Julie Peters
Im Land des Feuerfalken
Ein Neuseeland-Roman
Rowohlt Digitalbuch
Julie Peters, Jahrgang 1979, war Buchhändlerin und studierte Geschichte, ehe sie sich ganz dem Schreiben widmete. Heute ist sie Schriftstellerin und Übersetzerin.
Man schreibt das Jahr 1907: Josie O’Brien wächst einsam, aber zufrieden bei ihrer Mutter Siobhan im Wald auf. Sie ist ein neugieriges, wildes Mädchen mit einem ausgeprägten Talent zum Malen. Ihre Schwester Sarah, die bei ihrer Großmutter lebt, beneidet die kleine Josie glühend, nicht nur um ihr hübsches Aussehen und ihr Talent, sondern auch um ihre Lebhaftigkeit – und darum, dass sie bei ihrer Mutter Siobhan aufwachsen darf. Josie dagegen versteht nicht, weshalb sie in Kilkenny Hall, dem Familiensitz der O’Briens, nicht wohlgelitten ist. Aber dann bricht der Erste Weltkrieg im weit entfernten Europa aus, und er erschüttert auch das Leben der Neuseeländer in den Grundfesten. Sarah flüchtet sich in eine Ehe, auf der von vornherein ein Fluch liegt, weil ihr Liebster versehrt und verstört aus dem Krieg zurückkehrt und nichts mehr von ihr wissen will. Ihre Schwester sucht Schutz und Förderung bei einem alten, sehr reichen Mann – ein gesellschaftlicher Skandal, der sie zutiefst unglücklich macht. Und während die alte Weltordnung in die Brüche geht, kämpfen die beiden Frauen um ein Leben, das es wert ist, gelebt zu werden …
Rowohlt Digitalbuch, veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Mai 2012
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ISBN Buchausgabe 978-3-8052-5024-5 (1. Auflage 2012)
ISBN Digitalbuch 978-3-644-20961-9
www.rowohlt-digitalbuch.de
ISBN 978-3-644-20961-9
Für Gordon
Er mochte, wie ihre schwarzen Zöpfe auf und ab wippten, wenn sie lief.
Sarah O’Brien lief nicht oft. Meist stand das Mädchen brav neben ihrer Großmutter, die seine Hand festhielt, während sie Robs Mam aufzählte, was sie brauchte. Nur wenn sie nach ihrem Geldbeutel griff und die Münzen auf den Tresen zählte, ließ sie Sarah los, und auch dann stand das Mädchen ganz starr und brav daneben und wartete. Nicht mal die Zuckerstange, die Robs Mam ihm hinhielt, nahm es ohne die Erlaubnis ihrer Großmutter.
Dabei hatte Rob Sarah schon laufen gesehen. Er hatte ihr jedes Mal nachlaufen wollen, weil ihm so gefiel, wie alles an ihr wippte und wehte. Auch ihre großen, dunklen Augen und die zarte Haut gefielen ihm. Oft kniff er die Mädchen, weil sie dann so schön kreischten, aber bei Sarah hielt er sich zurück, denn sie weinte immer sofort. Die anderen Mädchen lachte er aus und nannte sie Heulsuse, wenn sie in Tränen ausbrachen. Die dicke Vera zum Beispiel, die in der Schule vor ihm saß und so kurzsichtig war wie ein Maulwurf und Zähne wie ein Karnickel hatte. «Maulnickel», riefen die Jungs ihr nach.
Sarah konnte er auch deshalb nicht so gut necken, weil er sie nicht jeden Tag in der Dorfschule von Glenorchy sah. Sie hatte ihren eigenen Privatlehrer, zusammen mit Jamie O’Brien, der drei Jahre älter und der jüngste Sohn ihrer Großmutter war. Er war also eigentlich ihr Onkel, was Rob so ungewöhnlich fand, dass er Jamie bei den seltenen sich bietenden Gelegenheiten damit aufzog.
Heute aber wollte er niemanden ärgern. Nein, Rob wollte seinen ganzen Mut zusammennehmen und Sarah etwas schenken. Das hatte er sich schon lange vorgenommen, aber bisher hatte er nicht das Richtige gefunden.
Als ihre Großmutter Sarahs Hand losließ und nach ihrem Geld kramte, schlich er hinter dem Regal mit den Sämereien zu Sarah. «Hallo», flüsterte er, und weil sie nicht reagierte, räusperte er sich und schob die Daumen unter seine Hosenträger, wie er’s den größeren Jungs abgeschaut hatte, die sich immer ganz lässig gegen die Pfeiler des Vordachs lehnten und den Mädchen nachpfiffen. «Hallo, Sarah», sagte er mit extratiefer Stimme.
Sie fuhr zu ihm herum und musterte ihn vom verwuschelten dunklen Scheitel bis hinunter zu den schiefgelaufenen Schuhen. Dann blickte sie neugierig in sein Gesicht. «Hallo?» Als wäre sie sich nicht sicher, ob sie mit ihm reden dürfte.
«Ich hab was für dich.» Jetzt wurde es schwierig. Er musste ja überlegen wirken und gleichzeitig seine Liebesgabe aus der Hosentasche ziehen. Sorgfältig hatte er sie in ein sauberes Taschentuch gewickelt, das sich nur schwer herausziehen ließ. Fast wäre der dicke Klicker zu Boden gefallen, aber irgendwie schaffte er es, ihn aufzufangen. «Da.»
Sarah sah ihn bloß an.
Es war die schönste Murmel, die er je besessen hatte, ein Klicker mit orangeweißen Spiralen. Nicht blau oder grün wie die, um die auf dem Schulhof gespielt wurde.
«Was soll ich denn damit?» Sie runzelte die Stirn.
«Nimm schon. Ich schenk sie dir. Ist meine allerschönste, und sie gehört jetzt dir.»
Sie zögerte, streckte aber schließlich die Hand aus und nahm den Klicker mit spitzen Fingern. «Was macht man damit?»
«Hast du noch nie Murmeln gespielt?» Er war enttäuscht. Dann wusste sie das Geschenk ja gar nicht zu schätzen! Er hatte sechs seiner besten Klicker dafür hergeben müssen, weil Henry nicht um diese tolle Murmel spielen wollte, sondern sie immer nur ganz stolz rumzeigte.
«Nee, hab ich nicht. Zeigst du mir, wie das geht?» Sie stand ratlos da, die Murmel rollte auf ihrer Handfläche hin und her.
«Klar!» Seine Augen leuchteten auf. Die Sache schien sich ja doch noch zum Guten zu wenden! Rob nahm Sarahs Hand und führte sie aus dem Laden. Mit einem Satz sprang er von der Veranda unter dem Vordach und landete elegant im Staub. «Pass auf, das geht so: Du musst mit deinem Klicker die anderen raushauen.»
Erst jetzt fiel ihm auf, dass er keine anderen Murmeln dabeihatte. Das Säckchen war im Haus, er versteckte es immer unter der Matratze, weil die Zwillinge Matt und Josh ihm ständig alles klauten.
«Guck mal, Jamie, was Rob mir geschenkt hat!» Während er noch versuchte, die Regeln zu erklären – was ja im Grunde sinnlos war ohne Murmeln –, hatte Sarah Jamie entdeckt. Er hatte draußen bei der Kutsche auf sie gewartet und überprüfte gerade die Gurte und das Zaumzeug der beiden Ponys, die vor den Kastenwagen gespannt waren.
Sarah lief zu ihrem Onkel, der für sie wie ein Bruder war. Rob schlenderte möglichst lässig hinterdrein. Auf keinen Fall durfte er zeigen, wie blöd er es fand, dass sie lieber Jamie die Murmel zeigte, statt mit ihm zu spielen.
Das Schlimmste aber war, dass Jamie nur einen flüchtigen Blick auf den orangefarbenen Klicker warf und beiläufig bemerkte: «Ja, schön. Solche hab ich auch zu Hause.»
«Ist doch gar nicht wahr», protestierte Rob. Er baute sich, die Fäuste in die Seiten gestemmt, vor Jamie auf. «Solche Klicker gibt’s nur ganz selten.»
«Und?» Jamie zuckte mit den Schultern. Er löste eine Schnalle am Zaum und verschloss sie wieder. Rob musste zugeben, dass Jamie verflucht gelassen wirkte. In ihm regte sich Wut.
«Und weil es die so selten gibt, kannst du gar nicht ganz viele davon haben. Der hier ist orange, siehst du? Orangefarbene Klicker gibt’s fast nie.»
Jamie zuckte mit den Schultern. «Kinderkram. Ich spiel nicht mehr mit Klickern.»
Natürlich nicht, er war ja schon zwölf.
Rob dachte fieberhaft nach. Er hatte Sarah so sehr beeindrucken wollen, aber das war ihm mit der Murmel wohl gründlich misslungen. Jetzt steckte Sarah sie in die Tasche ihres Kittelkleids und beobachtete gespannt, was Jamie machte. Der wusste genau, dass sie ihm zusah, und veranstaltete ein großes Getue, zog jeden Riemen und jede Schnalle fest, kontrollierte sogar die Hufe der beiden Ponys und stolzierte um den Kastenwagen herum, als gehörte ihm die ganze Welt.
Das machte Rob so wütend! Er hatte es sich so schön ausgemalt, wie er Sarah den Klicker schenkte. Wie sie sich artig bei ihm bedankte, und ja, er hatte sich sogar ausgemalt, wie sie ihn nach Kilkenny Hall einlud. Sarahs Familie hatte so ein riesiges Haus und nicht nur ein kleines, schäbiges wie seine Eltern. Darin lebte es sich bestimmt tausendmal besser. Das behauptete zumindest sein Pa. «Bei den O’Briens wird von goldenen Tellern gegessen», höhnte er immer.
Sein Pa mochte die O’Briens nicht so sehr. Er wusste nicht genau, warum.
Aber vor allem hatte Rob sich vorgestellt, wie Sarah ihn anlächeln würde. Wie sie ihm versichern würde, ihr habe noch nie jemand was so Schönes geschenkt. Und jetzt interessierte sie sich gar nicht für den Klicker, der ihn sechs seiner schönsten Murmeln gekostet hatte!
Er war so enttäuscht. So wütend. Er wollte ihr wehtun. Sie sollte ihn endlich beachten und nicht immer nur diesen Jamie anhimmeln! Er drängte sich zwischen die beiden. Er funkelte Sarah an. «Ich weiß, wer deine Mutter ist», sagte er drohend.
«Mam Helen ist meine Mutter», entgegnete Sarah.
«Gar nicht wahr, die ist deine Großmutter.»
«Nein, Mam Helen ist meine Mutter», wiederholte Sarah stur. Sie wich seinem bohrenden Blick aus.
«Stimmt ja gar nicht. Deine Großmutter kümmert sich um dich, weil deine Mutter dich nicht will. Sie hat nämlich ein anderes Baby. Das liebt sie viel mehr als dich.»
Sarahs Unterlippe zitterte. «Das ist nicht wahr!»
Zufrieden verschränkte Rob die Arme vor der Brust. Seine Worte hatten ihre Wirkung nicht verfehlt. «Und wenn doch? Ich hab nämlich noch was gehört. Deine Mutter hat sich mit einem dreckigen Wilden eingelassen, einem Maori. Der hat ihr das Kind gemacht, und du bist auch von ihm.»
Dicke Tränen rannen über Sarahs Wangen. «Hör auf», jammerte sie leise, aber jetzt war Rob in Fahrt gekommen. Jetzt hatte er erreicht, was er wollte. Sie schaute ihn an. Endlich hatte sie keinen Blick mehr für Jamie.
«Und weißt du, was sie noch tut? Sie arbeitet wie ein Mann. Und reitet wie einer. Deine Mutter ist voll abartig!»
Sarah drehte den Kopf zur Seite, aber sie lief nicht weg, sondern ballte nur ihre kleinen Hände zu Fäusten.
Rob hörte nicht auf. «Und als der Mann deiner Mam davon erfahren hat, dass sie’s mit dem Maori treibt, da hat er ihn totgeschlagen.»
«Du lügst!», schrie Sarah plötzlich. Jetzt war sie knallrot im Gesicht. Sie stürzte vor, und ihre kleinen Fäuste trommelten auf seine Brust ein. «Du bist ein doofer Lügner! Mein Pop hat niemanden umgebracht, er ist der beste Pop auf der Welt!»
Es wäre für Rob ein Leichtes gewesen, die Schläge abzuwehren, aber er tat es nicht, sondern ließ es einfach zu. Irgendwie tat sie ihm jetzt doch leid. Sarah heulte so sehr, und Jamie, der vorhin noch so lässig gewirkt hatte, stand mit aschfahlem, versteinertem Gesicht auf der anderen Seite des Kastenwagens und starrte ihn an.
«Sarah! Rob! Auseinander!»
Die schneidende Stimme der alten Mrs. O’Brien ließ beide herumfahren. Sarah schniefte und wischte sich den Rotz mit dem Ärmel von der Nase, was ihr sofort einen Klaps in den Nacken eintrug. «Benimm dich, Kind», sagte Mrs. O’Brien. «Und du!» Jetzt wandte sie sich an Rob. «Schlägst Mädchen, weil die sich nicht so gut wehren können? Bist ja keinen Deut besser als dein Vater!»
Sie packte Sarahs Arm und zerrte sie mit sich. «Jamie!», rief sie. «Pass auf, dass die Jungs von Mrs. Gregory die Einkäufe sicher auf der Ladefläche verstauen. Sarah und ich sind drüben auf dem Postamt. Und wehe, du streitest dich mit Rob!», fügte sie drohend hinzu.
«Nein, Mam», sagte Jamie leise und schlich mit gesenktem Kopf davon.
Rob starrte ihm erstaunt nach. Was denn, gab’s heute keine Keile, weil er Sarah beleidigt hatte? Sonst reichte es doch schon, sie böse anzugucken, dass Jamie sich auf ihn stürzte.
Aber der Triumph schmeckte schal. Rob schaute sich noch einmal um – vielleicht hatte ja einer der älteren Jungs alles mitbekommen und konnte weitererzählen, wie lässig er gewesen war? Doch da war niemand. Er zuckte die Schultern und machte sich auf die Suche nach seinen Brüdern.
Wenn er Jamie nicht vermöbeln konnte, dann bestimmt die beiden.
Als er den Laden betrat, blickte seine Mutter auf. «Geh zu deinem Vater, Rob», sagte sie. «Es ist Zeit für seinen Nachmittagstee.» Das war ihm natürlich viel lieber als das Aufladen der Kisten und Säcke. Rob verließ den Laden durch das Lager und lief quer über den Hinterhof zum Wohnhaus. Sein Vater saß in seinem Rollstuhl im Wohnzimmer an seinem angestammten Platz.
Rob setzte erst Wasser auf und stellte alles für den Tee bereit, außerdem ein Tellerchen mit Schokokeksen. Erst dann betrat er das Wohnzimmer.
Sein Vater starrte aus dem Fenster. «Pa? Ich bring dir gleich Tee.»
Der Kopf wandte sich ihm zu, der Körper verharrte steif im Rollstuhl, gehalten von zwei Lederriemen um Brust und Bauch, damit er nicht herausfiel. Rasch trat Rob zu seinem Vater und öffnete die Gurtschnallen.
Sein Vater hasste es, angeschnallt zu sein.
Er hockte sich zu ihm. «Ich hab dir doch den großen orangefarbenen Klicker gezeigt? Der war für Sarah.»
«ra…baien?», lallte sein Vater.
«Genau, für Sarah O’Brien. Ich mag sie sehr.»
Eigentlich müsste er sich schämen, weil er so gemein zu ihr gewesen war.
«Weißt du was? Ich glaube, wenn wir groß sind, werde ich sie heiraten», fuhr er fort und nickte zufrieden. «Sie hängt zwar immer mit Jamie rum, aber mit mir hat sie’s doch viel besser.»
Sein Vater schüttelte heftig den Kopf. «Ihe … Muhaaa …»
«Was ist mit ihrer Mutter?»
Seit einem Schlaganfall vor einigen Jahren konnte sein Vater sich nicht mehr richtig artikulieren, und er war an den Rollstuhl gefesselt. Dennoch hatte er einen wachen Verstand, und Rob saß gerne bei ihm und lernte von ihm.
Ihre Mutter ist eine Hure.
«Das weiß ich, Pa. Aber Sarah ist ein hübsches Mädchen, und tüchtig ist sie auch, dafür sorgt die alte Mrs. O’Brien schon.»
Rob ging in die Küche und goss den Tee auf.
Alle O’Briens sind Verbrecher. Sie haben uns zugrunde gerichtet. Sieh dir an, was haben wir denn? Einen kleinen Laden, der uns kaum über Wasser hält. Einst waren wir reich, aber sie haben uns alles genommen. Sitzen in ihrem Palast und lachen sich ins Fäustchen.
Atemlos hielt sein Vater inne. Er sagte selten so viel auf einmal.
Rob hockte sich wieder neben ihn. «Erzählst du mir davon?»
Versprichst du, sie nicht zu heiraten?
Rob war verunsichert. «Es war nur so eine Idee.» Die Schwärmerei eines Zehnjährigen.
Wenn du sie heiratest, musst du mir was versprechen.
Rob nickte. Seinem Vater würde er alles versprechen.
«…ichte schie sugunde.»
Richte sie zugrunde.
«Ich versprech’s, Pa.» Rob lachte nervös.
Bestimmt heiratete Sarah irgendwann Jamie. Er brauchte sich gar keine Hoffnungen zu machen. Und auch keine Sorgen.
Sarah blieb auf dem Weg zum Postamt einfach stehen. «Wieso bin ich eigentlich nicht mehr bei meiner richtigen Mam?», fragte sie ihre Großmutter.
«Ach Kind, das ist eine lange Geschichte.» Mam Helen blieb ebenfalls stehen, obwohl sie es hasste, wenn sie bei ihren Besorgungen aufgehalten wurde. «Sagen wir einfach, deine Mam hatte ihre Gründe.»
«Rob hat mir einen Klicker geschenkt, guck mal.» Sie hielt Mam Helen die Murmel hin, die im Sonnenlicht funkelte.
«Hübsch», sagte ihre Großmutter zerstreut.
«Bin ich ein Maorikind?», fragte Sarah unvermittelt.
«Wer sagt denn so was?» Mam Helen packte Sarahs Hand fester und zog sie über die Straße. Ein Pferdefuhrwerk ratterte vorbei, der Mann auf dem Kutschbock grüßte mit einem Nicken. Mam Helen ignorierte ihn.
«Elendes Pack», hörte Sarah sie murmeln. «Glauben, sie wüssten, wer wir sind.»
«Rob hat das gesagt. Er sagt, ich bin bloß ein schmutziges Maorikind. Ist denn mein Pop gar nicht mein Pop?»
Sie versuchte, nicht weinerlich zu klingen, aber das war schwieriger als gedacht.
Ihre Großmutter antwortete nicht. Sie marschierte mit weit ausgreifenden Schritten auf das Postamt zu, schaute weder nach links noch nach rechts, als fürchte sie, angesprochen zu werden.
«Mach dir deshalb keine Sorgen», sagte sie schließlich.
Also bin ich ein Maorikind, dachte Sarah. Ein schmutziges Maorikind. Sie musste sich zwingen, nicht laut loszuheulen. Plötzlich konnte sie den Schmutz an ihrem Körper geradezu fühlen. Sie blieb stehen und wischte die Hand am Latz ihres Kleids ab. Ungehalten griff Mam Helen wieder nach ihr und zog sie mit sich. Sarah hätte sich am liebsten losgemacht, damit Mam Helen sie nicht anfassen musste. Ihre dreckige Hand.
Wie konnte Mam Helen sie nur liebhaben, wenn sie das schmutzige Kind eines Wilden war?
«Komm schon, Sarah, trödel nicht!», fuhr Mam Helen sie gereizt an.
Ich muss immer brav sein und alles tun, was sie sagt, dachte Sarah und schluckte ihre Tränen herunter.
Vielleicht vergisst sie dann, was ich bin.
«Josie!»
Das Mädchen lief einfach weiter, den schmalen Pfad hinab, gesäumt von trockenem, vom Frost überzogenem Gras. Sie setzte mit einem übermütigen Sprung über einen Baumstamm, der quer über ihrem Weg lag. Wenn sie schnell genug rannte, pfiff ihr der eisige Wind um die Ohren. Dann konnte sie ihre Mam nicht mehr hören. Später würde sie behaupten, sie sei schon zu weit weg gewesen.
Eine Lüge, die Mam durchschauen würde, so viel stand fest. Und natürlich würde sie sich ordentlich Ärger einhandeln, weil sie weglief. Noch dazu barfuß! Unzählige Male hatte Mam ihr eingebläut, sie solle Schuhe tragen, solange sie bei den Verwandten zu Besuch war. Aber die Schuhe waren zu eng, sie scheuerten ihre Fersen auf und quetschten die Zehen ein. Josie lief lieber barfuß.
Sie wollte mit eigenen Augen sehen, worüber die Erwachsenen gestern Abend geredet hatten.
Die Rufe verklangen in der Ferne. Josie hatte den Fuß des Hügels erreicht, und über ihr erhob sich stolz, erhaben und düster Kilkenny Hall. Das Haus ihres Vaters. Hier lebte er mit ihren Großeltern, ihrem Onkel Jamie und ihrer älteren Schwester Sarah.
Früher, als sie noch ein kleines Kind gewesen war, hatte sie Mam oft gefragt, wieso sie nicht zusammen bei ihrem Papa wohnten. Mam hatte ihr dann immer über den Kopf gestreichelt und sie so traurig angeschaut, dass Josie selbst mit ihren vier, fünf, sechs Jahren begriffen hatte, wie sehr es ihrer Mam widerstrebte, darüber zu reden. Und schließlich, als sie sieben wurde, hörte sie auf, nach ihrem Vater zu fragen. Irgendwann hatte sie die volle Wahrheit begriffen, wenn sie auch bis heute nicht verstand, wie Walter O’Brien ihr Papa sein konnte und zugleich alle behaupteten, sie sei ein Maoribastard.
Josie erreichte den Pferdestall. Sie schlenderte über den Innenhof. Ein Stallbursche pfiff ein lustiges Lied und kratzte mit seiner Mistgabel über den Boden. Er rief etwas, und eine andere Stimme antwortete ihm.
Sie verharrte mitten in der Bewegung. Die Stimme kannte sie doch.
Sie hockte sich hin und lugte um die Ecke.
Richtig: In der Stallgasse stand ihr Onkel Jamie O’Brien. Breitschultrig, groß gewachsen und mit dem sandfarbenen Haar der O’Brien-Brüder, das bei ihm, dem jüngsten, immer zerzaust war. Heute jedoch nicht. Heute hatte er es säuberlich gescheitelt und gekämmt. Auch trug er nicht, wie sie’s von ihm gewohnt war, die abgerissenen Kleider eines Mannes, der auf den Schafweiden zu Hause war, sondern eine feine Reithose, glänzende Stiefel und ein weißes Hemd mit Krawatte, dazu ein Jackett. Er sah aus wie ein richtiger Gentleman. Wie die Männer in den Liebesromanen von Mam, die Josie heimlich las.
Josie mochte Onkel Jamie. So richtig wie ein Onkel kam er ihr gar nicht vor. In den Büchern, die sie las, waren Onkel immer bärtig und alt, und meistens hatten sie weißes Haar. Jamie war erst neunzehn, viel jünger als ihre anderen Onkel oder ihre Patentante Emily. Sarah war nur drei Jahre jünger als er, und die war schließlich Josies Schwester.
Onkel Jamie zog den Sattelgurt seines Rappen fest. Ohne sich umzudrehen, rief er über die Schulter: «Kannst ruhig herkommen, Josie. Ich hab dich längst gesehen.»
Zögernd stand sie auf und machte zwei Schritte auf ihn zu. «Wie hast du mich bemerkt?», fragte sie.
«Was denn, soll ich etwa nicht merken, wenn meine Lieblingsnichte sich frühmorgens vom Fuchsbau wegschleicht, um sich im Stall herumzudrücken? Du bist mir eine! Weiß deine Mutter eigentlich, dass du hier bist?»
Er kam zu ihr, hob sie hoch und wirbelte sie durch die Luft. Josie kreischte vergnügt und zappelte, damit er sie wieder herunterließ. «Ich bin viel zu groß zum In-die-Luft-Werfen!», rief sie atemlos und strich ihr zerknautschtes Wollkleid glatt.
«Du bist auch zu klein, um in aller Frühe hier herumzustreunen. Hast du da drüben keine Aufgaben zu erledigen?» Sein Blick war tadelnd und zärtlich zugleich.
Verlegen senkte Josie den Blick und malte mit dem großen Zeh Muster in den Dreck der Stallgasse. «Kann schon sein.»
Jamie war das einzige Familienmitglied, das Josie und ihre Mutter manchmal besuchte. Die beiden wohnten im Wald, hoch oben in den Bergen über dem Wakatipusee. Dorthin verirrte sich nie jemand. Wer kam, tat es, weil er Josies Mam sehen wollte. Wenn Jamie kam, blieb er ein Stündchen, plauderte mit ihrer Mam – sie redeten immer über langweiliges Zeug, das Josie nicht verstand –, aber er brachte ihr immer etwas mit: ein Buch aus der Bibliothek von Kilkenny Hall, das sie ehrfürchtig verschlang, bis er das nächste Mal kam und ein neues Buch mitbrachte, das er gegen das alte tauschte. Oft scherzte er, Josies galoppierender Bibliotheksdienst zu sein.
«Na dann, hinauf mit dir.» Er hob sie vor den Sattel. «Ich wollte sowieso hinunter nach Glenorchy, um die Blumen für Emilys Brautstrauß zu holen. Aber ein kleiner Abstecher zum Fuchsbau kann nicht schaden, was meinst du?»
«Weißt du, was ich immer schon mal wissen wollte?»
«Nein, woher denn?»
«Wieso der Fuchsbau so heißt.»
Jamie kratzte sich am Kopf, fuhr dann mit der flachen Hand über die glattgekämmten Haare, als müsste er sich vergewissern, dass sie noch gut saßen. «Tja, das weiß keiner so genau. Als dein Onkel Finn damals mit Ruth dort einzog, hieß er noch nicht so, glaube ich. Aber damals war ich noch klein, noch kleiner als du heute.»
«Ich bin nicht klein», protestierte Josie, aber Jamie achtete nicht darauf.
«Mein Vater hat zuerst vom Fuchsbau geredet, glaube ich. Weil es so ein niedriges Gebäude ist und weil Finn in den letzten Jahren immer neue Räume angebaut hat. Und du weißt ja, es ist trotzdem verflucht eng und verwinkelt in diesem Haus, wie in einem Labyrinth. Darum der Fuchsbau.»
Josie nickte eifrig. Sie wusste, was Jamie meinte.
«Warum haben Mam und ich nicht drüben in Kilkenny Hall übernachtet, sondern im Fuchsbau? Wieso leben wir draußen im Wald, wenn ihr und Finn und mein Vater und alle hier leben?»
«Tja … Das soll dir lieber deine Mam erklären, kleine Lieblingsnichte.»
Josie strahlte. Er hatte sie seine Lieblingsnichte genannt. Das hieß doch bestimmt, dass er sie lieber mochte als Sarah und die beiden Töchter von Onkel Finn, oder?
Aber seine Antwort auf ihre Frage war ziemlich unbefriedigend, fand sie.
Jamie führte den Rappen aus der Stallgasse. Er rief dem Burschen noch etwas zu. Der lachte darauf und tippte sich grüßend an die Kappe. Jamie schwang sich hinter Josie in den Sattel. Sein starker Arm legte sich um ihre Brust, und sie lehnte sich gegen ihn. Mit der freien Hand hielt er die Zügel und lenkte das Pony über den Hof zum Pfad, der hinauf zum Fuchsbau führte.
«Freust du dich auf die Hochzeit?», fragte Jamie.
«Mhm.» Josie rutschte etwas weiter nach hinten. Sie atmete seinen Duft ein. Rasierwasser, Pfeifenrauch und etwas Herbes, das sie nicht zu benennen wusste. Männerschweiß vielleicht. Sie mochte, wie er roch.
«Du willst bestimmt auch eines Tages heiraten.»
Sie verdrehte sich halb vor ihm im Sattel, weil sie wissen wollte, ob er diese Worte mit jenem zärtlichen Blick begleitete, mit dem die Gentlemen in den Romanen immer ihre Ladys bedachten. Doch sein Blick ging in weite Ferne. Er schaute über den Wakatipusee, der in diesem Moment niedersank, als atmete er erschöpft aus. Hoch ragten die Berge um den See auf; jetzt im Winter waren die Stunden mit Sonnenschein kurz. So nah am Seeufer konnte man glauben, tagelang in nächtlicher Dunkelheit zu hausen.
Viel schöner war’s oben im Wald, wo Mam und sie in einer kleinen Hütte lebten. Da wurde es selbst im tiefsten Winter nicht so finster, dass man die hellen Sommertage vergaß.
Josie schmiegte sich an seine Brust. Er hat mich seine Lieblingsnichte genannt, dachte sie froh. Und ich bin ja noch ein Kind. Bis ich erwachsen bin, wird er bestimmt auf mich warten.
Sie ritten eine Weile schweigend vor sich hin. Dann sagte er: «Ich frage wohl lieber nicht, warum du so früh am Morgen bei Kilkenny Hall herumgestreunt bist. Noch dazu ohne Schuhe.»
«Ich bin nicht gestreunt!», protestierte Josie. Jetzt behandelte er sie schon wieder wie ein kleines Kind! Das mochte sie ganz und gar nicht.
«Sondern?» Er lachte. Waren das etwa schon Fältchen um seine Augen? Sie ließen ihn älter wirken.
«Ich wollte doch nur Emily sehen. Und ihren dicken Bauch», gab sie zu.
Jamies Griff um ihren Oberkörper wurde fester. «Ach, da gibt’s nicht viel zu sehen», behauptete er leichthin.
«Aber Tante Ruthie meint, sie hätte ein Baby im Bauch, das hat sie gestern Abend erst erzählt.» Eigentlich hatte Josie gelauscht, wie sich die Erwachsenen unterhielten, als sie längst schlafen sollte. Niemand beachtete sie, wenn sie leise war. Und Josie konnte sehr leise sein. Auf nackten Füßen war sie nach unten geschlichen, weil sie Durst hatte. Und obwohl sie in der offenen Tür gestanden hatte, war es keinem Erwachsenen aufgefallen, dass sie minutenlang lauschte, bis das Gespräch auf langweiligere Themen kam. Da war sie zurück ins Bett gehuscht, der Durst war vergessen.
«So ein Baby muss den Bauch doch riesig machen, oder? Bei Tante Ruthie war’s so, als sie zuletzt schwanger war, da hab ich sie mal gesehen, wie sie mit Onkel Finn zur Spinnerei kam.»
«Ja, aber Emilys Baby ist noch ganz klein, das passt jetzt noch in deine Faust.» Er packte ihre kleine Hand und drückte die Finger zur Faust. «Siehst du? So klein ist es, und es dauert noch viele Monate, bis sie so dick wird davon wie Tante Ruthie.»
Das verstand Josie erst recht nicht. «Tante Ruthie hat gesagt, es ist eine Schande, wie sie rumläuft», sagte sie leise. «Mit dem Kind im Bauch und ohne Ehemann.»
«Das wird sich ja heute ändern», beruhigte Jamie sie. «Und ich versprech dir, danach wird keiner mehr von einer Schande reden.» Er schnalzte mit der Zunge, und der Rappe fiel in einen zockelnden Trab.
Josie kannte die geheimen Zeichen, mit denen ein Erwachsener ein Gespräch für beendet erklärte. Josie wusste, dass Jamie nicht weiter darüber reden wollte.
Sie schloss die Augen und genoss das leise Wiegen auf dem Pferderücken. Die wenigen Minuten, die sie hinauf zum Fuchsbau brauchten, verbrachte sie damit, sich vorzustellen, er sei ein reicher Gentleman und sie ein armes Mädchen, in das er sich unsterblich verliebt hatte.
Sarah spähte aus dem Fenster. Sie schaute den beiden Reitern auf dem schwarzen Pony nach, das trittsicher den Pfad zum Fuchsbau hinaufkletterte.
«Was ist denn da draußen so interessant, dass du meine Frisur vergisst?» Tante Emily hatte das in neckendem Tonfall gesagt, aber Sarah fuhr schuldbewusst herum.
«Nichts», erwiderte sie bloß.
Nur Jamie und dieses Kind.
Sie verbot sich, an Josie als ihre Schwester zu denken. Wenn sie diesen Gedanken von sich wies, fiel es ihr leichter, all die Komplikationen zu vergessen, die damit verbunden waren, dass ihre leibliche Mutter mit einem zweiten Kind oben im Wald hauste, während sie bei ihrem Vater lebte und von ihrer Großmutter Helen erzogen wurde.
Manchmal gelang es ihr sogar, diesen Umstand tagelang zu vergessen. Dann nannte sie ihre Großmutter in Gedanken wieder Mam Helen, wie sie es als Kind getan hatte. Damals hatte sie sich an die Großmutter geklammert, weil das einfacher war, alles war einfacher, als sich einzugestehen, dass ihre Mutter sie verstoßen hatte.
«Für ‹nichts› siehst du aber ziemlich blass aus, Liebes», bemerkte ihre Tante leise. Sarah hatte Emily einen Stuhl mit Armlehnen vor den Toilettentisch gerückt. Emilys Bein, das seit einem Unfall vor vielen Jahren verkrüppelt war, ruhte auf einem Bänkchen. Die schlanken Finger der rechten Hand trommelten einen hypnotisierenden Rhythmus auf die Armlehne, und sie beobachtete Sarah im Spiegel.
«Nur Jamie mit …» Sarah schluckte. «Josie», fügte sie hinzu. Noch immer musste sie an diesem Namen würgen. Jeder in Kilkenny und Glenorchy wusste, dass Josie nach einer guten Freundin ihrer Mutter benannt war, die zufällig auch das Hurenhaus drunten in Glenorchy führte. Madame Robillard, so hieß es, habe Josie damals ins Leben geholfen. Eine Schande. Ein schmutziger Fleck auf der Familienehre.
Tante Emily drehte sich zu ihr um. «Du sprichst ihren Namen aus, als wäre sie nicht deine Schwester, sondern eine Fremde.»
Sarah trat zu ihr. Sie nahm den Kamm und versuchte, in Emilys rotes Lockengewirr eine Ordnung zu bringen, die es ihr erlaubte, die komplizierte Steckfrisur zu vollenden, die Sarah sich schon seit Tagen für ihre Tante ausgemalt hatte. «Das ist sie auch. Eine Fremde», fügte sie hinzu.
Emily schloss die Augen und gab sich ganz ihren geschickten Händen hin. «Sie ist ein kluges Kind», sagte sie leise. «Du würdest sie mögen.»
Sarah riss den Kamm gröber als nötig durch die Locken. «Ich will sie aber nicht mögen», gab sie scharf zurück. Emily zuckte leicht zusammen, protestierte aber nicht.
Sofort tat Sarah der Ausbruch leid, und sie strich beruhigend über den scharfgezogenen Scheitel. Sie schaute in den Spiegel und suchte den Blick ihrer Tante, aber wo sie Zorn oder Verachtung für ihre unbedachte Bemerkung erwartet hatte – denn wer konnte Josie nicht mögen? Die kleine, quirlige, plappernde Josie? Dieses hübsche Mädchen, das schon jetzt die dunklere Version der mütterlichen Schönheit zu werden versprach? –, da sah Sarah etwas, das ihren Zorn erneut anfachte.
Emily hatte Mitleid mit ihr.
«Manchmal ist das so», sagte Emily leise. Sie verlagerte ihr Gewicht und stellte den Fuß auf den Boden. «Dann verletzt uns etwas so sehr, dass wir nicht ein noch aus wissen. Wir schwören uns, dass uns das, was uns einst so wehrlos machte, nicht noch einmal widerfahren darf. Ich habe früher geglaubt, es meiner Mutter immer recht machen zu müssen. Es führte mich in eine unglückliche Ehe, nach deren Ende ich mir geschworen habe, kein zweites Mal zu heiraten. Und jetzt sieh mich an.»
Sarah schnalzte mit der Zunge. «Das ist etwas anderes. Du bist jetzt schwanger, und ein Kind braucht seinen Vater», sagte sie altklug.
Emily lächelte. «Dieses Kind hat einen Vater.» Ihre Hand strich über den leicht gewölbten Bauch. «Ein Kind braucht aber vor allem seine Mutter», fügte sie leise hinzu.
Sarah senkte den Kopf. Sie beugte sich vor und nahm die Haarnadeln vom Toilettentisch. Rasch steckte sie Emilys Haar hoch. Es war nicht perfekt, nicht so, wie sie es sich vorgestellt hatte. Aber es musste genügen. Sie hatte keine Lust, länger bei ihrer Tante zu bleiben. Immer musste sie sie daran erinnern, dass es nicht nur ihre Familie in Kilkenny Hall gab.
Und sie weigerte sich einfach, Siobhan und Josie zu ihrer Familie zu zählen. Das würde sie niemals tun.
«Fertig.»
Emily drehte den Kopf nach links und rechts. Ihr zartes Gesicht umspielten feine Löckchen, die sich an ihrem Hinterkopf zu einem hübschen Nest vereinten. «Gefällt mir», sagte sie.
«Gut.» Rasch sammelte Sarah die Kämme, Bürsten und Haarnadeln ein. «Brauchst du gleich noch Hilfe beim Umziehen?»
Emily hangelte nach ihrem Stock und zog sich hoch. «Keine Sorge, ich bin nicht krank. Nur schwanger.»
Sarah zeigte auf ihr Bein, peinlich berührt. «Ich meinte deswegen.»
Einen Moment war es still. Emily blickte zum Fenster. Sie hasste es, wenn von ihrem lahmen Bein gesprochen wurde.
Dann gab sie sich einen Ruck und überging die letzte Bemerkung einfach. «Ich habe dir etwas mitgebracht aus Dunedin. Ein Geschenk.» Sie humpelte zum Schrank und öffnete ihn. «Ich hoffe, es gefällt dir.»
Die flache Schachtel, die ihre Tante mit einer Hand herauszog, neigte sich gefährlich, und Sarah eilte ihr zu Hilfe. Der goldene Aufdruck auf schwarzer Pappe war ihr fremd. «Was ist das?»
«Mach’s auf!» Emily sank seufzend auf die Bettkante. Ihre Hand legte sich wieder auf den Bauch, als müsste sie sich davon überzeugen, dass das Kind, von dem man wirklich kaum etwas ahnen konnte, tatsächlich da war.
Vorsichtig hob Sarah den Deckel. Sie hielt den Atem an, als sie das leise raschelnde Seidenpapier beiseiteschob.
«Und? Gefällt es dir?», hörte sie Emily fragen.
Sarah nickte. Sie war sprachlos. Vorsichtig strich sie mit dem Zeigefinger über das zarte Gewebe. Es fühlte sich kühl an, und sie fürchtete, es könne unter ihrer Hand zu Staub zerfallen.
«Halt es dir doch mal an. Ich kannte deine Größe nicht, darum habe ich schätzen müssen. Wenn es nicht passt, muss ich es umtauschen.»
Das Kleid war aus einem zartblauen Stoff, der so hell war, dass er fast weiß schimmerte. Sarah hob es ganz behutsam aus der Schachtel. Sie sah sofort, dass es ihr passte, und auch Emily schien mit ihrer Wahl zufrieden.
«Zieh’s an», schlug sie vor.
Kurz erlaubte Sarah sich, das Kleid an ihre Brust zu drücken. Doch dann schüttelte sie heftig den Kopf. «Das wird Mam … Großmama nicht gefallen», widersprach sie.
«Warum? Weil es das Kleid einer erwachsenen Frau ist? Du bist siebzehn.» Emily stand vorsichtig auf. «Mit siebzehn habe ich Aaron kennengelernt, und meiner Mutter hätte es sehr gefallen, wenn ich ihn geheiratet hätte. Erstaunlich, dass sie bei dir nicht darauf drängt, dir bald einen Mann zu suchen.»
Sarah legte das Kleid wieder in die Schachtel. «Früher hab ich immer gedacht, ich heirate irgendwann Jamie», sagte sie leise, und Emily hörte die Wehmut in ihrer Stimme. «Ich hab zu ihm aufgeschaut, er war immer mein Held, er hat mich verteidigt, wenn die anderen Kinder mich als Maoribastard beschimpften …»
«Und was hat sich daran geändert?», fragte Emily behutsam.
Sarah blickte nicht auf. Ihre Finger strichen über den zarten Stoff. «Ich bin der Bastard eines Maori.»
«Das ist kein Grund», erwiderte Emily. «Im Gegenteil, das ist gut, dadurch seid ihr nicht mal blutsverwandt.»
«Für mich ist es ein Grund. Du musstest ja nie den Spott der anderen Kinder ertragen.» Energisch schloss sie den Deckel der Schachtel. «Das ist ein schönes Geschenk, Tante Emily, aber ich kann es nicht annehmen.»
Ihre Tante seufzte. «Doch, das kannst du. Und du wirst es heute anziehen, versprichst du es mir? Betrachte es als dein Hochzeitsgeschenk an mich.»
Sarah wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Sie dachte an Mam Helen, die so ein Kleid sicher nicht gern an ihr sah. Die so oft schlecht von ihrer Tochter Emily sprach und davon, dass sie ihr Leben verpfuscht hatte. Nicht, weil sie zuerst den Falschen geheiratet hatte. Denn Will Forrester war in den Augen von Emilys Mutter durchaus der Richtige gewesen: kultiviert und wohlhabend. Er hatte Emily wegen eines Stücks Land geheiratet. Leider hatte sich das nicht nur nicht als die erhoffte Goldgrube erwiesen, sondern außer Ärger und einem riesigen Berg Schulden gar nichts eingebracht. Für Will Forrester war das eine Enttäuschung gewesen, die ihn wütend machte: wütend auf sein Schicksal, das Stück Land und auf seine Ehefrau. Aber das warf Mam Helen niemandem vor, nicht mal ihrem Schwiegersohn.
Nein, Mam Helen kreidete Emily an, die Ehe gelöst zu haben und zu Aaron gezogen zu sein, mit dem sie seither in «wilder Ehe» lebte.
Eine Frau hielt auch die Ehe mit jemandem aus, der seine Fehler hatte, das hatte Mam Helen immer wieder gepredigt. Eine Frau blieb auch bei jemandem, der einen um alles gebracht hatte.
Weil Emily anders dachte, weil sie nicht bei Will Forrester geblieben war, weil sie es nicht länger mit ihm ausgehalten hatte, grollte Mam Helen ihrer einzigen Tochter. Zu allem Überfluss veröffentlichte sie Romane und Gedichtbände, die zu lesen Mam Helen Sarah verbot, weil sie die Bücher als «schmutziges Zeug» bezeichnete. Erst seit Emily verkündet hatte, sie werde Aaron heiraten, weil sie ein Kind erwartete, hatte etwas Weiches in Mam Helens Wesen Einzug gehalten, so als könne das Ungeborene sie mit Emilys bisherigem Lebenswandel versöhnen. Aber es blieb eine unumstößliche Tatsache: Es war nicht recht, wenn eine Frau erst schwanger und dann verheiratet wurde. Heimlich war Mam Helen vermutlich froh, dass Emily überhaupt heiratete. In diesem Haus traute man ihr alles Schlechte zu, und daher war man erleichtert, dass Emily sich zumindest ein wenig den gesellschaftlichen Regeln beugte.
«Zieh es an», sagte Emily leise. Sie legte Sarah eine Hand auf die Schulter. «Und was dich und Jamie betrifft … ihr gehört zusammen. Meine Mutter wird sich dagegen sträuben, aber sie kann nichts dagegen tun.»
Oh, Emily hatte ja keine Ahnung. Mam Helen konnte einiges dagegen tun. Sie konnte Sarah mit ihrer Verachtung strafen.
Und Sarah ertrug den Gedanken nicht, ein zweites Mal die Mutter zu verlieren.
Er hatte nur kurz die Blumen bei der Witwe Jennings drüben in Glenorchy holen und dann sofort zurückreiten wollen. Eigentlich war nicht mal dafür genug Zeit, weil er Siobhans störrische Tochter zum Fuchsbau hatte zurückbringen müssen. Aber zugleich verschaffte ihm dieser kleine Abstecher genau die kleine Atempause, die er von den Hochzeitsvorbereitungen brauchte.
Der Weg hinauf zum Fuchsbau war steil, und sein Pony stieg geschickt den ausgetrampelten Pfad hinauf. Die Welt lag hier noch in tiefem Winterschlaf. Trockenes Gras knirschte unter den Hufen, der Wind biss ihm ins Gesicht und trieb ihm die Tränen in die Augen. Der Winter war streng dieses Jahr, und zufrieden dachte er daran, dass die Kälte die Wolle der Merinoschafe besonders dicht wachsen ließ. Nur die Mutterschafe, die ab Ende November lammten, würden nicht so viel Wolle liefern wie die anderen, doch auch von ihnen hatten sie drei Kilo feinstes Vlies zu erwarten, von jedem einzelnen Tier.
Jamie konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Josie kuschelte sich an ihn und hatte die Arme fest um seinen Leib geschlungen. Sie schwieg, das war ungewöhnlich, aber so konnte er seinen Gedanken nachhängen.
Komisch, dass er sich inzwischen so um die Farm sorgte. Bisher hatte es ihn nie interessiert, was dort passierte. Erst letztes Jahr hatte er begonnen, mit seinem Bruder die Weiden abzureiten. Und er hatte zugehört und gelernt.
Als sie sich dem Fuchsbau näherten, entdeckte er Finn, der auf der überdachten Veranda saß und sein Pfeifchen schmauchte.
«Was grinst du denn so zufrieden?», rief sein Bruder ihm entgegen, als er ihn entdeckte.
«Ich hab mich grad über das kalte Wetter gefreut. Gibt ne feine Wolle dieses Jahr.»
Finn stand auf und trat zwei Schritte nach vorne. «Wohl wahr», meinte er. «Bloß haben wir dieses Jahr zu viele Mutterschafe.»
Jamie grinste. «Wird schon», meinte er. «Los, kleiner Wirbelwind, ab mit dir.»
Gehorsam rutschte Josie aus dem Sattel. Finn war überrascht. «Warst du barfuß unterwegs?»
«Ist gar nicht kalt, wenn man sich erst dran gewöhnt hat.» Josie streichelte das Pony. Sie wollte sich gar nicht von Jamie trennen und strahlte ihn an.
Just in diesem Moment trat Siobhan vor die Tür. Sie rief Josie zu sich. Gehorsam lief das Mädchen über das harsche Gras. Sie musste Hornhaut unter den Füßen haben wie mancher Scherer an den Händen, dachte Jamie.
«Geh hinein und wasch dir Hände und Gesicht.» Siobhan packte die Hände ihrer Tochter, drehte die Handflächen nach oben und seufzte, ehe sie Josie mit einem Nicken ins Haus schickte. Das Mädchen sprang davon und ließ sich von der gütigen, mütterlichen Strenge nicht beirren.
«Alles in Ordnung da oben bei euch?», fragte Jamie.
«Alles gut», meinte Siobhan knapp. Sie warf Finn noch einen Blick zu, dann verschwand sie wieder im Haus.
«Probleme?»
Finn hatte Tabaksbeutel und die Pfeife gezückt. Er stopfte sich ein Pfeifchen, schlug das Streichholz an der Bank an und schmauchte in aller Ruhe, ehe er antwortete. «Unsere Schwägerin und Ruth haben etwas unterschiedliche Ansichten über Erziehung, und ich musste meiner Frau beispringen.»
Er strich mit der freien Hand über den Schädel, den Ruth ihm beinah kahl geschoren hatte.
«Also alles wie immer.»
«Alles wie immer», bestätigte Finn.
«Wir sehen uns.» Jamie wendete das Pony. Es zog ihn nach Glenorchy und dann möglichst rasch wieder heim.
Die Witwe Jennings, die das einzige Blumengeschäft Glenorchys unterhielt, ließ sich an diesem Morgen natürlich noch mehr Zeit als sonst und trödelte herum, um Jamie genau nach allen Einzelheiten auszufragen. Was für ein Kleid Emily denn trug und ob man schon was sehen könne – sie zwinkerte ihm zu und grinste ihn zahnlos an –, aber bei ihr sei Emilys kleines Geheimnis ja sicher. Was Jamie aus gutem Grund bezweifelte, aber er hielt lieber den Mund.
«Das ist so schön!», verkündete sie und hantierte mit ihren arthritisch gekrümmten Fingern mit Blumenstrauß und Draht. «So eine wichtige Hochzeit für Glenorchy und Kilkenny!»
Jamie schwieg höflich, aber sie ließ sich davon nicht beirren. «Finden Sie nicht auch, Mr. O’Brien? Ich weiß noch, wie Sie gar nicht auf der Welt waren, und schon damals hatten die beiden Familien im Clinch gelegen. Ja, gucken Sie mich nicht so an, ich weiß doch Bescheid. Man kann nicht in Glenorchy leben, ohne den Hass zu bemerken, der zwischen den Gregorys und den O’Briens von jeher geherrscht hat.»
«Nun ja …» Jamie war es unangenehm, die Witwe Jennings so reden zu hören. Doch während sie eifrig die letzten Blüten feststeckte und ihr Werk beständig korrigierte – was sie, wie Jamie argwöhnte, sicher vor allem deshalb tat, um möglichst lange mit ihm reden zu können –, fuhr sie in einem Plauderton, mit dem man doch eher das Wetter oder die neusten Kochrezepte besprach, fort: «Dean Gregory hat es Ihrem Vater eben nie verziehen, dass er diesen Maorijungen, wie hieß er gleich?»
Sie machte eine Pause, und weil Jamie endlich fortwollte, half er ihr. «Rawiri.»
«Ja, Rawiri. Dass er diesen Jungen also Dean Gregory weggenommen hat, das hat er ihm übelgenommen. Damals ging’s schon los, seit jenen Tagen gab’s keinen Frieden mehr zwischen den O’Briens und den Gregorys. Und wie Ihre Schwägerin Siobhan Deans Frau Zuflucht gewährte, weil er sie grün und blau geprügelt hat, das hat ihn gegen sie aufgebracht. Als er noch reden konnte, hat er gegen sie gewettert, als sei sie schlimmer als Madame Robillard. Aber jetzt, ach! Das freut mich so für Sie und Ihre Familie. Jetzt wird alles wieder gut. Aaron Gregory ist ein feiner Kerl, ganz anders als sein Onkel Dean. Er wird Ihre Schwester sicher glücklich machen, auch wenn er sie vor der Ehe geschwängert hat. Man kann nicht alles haben, hm?» Sie zwinkerte ihm verschwörerisch zu.
Jamie behielt wohlweislich seine Meinung für sich.
Jeder wusste – bestimmt auch die Witwe Jennings –, dass Aaron und Emily seit Jahren in Dunedin zusammenlebten. Erst Emilys späte Schwangerschaft hatte die beiden zur Heirat bewogen. Aber das würde er Glenorchys größtem Klatschweib sicher nicht noch einmal auf die Nase binden.
«Die Jungs vom alten Gregory sind ja immerhin wohl geraten – Robert ist in Ihrem Alter, nicht wahr? Aber so recht verstanden haben Sie sich nie mit ihm, ich weiß schon. Zumal er ja auch ein Auge auf Ihre Sarah geworfen hat.» Jetzt war es aber genug, das ging Jamie nun wirklich zu weit. Er verstand sich recht gut mit Rob – wie sich zwei Heranwachsende halt verstanden, mal mehr, mal weniger. Da sie wenig miteinander zu schaffen hatten, war es meistens eher weniger. Vielleicht würde Jamie ihn sogar gern mögen, wenn sie sich besser kannten.
«Hat er doch, oder? Grad letztens zu ihrem Geburtstag hat er bei mir so ein hübsches Sträußchen bestellt, das müsste Ihnen doch auch aufgefallen sein. Von Ihnen hat sie jedenfalls keine Blumen gekriegt.»
Er würdigte die Witwe Jennings keiner Antwort mehr. Die schien es gar nicht zu bemerken und säuselte munter vor sich hin, während sie am Brautstrauß winzigste Verbesserungen vornahm. Aber er übte sich in Geduld und wartete, bis sie ihm endlich das fertige Werk überreichte.
Nachdem sich die Witwe Jennings wortreich von ihm verabschiedet hatte und er ihr wiederholt versichern musste, Emily und Aaron ihre Glückwünsche zu übermitteln (er würde sich hüten!), war er sicher, dass ihn nun nichts mehr aufhalten würde.
Bis er am Postamt vorbeiritt.
Gerade schnitt der Postbeamte Mr. Brown das Paket mit den neuen Zeitungen auf. Ein Dutzend junge Männer umringten ihn und rissen sie ihm geradezu aus den Händen. Einer blätterte hektisch, dann stieß er einen triumphierenden Schrei aus.
Jamie zügelte sein Pony. «Was ist los, Rob? Sind wir endlich mit von der Partie?», rief er Robert Gregory zu, der so geschrien hatte.
Der junge Mann sprang mit einem Satz über ein paar vereiste Pfützen und hielt Jamie die Zeitung hin. «Lies selbst», forderte er ihn auf. «Seite vier.»
Jamie blätterte hastig durch die Seiten. Tatsächlich – auf der vierten Seite prangte über allen anderen Artikeln mittig der Satz: «Großbritannien erklärt Krieg – Deutschlands Herausforderung angenommen.»
Darunter war zu lesen: «Ergebnis der feindlichen Invasion Belgiens». Des Weiteren konnte man von der türkischen Mobilmachung lesen und von der wachsenden Kriegsbegeisterung in den britischen Hoheitsgebieten.
Jamie gab die Zeitung zurück. «Geben Sie mir auch eine, Mr. Brown.»
«Hol sie dir, O’Brien!», gab der knurrige Alte zurück.
Also stieg er vom Pony, klopfte Rob zum Gruß auf die Schulter und reihte sich bei den Wartenden ein. Er drückte Mr. Brown einen Penny in die Hand, faltete die Zeitung und schob sie unter seine Weste. Vermutlich würde die Druckerschwärze sein Hemd ruinieren, aber das kümmerte ihn jetzt nicht. Finn und Pop würden es ihm danken, wenn er die Zeitung mitbrachte.
Endlich ging es in den Krieg! Endlich hatten die Briten ihre Zögerlichkeit aufgegeben und machten ihre Drohung wahr!
«Und? Gehste mit? Sie machen in jeder Stadt ein Rekrutierungsbüro auf, damit wir uns freiwillig melden können.» Rob gesellte sich zu ihm.
Jamie zuckte mit den Schultern. «Weiß nicht. Vielleicht?»
«Das wird ein großer Spaß. Wir hauen den Deutschen den Arsch voll und sind zu Weihnachten wieder zu Hause.» Rob grinste zufrieden. «Das Beste ist, dass meine Brüder zu Hause bleiben müssen. Endlich mal ein paar Monate Ruhe vor ihnen.»
Jamie dachte an Sarah.
«Du musst mitkommen!» Rob hatte sich jetzt in Begeisterung geredet. «Stell dir vor, wir beide in Europa. Davon können wir unseren Enkeln noch erzählen!»
Jamie zögerte.
«Ist also abgemacht, ja?» Wieder schlug Rob ihm kameradschaftlich auf die Schulter. So hatte Jamie ihn noch nie erlebt. Wenn sie sich sonst begegneten, war Rob Gregory allenfalls mürrisch oder ignorierte ihn vollständig.
Sie machten den anderen Männern Platz, die inzwischen von allen Seiten heranströmten und Mr. Burton die Zeitungen förmlich aus der Hand rissen.
«Ich muss erst mit meinem Pop reden», versuchte Jamie auszuweichen. Natürlich war so ein Kriegsabenteuer ganz nach seinem Geschmack, doch ihm gefiel der Gedanke nicht, im fernen Europa zu weilen. So weit weg von Sarah! Eigentlich hatte er schon lange überlegt, ob er sie nicht einfach fragen sollte …
Es war ausgemachte Sache für ihn, dass er Sarah heiraten würde. Sie mochten sich, waren gemeinsam aufgewachsen. Er konnte sich nicht vorstellen, dass eine andere die Richtige für ihn sein könnte.
«Papperlapapp! Was verstehen die Alten schon vom Krieg? Das wirst du wohl noch allein entscheiden können, oder?»
Jamie war nicht dumm. Er spürte, wie Rob versuchte, ihn zu beeinflussen. Und noch vor ein paar Tagen hätte er ohne Zögern zugestimmt und wäre mit Rob Gregory Arm in Arm zum Rekrutierungsbüro marschiert.
Doch jetzt, da der Krieg tatsächlich auch nach Neuseeland kam, zögerte er. Plötzlich trat ihm nur zu klar vor Augen, was das bedeutete.
Ich müsste Sarah allein lassen.
«Pass mal auf.» Rob nahm seinen Arm und führte ihn vom Postamt weg. «Dieser Krieg ist wichtig. Für unsere Freiheit und Unabhängigkeit. Was wird wohl aus Neuseeland, wenn der Deutsche Europa überrollt? Siehst du», fügte Rob hinzu, weil Jamie nichts erwiderte. «Komm doch mit! Das wird ein Spaß.»
Rob legte ihm so freundschaftlich den Arm um die Schulter und war so nett, dass Jamie zauderte. Und wenn er einfach mitging? Im Grunde war ihm sehr danach.