaufhalle kann man wirklich nicht essen, die stinken aus der Pfanne fürchterlich nach Chemie und sind noch dazu mickrig und zäh. Da versaut man sich ja das ganze Weihnachtsfest.
Sehen Se, Weihnachten ist ein schönes Stichwort. Die Feiertage waren bei Renate Bergmann immer schon turbulent und selten so harmonisch wie in anderen Familien: Mal hat sich mein Wilhelm den Zeh gebrochen, und wir haben den zweiten Feiertag im Gipsraum der Notaufnahme verbracht, mal hatte Gertrud einen Vierer im Lotto, und wir haben mit allen möglichen Bleistiften vergeblich versucht, auch noch ein Kreuz in das Kästchen mit der 24 zu kriegen, und Weihnachten 78 bin ich mit dem Zug im Schneegestöber stecken geblieben und habe einer Frau beim Entbinden geholfen. Aber das alles war gar nichts zu dem, was mir letztes Jahr passiert ist. Nee, das können Se sich nicht vorstellen! Es ging um die Queen und um Korn, so viel kann ich vorneweg vielleicht verraten.
Aber bevor Se noch vor Neugier aufs Klo müssen, lassen Se uns mal loslegen.
Ich wünsche Ihnen ganz viel Freude beim Lesen.
Ihre Renate Bergmann