Luise Rinser
Khomeini und der Islamische Gottesstaat
Eine große Idee. Ein großer Irrtum?
FISCHER Digital
Luise Rinser, 1911 in Pitzling in Oberbayern geboren, war eine der meistgelesenen und bedeutendsten deutschen Autorinnen nicht nur der Nachkriegszeit. Ihr erstes Buch, ›Die gläsernen Ringe‹, erschien 1941 bei S. Fischer. 1946 folgte ›Gefängnistagebuch‹, 1948 die Erzählung ›Jan Lobel aus Warschau‹. Danach die beiden Nina-Romane ›Mitte des Lebens‹ und ›Abenteuer der Tugend‹. Waches und aktives Interesse an menschlichen Schicksalen wie an politischen Ereignissen prägen vor allem ihre Tagebuchaufzeichnungen. 1981 erschien der erste Band der Autobiographie, ›Den Wolf umarmen‹. Spätere Romane: ›Der schwarze Esel‹ (1974), ›Mirjam‹ (1983), ›Silberschuld‹ (1987) und ›Abaelards Liebe‹ (1991). Der zweite Band der Autobiographie, ›Saturn auf der Sonne‹, erschien 1994. Luise Rinser erhielt zahlreiche Preise. Sie ist 2002 in München gestorben.
Inmitten der Wirren der Islamischen Revolution besuchte Luise Rinser den Iran und legte mit diesem Buch einen Gegenentwurf zur Berichterstattung der internationalen Medien vor. Sie beschreibt ihre Eindrücke aus einer von großer Unsicherheit geprägten Zeit stets mit besonderem Blick auf die Situation des Einzelnen. Im Rückblick wissen wir heute, dass sich die islamischen Machthaber schnell durchsetzten und linke Oppositionsgruppen sukzessive ausschalteten. Die Einwohnerzahl des Landes hat sich seit 1979 verdoppelt, das Land sich geöffnet, doch das komplexe, jahrhundertealte Machtgefüge und die daraus resultierenden Spannungen bleiben bestehen.
Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.
Erschienen bei FISCHER Digital
© 2016 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
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ISBN dieser E-Book-Ausgabe: 978-3-10-561201-9
N.F.I.: Nationale Front Iran.
D.N.F.I.: Demokratische Nationale Front Iran.
Im Juni ließ Khomeini allen Alkohol, der im Intercontinental-Hotel in Teheran gefunden wurde, vernichten. Hunderte von Menschen starben an Vergiftung durch selbstgebrannten Alkohol.
Rohollah Khomeini.
Da es augenblicklich, im Mai 1979, kein iranisches Parlament gibt, gibt es auch keine legalen Parteien. Aber es gibt politische Gruppen. Ihre Programme oder jedenfalls Meinungen und Ziele habe ich in den entsprechenden Interviews mit führenden Leuten jeder Gruppe erfahren.
Mitte Juni wurde der vorläufige Entwurf der neuen Verfassung publiziert. Die endgültige Fassung jedoch wird geschaffen von einer gesetzgebenden Versammlung, die von Khomeini einberufen wird. Der Entwurf der Verfassung vom 16. Juni 1979 ist ab Seite 189 abgedruckt.
Über die persische Mystik der »Sufi« wird später gesprochen.
Es gibt moderne Koran-Interpreten, denen zufolge Mohammed mißverstanden worden sei: Wenn er vom Töten der Ungläubigen spreche, so meine er vielmehr das Abtöten des eigenen Unglaubens. Das ist eine schöne Interpretation, deren Gültigkeit man sich für den Islam wünschte. Jedoch wird sie zumindest durch die Geschichte widerlegt: Mohammed selbst hat seine Religion mit militanter Gewalt ausgebreitet.
Neuerdings rechtfertigt Khomeini seine Morde damit, daß er die Schuldigen der »Korruption auf Erden« bezichtigt.
Es ist üblich, einem Buch als Mangel anzukreiden, daß es dieses oder jenes nicht sei, was jemand von ihm erwartet, was jedoch der Autor durchaus nicht wollte, weil er anderes im Sinne hatte. Was dieses Buch nicht sein will, obgleich es dies sein könnte: eine Reportage über die Schah-Zeit und die iranische Revolution von 1979; eine lückenlose Darstellung des Iran (Persien) unter den möglichen Aspekten: historischen, wirtschaftlichen, gesellschaftspolitischen, künstlerischen; eine Verdammung oder Rechtfertigung des Schah-Regimes; eine umfassende Darstellung und theologische Analyse des Islam.
Ich habe keine dieser Fragen übergangen, aber auch keine erschöpfend behandelt. Andernfalls hätte ich der Reihe der Fachbücher zu je einem Thema ein weiteres anfügen müssen.
Ich habe viele solcher Fachbücher durch- und in mein Buch eingearbeitet und habe diese im Register am Ende des Buches aufgeführt, damit jeder, der sich für eine der berührten Sonderfragen interessiert, weiß, wonach er greifen muß. Ich selber mußte darauf verzichten, alles zu sagen, was wichtig wäre zu sagen und was mich sehr interessiert, besonders über den tiefen und nachhaltigen Einfluß des Islam auf unsere westliche Kultur in den Bereichen der Philosophie, Theologie, Mathematik, Astronomie, Medizin, Kunst. Wir sind ein undankbares Volk: statt als die glücklichen Erben der hohen islamischen Kultur dankbar zu sein, mißachten wir den Islam und die Mohammedaner. Mein Buch will, auch wenn ich nicht tiefer eingehen kann auf diese Zusammenhänge, im westlichen Leser wenigstens das Bewußtsein der hohen Würde der islamischen Kultur und ihres Einflusses auf die unsere wecken.
Ferner liegt mir am Herzen, den Leser zu informieren darüber, daß das, was heute im Iran vor sich geht, ein Modellfall und ein Signal ist für die tiefe Veränderung im Gefüge und Bewußtsein der Völker Asiens und Afrikas. Was den Iran heute beunruhigt und ihn zum Kampfplatz mächtiger Ideen macht, das beunruhigt die ganze »Dritte Welt«: die Frage, ob der Islam kann, was das Christentum nicht konnte und offenbar auch gar nicht mehr können will, nämlich eine hohe Ethik mit der Realpolitik in Einklang zu bringen, anders gesagt: Religion und Sozialismus zu einen.
Wir im Westen haben ein bestürzendes Vorurteil dem Islam und den Mohammedanern gegenüber. Leider bestärkt das augenblickliche Vorgehen Khomeinis dieses Vorurteil: der Islam sei eine gewalttätige, mittelalterlich finstere Religion. Was wir heute als Islam sehen, ist genauso der Mißbrauch der ursprünglichen Religion, wie die Kreuzzüge im frühen Mittelalter, bei denen wir die Mohammedaner abschlachteten, ein wüster Mißbrauch der christlichen Religion waren.
Unser westliches Vorurteil gegen den Islam sitzt uns sozusagen im Bluterbe: unsre Kämpfe gegen den Islam waren, was immer sie sonst noch waren, auch ein Kampf der Christen gegen die »Heiden«, ein ganz und gar unberechtigtes Motiv, denn: die Mohammedaner waren und sind keine Heiden, im Gegenteil: sie sind unsre Brüder im Glauben an einen Gott, einen persönlichen Gott. Der Islam ist eine der drei hohen monotheistischen Weltreligionen wie das Judentum und das Christentum. Wir stammen aus der nämlichen Wurzel. Wir müssen heute unsre Gemeinsamkeit neu finden. Dazu soll dieses Buch eine Anregung sein.
Mein Buch ist kein theoretisches. Es entstammt der jahrelangen Teilnahme an der Sorge der Exil-Iraner um ihr Heimatland. Es ist zuletzt entstanden durch meine Reise in den Iran im März und April 1979 und durch meine vielen Gespräche mit führenden Iranern. Daß ich nicht mit Khomeini sprach, was ich, wie alle Journalisten, leicht hätte tun können, hat seinen Grund darin, daß ich das nicht wollte, weil es nichts Neues ergeben hätte. Leider habe ich nicht mit dem besten Mann, dem Ayatollah Taleghani, sprechen können, weil er zuerst nicht bereit war, und als er es für mich war, ich schon abgereist war.
Was mich wie die Iraner und viele vernünftige Menschen unsrer Erde erbittert, ist, daß man sich jetzt empört über die Erschießungen, die Khomeini vornehmen läßt, während man vorher Jahre, Jahrzehnte hindurch zum Schah-Terror schwieg und dem Schah weiter zujubelte, obgleich man etwas wissen mußte von der entsetzlichen Arbeit des persischen Geheimdienstes »Savak«. Man soll Tote nicht in Zahlen gegeneinander aufwiegen, aber ein paar hundert tote Folterer und Generäle des Schah-Regimes wiegen doch weniger als Zehntausende mutiger Revolutionäre, die der Schah durch den Savak foltern und in den unterirdischen Gefängnissen hat verkommen lassen. Wie hat man diesem Schah zugejubelt, als er nach Deutschland kam! Niemand wollte wissen, was er in seinem Lande tat. Man hofierte den Erdöl-Kaiser, den Massenmörder. Was mich andrerseits ärgert, ist, daß jene Jubler, die auch in der bundesdeutschen Regierung saßen, jetzt den Schah mit Fußtritten bedenken, weil er weder nützlich noch gefährlich ist. Darum habe ich versucht, seine Haltung wenigstens ein bißchen zu erklären.
Dieses Buch möchte, daß die westlichen Völker den Iran und andre arabische Länder nicht simpel als Erdölländer, und ihre Bedeutung nur in ihrer Willigkeit, uns Öl zu liefern oder nicht zu liefern, sehen. Jene Völker sind Völker aus Menschen, die gelitten haben und leiden und um ihre Menschenrechte kämpfen.
Und jedes Volk hat seine Zeit,
und so seine Zeit gekommen ist,
so können sie sie um keine Stunde
aufschieben oder beschleunigen.
(Koran 7/32)
Said, deutschsprechender Exil-Iraner, mit dem ich nach Teheran flog, brach in Tränen aus, als er nach fünfzehn Jahren zum ersten Mal wieder seinen Heimatboden betrat. Said ist Politologe. Er macht sich keine Illusionen über die neue iranische Politik. Für ihn ist Khomeini zwar derjenige, der das Schah-Regime beendete mit Hilfe der iranischen Linken, aber nicht derjenige, der dem iranischen Volk Frieden und Freiheit bringt.
Am Flughafen in Teheran lerne ich den ersten fanatischen Anhänger Khomeinis kennen: einen Ingenieur, der lange in der BRD gearbeitet hat und jetzt heimkehrt, um am Aufbau der »Islamischen Republik« mitzuarbeiten. Noch weiß ich nicht, was diese »Islamische Republik« eigentlich ist. Ich weiß aber auch noch nicht, daß niemand genau weiß, was das ist und was er beim Referendum wählt, wenn er diese »Islamische Republik« wählt.
Ich mache eine beiläufige sachliche Bemerkung über die Frau, welche die Paßkontrolle vornimmt: sie trägt keinen Chador, aber ein Kopftuch. Der Iraner hört aus meiner Bemerkung sofort eine Kritik heraus, die sie gar nicht enthielt. Seine Erwiderung ist aggressiv: eine islamische Frau müsse sich verhüllen; Schluß mit dem westlichen Sexismus, Schluß mit aller Pornographie. Im übrigen verkenne ich sicher, meint er, daß der Chador, die Ganz-Verhüllung, auch eine hygienische Maßnahme sei: sie schütze vor dem Wüstenstaub und gegen die starke Sonnenbestrahlung, die nachgewiesenermaßen Hautkrebs erzeuge und auch Haarausfall. Ich höre mir das verblüfft an und wage auf die Negerinnen Afrikas hinzuweisen, die doch auch in praller Sonne leben und dabei fast nackt sind und keinen Hautkrebs haben und wunderschön dichtes Haar. Der Mann nimmt meinen Einwand nicht zur Kenntnis. Ich bekomme den ersten Eindruck davon, wie Khomeini seine Iraner fanatisieren kann.
Said wird trotz der frühen Morgenstunde, es ist fünf Uhr, am Flughafen abgeholt: lauter Exil-Iraner, die seit einigen Wochen wieder in Teheran sind. Noch sind sie wie berauscht von dem Erlebnis, wieder daheim zu sein, offen politisch reden, unbewacht durch die Stadt gehen zu dürfen. Noch, sagt einer von ihnen. Wir haben eine Revolution hinter uns, gewiß, aber wir haben die eigentliche Revolution noch vor uns.
Da ich den Sprecher noch nicht kenne, weiß ich nicht, was er damit meint: die radikale und totale Islamisierung im Sinne Khomeinis, falls er beim unmittelbar bevorstehenden Referendum die absolute Mehrheit des Volks bekommt, oder aber die »linke« Revolution, die als sozialistische Idee moderiert und extrem sowjetisch und maoistisch und trotzkistisch orientiert bei den iranischen Studenten sowohl wie bei den Arbeitern und den nationalen Minderheiten virulent ist und im Falle des Scheiterns Khomeinis eine Zukunft hat, wenn nicht, bei möglicherweise überhandnehmenden Unruhen der wirtschaftlich enttäuschten Arbeiter, sowohl die »Linken« wie die »Rechten« von der Armee überrollt werden und der Iran eine der gefürchtetsten Militär-Diktaturen der Welt wird.
Spuren der Revolution, die den Schah stürzte, sind überall zu sehen: ausgebrannte Autos am Straßenrand, Einschußlöcher an öffentlichen Gebäuden, von Steinwürfen und Geschossen zersplitterte Fensterscheiben (auch im Intercontinental-Hotel), von Panzern eingedrückte Straßenpflaster, ausgebrannte Kinos (die dem Schah-Clan gehört hatten und vorwiegend westliche »pornographische« Filme anboten). Daß die Revolution keineswegs zu einem ruhigen Ende gekommen ist, zeigen die Maschinengewehre auf einigen Gebäuden und die Barrikaden aus Sandsäcken, hinter denen bewaffnete Stadtguerilla auf und ab geht.
Und überall das Bild Khomeinis, hundertmal, in Schaufenstern, an Mauern, an Autoscheiben, auf Spruchbändern … Bisweilen sieht man ein anderes Gesicht: das scharfgeschnittene Profil eines alten Mannes, Mossadegh, der 1953 als Premierminister eine Revolte gegen den Schah anführte und ihn zur Flucht zwang. Aber er konnte sich nicht lange halten. Dennoch gilt er der heutigen iranischen Jugend als Symbolfigur für den Freiheitskampf, zuerst gegen die westlichen Kolonialherren, gegen die Erdöl-Ausbeuter, dann gegen die Korruption der Regierung und gegen den Schah selbst. Er saß lange im Gefängnis, weil man ihn angeklagt hatte, mit der kommunistischen verbotenen Tudeh-Partei zusammengearbeitet zu haben.
An einigen Häusern, schwer bewacht, sieht man Plakate der PLO: das Bild Arafats und des Tempels von Jerusalem mit dem Abzeichen der palästinensischen Fedajin: Hammer, Stern und Gewehr. Die arabische Unterschrift fordert auf zum Kampf um Palästina, zum »Heiligen Krieg«.
Bisweilen sieht man das Bild eines Ayatollah, der nicht Khomeini ist: es ist Taleghani, der Progressist, der große Vernünftige, der Menschliche, eine der Hoffnungen des Iran.
Noch gibt es keine Polizei. Den in den späteren Stunden irrwitzigen Verkehr versuchen Freiwillige (an weißen Armbinden erkennbar) etwas in Ordnung zu bringen. Viele Autos zeigen Brand- und Einschußspuren, viele haben kein Nummernschild, andre keine Scheinwerfer. Teheran ist häßlich, aber die im März noch schneebedeckten Berge dahinter sind wunderschön, und die Stadt ist sauber: Khomeini hat angeordnet, daß jeder Teheraner seinen Teil Straße säubern muß. Sauberkeit scheint immer eng verbunden zu sein mit politischer Säuberung.
Ich frage, ob ich das berüchtigte Gefängnis besuchen könne, das man erst vor kurzem geöffnet hat, wobei man in den Kellern viele Halbverhungerte fand, man spricht von Tausenden; ein Auszug wie aus einem Nazi-KZ bei der Befreiung durch die Alliierten.
Aber jetzt sind die Gefängnisse alle schon wieder voll: die Einsperrer von vorher sind Eingesperrte: die Savak-Führer, die Generäle der Schah-Armee. Einer der grausamsten Männer ist inzwischen hingerichtet worden: der Savak-Chef Nassiri.
Am Nachmittag gehen wir zur Universität. Das ist die Agora, hier wird politisch diskutiert, und hier wird Politik gemacht oder doch künftige Politik geplant. Fast täglich gibt es dort eine Demonstration. Jedermann kann teilnehmen. Said und seine Freunde können es noch nicht fassen, daß sie einfach den Campus betreten können, ohne Sonderausweis und Savak-Überwachung. Auf der Straße vor dem Tor sind, broschiert und eilig gedruckt, die bisher verbotenen Bücher ausgelegt: Brecht und Marx und Rosa Luxemburg und Trotzki und Lenin und Erich Fromm und auch Bölls »Katharina Blum«. Wie lange werden sie verkauft werden dürfen? Die Studenten kaufen und kaufen, »solange man kaufen kann«. Sie glauben nicht an die Freiheit. Auf dem Campus findet eine gewaltlose Demonstration statt, ein Sitin. Tausende, nicht nur Studenten, auch Ältere, sitzen auf dem Rasen zu Füßen einer Balustrade, auf der ein Mann eine Granate hochhält und ruft: »Dies ist das Geschenk der Regierung an die Kurden! So behandelt die neue Regierung ihre nationalen Minderheiten, die ihr zum Sieg verholfen haben!«
Eine Kurdin verliest einen langen, leidenschaftlichen, heftig applaudierten Aufruf für die Freiheit Kurdestans, das erst vor kurzem von einer Armee-Einheit Khomeinis überfallen wurde, wobei es Hunderte von Toten gab, auch Frauen und Kinder wurden erschossen. Plötzlich kommt auf dem Campus Unruhe auf: ein Trupp junger Männer (keine Mädchen dabei) marschiert auf. Keine Studenten, das sieht man. Schlägertypen mit brutalen Gesichtern, zum Fürchten. Sie tragen Spruchbänder mit Khomeinis Bild, und ihre Sprechchöre klingen feindselig. Die Kurdin auf dem Podium bittet die Zuhörer dringend, nicht auf die Provokation einzugehen, ja sich nicht einmal nach den Störern umzuwenden. Tatsächlich scheint niemand Notiz zu nehmen von den immer wieder den Campus umkreisenden Störern. Was für Leute sind das? Man sagt mir, es seien Angehörige der »Revolutions-Komitees«, Khomeinis »SA«, sein Saalschutz, wie Hitler ihn hatte. Niemand weiß noch Genaues über sie, weder über ihre Zahl noch ihre Struktur noch ihre Machtbefugnisse. Vorläufig sind sie eine latente, aber deutliche Drohung. Mit solchen Leuten arbeitet Khomeini? Oder arbeiten solche Leute mit ihm, indem sie sich in seinen Machtbereich gedrängt haben und er sie nolens volens benutzen muß?
Die Kundgebung geht ohne weiteren Zwischenfall vor sich, die große Disziplin der Studenten verhindert Schlägereien. Mir fällt auf, daß bei den Störern keine Frauen sind, wohl aber viele bei den Demonstranten. Das ist parteiprogrammatische Logik: Die Frau hat in der Öffentlichkeit nicht politisch engagiert zu sein. Dagegen gehört es zum Programm der andern, der »Linken«, daß die Frauen auf gleiche Weise politisch arbeiten wie die Männer.
Unter den Frauen auf dem Campus sind solche, die den Chador tragen, und solche, die nur ein Kopftuch umgebunden haben auf jene besondre Art, die es als Signal erkennen läßt, und es sind solche da, die weder das eine noch das andre tragen, sondern die Haare offen zeigen und Blue jeans und ausgediente Militärjacken tragen oder auch normale westliche Kleidung. Nach der Kleidung also kann man mit hoher Sicherheit auf die Gruppe schließen, der die Leute angehören.
Unter den still Demonstrierenden sind auch einige Mullahs, islamische Geistliche mit ihrem Turban. Da es sich um eine Demonstration für die Kurden handelt, nehme ich an, es sind kurdische Mullahs und wohl Anhänger des Ayatollah Taleghani, des Gegenspielers Khomeinis.
Am Botschaftsgebäude der BRD klebt ein Plakat. Said übersetzt mir den Text:
»Stimmt für die islamische Republik, denn sie ist eine starke Faust auf das Maul kommunistischer Söldner, unmenschlicher Imperialisten, zionistischer Okkupanten, verräterischer Savak und des Schah-Regimes.«
Es ist leicht, die Verfasser zu erraten: So sprechen nur Angehörige der Revolutionären Komitees. Ob Khomeini diese vulgäre, aggressive Sprache schätzt?
Am Abend sehen wir einige PLO-Leute den Hoteleingang bewachen. Zwar nicht Arafat selbst, aber ein andrer hoher palästinensischer Führer wohnt dort. Beim Abendessen sehen wir den israelischen Bischof Capucci, der in Jerusalem eingesperrt war, weil er für die Rechte der Palästinenser sprach und handelte.
Said war noch zu Verwandten gegangen, kam aber bald wieder, sehr niedergeschlagen: Die Verwandten, bislang Anhänger des Schah, hatten an Stelle des Schahbilds, das sozusagen auf dem Hausaltar stand, bereits Khomeinis Bild stehen. Die Götter wechseln jäh.
Nach zehn Uhr abends geht niemand mehr auf die Straße. Es gibt keine Sperrstunde, aber nachts sind die Straßen unsicher. Keine Nacht vergeht ohne Schießereien. Wagt jemand oder ist jemand gezwungen, nachts mit dem Auto durch Teheran zu fahren, so wird er viele Male kontrolliert, und er weiß nicht, wer ihn da kontrolliert. Es gibt noch keine Polizei. Jedermann kann Polizei spielen. Aber man weiß, daß es immer Khomeinis Leute von den Revolutionären Komitees sind. Jemand sagt: Unser neuer Savak.
Said liest mir aus Tageszeitungen vor. Im Anzeigenteil einer »linken« Zeitung steht eine Annonce. Sie beginnt wie eine Sure aus dem Koran mit den Worten: »Im Namen Allahs.« Dann folgt: »Die Fotogalerie Pars beehrt sich, im Zeichen der islamischen Revolution Irans und im Hinblick auf die hohen Anweisungen unseres großen Führers (Imam!) mit modernsten Kameras und bestens ausgebildeten Fotografen und Fotografinnen Ihre Hochzeits- und Geburtstagsparties sowohl für Männer wie für Frauen rund um die Uhr zu erledigen.« (Es folgt die Telefonnummer.)
Im Namen Allahs und des großen Imam …
So Allah es wollte, er machte euch zu einer einzigen Gemeinde, doch will er euch prüfen in dem, was er euch gegeben. Zu Allah ist eure Heimkehr allzumal, und er wird euch aufklären, worüber ihr uneins seid.
(Koran 5/53)
Am 2. April 1979 sprach der Ayatollah Khomeini zum iranischen Volk: »Den heutigen Tag erkläre ich zum 1. Tag der Regierung Allahs.« Der Nicht-Muslim fragt sich, ob es nicht richtiger gewesen wäre zu sagen: Der 2. April 1979 ist der erste Tag der Iranischen Republik. Aber jeder echte Muslim würde erwidern: Die Iranische Republik ist eine Islamische Republik, das heißt, daß sie von Allah regiert wird.
Nüchterne Beobachter sagen: Der 2. April 1979 ist der erste Tag der offiziellen Machtergreifung durch Khomeini.
Der Orthodoxe sagt: Aber es ist doch nicht Khomeini, der regiert, sondern einzig Allah; Khomeini führt nur Allahs Befehle aus. Die Frage, ob denn Allah nicht auch schon vorher regiert habe, nämlich von Ewigkeit her, und ob denn der Schah mächtig genug war, Allahs Regierung zu unterbrechen oder zu verhindern, wird als blasphemisch abgetan, so ernst sie auch gemeint ist. Die nächste Frage ist, ob Allah seine Regierungszeit damit beginne, Generäle und Savak-Leute hinrichten zu lassen. Die Frage wird beantwortet mit einem Koran-Zitat: Das Töten der Ungläubigen ist Allahs Befehl.
Die weitere Frage, ob denn diese Generäle und Savak-Leute, so böse Menschen sie auch waren, nicht doch Gläubige waren, Muslim wie alle, und ob denn nicht im Koran stehe, daß das Töten von Gläubigen schwere Sünde sei, kann natürlich nicht mehr stichhaltig theologisch beantwortet werden. Hier antwortet die Politik.
Im Augenblick ist es jedenfalls der Wille des Volkes, daß Khomeini regiert. Dieser Volkswille zeigte sich am 31. März und am 1. April 1979 beim großen Referendum, dem Volksentscheid für oder gegen die Rückkehr des geflüchteten Schah, für oder gegen die Einrichtung »Islamische Republik«, was praktisch heißt: für oder gegen die sowohl religiöse wie politische Führerrolle Khomeinis.
Nach gewonnener Wahl sprach Khomeini im Rundfunk zu seinem Volk: »Ich gratuliere euch zu eurer Geschlossenheit. Vor einer Handvoll Abenteurer und Gottloser habt ihr als absolute Mehrheit die Islamische Republik gewählt.«
Der Iran hat 36 Millionen Einwohner. 15 Millionen gingen zur Wahl. Diese Differenz sagt Wichtiges über den Iran aus: Die Hälfte des Volkes ist Jugend unter 16 Jahren, also noch nicht im Wahlalter. Ferner: Eine ganze Provinz war von der Wahl ausgeschlossen, die Turkmenen, eine der nationalen Minderheiten, die fürchten ließ, sie würde die Wahl stören und eine Revolte machen. Auch die Kurden in den Städten gingen nicht zur Wahl. Ferner: Die politisch linke Gruppe der Fedajin enthielt sich geschlossen der Stimme. Ausländische Reporter sprachen von Wahlbetrug und erzählten Anekdoten: es habe an einigen Orten weit mehr Ja für Khomeini gegeben als Einwohner. Oder: Ins Interconti-Hotel in Teheran seien Leute mit einer Wahlurne gekommen, vorgebend, dem Hotelpersonal den Gang zum Wahllokal zu ersparen; ein Telefonanruf der Hotelleitung beim nächsten Wahllokal habe ergeben, daß diese Leute Schwindler seien. Inzwischen waren sie samt der Urne still verschwunden, aber andernorts sei ihnen der Betrug gelungen, und so haben sie sehr viele Stimmen zusätzlich gewonnen.
Was immer auch vorgefallen sein mag: es ist ohne Bedeutung. Khomeini hatte keinen Betrug nötig. Sein Sieg stand vorher fest. Man könnte allerdings von zweifelhaften Manipulationen sprechen. Aber auch dieser Einwand zählt nicht gegenüber dem offenkundigen Willen des Volks.
Was aber wollte und wählte das Volk wirklich?
Da viele Iraner noch Analphabeten sind (bei Nomaden und auch Halbnomaden begreiflich), war der Wahlmodus simpel: der Wahlzettel war zur Hälfte grün, zur andern rot; Grün ist die Farbe des Islam, Rot dieses Mal nicht die Reizfarbe der Linken, sondern, im Gegenteil, die des Schah. Die Farben ersetzten für jene, die nicht lesen können, die Worte: Grün hieß ja, nämlich zur Islamischen Republik, Rot hieß nein, nämlich nein zu dieser Republik. Das klingt einfach. Es war aber höchst irreführend, ob bewußt oder nicht, das bleibe unentschieden, und es ist auch unwichtig. Aber viele Iraner beschwerten sich darüber. So wie der Wahlzettel abgefaßt war, mußte man verstehen: Das Nein zur Islamischen Republik bedeutete den Wunsch, den Schah zurückzuhaben. Wer aber wollte das? Und wer hätte es offen zugegeben? Im übrigen saßen diejenigen, die das gewollt hätten, im Gefängnis. Es war also klar, daß man Grün wählte: gegen die Rückkehr des Schah. Aber was bedeutete dieses Grün positiv?
Khomeini hatte vor der Wahl gesagt, man könne auf das gewählte Feld schreiben, was man wolle: die Islamische Republik oder eine andere Form von Demokratie. Aber wer tat das schon? Hieß Grün wählen, daß man Khomeini als Führer wünsche? Oder hieß es nur, daß man gegen den Schah und den westlichen Kapitalismus sei? Oder hieß es, daß man eine Republik wollte, ohne sich schon auf die Form festzulegen? Oder hieß es ausdrücklich, die von Khomeini gewünschte Islamische Republik so zu wollen, wie er sie will? Man wählte für alle Fälle meist Grün, um sich gegen die Rückkehr des Schah zu erklären. Aber was war denn diese Islamische Republik, die man da wählte, wenn man Grün wählte? Niemand wußte es. Man kaufte die Katze wirklich im zugebundenen Sack. Es gab noch keine Verfassung dieser Republik oder, falls es eine gab, so war sie noch in der Tasche eines Ministers oder in der Tasche Khomeinis. Die große Frage ist, ob Khomeini genau weiß, was zu tun ist, oder ob er nur eine große, doch vage Vorstellung von einem islamischen »Gottesstaat« hat, wie der Koran ihn vorzeichnet.
Vorläufig haben die Iraner also diesen ganz und gar nicht definierten islamischen Gottesstaat gewählt.
Die Wahl war keineswegs geheim. Sie fand meist auf offener Straße statt. Man sah die Wähler in langen Schlangen warten. Es gab keine Zwischenfälle und kein Aufgebot an bewaffneter Polizei. Vor der Urne riß der Wähler eine Hälfte des Wahlzettels ab, warf die eine in die Urne, die andre in den Papierkorb. Wenn ein Wähler ungeschickt zögerte, tat ein Wahlhelfer die Arbeit für ihn und warf kurzerhand die grüne Hälfte in die Urne, und das war ja auch meist der Wille des Wählers. Dann trat der Wähler an einen Tisch, legte seinen Personalausweis vor, drückte den Finger auf ein Stempelkissen und stempelte so selbst seinen Ausweis. Man könnte denken, das sei eine erkennungsdienstliche Maßnahme: man hatte von jetzt ab die Fingerabdrücke von 15 Millionen Iranern. Es habe aber, so sagte man, nur wahltechnische Gründe: Das Blau am Finger blieb einen ganzen Tag haften, man konnte also nicht zweimal wählen, auch wenn man mehrere Ausweise hatte. Nun: Bekannte zeigten mir, daß sie schon Stunden später kein Blau mehr am Finger hatten und also getrost noch einmal zur Wahl hätten gehen können. Die Frage nach dem wahren Sinn der Abnahme von Fingerabdrücken bleibe hier offen.
Das iranische Fernsehen brachte Szenen von der Wahl. Wähler wurden nach dem Motiv ihrer Wahl befragt. Die meisten identifizierten mit aller Selbstverständlichkeit die »Islamische Republik« mit der Person Khomeinis.
»Ich wähle Khomeini, weil er Arbeit und Brot schaffen wird.«
»Ich wähle Khomeini, weil ich für meine Kinder eine glückliche Zukunft wünsche.«
»Ich wähle Khomeini, weil er unbestechlich ist und weil ich ihm vertraue.«
Um zu zeigen, wie frei der neue Iran sei, brachte das Fernsehen auch einen jungen Arbeiter ins Bild, der sagte, er habe mit Rot gestimmt, nicht weil er den Schah zurückwünsche, sondern weil er nicht wisse, was er wähle, wenn er Grün wähle.
Natürlich drehte sich das Gespräch mit allen iranischen Bekannten tagelang um das Referendum. Einer der Linksintellektuellen sagte: »Ich habe mit Rot gestimmt, aber mein Nein ist kein Ja zum Schah, jedoch auch kein Ja zu Khomeini. Ein Ja zu Khomeini kann ein Ja zu einer neuen Diktatur sein. So kann das Nein ein Ja zur Demokratie sein. Ich habe meine Meinung auf den Wahlzettel geschrieben und riskiere damit einige Unannehmlichkeiten an der Universität. (Er ist Hochschullehrer.)
Viele Intellektuelle waren der Meinung, man hätte die Wahlfrage viel differenzierter fassen müssen. Dennoch wurde Khomeini auch von den meisten Linken gewählt, welche Mitglieder der (gemäßigten) Mujahadin-Gruppe sind, die aber gegen eine rechtsgerichtete religiöse Diktatur sind. Sie begründeten ihre Wahl Khomeinis damit, daß das Gebot des Augenblicks sei, um jeden Preis die Rückkehr des Schah zu unterbinden, dann erst werde man weitersehen.
Die Radikalen, die Fedajin, blieben der Wahl geschlossen fern, weil sie immer Anhänger derjenigen Art Regierung sind, die am stärksten die Interessen der unterdrückten Minderheiten Irans wahrt, was Khomeini sicher nicht tun werde. Daß die Tudeh-Partei Khomeini wählte, ist reine Taktik: Sie weiß, daß Khomeini absolut antikommunistisch ist und also ihr Feind, aber sie weiß, daß Khomeini ebenso antikapitalistisch ist und antiimperialistisch, und so sieht sie die Möglichkeit einer Verbindung, die zumindest dazu führen kann, daß sie weiterbestehen darf, nachdem sie durch die Wahl Khomeinis gezeigt hat, daß sie keine Partei der »Ungläubigen« ist, welche in Allahs Namen verfolgt werden muß. Sie könnte sich auch darauf berufen, daß sie eher einen Nationalkommunismus will als einen internationalen. Wie auch immer: Die Tudeh hat Khomeini gewählt.
Daß die N.F.I.[*] ihn wählte, ist klar.
Die D.N.F.I.[**] hingegen kritisierte scharf das Vorgehen Khomeinis, der als ersten Schritt zur neuen Regierung das Referendum anordnete und danach erst die gesetzgebende Versammlung einberufen wolle. Der richtige Weg wäre der umgekehrte gewesen: erst hätte er die Versammlung einberufen und ihr die Kompetenz geben müssen, alle möglichen Formen der künftigen Demokratie zu diskutieren, das Ergebnis bekanntzugeben und dann erst zu Wahlen aufzurufen.