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»Ich kann nicht glauben, dass du DAFÜR bezahlt wirst!« Mehr als einmal habe ich das gehört, in einer wahnsinnigen Auflegenacht, wenn alle Arme in der Luft waren, jedes noch upliftendere Lied brüllend begrüßt wurde und die Vibes vom deepsten waren. Da hatte wieder jemand eine Zeit lang fassungslos zugeschaut, und ich musste ihm beipflichten: Ja, ich kann es manchmal auch nicht glauben.

Zumindest jeder DJ wird es nachvollziehen können, wie ungeheuer blöd es sich an einem verregneten Donnerstagmittag, fünf Jahre später, anfühlt, eine bestimmte sensationelle Nacht zu beschreiben und die grandiose Rolle, die er selbst darin gespielt hat. Schreib das bitte mal auf, ohne im Boden zu versinken. Versuche dabei Worte wie wahnsinnig, upliftend, Vibes oder deep zu vermeiden. Denn das verstehen ohnehin nur die, die dabei waren.

Anders ist es mit den trüben Tagen. Man kann sie einfach differenzierter beschreiben, auch weil man sie wegstecken und verarbeiten musste. Die brillanten Stunden genießt man einfach, willenlos, und macht sie gleichzeitig zum Maß aller Dinge.

Die Idee, eine Art objektive Essenz oder ein Resümee aus gut zwanzig Jahren Platten-Auflegen zu ziehen, kam mir vor wie der Versuch, eine Seifenblase in eine Streichholzschachtel zu stecken: so unmöglich wie sinnlos, bei all den schillernden Facetten. Kaum greifbar, zu einem wesentlichen Teil so flüchtig wie ein Traum und so zerbrechlich wie ein laufender Mix.

 

Und überhaupt: Kann man nach dem 11. September 2001 noch über Discos schreiben? Dieses Datum fiel in die ersten Tage der

In der ZEIT las ich wenige Tage später, dass sogar das Restaurant Windows Of The World im 110. Stock des WTC einen DJ beschäftigt hatte. Nachrichten, in denen DJs irgendwie ins ernste Weltgeschehen verwickelt sind, fallen mir immer besonders auf. Meistens sind es Bombenattentate auf Discos, diese besonders zivilen und lebensbejahenden, für viele auch besonders dekadenten »amerikanischen« Stätten. Discos können fast so starke kulturelle Symbole sein wie Kirchen (einige legendäre New Yorker Sündentempel befanden sich in ehemaligen Gotteshäusern). Hier kann sich eine Lebenshaltung manifestieren, die sie für medienbewusste Extremisten sogar angriffswert macht.

Der DJ des WTC hatte dienstagmorgens, zum Zeitpunkt des Desasters, natürlich frei. Er erzählte, dass er dort oben jede Mittwochnacht Easy Listening gespielt hatte. Zunächst für die New Yorker Lounge-In-Crowd, zuletzt »vor allem für Brasilianer, die dazu tanzten, und für Deutsche, die ihnen dabei zusahen.« Viele seiner Kollegen aus der Gastronomie waren gerade bei der Arbeit, als die Türme kollabierten.

Für einen DJ bedeutet es vielleicht die Welt, für die Welt ist es nur ein DJ.

DJs sind wie das Tanzorchester auf der Titanic. Sie können nichts für den Untergang, sie können ihn auch nicht verhindern, sie spielen einfach nur die Musik dazu.

Manche tun das extrem laut, »damit man nicht hört, wie die Welt zusammenbricht«, um einen alten Punk-Slogan zu verwenden.

Andere tun so, als ob nicht das Geringste wäre, als ob alles in bester Ordnung ist.

 

In »Techno«, einem Buch, das Patrick Walder und Philipp Anz Mitte der 90er herausgaben, wird die Techno-Szene sehr treffend als »Konsumgemeinschaft in der Konsumgesellschaft« bezeichnet. DJ wäre dann ein Spaßberuf in der Spaßgesellschaft.

Obwohl DJs ganz klar auch ein Produkt des Kapitalismus sind, wenden sie hingebungsvoll Kulturtechniken an, die eigentlich kontraproduktiv sind: Hypnotrance, Total Ecstasy, Bodyrock, Deep Vogueing und ähnlicher Schabernack haben durch DJs erst ihren verdienten Platz in der Gesellschaft gefunden.

DJs verführen ihr Publikum oberflächlich zu gleichzeitig nutzlosem wie auch irgendwie konformem Verhalten, nämlich zum Tanzen. Das sagen selbst die Gastronomen.

In gewisser Weise ist das subversiv. Die Leute könnten ihre Kräfte schonen oder für etwas Sinnvolleres verwenden. Aber DJs wirken in einer Sphäre, die sich dem Effizienzdiktat der Gesellschaft zum Teil entzieht.

Kritiker schreien: »Eskapismus!« Nathan Jones sagt: »Muzik is life.«

Die meisten Menschen, die ich treffe, sind keine weltabgewandten Traumtänzer, sondern mit der Realität so sehr vertraut, dass das Wochenend-Dance-Ritual lebensnotwendig für den Seelenfrieden wird. Sie haben es sich verdient.

Und selbst wenn man schon lange zu alt für Tanz-Marathons ist – auflegen kann man, bis man taub ist. Manche machen sogar dann noch weiter, wie man hört.

Es gibt schon mehr als ein DJ-Buch und jede Menge Club-Literatur da draußen, zum Teil sehr gute. Meistens sind das Sach-,

Alles nicht meine Baustelle. Ich entschied mich für das Prinzip schlafwandlerisches Gleiten und die Hoffnung, dass am Ende alles vielleicht Sinn macht.

Die Textarbeit ähnelte dabei irgendwann immer mehr einer Albumproduktion. Erst langsam schälten sich aus dem Rohmaterial die einzelnen Tracks heraus. Bis so ein Track mal rund läuft, dreht und wendet man ihn immer wieder. Dabei werden ständig andere Elemente fokussiert: der Grundgroove, der Raum, bestimmte Schlüsselstellen, die Aussage etc. Gleichzeitig will man daraus keine Wissenschaft machen, sondern die ursprüngliche emotionale Erregung über einen langen Zeitraum erhalten. Zwischendurch geht man auflegen und erlebt dadurch noch ständig Neues.

Spex-Texte oder Dance-Remixe sind dagegen Schnellschüsse: Drei Tage Arbeit müssen genügen, eine gewisse punkige Ungeschliffenheit gehört dazu.

Und während man bei der Musikproduktion seine täglich wechselnden Befindlichkeiten munter in die Tracks mit einfließen lassen kann, stören die wechselnden Stimmungen beim Schreiben einfach nur.

Anders als Schreiben ist Musikmachen ein beschaulicher oder sogar genussvoller Prozess. Es gehört noch mehr Überwindung dazu, mit dem Musikmachen aufzuhören, als mit dem Schreiben anzufangen.

Und anders als beim Auflegen werden gute Übergänge nicht auf der Stelle brüllend bejubelt.

 

Für die Unterstützung, Geduld und Nervenstärke während der Arbeit an diesem Buch möchte ich zum Schluss ein paar Menschen danken:

Nuff Respect für alle meine Freunde und Bekannten aus tausend und einer Disconacht, besonders die, für die dieses Buch zu schmal geworden ist. Und Big up an alle DJs, mit denen ich aufgelegt habe, alle Leute, die mich gebucht haben, und alle Produzenten, deren Platten ich zu spielen geliebt habe. Keep on pumpin da shit.

Der Gang zog sich endlos in die Länge. Ich folgte dem hohen, schmalen Korridor, der um immer wieder neue Kurven führte, schummrig, voller Gerümpel, leeren Getränkekisten und irgendwelchem Putzmaterial. An meinen Schläfen spürte ich ein lauter werdendes Dröhnen, ein dumpfes Wummern. Eine weitere Ecke, dann bog ich in eine Sackgasse, an deren Ende ich vage eine Tür erkennen konnte. Der Lärm war nun fast unerträglich geworden, und unter der Türritze kroch etwas Weißliches hervor, und eine Art Wetterleuchten schien dahinter zu toben, wie ein Feuerwerk.

Ohne zu zögern öffnete ich die Tür. Dichter, leuchtender Nebel kam mir entgegen, der von einem Tosen erfüllt war. Ich zuckte ein wenig zurück, doch ich musste jetzt durch diese Türe gehen, meine Zeit war gekommen, jetzt gab es kein Zurück mehr …

 

Nein, ich war noch nicht hinüber. Ich ging bloß zur Arbeit. In eine Provinzdisco irgendwo im Hinterland zwischen Speyer, Karlsruhe und Schwetzingen.

Die Disco verfügte über einen cleveren Eingang zur DJ-Kabine, der es möglich machte, ohne jeden Kontakt zum Publikum den Wirkungskreis des DJs zu erreichen und auch wieder zu verlassen.

Als ich diesen betrat, sah ich schemenhaft eine massige Gestalt in den wabernden Schwaden. Es war offensichtlich der Resident DJ. Er brüllte mich an:

»Kannste gleich weitermachen?«

Und schon war die Erscheinung verschwunden. Ich stand allein in einer DJ-Box, in der ich nichts erkennen konnte, in einem

Ich stellte meine Kiste auf eine freie Fläche, ließ das Schloss aufschnappen und nahm einen kleinen Stoß Platten, den ich vorne an die Kiste lehnte. Dann blätterte ich diesen und den übrigen Inhalt des Koffers durch, wählte etwa ein Dutzend Platten aus und stellte sie schräg zwischen ihre Geschwister. Das alles ging ungeheuer schnell, routiniert. Ein Außenstehender hätte nie gemerkt, dass ich in diesem Augenblick die Stirn runzelte, zauderte und haderte, spekulierte und kalkulierte.

Schließlich zog ich eine Platte aus der Hülle und legte sie auf den freien, rechten Plattenspieler. Ich wühlte in meiner DJ-Tasche, fand den Kopfhörer und entwirrte ihn umständlich, während die letzte Platte meines Vorgängers, »Vortex« von Final Exposure, ihrem Ende entgegenschranzte.

Ich ertastete den Input am Mischpult und stöpselte den Kopfhörer ein. In voller Lautstärke schmetterte mir der Track nun in die linke Ohrmuschel. Schnell nahm ich den Kopfhörer ab, drückte die Cue Select-Taste und justierte den Phones Volume-Regler.

Dann setzte ich die Nadel auf, drehte die Platte rasch ein wenig nach vorne bis zum Anfang, drehte sie wieder zurück, wieder nach vorne, ein bißchen vor und zurück: eine typische DJ-Übersprungshandlung, als müsste ich mich immer wieder vergewissern, dass sie wirklich richtig in der Spur sitzt, wie ein Skispringer sich noch mal die Skibrille richtet, wenn er schon oben auf dem Absprungbalken sitzt.

Und dann loslässt.

Zu einem schier endlosen Flug …

 

»Vortex« hört abrupt auf, und in die Stille hinein fuhr ich nun mein Acappella-Intro. Das durchdringende Organ eines Predigers in Rage hallte durch die weiße Hölle:

»In the beginning there was Jack, and Jack had a groove, and from this groove came the groove of all grooves, and one day when Jack was viciously throwing down on his box, Jack boldly declared –«

Es war nicht direkt mein Intro, es war eher die Mutter aller Intros: Fingers Inc. »Can You Feel It«, mit dem kompletten Sermon vorneweg. Ein wasserdichter Klassiker der Housemusic. 1987 hatte der Produzent Larry Heard mit diesem Track einen ersten Ausblick auf die zukünftigen inhaltlichen Möglichkeiten und Dimensionen des noch jungen, primitiven Genres gegeben. Bis dahin waren Houseplatten nur einfach DJ-Werkzeuge gewesen, mit Maschinenrhythmus, einer Bassline und ein paar Samples. Heard aber hatte Housemusic komponiert, einen Song mit einer Botschaft und einer ätherischen Soundästhetik, die Schule machen sollte.

»– Let there be house! And house music was born! I am, you see, I am the creator, and this is my house, and in my house, there is only house music –«

In diesem Moment ließ ich auf dem anderen Teller den Beat von DJ Pierres »What Is House Muzik?« von der Leine. Trocken und geradeaus paukte die Bassdrum los, während der Gottesmann immer mehr in Fahrt geriet.

Jack is the one who taught you how to work your body!

Jack is the one who gave you the key to the wigglin’ world!

Jack is the one who brought nations and nations of jackers together in one house! You may be black, you may be white, you may be jew or gentile, it don’t make a difference, in our house.

And this!

Is fresh!«

Bevor nun der eigentliche Mr. Fingers-Song einsetzte, zog ich den Fader herunter, nahm schnell die Nadel von der Platte und schob sie zurück in ihr Futter. In einer einzigen Bewegung griff ich den nächsten Track aus der Kiste: »Nervous Acid« von Bobby Konders auf NuGroove, platzierte ihn auf der Slipmat und nahm mir viel Zeit, um ihn auf die exakte Geschwindigkeit zu bringen. Langes, smoothes Blenden war meine Leidenschaft. Es erzeugte fragile, neue Musik, die nur in diesem Moment existierte und im nächsten schon wieder verdunstet war.

»What is … house music? A unique form. A unique form. Of music.«

Als DJ Pierres Meisterwerk seinen Höhepunkt überschritten hatte, fadete ich langsam den charakteristischen Helikoptersound von Konders in die sparsamer werdenden Wild-Pitch-Beats.

Zumindest der Klang der Monitore war in diesem Laden glasklar. Zwar konnte ich immer noch nicht das Geringste erkennen, aber ich vernahm jetzt eine anschwellende Welle menschlichen Jubels, der auf keine der beiden immer noch synchron ihre Kreise

Unterhalb der Plattenspieler war mit Gaffertape ein kleines, schwarzes Kästchen fixiert. Es sah aus wie die Steuerungseinheit der Nebelmaschine. Ich drehte den einzigen Knopf nach ganz links. Nach wenigen Minuten begann der Dunst sich aufzulösen. Überall tanzten wunderschöne Pfälzer Club Kids.

Ich holte die Platte vom Teller, wedelte mir damit Luft zu und griff zu Dave Clarkes »Red 2 EP«. Heute Nacht. War eine gute Nacht. Zum Auflegen.

»Ich sah damals, wie DJs die Nadel von der Platte nahmen, aber die Musik hörte nicht auf.«

DJ PIERRE

1

Den ersten intimen Kontakt zu Schallplatten hatte ich mit der Sammlung meiner Eltern. Sie bestand hauptsächlich aus deutschen Singles der 50er Jahre. Die Platten steckten nicht in normalen Hüllen, sondern waren sorgsam in spezielle Bücher einsortiert. Es waren nicht viele, insgesamt vielleicht hundert.

Sie hatten jahrelang in einer Schublade gelegen, bevor ich sie –damals war ich ungefähr acht Jahre alt – entdeckte. Auf dem Wohnzimmerfußboden neben der HiFi-Truhe hörte ich andächtig meine Lieblingslieder: »Wir bauen die Straße nach Kingston Town« und »Der Letzte Mohikaner«.

Meine ältere Schwester beobachtete ich dabei, wie sie vor dem Spiegel zu den Hits der Byrds, der Beatles und der Walker Brothers tanzte. Sie übte das Party Dancing der späten 60er: weiche, fließende Hippiebewegungen. Dann zogen wir an den Bodensee, und meine Schwester blieb in Mannheim. Zum Abschied schenkte sie mir ihre Tape-Sammlung.

Da ich kein Geld für Schallplatten hatte, begann ich, Musik auf Kassetten zu horten. Zunächst machte ich Mikrofonaufnahmen vom Fernseher: »Disco 74« und »Musikladen« waren die führenden Sendungen. Besonders die hysterischen Glamrock-Gruppen wie T. Rex oder Hello beeindruckten mich. Ich verliebte mich in Ramona, ein Mädchen aus der 6. Klasse, weil sie aussah wie der Sänger von The Sweet.

Dann wurde das Küchenradio zum wichtigsten Musiklieferanten. Meinen ersten eigenen Kassettenrekorder hatte ich daran

Popmusik wurde zu meiner ersten großen Liebe, zu meiner tröstenden Heiligen in der Öde der süddeutschen Provinz. Und nicht zuletzt war sie ein Terrain, das ich im Alleingang besetzen konnte. Nur in der Hamburger Musikzeitung Sounds und der gleichnamigen Schweizer Radiosendung auf DRS 3 fand ich ein paar ernsthafte Verbündete. Die Zeitung trug gerade öffentlich den Hegemonial-Kampf zwischen alternden Hippies und jungen Punks aus. Die Sendung machte diesen Konflikt dann musikalisch nachvollziehbar.

Bis zur Ankunft von Punk war Hippie das gängigste Modell eines dissidenten Jugendlichen. Erst recht, wenn der sich über Musik definierte. Man wuchs gemeinsam mit den Haaren in die Haltung hinein, während man ehrfürchtig den Weisheiten der älteren Langhaarigen aus der Oberstufe lauschte. Die bis dahin harmlose Schülerzeitung kriegte einen Riesenärger, als sie eine »Grußadresse« der »Roten Garden« abdruckte.

Bei einem »Umsonst & Draußen«-Festival am Bodenseestrand wurde legaler Pädophilen-Sex von der Nürnberger Indianerkommune propagiert, die Legalisierung von Cannabis durch Rollen eines meterlangen, kollektiven Joints gefordert und allgemein ein mittelalterliches Lagerleben gepflegt. Dazwischen hockte einsam ein früher Irokesenpunk und verkaufte Badges. Ich holte mir einen mit der Aufschrift »Support your local anarchist«, den meine Mutter wieder diskret verschwinden ließ.

Für die wirklich echten Punks mit Lederjacken, Sicherheitsnadeln, Irokesenschnitt, Bondagehose und Arschlappen waren ich und meine Freunde gymnasiale »Intellektuellen«-Punks oder New Waver mit Brillen, »Fehlfarben«-Badges, Secondhand-Sakkos, aber immerhin Bundeswehrhosen und Springerstiefeln.

 

In der Provinz aufzuwachsen bedeutete: Es gibt kein Entkommen, vor niemandem. Falls man kein total kaputter Typ war und sich in die absolute Isolation zurückzog, musste sich dort jeder Mensch ständig mit fast allen anderen auseinandersetzen. Der bevorzugte Austragungsort dafür war das lokale Jugendzentrum.

Dort trafen sich am Anfang der 80er Jahre: kampfbereite Mofagangs mit Kutten, sanfte Anti-Atomkraft-Hippies, italienische Discoboys mit ondulierten Locken, pubertäre Film-, Kunst- und Theater-Nerds aller Schattierungen. Dazu Typen, die sich für Shakin Stevens oder Sid Vicious hielten, mehrere Gitarristen mit Matten und Alvin-Lee-Komplex, unser kleiner, gemischter Punktrupp und so weiter. Wir gründeten diverse Bands und Fanzines, fuhren zu Anti-Rekrutenvereidigungs-Demos und Anti-Atomkraft-Kirchenbesetzungen, gingen zähneknirschend zur Schule und fanden zwischen alldem immer Zeit zum Tanzen.

In der gut ausgestatteten Disco unseres keineswegs autonomen, sondern brav städtischen, schwäbischen Jugendzentrums

Sie konnten uns nicht genau einschätzen. Da war vom neunmalklugen Junglinken bis zum absturzgefährdeten Asi alles mögliche Gesocks dabei. Heute weiß man, dass das oft nur ein kleiner Schritt sein kann. Ich spielte Buzzcocks, Hansaplast oder Dead Kennedys. Und natürlich Sex Pistols. Dazu tanzte der ganze Haufen Pogo, als ginge es ums Überleben.

An einem Abend stellte sich ein Italiener zu mir in die DJ-Box und wartete auf seinen Auftritt. Sie nannten ihn Mukka. Er war ein Mofagangmember. Er war gefährlich: schmaler Oberlippenbart, mediterraner Minipli-Afro und Kutte. Aber er respektierte mich. Ich war für ihn okay, denn ich handelte nicht mit Ärger, sondern mit Musik.

Das hat mich nachhaltig beeindruckt – als DJ schien ich unberührbar. Schießen Sie nicht auf den DJ. Obwohl ich mein Punk-Programm noch längst nicht als DJ-Set begriff.

Als erste Platte legte er »The Adventures Of Grandmaster Flash On The Wheels Of Steel« auf. Ich war überwältigt. Zuvor hatte ich über diese erste echte HipHop-Platte – sie war nur aus Fragmenten anderer Platten zusammengemixt und gescratcht –schon in Sounds gelesen. Eine Woche später tanzten wir schon dazu. Dann spielte Mukka direkt »Rappers Delight« von Sugarhill Gang, das uns bis dahin höchstens ein bisschen witzig vorgekommen war.

Mukka war der erste richtige DJ für mich. Er spielte funky Dance-Hits und trug ein Goldkettchen. Er war ein Womanizer und nicht unbedingt der Hellste. Aber er strotzte vor Selbstbewusstsein und hatte ein großes Disco-Herz. Er erinnerte mich an einen der Freunde von John Travolta in »Saturday Night

Punk mutierte langsam, immer analog zur Sounds-Berichterstattung, zu einer funkigen, funkelnden Art Dance-Pop. Und als sogar The Clash anfingen, groovige Club-Platten zu machen, kehrte das Disco-Prinzip nach jahrelanger subkultureller Ächtung in brandneuen 80er-Klamotten wieder dorthin zurück. Anstatt mir die Haare selbst zu schneiden und mit Seife hochzustellen, ging ich in Ravensburg zu einem Szene-Friseur, ließ mir die Haare im Nacken ausrasieren und vorne bis zum Kinn wachsen. Es ging jetzt nicht mehr darum, nur richtig auszusehen, sondern dabei auch noch gut.

Auch im tiefsten Süddeutschland öffneten nun erste Clubs, die nicht mehr nach 70er-Disco aussahen. Die Traditionskneipe Grüne Burg in Pfullendorf nannte sich um in Breitengrad. Der DJ dort spielte ausschließlich die etwas andere Discomusik, und nahezu erwachsene Szeneleute trafen sich hier am Wochenende zum Tanzen. Manche reisten bis aus Ulm oder gar Stuttgart an, um sich zu Rap, New Wave und den übrigen 80er-Jahre-Dance-sounds schick und zickig zu bewegen.

Doch die nächste echte Großstadt blieb Zürich, wo die gerade äußerst hippe Hamburger Band Palais Schaumburg auftrat. Coati Mundi von Kid Creole & The Coconuts hatte ihre letzte Platte produziert und die Gesangsdiva Grace Jones liiiiebte sie und nannte sie bewundernd schleeecht. Das hatte sie Diedrich Diederichsen in Sounds erzählt. Was die Show betrifft, kann ich mich nur noch an die Hemden in 50er-Jahre-Op-Art-Mustern erinnern. Im Vorprogramm allerdings spielte der Rapper Kurtis Blow. Zum ersten Mal sah ich eine reine New Yorker HipHop-Show, nicht nur mit genügend »Say Hoo!« für den Rest des Lebens,

Bis etwa ’81 oder ’82 redete man, zumindest in der oberschwäbischen Provinz, noch nicht wirklich von DJs. Man sagte: Machsch du heu dabn Sauund? Allmählich wurde daraus: Legsch du heu dabn dauuf ? Oder auch: Machsch du heu dabn Diedschie? Es war nicht viel mehr als ein Kneipenjob für Leute, die zum Kellnern zu ungeschickt oder zu unseriös waren.

Mein Einstieg ins Auflegen lässt sich, wie wahrscheinlich bei jedem anderen DJ auch, nur vage bestimmen. Gilt die erste Schuldisco? Oder die Party in der Kellerbar des reichen Schulkollegen, dessen Vater Anwalt war? Im Zweifelsfall ist es der Abend, an dem man zum ersten Mal dafür bezahlt wurde.

Es war ein Samstag im Frühling 1983, im damals gerade neu eröffneten Club Douala in Ravensburg. Ich bekam dafür 200 Mark, was eine Menge Geld war, die ich umgehend in Schallplatten investierte. Das Douala war ein smart designter, cocktailesker Club, passend zur Popmusik der Zeit. Ich spielte alles, was amtlich war: Scritti Politti, Indeep, Malcolm McLaren, PigBag, Kurtis Blow, Run DMC, Die Krupps, Konk, Dexys Midnight Runners, Defunkt, Talking Heads, Kid Creole, Liaisons Dangereuses, Orange Juice, T-Ski Valley, The Clash (die Disco-Phase), Jocelyn Brown, TomTom Club, Heaven 17, ABC …

Dazu benutzte ich einen Plattenspieler und ein Tapedeck. Meine gesamte Plattensammlung umfasste vielleicht hundert Scheiben und musste mit einem großen Stapel Kassetten unterstützt werden. Jedes Lied war exakt gespult. Vom sorgsamen Zwirbeln eines endlos geflochtenen Bands aus präzise im Tempo angeglichenen Tracks konnte keine Rede sein. Und es wurde schließlich auch von niemandem erwartet. Beatmixen war in den frühen 80ern nicht nur am Bodensee etwas Unerhörtes.

Jede Nacht gingen wir aus, etwa ins P1 oder in einen spektakulären Laden, der PowWow hieß und an den sich heute in München vermutlich kein Mensch mehr erinnert. Im PowWow lernte ich eine neue, intensivere Art von Clubsound kennen samt der neuesten Hi-Tech-Lichteffekte. Die Anlage war druckvoll und bassig, darauf hatte am Bodensee bisher nie jemand Wert gelegt. Aus den Boxen hämmerte Non Stop High Energy, die ganze Zeit. Stunde um Stunde knetete es den Körper. Keine Songs, nur dieser primitive Stakkato-Beat. Die Männer tanzten schweißüberströmt und selbstvergessen, mit nackten Oberkörpern und wucherndem Brusthaar. Ich begegnete erstmals den Genossen mit Südstaatenkäppis, Schnauzbärten, Holzfällerhemden, Jeans und roten Halstüchern in der Arschtasche, deren amerikanische Brüder gut zehn Jahre vorher in der Entwicklung der Discokultur eine dynamische Rolle gespielt hatten.

Am Anfang war die Idee von Disco als Musik und Ort besonders eng mit den Fortschritten der amerikanischen Bürgerrechtsbewegungen in den späten 60er Jahren verknüpft. Die Jugend des Establishments politisierte und psychedelisierte gegen Gesellschafts-Muff und Vietnam-Krieg. In der New Yorker Christopher Street erhoben sich die Drag Queens gegen die Polizei. Schwarze Popkultur wurde zu einer Speerspitze der Gleichberechtigung. Die ersten New Yorker Discos waren Orte, in denen all diese neuen Freiheiten selbstbewusst gefeiert werden konnten.

Erst der riesige Erfolg von »Saturday Night Fever« Ende der 70er hatte Discomusik und das Discoprinzip in Deutschland bekannt

Doch gleichzeitig ging sie mir total zu Herzen, und ohne es faktisch zu wissen, begann ich zu ahnen, dass in Wahrheit mehr hinter Disco steckte. Disco war tiefer. Im PowWow zu tanzen war nicht nur ein heiter-geselliger Ausklang der Arbeitswoche. Das Leben zeigte sich den Männern hier für ein paar Stunden wie in einer wahr gewordenen Utopie von einer idealen Seite.