Wolfgang Hilbig
Abriss der Kritik
Frankfurter Poetikvorlesungen
FISCHER E-Books
Covergestaltung: Buchholz / Hinsch / Hensinger
Coverabbildung: Horst Hussel
Erschienen bei FISCHER E-Books
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2014
Die Originalausgabe erschien 1995 im S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main
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ISBN 978-3-10-403249-8
Solange ich mich mit dem Schreiben beschäftige, kenne ich einen bestimmten Widerstand gegen den Beginn des Schreibens. – Ich muß mich genauer ausdrücken: ich habe diesen Widerstand kennengelernt, als ich begann, mir Gedanken über das Schreiben zu machen. Es ist da ein Zögern vor dem ersten Satz, den ich nicht mehr in aller Unschuld hinschreiben kann: es gehört also eine schon mehr oder weniger andauernde Schreibpraxis zur Erfahrung dieses Zauderns. Ohne Zweifel ist die Hemmung, die ich meine, ein Ergebnis von Kritik. Jene Art von Kritik hat wer weiß wie vielen Anfangssätzen einen kategorischen Kommentar folgen lassen: Unmöglich! Und so ist eine ganze Reihe von Sätzen verhindert worden, besonders viele Textanfänge, und damit wahrscheinlich auch eine Reihe von Texten. Vielleicht zum Glück, könnte man sagen, wenn auch das Wort »unmöglich« in den meisten Fällen eine übertriebene Reaktion war.
Ich habe den angedeuteten Widerstand schon zu Zeiten verspürt, in denen ich noch nicht in der Lage war, etwas zu veröffentlichen. Er ist also ein Phänomen, das vorerst nichts zu tun hat mit Literaturkritik, mit jener Instanz, die sich der kulturellen Ressorts der Massenmedien bedient, welche man im Fall der Presse in der Regel das »Feuilleton« nennt. Aus dem Lexikon können wir erfahren, daß die Literaturkritik, oft in unzulässiger Vereinfachung die »Kritik« genannt, ihren bedeutendsten Aufschwung – mit so hervorragenden Vertretern wie Lessing und den Brüdern Schlegel in Deutschland, zum Beispiel – mit der Entwicklung des Zeitungs- und Zeitschriftenwesens am Ende des 18. Jahrhunderts erfuhr: wenn wir so wollen, können wir die Literaturkritik also eine Begleiterscheinung der sich etablierenden Bewußtseinsindustrie nennen.
»Bewußtseinsindustrie«, dies ist ein erschreckendes Wort, das durch die Zusammensetzung seiner disparaten Elemente schockierend wirkt. Es erinnert an alptraumartige Zukunftsvisionen, es legt den Gedanken an fabrikmäßig, also auf synthetischem Wege vorgefertigtes Bewußtsein nahe, es scheint für uns mit ideologischer Diktatur zusammenzuhängen, doch eine solche Vorstellung, wenn sie auch nicht vollkommen irreal ist, führt uns auf Abwege. Wenn wir das verbale Monstrum in seine Bestandteile zerlegen, stoßen wir auf zwei Begriffe, die wir uns vorderhand erklären können. Was Bewußtsein ist, glauben wir zu wissen, es findet sich in unseren Köpfen, und dort sieht es ziemlich autonom aus, jedenfalls, wenn man im weitgehend ideologiefreien Raum der Marktwirtschaft aufgewachsen ist. Wir haben die Wahl zwischen verschiedenen Möglichkeiten, dies scheint einer der Grundsätze unseres Bewußtseins zu sein.
Industrie ist dagegen etwas völlig anderes, sie ist eine Institution, die Waren produziert für den Markt, auf dem wir die Wahl haben, die also das herstellt, wofür es einen Bedarf gibt, auf welche Weise dieser Bedarf auch immer zustande gekommen ist. Der Begriff »Bewußtseinsindustrie« scheint vorauszusetzen, daß es einen Bedarf für Bewußtsein gibt und daß letzteres zur Deckung dieses Bedarfs zur Verfügung gestellt werden kann … und es gibt diesen Bedarf tatsächlich; wenn es ihn nicht gäbe, wäre Kritik zum Beispiel ein vollkommen fruchtloses Unterfangen. Medienkonzerne sind zweifellos Industrieunternehmen, und wahrscheinlich sind sie weniger krisenanfällig als etwa die Autoindustrie; man könnte vermuten, das liegt in der Natur ihrer Produkte. – Die Bewußtseinsindustrie also schafft sich einen Markt für Bewußtsein, wo sie dasselbe zum Verkauf anbietet, und wo wir die Wahl haben. Um wirklich die Wahl zu haben aber, benötigen wir Kritik: wir brauchen ein kritisches Bewußtsein, und die Marktstrategen der konkurrierenden Medienanbieter wissen um diesen Bedarf, und genau an diesem Punkt wird die Sache kompliziert. Hier stellt sich sofort die Frage, ob es den Medienkonzernen, wenn sie sich von kritischem Bewußtsein leiten lassen, in erster Linie darum geht, ihre Konkurrenten auszubooten, oder ob sie dabei die freie Meinungsbildung ihrer Kundschaft im Auge haben. Diese Frage können wir in den meisten Fällen nicht mehr entscheiden. Aus Gründen simpelster Logik scheint mir hier die eher pessimistische Schlußfolgerung angebracht, daß auch den Medienherstellern das Hemd näher ist als der Rock, das heißt, das demokratische Bewußtsein der Bürger rangiert bei ihnen erst an zweiter Stelle. Wenn die Bewußtseinsindustrie also behauptet, kritisches Bewußtsein zu verkaufen – und dies wird behauptet: Apostrophierungen wie »überparteilich«, »unabhängig«, auf die kaum ein Zeitungslayout verzichtet, weisen deutlich darauf hin –, dann mag sie das zwar wirklich tun, doch sie kann es nur bis zu einer bestimmten Grenze. Diese Grenze liegt ungefähr dort, wo es um die Konkurrenzfähigkeit des jeweiligen Mediums selber geht. In einem Klartext, der keiner mehr sein kann, heißt das: es geht auf dem Medienmarkt nicht in erster Linie um die scheinbar richtige Meinung, sondern um die möglichst stringente Behauptung der scheinbar richtigen Meinung. Und tatsächlich, es geht auf diesem sogenannten freien Markt am Ende nur noch darum, die Behauptung der einen richtigen Meinung durch die möglichst virtuose Behauptung einer anderen richtigen Meinung auszutricksen. Auf diesem Umfeld hat sich die Literaturkritik entwickelt, und es gibt keinen Grund für die Annahme, daß sie von den eben angedeuteten Mechanismen verschont geblieben sei.
Für das Objekt der Literaturkritik, für die Literatur, war jene Grenze, von der ich gesprochen habe, niemals im eigentlichen Sinn akzeptabel. Besonders in der Moderne hat die Literatur ihre eigene Existenz immer wieder in Frage gestellt, sie hat sich selbst andauernd Zerreißproben unterzogen, wie sie in vergleichbarer Form nur noch in den anderen beiden Hauptkünsten, in der Musik und in der bildenden Kunst, zu finden gewesen sind. Wenn es also in der Literatur ein Scheitern gibt, oder Momente des Scheiterns, so hat sie diese sich selbst zuzuschreiben.
Die Literatur hat ihre Zerstörungen selber hervorgerufen, und man kann der Literaturkritik des Feuilletons nicht vorwerfen, daß sie daran mitgewirkt habe oder gar, wie man es manchmal zu hören bekommt, daß sie dieses Scheitern auf irgendeiner Ebene inszeniert habe. Ihre Teilnahme beschränkte sich auf Reaktionen, auf Interpretationen und Kommentare. Auch wenn man ihr unterstellen könnte, daß sie zu einem gewissen Klima für ein Scheitern beitragen kann; man würde ihren Einfluß auf die primäre Literatur erheblich überschätzen, traute man ihr mehr zu. Verantwortlich für ein Scheitern ist die Literatur letztlich immer selbst. Das Feuilleton ist ein sehr junges Medium, die Spanne seines Daseins beträgt nur einen Bruchteil der Zeit, in der wir von der Existenz der Literatur wissen. Ich habe keine Ahnung, wann das Feuilleton damit begonnen hat, vom Ende der Literatur zu reden … das Feuilleton hat offenbar ein Generationsproblem mit der Literatur: in immer kürzer werdenden Abständen tauchen in seinen Spalten Hiobsbotschaften auf, es geht darin um Möglichkeit oder Unmöglichkeit der Literatur an sich, und dabei geht es dem Feuilleton immer weniger um die der Literatur innewohnenden Möglichkeiten. Wenn der Tod der Literatur auch oft genug verkündet worden ist: es wäre verfehlt anzunehmen, man warte beim Feuilleton auf diesen Exitus. Das wäre unvernünftig, denn die Kulturredaktionen müßten sich nach dem Ende der Literatur, bzw. nach dem der Kunst, ganz auf Kochrezepte und den Inhalt von Modeboutiquen beschränken, man müßte sich dort selbst bei der Zusammenstellung von Kreuzworträtseln etwas Neues einfallen lassen. Und wir hätten damit ganz nebenbei auch die immer wiederkehrende Frage nach dem Wozu der Literatur beantwortet: ihre Fortexistenz trägt zum Weiterverkauf des Feuilletons bei.
Vor dem nächsten Satz zögere ich: mir war der Gedanke gekommen, daß wir mit dem Wort »feuilletonistisch« selbst schon eine Standardformel der Kritik vor uns haben, einer ganz speziellen Kritik, und ich frage mich, ob der Begriff nicht zum Vokabular jener Kampagnen gegen den sogenannten bürgerlichen Intellektualismus gehörte, wie sie in den Diktaturen, an die wir uns erinnern, jeweils der Abschaffung der Pressefreiheit vorausgegangen sind. Auf alle Fälle ist der Umgang mit dem Begriff »feuilletonistisch« nicht ganz ungefährlich.
Ist er als Ausdruck der Kritik überhaupt noch zu gebrauchen, und mit welcher Einschränkung? Ausgerechnet zu einer Zeit, in der es in Deutschland mit der Meinungs- und Pressefreiheit für zwölf Jahre zu Ende gehen sollte, und in einem Teil Deutschlands, freilich unter anderen Vorzeichen, noch für länger, ein Jahr vor der Machtübernahme Hitlers also, 1932, schrieb Hermann Hesse die Einleitung zu seinem Roman Das Glasperlenspiel, in der er sich mit einer Epoche auseinandersetzt, die »Das feuilletonistische Zeitalter« genannt wird. Es ist, so lesen wir, und so klingt das heute außerordentlich postmodern, die Darstellung einer vergangenen Geschichtsperiode, in welcher »der Geist eine unerhörte und ihm selbst nicht mehr erträgliche Freiheit genoß«. – Ihm selbst nicht mehr erträglich, darauf liegt meiner Ansicht nach der Akzent … auch als naive Leser bemerken wir sehr schnell, daß hier unsere eigene Zeit gemeint ist, nämlich das 19. und 20. Jahrhundert … oder müssen wir dies schon eine Zeit nennen, der wir nur noch lose anhängen?
Es sei ein Zeitalter gewesen, das »dem Geist innerhalb der Ökonomie des Lebens und Staates nicht die ihm gemäße Stellung und Funktion anzuweisen gewußt« habe. Hermann Hesse schreibt warnend: »Offen gestanden kennen wir jene Epoche nur sehr schlecht, obwohl sie der Boden ist, aus dem fast alles gewachsen ist, was heute die Merkmale unseres geistigen Lebens ausmacht.«
Ich glaube, daß wir bis heute nicht wissen, was die dem »Geist gemäße Stellung und Funktion innerhalb der Ökonomie des Lebens« ist, ich glaube sogar, wir wissen es weniger als je zuvor. Die Moderne hat diese Frage nicht beantwortet, sie hat sie eher verdrängt und, mehr noch, vor sich hergeschoben. Hermann Hesses Entwurf eines elitären Kastalien, sein Roman Das Glasperlenspiel, ist ein utopistisches Denkmodell, das, wir ahnen es, keine Antwort auf die Frage nach der Stellung des Künstlers in unserer Zeit sein kann. Und noch weniger auf die Frage nach seiner Funktion: in Kastalien verzichtet man weitgehend auf einen Einfluß in Richtung der Gesellschaft. Hesses Buch wurde allerdings in einer Zeit geschrieben, die denkbar ungeeignet war zur Beantwortung solcher Fragen; es erschien 1943 in Zürich, also erneut – schon die »Einleitung« war an einer solchen Marke konzipiert worden – kurz vor einem geschichtlichen Wendepunkt: eigentlich war es kein Wendepunkt, es war eher ein Höhepunkt der europäischen Weltgeschichte, im Jahr 1945 schien sich die Frage nach dem Geist erledigt zu haben. Für lange Zeit wurde es still um das Glasperlenspiel, es gab kein freiwilliges Exil für eine geistige Elite.
In einem Teil Europas wurde das Jahr 1945 tatsächlich als ein Höhepunkt empfunden, es war das Jahr der »Zerschlagung des Hitler-Faschismus«: die Funktionalisierungsversuche, die der Kunst in den aus der kommunistischen Utopie gespeisten Staatssystemen zugedacht wurden, stellten natürlich ebensowenig eine Antwort auf die Frage nach ihrem Sinn in der Gesellschaft dar. Die Folge davon war eher noch, daß man in Ideologieverdacht geriet, wenn man die Frage nach dem Sinn der Kunst überhaupt anzuschneiden wagte. Inzwischen sind wir, so scheint es, bei einer Situation, in der man sie gar nicht mehr zu stellen braucht: Kunst und Literatur haben sich die Frage nach ihrem Sinn lange genug verbeten, darunter ist ihr Einfluß zu einer Randerscheinung verfallen.
Wenn man die neueste Literaturkritik liest, könnte man allerdings zu ganz anderen Schlüssen gelangen. Der Wortschwall, mit dem sie uns in den Ohren liegt, kann nicht anders genannt werden als das Ergebnis einer totalen Verdrängung. Es ist logisch: würde die Kritik den Verdacht zulassen, die Literatur sei ein marginales Vorkommnis, ein Sozialfall abseits aller wirklichen Interessen, müßte sie zugeben, daß sie selbst noch weniger ist, nämlich das sekundäre Anhängsel dieser Randerscheinung. Dies würde wahrscheinlich ihr Einkommensverhältnis in Frage stellen. So sieht sie sich gezwungen, einen Popanz zu feiern, in fliegender Hast reißt sie einen Star nach dem anderen an ihre Brust, um ihn in kürzester Zeit wieder auseinanderzunehmen und den Reißwölfen zum Fraß vorzuwerfen. Das meiste ihres vollkommen belanglosen und realitätsfremden Gequassels kann man nur noch gespenstisch nennen. Ihr sogenannter Diskurs ist die Simulation par excellence: es ist längst klar, daß es nur noch darum geht, abweichende Varianten einer komplexen Profilneurose gegeneinander auszuspielen, wobei alle so tun, als merkten sie nichts. Hans Magnus Enzensberger hat in einem Aufsatz mit dem freilich viel zu behutsamen Titel Rezensenten-Dämmerung den Sachverhalt kurz und bündig ausgedrückt: »Wer fortwährend zwischen in und out in der Drehtür zappelt, von dem wird man kaum erwarten dürfen, daß er die nötige Geduld aufbringt, einen normalen deutschen Satz zu bilden.« Das wurde 1986 geschrieben, seitdem sind wir auf diesem Gebiet wieder ein gutes Stück vorangekommen.
In ihren Anfängen hatte die Literaturkritik ihren Gegenstand zu zentraler Größe aufgebaut … oder muß man schon sagen, sie hatte ihn aufgebläht … im Schatten dieser Größe war sie selbst groß, sie war ein wesentlicher Bestandteil der Aufklärung geworden. Die Aufklärung ist seit einigen Jahren unter schweren Beschuß geraten, es scheint so, als wollten wir nichts mehr davon wissen, daß wir ihr die bedeutendsten Leistungen für die geistige Entwicklung Europas zu verdanken haben, unter anderem den demokratischen Gesellschaftsvertrag, der uns die Kritik an dieser kulturellen Epoche überhaupt erst ermöglicht. In dieser Epoche wurde die Literatur förmlich ausgestopft mit allem, was man der Erziehung ihrer Leser zudachte: mit Ansichten und Analysen von Religion, Politik, Moral und Fortschritt, mit Nationalismen und Ideologien; und die Literatur nahm sich dieser Aufgaben dankbar an, sie übernahm die führende Rolle, und wenn sich die Philosophie der Aufklärung auf die Wirklichkeit berief, dann berief sie sich auf die Literatur. Es schmeichelte der Literatur, sich mit den fortschrittlichen Kräften der Zeit auf gemeinsamen Höhenflügen zu wissen, aber dies konnte nicht auf Dauer gutgehen. Als der Fortschritt begann, seine schnelleren Medien in Gang zu setzen, fiel der aufgeblasene Ballon der Literatur in sich zusammen. –»Ich will meine Feder ins Waffenverzeichnis«, schrieb Majakowski, als in Rußland die letzte große Phase der Aufklärung beginnen sollte. Als er 1930 sein Leben durch Kopfschuß beendete, hatten sich die Wege zwischen Literatur und Aufklärung schon getrennt. Seitdem hat sich die Literatur zunehmend zum Bremsklotz entwickelt … und sie hat sich mit dieser Wende schwer genug getan: sie hätte sie scheinbar bis heute nicht geschafft, wenn sie, seit den Tagen Majakowskis, von den Machthabern aller Schattierungen nicht ein solches Maß an »aufklärerischer« Beihilfe erfahren hätte. Die Literatur wurde als Bremsklotz behandelt, noch ehe sie sich selbst als solchen begriff, und ihre Repräsentanten wurden reihenweise weggeräumt.
Inzwischen sind Aufklärung und Literatur ein geschiedenes Paar, man könnte den Schluß zuspitzen und sagen: Fortschritt und Literatur sind Gegensätze. Wahrscheinlich ist die Literatur inzwischen schon die falsche Adresse, wenn man auf der Suche nach irgendwelchen Unterhaltungswerten ist. – Und eine nebenherlaufende Folge dieser Geschichte ist, daß die Literaturkritik die Literatur kaum noch als solche erkennen kann: unterhaltsam ist allein der Fortschritt und sein Produkt: der Profit; die Geschichte der Literatur aber ist eine Geschichte der Verweigerung.
Enzensberger – um noch einmal auf seinen Aufsatz Rezensenten-Dämmerung zurückzukommen – erklärt erwartungsgemäß, daß die Form der Rezension als solche nicht mehr zu retten sei. Und es sei schwer, sich über einen dahinsiechenden Gegenstand zu erregen. Was allerdings die Literatur betrifft, so meint er: »Sie ist nicht darauf angewiesen, daß man sie ›bespricht‹.« – Das wirkte überzeugend auf mich, als ich es las, es klang sogar erleichternd. Es lag daran, daß Enzensberger, dieser zutiefst der Aufklärung verpflichtete Schriftsteller, schon immer eine Art rettender Engel für mich gewesen ist; beispielsweise habe ich mich schon oft gefragt, wie es möglich war, daß seine Einzelheiten so spurlos am westdeutschen Literaturbetrieb vorbeigegangen sind. Nach der Lektüre der oben zitierten Sätze blieben mir allerdings Zweifel: sie schienen mir allzusehr aus der Position des etablierten Autors geschrieben, dessen Platz in der Literatur durch nichts mehr angefochten werden kann.
Im Sommer 1994 veranstaltete die Neue Zürcher Zeitung eine Umfrage unter deutschsprachigen Autoren über deren Verhältnis zur Literaturkritik, und dort las man bei weitem nicht solche abgeklärten Sätze. Ein Schriftsteller, von dem mich nur wenige Jahre Altersunterschied trennen, Hanns-Josef Ortheil, beschrieb eindringlich die Spannung, mit der er im Herbst oder Frühjahr, also in der Zeit, in der die Verlage ihre Neuerscheinungen ausliefern und die Buchkritik Hochkonjunktur hat, die Literaturbeilagen der Zeitungen durchblättert: Ist mein Buch besprochen oder nicht … hat man es wahrgenommen? An zweiter Stelle erst steht die Frage, ob es positiv oder negativ besprochen sei. Stimmt es also, daß Schriftsteller tatsächlich ohne Rezensionen leben können?
DDRDer Wettermacher