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Für Terry, immer
Übersetzung aus dem Englischen von Susanne Engelhardt
Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe
1. Auflage 2013
ISBN 978-3-492-96077-9
© 2000 Sarah Harvey
Titel der englischen Originalausgabe:
»Fly-fishing«, Headline Book Publishing, London 2000
Deutschsprachige Ausgabe:
© 2013 Piper Verlag GmbH, München
Die Rechte an der deutschen Übersetzung von Susanne Engelhardt liegen beim Wilhelm Goldmann Verlag, München, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlaggestaltung und -motiv: Eisele Grafik-Design, München, unter Verwendung der Fotos von Alex Wilson/Getty Images (Ente) und GK Hart/Vikki Hart/Getty Images (Küken) und Elena Itsenko/shutterstock (Rosen)
Datenkonvertierung E-Book: Kösel, Krugzell
Wären Männer und Frauen wirklich füreinander geschaffen, dürften sie nicht so verdammt verschieden sein, oder? Es stimmt schon, körperlich gesehen klappt alles bestens, aber in Sachen Gefühle... da gleicht das Ganze eher dem Mixen von Chemikalien in einem Schullabor: Zwei kleine, anonyme Fläschchen mit Flüssigkeit, ziemlich harmlos, solange sie getrennt bleiben, doch kaum kippt man sie zusammen, macht es bumm! Die Folge ist ein Super-GAU.
Doch die Menschen sind verdammt sturköpfig, und die Dinge, die schlecht für uns sind, sind gleichzeitig die Dinge, ohne die wir nicht leben können. Neben Schokolade, Alkohol, Geld, Klamotten, Autos, der Karriere und anderen Statussymbolen kommen Sex und Sexpartner ziemlich weit oben auf der Liste mit dem Titel »Das will ich und zwar sofort!«. Und das ungeachtet des Schadens, den sie der zarten feinen Struktur zufügen können, die das »Wesen« in einem menschlichen Wesen ausmacht.
Daher auch der angeborene Trieb, nach der verwandten Seele zu suchen, diesem sagenumwobenen Geschöpf, das unserem unerfüllten Leben die Erfüllung bringen soll. Wenn aber die Vorstellung, sich zu binden, überholt ist, warum sehnen sich dann immer noch so viele Menschen danach, »den Richtigen« zu finden? Nicht nur ihn zu finden, sondern auch, mit ihm auszugehen, in die Kiste zu hüpfen und vor den Altar zu treten (zugegeben, die zwei letzten sollten nicht unbedingt in dieser Reihenfolge stattfinden, aber schließlich leben wir im einundzwanzigsten Jahrhundert), um dann einen glücklichen Lebensabend in einer Inkontinenzwindel zu verbringen, die Platz für zwei bietet?
Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie ich den blassblauen Luftpostbrief öffnete – Nummer neunundsiebzig, wenn ich mich recht erinnere -, in dem stand, dass meine beste Freundin heiraten würde. Nicky hatte mir einmal pro Woche geschrieben, seit ich England vor fast zwei Jahren verlassen hatte, und sie hatte jeden Umschlag fein säuberlich nummeriert, so dass ich wusste, in welcher Reihenfolge ich sie zu öffnen hatte, wenn sie mich endlich einholten, nachdem sie mir und meinem Rucksack quer durch Thailand und Australien gefolgt waren.
»Liebe Belle – stell dir vor: Ich heirate!«
Zwei schicksalhafte Worte. Groß, fett und quer über eine ganze DIN-A-4-Seite gekritzelt.
In ihnen schwang eine solche Menge an Träumen und Erwartungen mit, dass sie quasi auf einer Welle der Erregung über den Ozean zu mir herüberschwappten. Nicky hätte sich die Briefmarken sparen und mir die Nachricht mit einem Luftkuss schicken, sie in ihrer Ekstase bis zu mir pusten können.
Was für eine Schande, dass diese Seligkeit nur von kurzer Dauer sein und sich schnell wieder in Luft auflösen sollte – wie eine Luftblase, die von einer frechen kleinen Rotznase vorzeitig zum Platzen gebracht wird.
Kula Shaker dröhnt in meinen Ohren.
Kevin Costner tanzt vor meinen Augen, zeitweilig unbewolft, dafür aber um so reizvoller, weil nahezu unbekleidet. Sein gebräunter, gestählter Körper wird nur von einem Lendenschurz bedeckt, der netterweise nicht allzu windfest zu sein scheint.
Ein großer Wodka-Cola in der Rechten.
Den letzten Jilly Cooper und einen extragroßen Riegel bester Cadbury-Schokolade auf dem kleinen, weißen Plastiktablett vor mir.
Ein überaus knuspriger Typ sitzt im Sessel auf der anderen Seite des Ganges, der meine langen, braunen Beine mit schmeichelhafter Regelmäßigkeit betrachtet.
Wer behauptet, Langstreckenflüge seien die Hölle? Das hier kommt meiner Vorstellung von totaler Glückseligkeit ziemlich nahe. Ich habe alle Dinge, die ich liebe: Musik, Filme, Männer, Alk, Bücher und Schokolade, alle zusammen, alle auf einmal und alle am selben Ort.
Ich seufze glücklich, breche mir noch vier Ecken von meinem Schokoriegel ab und lasse sie im Mund zergehen.
Die einzigen Dinge, die fehlen, sind ein schönes, weiches Sofa zum Kuscheln anstelle des genormten Flugzeugsitzes, der viel zu wenig Raum für die Beine bietet und dem armen Tropf hinter mir in den Magen drückt, wenn ich mich zurücklehne, eine nette, knautschige Bettdecke zum Zudecken und meine beste Freundin Nicky, mit der ich diesen Moment teilen möchte.
Aber wer wird sich schon beklagen? Ich sicher nicht.
Die süße Nix, meine beste Kameradin auf der ganzen, weiten Welt, meine Freundin seit nunmehr fast fünfzehn Jahren, meine Partnerin bei einer ganzen Menge Kinderstreiche und einer der wenigen Menschen, bei denen es mir Leid tat, sie zu verlassen, als ich mich aufgemacht habe zur anderen Seite der Welt – jetzt erwartet sie mich wer weiß wie viele Meter weiter unten. Schon seltsam. Ich habe sie seit fast zwei Jahren nicht gesehen, und jetzt werde ich sie in genau... ich blicke auf die Uhr... zwanzig Minuten wiedertreffen, wenn der Zoll und die Gepäckausgabe mitspielen. Uber mein gegenwärtiges Transportmittel kann ich wahrhaftig nicht klagen. Nach einigen der Orte, an denen ich mich in letzter Zeit aufgehalten habe, ist dieses Flugzeug das Hilton.
Ins Hilton würde ich allerdings so nicht kommen, mit diesen abgeschnittenen, ausgefransten und von der Sonne völlig ausgebleichten Jeans, den total zerfetzten Turnschuhen und dem verblichenen, taschentuchgroßen Stück Stoff, das vorgibt, ein Top zu sein.
Nach dem empörten Gesichtsausdruck der Stewardessen zu schließen muss ich froh sein, dass man mich überhaupt an Bord gelassen hat. Aber was erwarten die denn von jemandem, der zwanzig Monate lang quer durch Thailand, Neuseeland und Australien getourt ist, und das mit nichts als dem Notwendigsten des Notwendigen im Rucksack?
Dabei kann ich gar nicht so schlecht aussehen. Der Typ auf der anderen Gangseite mit dem ansprechenden Profil und den noch ansprechenderen Beinen lässt seinen Blick schon wieder herüberschweifen.
Wir bewundern wohl gegenseitig unsere Beine.
Klammheimlich werfe ich einen Blick zurück.
Er ist viel dreister als ich. Er ertappt mich, sieht mir in die Augen und zwinkert mir auffällig zu. Sein Gesicht sieht von vorn sogar noch besser aus als von der Seite. Männlich, sonnengebräunt, mit einem angedeuteten Bartschatten, der ihm gut steht und mehr an einen süßen Macho erinnert als an einen protzigen, angeberischen Popstar.
Wie er wohl heißt?
Ich finde, er muss einen markanten Namen haben, der zu dem markanten Gesicht passt, etwas Kurzes, aber Freches wie Sam nein, das klingt bisexuell. Rex? Nein, das ist ein Hundename. Adam? Genau, Adam passt zu ihm; sehr urtümlich. Adam, der erste Mann. Nun, das wäre er nicht so ganz, soweit es mich betrifft… obwohl es mir gelungen ist, den Fernen Osten ohne Zusammenstöße der heißen Art mit Angehörigen des anderen Geschlechts zu bereisen. One-Night-Stands sind nicht mein Ding, und wenn man reist, dann ist eine Langzeitbeziehung auch nicht gerade günstig. Und ehrlich gesagt will ich auch gar keine Langzeitbeziehung.
Aber so ein Flirt ist nett.
Ich drehe die Lautstärke meines Kopfhörers herunter und wende mich wieder den sexy Knien zu, willens, eine nette Runde Augen-Pingpong zu spielen.
Dummerweise versperrt mir etwas die Sicht und wirft seinen höchst grazilen Schatten und eine ganz eigene Form des sauren Regens auf mich. Aufreizend klimpert sie mit den Augendeckeln. Frustriert muss ich mit ansehen, dass die umwerfende, wie aus dem Ei gepellte Stewardess, die mich beim Einsteigen so angegiftet hat, weil ich wie ein Flüchtling vom Bondi Beach aussehe, meinen attraktiven Fremdling kokett anlächelt und sich viel tiefer als nötig vorbeugt, um ihm ein Glas Champagner einzuschenken. Seine verwaschenen Shorts haben sie bestimmt nicht so angeekelt betrachtet, als er an Bord kam.
Wären wir jetzt in einem Film, dann würde sie mir den Champagner einschenken – in seinem Auftrag, mit den besten Komplimenten, mit unendlicher Hingabe und mit seiner Telefonnummer in petto. Stattdessen ist er in den Anblick ihrer stahlblauen Augen vertieft und lächelt idiotisch, als wären gerade all seine Hirnzellen betäubt und schmachtend in Ohnmacht gefallen, die kleinen Hirnzellenhändchen auf die kleinen Hirnzellenherzchen gepresst.
Ich bin eine vergessene Nummer, ein fünfzig Sekunden währender Traum, ein vergangener Flirt.
Und da wird behauptet, Frauen seien wankelmütig!
Nicky und ich haben bereits vor langer Zeit festgesetzt, dass der beste Freund des Mannes der Hund ist, weil beide auf der gleichen emotionalen Stufe stehen. Im Grunde führen Hunde das Leben, das Männer sich immer wünschen. Sie essen, schlafen, furzen laut und ungehemmt – meist, ohne ausgeschimpft zu werden -, und als Krönung bumsen sie wahllos und ohne den Zwang, ein Kondom zu tragen, über Nacht zu bleiben oder sich danach noch mal zu melden.
Überflüssig das ermüdende Ritual, uns zum Essen auszuführen, zu schmausen, zu trinken, zu flirten und so zu tun, als wären sie ernsthaft an unserem Intellekt interessiert, bevor sie zum »Nachtisch« übergehen. Wenn ein Mann damit davonkommen würde, herumzustreifen, seine Nase in unseren Schritt zu stecken und uns dann zu bespringen, dann würde er es tun, da bin ich mir sicher.
Nicky und ich haben unsere eigene Männerskala. Die ähnelt einem Rechenschieber; die meisten Männer, die wir treffen, werden gleich rausgekickt – wie die Spielsteine beim Menschärgere-dich-nicht. Mein wankelmütiger Nachbar ist gerade aus der Kategorie der »potenziellen Lustobjekte« abgerutscht in die der »typischen Platzverschwender«. Das bedeutet, dass er immer noch ziemlich weit oben steht. Die Skala reicht so weit nach unten wie der jeweilige Mann. Ein Fass ohne Boden.
Verstehen Sie mich nicht falsch. Mir gefallen Männer – sogar sehr. Mir gefällt nur nicht, was manchmal aus ihnen wird, wenn sie (a) zu viel getrunken haben und in Gruppen unterwegs oder (b) der Meinung sind, sie hätten unsereins mal wieder mit ihrem Charme, ihrem Geist und ihrem rundum tollen Aussehen eingewickelt, weshalb jede weitere Anstrengung, uns glücklich zu machen, pure Energieverschwendung ist. Und diese Energie nutzen sie lieber dazu, Biergläser zu stemmen und andere Frauen aufzureißen, um sich davon zu überzeugen, dass sie es noch immer drauf haben.
Jetzt muss ich nur noch begreifen, dass meine beste Freundin Nicky, eine normalerweise vernünftige und durch und durch gescheite Frau, beschlossen hat, das Äußerste zu riskieren. Sich in den gefühlsgeladenen Abgrund des Lebens zu stürzen. Sich als Sklavin der Gefühle und der dreckigen Socken zu verdingen. Im Gegenzug erwartet sie ein gemeinsames Bankkonto und regelmäßiger Sex.
Sie heiratet.
In Gedanken wiederholte ich diesen Satz, um ihn endlich zu kapieren.
Nicky heiratet.
Sorry, ich befürchte, die Bedeutung ist mir noch nicht wirklich klar. Verstehen Sie – wir hatten uns geschworen, es nie zu tun, aber in weniger als vier Wochen wird sie sich diesen Opferkranz aufstülpen und sich von einem Mann an den anderen übergeben lassen.
Doch Nicky ist von der ganzen Sache so hin und weg, dass ich selbst auf der stetig steigenden Flutwelle mitgetragen werde, der die Hochzeit meiner besten Freundin gleicht. Ich will sagen, dass ich mich von ihr habe breitschlagen lassen, in ein pfirsichfarbenes Etwas – welch ein Horror! – zu schlüpfen und hinter ihr Richtung Kirche zu schweben. Ich habe sogar meine Reise abgekürzt, um nach London zurückzukehren und mich mit ihr zu freuen. Der einzige Grund, warum ich das sonnige-relaxte Aussie-Land verlasse, die letzte Etappe meiner großen Reise – eine Etappe, die den Namen kaum verdient, weil ich dort nur knapp einen Monat verbracht habe -, der einzige Grund ist der, Nicky bei den letzten Vorbereitungen für ihren großen Tag zu helfen, und zwar in meiner offiziellen Rolle als Brautjungfer. Tja, das und die Tatsache, dass ich ziemlich abgebrannt bin.
Die Frage war: Soll ich mein Flugticket eintauschen und mit dem so gewonnenen Geld bleiben, um dann so lange zu arbeiten, bis ich mir den Rückflug – wenn überhaupt – wieder leisten kann, oder soll ich gleich fliegen und mich in etwas Seidiges, Segelartiges hüllen, um Nickys Brautjungfer zu werden? Unsere enge Freundschaft und meine traurigen Finanzen gaben den Ausschlag, und so sagte ich der Sonne, dem Faulenzen und einer überwältigenden Landschaft auf Wiedersehen und sprang in die nächste Maschine nach London.
Der Kapitän kündigt den Anflug an, und als sich das Flugzeug zur Seite neigt, blicke ich über die zwei dösenden Passagiere neben mir und sehe unten die Lichter von London funkeln. Ich fühle, wie mich eine Woge der Erregung durchfährt. Halloooo, Baby! Zivilisation, komm zu Mama! Willkommen in der guten, alten, hedonistischen und total selbstverliebten Realität der modernen Welt, wo Schokolade bequem aus dem Automaten kommt und wo öffentliche Toiletten etwas mehr Komfort bieten als mit Fliegen verseuchte Löcher im Boden.
Ganz egal, wie atemberaubend einige der Orte auch waren, an denen ich gewesen bin, London ist immer noch meine Heimat.
Eine spannende, aufregende Metropole, die mir umso attraktiver erscheint, weil ich weiß, dass ich nicht die halbe Nacht damit verbringen muss, mein Gepäck durch die Straßen zu schleppen – auf der Suche nach einem Quartier, das meinem Budget angemessen ist (zehn australische Dollar, ein Taschenmesser und ein Päckchen chinesischer Kaugummi), und dass mein Heil nur Minuten entfernt ist, wenn ich mich nach einem Mars, einer Pizza oder einer Packung Tampons sehne.
Das Erste, was mir auffällt, als ich mit weichen Knien aus dem Flugzeug stolpere, nachdem ich über vierundzwanzig Stunden im Sitz ausgeharrt habe, ist die Tatsache, wie unangebracht meine Strandklamotten doch für den ziemlich unfreundlichen englischen Frühling sind.
Nieselregen. Ich hatte ganz vergessen, was das ist. Nicht zu vergleichen mit den dampfenden Straßen Bangkoks, wo ein kurzer Regenguss wie eine Dusche unter einem heißen Wasserfall ist. Irgendwie gelingt es mir, ohne großes Aufsehen durch die Passkontrolle zu kommen, meinen Rucksack und meinen alten, zerlumpten Seesack vom Rollband zu fischen, um mir dann einen Weg zwischen den vollgepackten Gepäckwagen der anderen Passagiere zu bahnen. Schließlich gelange ich hinaus in die Ankunftshalle und durchforsche das Meer erwartungsvoller Blicke nach einem bekannten Gesicht.
Ich bin mir meines Körpers immer besonders bewusst, wenn ich durch den Zoll in die Ankunftshalle komme, wo alle stehen und einen anstarren, wo Taxifahrer mit Namensschildern winken und aufgeregte Familien auf ankommende Verwandte warten. Fühlen sich so Fußballspieler, wenn sie aus dem Tunnelgang auf das Spielfeld treten? Alle Augen sind auf einen gerichtet, voller Hoffnungen und Erwartungen.
Mein Flugzeugnachbar mit den sexy Knien schiebt an mir vorbei, auf seinem Gepäckwagen stapelt sich teures Ledergepäck neben einem schwarzen Laptop und Duty-Free-Taschen, aus denen Schnaps, Kippen und Parfüm quellen. Im nächsten Moment geht er fast zu Boden, als eine umwerfende Blondine in einem schlicht und ergreifend noch umwerfenderen Designerkostüm sich ihm in die Arme wirft. Ihre Beine reichen bis zu ihren tarantellangen Wimpern.
»Tristan, Liebling, ich habe dich ja so vermisst!«
Tristan? Da lag ich aber ganz schön daneben. Überhaupt lag ich in jeder Hinsicht daneben, soweit er betroffen war, dieser wankelmütige Wollüstling.
»Hast du mich vermisst?«, säuselt sie, und ihre langen Wimpern flattern wie Motten vor einem Fenster.
»Ich habe jeden einzelnen Moment an dich gedacht«, gurrt er.
Lügner! Tristan sackt rasant auf meiner Männerskala auf die Ebene der »miesen kleinen Ratten« ab, die gerade noch eine Stufe über dem »Bodensatz der Schleimscheißer« und zwei Stufen über dem derzeit abgrundtief Niedrigsten stehen, der »stinkenden Ausgeburt eines leibhaftigen Teufels«.
Seltsam, die meisten Männer, die ich unterwegs getroffen habe, erhielten dieselben Einordnungen, entweder in der Kategorie »gerade genug Hirn, um auf Sport, weiche Drogen und harten Schnaps zu stehen«, oder in der Kategorie »würde auch ein Schaf bumsen, wenn es ihm die Zigarette danach anzündet«. Ich muss mich wohl in den falschen Kreisen bewegt haben. Ich stehe da und starre gut sechzig Sekunden lang durch Nicky hindurch, bevor die Tatsache, dass sie auf- und abhüpft und mit lauter Stimme meinen Namen ruft, sich schließlich einen Weg in mein übermüdetes Hirn bahnt.
»Annabelle! Belle! Da bist du ja... endlich! O mein Gott, wie toll du aussiehst! O mein Gott, ich kann gar nicht glauben, dass du es bist!«, quiekt sie, stürzt herbei und wirft die Arme um mich.
Ich atme Nickys vertrauten Geruch ein – Kokosnussshampoo, Fairy-Waschpulver und den schwachen Duft nach Tresor vom Abend zuvor -, bevor sie mich loslässt, mich auf Armeslänge von sich hält und von oben bis unten mustert. Ihre Augen glitzern vor Aufregung und Freude.
»Lass dich ansehen! Wie schlank und braun du bist. Mein Gott, und dein Haar ist mindestens einen halben Meter gewachsen. Du siehst glänzend aus, einfach glänzend...«
Ich starre auf das, was Nicky sein muss. Anstelle eines offenen Lächelns habe ich ein schockiertes, unechtes Grinsen aufgesetzt und wünschte wirklich, ich könnte das Kompliment erwidern, aber dann müsste ich lügen. Und man belügt doch seine beste Freundin nicht, oder?
»Du auch.« Ich zwinge mich, mein Grinsen zu einem hoffentlich etwas natürlicherem Lächeln zu erweitern. Ein kleiner Schwindel, zugegeben, aber ich wollte ihre Gefühle nicht verletzen, und dann zählt es doch nicht, oder? Außerdem sieht sie in meinen Augen großartig aus, ich habe sie schließlich so sehr vermisst, aber...
Nicky zieht eine Schnute.
»Quatsch«, entgegnete sie und lächelt schwach, »ich sehe schrecklich aus, und wir beide wissen es.«
Nix war schon immer unglaublich hübsch, ohne es zu wissen. Ihre Augen sind so grünblau gesprenkelt wie eine reife Birne, sie hat ein spitzes kleines Kinn und eine niedliche, kleine Stupsnase, die sie hasst, weil sie denkt, dass sie damit wie ein Wichtel aussieht, die aber jeder, der sie trifft, unglaublich süß findet.
Jetzt sieht ihr dunkelblondes Haar, das normalerweise zu einem gepflegten Pagenkopf frisiert ist, aus, als hätte jemand dilettantisch drauflos gesäbelt. Es steht in alle Richtungen ab und ist so trocken wie ein Kamel, das acht Tage ohne den Anblick einer Oase auskommen musste.
Sie hat einen dicken, roten Pickel auf dem Kinn. Sie wissen schon, einer von der Sorte, die so fett sind, dass man beinahe meint, sie aufleuchten zu sehen wie ein Warnblinker. Dabei hat sie sechs Schichten Tönungscreme aufgetragen.
Und sie muss mindestens zwölf Pfund zugelegt haben, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben.
»Kummerspeck«, erklärt sie und lacht trocken, als sie mich dabei ertappt, wie ich erstaunt auf die zusätzlichen Kurven blicke, die ihr einst so schlanker Körper jetzt aufweist.
»Schon seltsam, was? Wenn man frisst wie ein Schwein, sieht man irgendwann auch aus wie eins. Genau genommen müsste ich aussehen wie ein Schokokeks...« Achselzuckend lacht sie. »Aber egal, wir sollten hier nicht rumstehen und quatschen, du musst ja total erschöpft sein. Dann wollen wir dich mal nach Hause bringen – also zu mir, um genau zu sein. Ich hoffe, es ist dir recht, erst mal bei mir zu wohnen. Es sei denn, du willst zurück zu deiner Mutter, was eher unwahrscheinlich ist, wenn man bedenkt, dass du fünf Monate lang nicht mit ihr gesprochen hast. Und dann musst du mir auch erst mal genau erzählen, wie es war. Ich will jedes verdammte Detail und jede klitzekleine Einzelheit wissen.« Sie bricht ab und umarmt mich erneut. Plötzlich sieht sie sehr traurig aus. »Ach, Belle, es tut so gut, dich wieder hier zu haben! Du weißt ja gar nicht, wie sehr ich dich vermisst habe.«
»Ich habe dich auch vermisst, Baby«, erwidere ich und drücke erstaunt ihre neuen, schwabbeligen Kurven.
Kummerspeck? Warum sollte Nicky Kummerspeck ansetzen? Eine vorhochzeitliche Nervenkrise vielleicht? Sie schnappt sich meinen Seesack, packt mich mit eisernem Griff am Arm und zerrt mich aus dem Terminal zu einem nahe gelegenen Parkhaus, wobei sie die ganze Zeit albern weiterplappert und sich an mich klammert, als würde sie mich nie wieder fort lassen wollen. Trotzdem ist sie immer noch eigenartig distanziert.
Wir haben uns seit fast zwei Jahren nicht gesehen, aber das ist es nicht. Nicky und ich sind die ganze Zeit über in Kontakt geblieben – mit Briefen, Anrufen und ausreichend Postkarten, um eine kleine Sammlung anzulegen.
Es ist eindeutig: Etwas stimmt nicht mit ihr.
Auf Ebene zwei des mehrstöckigen Parkhauses macht sie vor einem metallic-grünen schnieken Sportwagen Halt.
»Das ist deiner?«, frage ich ungläubig. »Was ist mit Arnold passiert?«
Arnold ist – oder vielleicht: war – Nickys erste Liebe. Ein klappriger alter Austin Allegro, der mehr Allüren hatte als eine Hollywood-Diva. Doch Nicky war vernarrt in ihn.
»Er ist seit achtzehn Monaten auf einen Stellplatz in der Nähe der Wohnung verbannt«, erklärt sie mir. »Ich hab’s nicht übers Herz gebracht, mich ganz von ihm zu trennen, aber er hat nicht zum neuen Image gepasst. Aber das tue ich auch nicht, was?«
Und wieder dieses jämmerliche Lachen.
Ich fange an, mir ernsthaft Sorgen zu machen.
Das ist nicht die Nicky, die ich kenne und schätze. Dieses mitreißend fröhliche, heitere, lustige Mädchen, das Nicola Louise Chase in den letzten fünfundzwanzig Jahren immer war.
Und sie hat die Hochzeit noch nicht einmal erwähnt, was nach den letzten paar Monaten, in denen es um kaum etwas anderes ging, ziemlich verdächtig ist.
Nicky drückt auf den Infrarotknopf an ihrem Schlüsselbund, die Scheinwerfer blinken zweimal und die Zentralverriegelung geht auf. Sie hilft mir, mein schäbiges Gepäck in den Kofferraum zu laden, wobei sie die ganze Zeit über meinem Blick ausweicht, und dann steigen wir beide ein.
Ich beschließe, mich vorsichtig anzupirschen.
»Jetzt sag mir nicht, dass wir sofort zum Schneider fahren, damit mir ein schreckliches, pfirsichfarbenes Etwas mit grässlichen Rüschen auf den Leib geschneidert wird?«, frage ich, als sie den Motor aufheulen lässt.
Mir wird klar, dass ich beim ersten Versuch ins Schwarze getroffen habe, denn Nickys Gesicht gleicht jetzt einer Coladose, über die ein Autoreifen gefahren ist.
»Alles in Ordnung, Nicky?«
»Ja, alles... nein, nichts!« Plötzlich lässt sie den Tränen freien Lauf und bricht schluchzend und wie ein Häufchen Elend über dem ledernen Lenkrad zusammen. »Nichts. gar nichts ist in Ordnung. Es ist alles so hoffnungslos und absolut falsch gelaufen, Belle.«
Sie lehnt sich zurück und angelt nach ihrer Handtasche. Vorsichtig strecke ich die Hand aus und drehe den Zündschlüssel, so dass der Motor erstirbt.
Nicky zieht ein Taschentuch heraus und wischt sich krampfhaft die Tränen von den Wangen. Ganz offensichtlich kam das Tuch heute bereits mehrfach zum Einsatz; auf dem weißen Leinen sind Flecken dunkelbrauner Wimperntusche und Spuren von Lippenstift.
»Ach, Belle, ich weiß nicht, was ich machen soll. Ich konnte mit niemandem darüber reden. Ich hab ja versucht, mit meiner Mutter zu reden, aber sie fand es total verrückt, so was auch nur zu denken. Und ich wollte mit dir reden, aber du warst so weit weg, und ich wollte dich nicht beunruhigen, für den Fall, dass gar nichts ist.«
Sie umklammert meine Hand. Ihre ist ganz kalt, die Nägel sind stumpf und abgekaut. Ich drücke sie ganz fest.
»Was ist denn los, Nix?«, frage ich sachte.
Nicky hört auf, in ihr Taschentuch zu schluchzen, und sieht mich an. Ihre großen Augen sind feucht und bekümmert. »Richard…«, keucht sie, »…hat eine andere.«
Richard. Der Zukünftige. Mr. Perfekt, Nickys Briefen zufolge. Ein Mann, zu gut, um wahr zu sein.
»Was hat er? Bist du dir sicher?«
»Ja. Nein... Ach, ich weiß doch auch nicht. Ich blicke einfach nicht mehr durch.«
Wieder sieht sie mich an; Tränen und Wimperntusche strömen über ihre Wangen.
»Na, etwas muss doch vorgefallen sein, wenn du so etwas denkst. Hat er was gesagt? Sich irgendwie verändert?«
Sie schnäuzt sich heftig in das bereits durchgeweichte Taschentuch und nickt.
»Er fing irgendwann an, mir auszuweichen. Du weißt schon hat Verabredungen abgesagt, ist ohne Erklärungen ausgegangen, war mit ›Freunden‹ was trinken, ohne je einen Namen zu nennen, hat bis spät nachts gearbeitet, ist aber nie ans Telefon gegangen, wenn ich versucht habe anzurufen. Ich weiß auch nicht, vielleicht bin ich voreilig, aber früher war er ganz anders. Ich weiß nicht, was ich tun soll, Belle. Vielleicht übertreibe ich. Die Aufregung vor der Hochzeit und so. Ich hoffe wirklich, dass nicht mehr dahinter steckt. Das hat zumindest meine Mutter behauptet…«
»Keine Sorge, Nix«, erwidere ich und drücke sie an mich. »Deine Mutter hat bestimmt Recht. Heiraten ist neben Umzügen und Scheidungen anscheinend eine der Hauptursachen für Stress. Ach ja, und Todesfälle. Natürlich die anderer Leute, denn es ist zu spät, nach dem eigenen gestresst zu sein, nicht wahr? Obwohl der Tod natürlich in diesem Fall Stress abbauen könnte. Will heißen, ich würde mich glücklich schätzen, Richard für dich umzubringen, wenn du meinst, das würde helfen…«
Ich werde mit dem Ansatz eines Lächelns belohnt.
»…doch was auch immer es ist, Nix, wir werden es klären, das verspreche ich dir. Irgendwie schaffen wir es.«
Nicky beugt sich herüber und umarmt mich tränenüberströmt.
»Danke, Belle. Ich wusste, dass mit deiner Hilfe gleich alles besser aussieht. Du glaubst ja nicht, wie froh ich bin, dass du wieder da bist.«
Liebevoll drücke ich sie an mich. Der Mutterinstinkt wallt in mir auf wie bei einem Krallenaffen, der ein heranpirschendes Raubtier gesichtet hat. Sie mag froh sein, dass ich wieder da bin, aber eines ist sicher: Wenn Richard sie wirklich an der Nase herum und geradewegs ins Dornengestrüpp des Verrats führt, statt vor den Altar und anschließend in ein süß duftendes Bett aus Rosenblüten, dann wird er sich wünschen, ich wäre weiter als nur einen Kontinent weg. Wenn ich herausfinde, dass er diese Frau wirklich betrügt, die wahrscheinlich einer der entzückendsten, nettesten Menschen in unserem Universum ist, dann werde ich ihn nicht einfach nur umbringen – ich werde ihn langsam, brutal und sehr schmerzhaft zu Tode quälen.