Hans Keilson
Kein Plädoyer für eine Luftschaukel
Essays, Reden, Gespräche
Fischer e-books
Hans Keilson wurde 1909 in Bad Freienwalde geboren. Sein Roman ›Das Leben geht weiter‹ erschien 1933 als letztes Debüt eines jüdischen Autors im S. Fischer Verlag. Hans Keilson verließ 1936 Deutschland und emigrierte in die Niederlande, wo er noch heute lebt und. Wie kaum ein anderer Autor hat der Schriftsteller und Psychiater Hans Keilson die seelischen, politischen und kulturellen Folgen der NS-Zeit analysiert und sprachlich vergegenwärtigt; ein literarisches Engagement, das bis heute anhält. In großem Kontrast zu den lauten Wirren des Jahrhunderts stehen die geradezu leisen, manchmal komischen, immer aber zutiefst menschlichen Darstellungen seiner Figuren und ihrer existentiellen und geschichtlichen Erfahrung. Ein großer Dichter in seiner Prosa, ein hellsichtiger Analytiker in seiner Dichtung. 2005 erschien eine Werkausgabe in zwei Bänden bei S. Fischer.
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Hans Keilsons Essays und Reden verbinden die Reflexion mit der Poesie, das Nachdenken mit dem Erzählen. Bereits als Schüler in den zwanziger Jahren hat Hans Keilson kurze Texte geschrieben, er blieb der Form des Essays treu bis heute. Thematisch bewegen sich seine Texte vom Porträt bis zur Landschaftserkundung, von der Psychoanalyse bis zum Nachdenken über Sprache und Schreiben. Immer wieder steht die Trauer über die deutsche Katastrophe des letzten Jahrhunderts im Mittelpunkt, der Schmerz angesichts der Verfolgung und Vernichtung der Juden.
Auf der Grundlage der 2005 erschienenen Werkausgabe hat Heinrich Detering für diesen Band eine Auswahl getroffen und zahlreiche Texte hinzugefügt, die in den letzten Jahren entstanden oder bisher nur entlegen publiziert worden sind.
Covergestaltung: hißmann, heilmann, hamburg/Imke Schuppenhauer
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2011
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-401626-9
Ein Gespräch mit der Wochenzeitung Der Freitag
Herr Keilson, in Ihrem Jahrhundert wurde vieles erfunden. 1909, im Jahr Ihrer Geburt, gab es weder Radio noch Fernsehen, weder Waschmaschine noch Rührgerät …
… und auch kaum Autos.
Gibt es eine Erfindung, die Sie besonders bewegt hat?
Das Telefon. Das ist es sehr wichtig für mich. Aber sonst?
1992, mit über achtzig Jahren, haben Sie noch am Computer gearbeitet. Da hatten die allermeisten Deutschen noch gar keinen.
Ich bin sehr neugierig!
Glauben Sie, dass die Entwicklung von Technik und Medien die Menschen verändert hat?
Man bekommt einen anderen Bezug zur Welt. Das Eremitendasein gehört ins vorige Jahrhundert. Das Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt ist völlig verändert. Sie kommen aus Deutschland hierher nach Holland, um sich mit mir zu unterhalten. So etwas hätte ich mir früher nicht vorstellen können.
Sind Sie auch auf die großen Fragen der Menschheit von heute, auf die Energie- und Klimapolitik neugierig?
Daran rieche ich. Aber ich muss nicht mehr eintauchen. Das ist nicht mehr mein Thema. Wenn ich zweihundert Jahre alt würde vielleicht …
Eines Ihrer großen Themen war der Tod. Schon in Ihrem ersten Roman spielt er eine große Rolle. In diesem Fall der reale Selbstmord des Freundes Fritz.
Das werde ich nie vergessen.
War es Ihre erste Konfrontation mit dem Tod?
Ich will nicht sagen, dass es die erste war. Aber in der Pubertät hat er in mir etwas geöffnet, fürs Leben, aber auch für den Tod. Das war ein großes, trauriges Erlebnis.
Im Buch heißt es, dass Selbstmord auch ein Stück Erlösung sein kann.
Das denke ich heute nicht mehr. Es war eine Flucht. Ich begriff, dass es Fritz sehr schwer gehabt hatte, auch mit seiner Sexualität. Aber dass der Tod eine Erlösung sein könnte, das haben mir die Nazis gründlich ausgetrieben. So stirbt man nicht. Ermordung ist kein Tod.
Egal, ob Selbstmord oder Mord?
Ja. Ermordung ist kein Tod.
Im zweiten Buch geht es dann um den Grippe-Tod des bei Holländern versteckten Juden Nico. Daraus machen Sie eine Komödie.
Eine »Komödie in Moll«. Da ist einer untergetaucht und kann nicht begraben werden. Deshalb wird die Leiche unter eine Parkbank gelegt. Dieser Tod, der nicht richtig begangen werden kann, ist absurd.
War das im Exil für Sie eine Notwendigkeit, über den Tod auch lachen zu können?
Die Perversität des Zeitalters war so groß, dass man selbst über den Tod lachen konnte. Perversität ist der richtige Ausdruck, obwohl ich es noch nie so formuliert habe.
Wie ist es, ein Überlebender zu sein, der eigenen Familie, der Freunde, vielleicht sogar einer ganzen Welt?
Da bin ich sehr vorsichtig, um mein Selbstgefühl nicht zu überfordern. Ich beschütze mich bewusst selbst. In meinem Leben spielt das keine Rolle. Ich könnte ja eitel werden.
Nach dem Motto: Wen ich alles gekannt habe?
Als Analytiker weiß ich, dass man sehr eitel sein kann. Warum sollte ich es nicht auch sein können? Aber das möchte ich nicht. Das ist keine angenehme Eigenschaft.
Dennoch ist die Frage erlaubt: Wie es ist zu überleben?
Das ist eine völlig legitime Frage. Ich habe überlebt. Aber ich sage mir: Dank je wel. Das ist genug.
Das Thema Überleben haben Sie sich aber auch zum Beruf gemacht, indem Sie mit Kindern gearbeitet haben, deren Eltern die Konzentrationslager nicht überlebten.
Das begann schon, als ich untergetaucht war. Ich hatte mit Kindern gearbeitet, bevor ich holländischer Arzt wurde. Ich war deutscher Arzt und Sportlehrer und habe als solcher ab 1934 in jüdischen Schulen Berlins gearbeitet. In der Großen Hamburger Straße, in der Rykestraße, im Landschulheim Caputh, in der Zionistischen Schule am Kaiserdamm. Deshalb hatte ich viel Erfahrung mit jüdischen Kindern. Holländische Hausärzte haben dann später Kinder zu mir geschickt, weil ich offenbar Vertrauen zu ihnen aufbauen konnte.
Sie wurden erst mit siebzig Jahren promoviert. Was war so spät der Antrieb?
Ich habe neun Jahre an den Nachuntersuchungen gesessen. Es war keine Eitelkeit, oder doch? Ich habe mir gesagt: »Du hast so viel Erfahrung, du hast so viel mit den Kindern mitgemacht, als du untergetaucht warst. Du hast so viel Leid gesehen; auch später nach dem Krieg, als du mit ihnen gearbeitet hast.« Meine erste und dann meine zweite Frau sagten auch: »Du bist einer der wenigen, die das erlebt haben. Probiere, daraus etwas zu machen.« Die schöngeistige Literatur kann lesen, wen das interessiert. Aber die Wissenschaft gehört auch zu mir. Ich empfand es als Verpflichtung. Denn ich hatte eine Erfahrung, die Kollegen nicht hatten.
Wirkt die lange Beschäftigung damit in Ihnen nach?
Ja. Ich wurde mal gefragt, ob ich mich als Sieger oder als Besiegter fühle. Ich fühle mich weder als Besiegter noch als Sieger. Ich lebe. Und zwar als Sieger und als Besiegter. Die Qualität des Lebens ist durch Hitler und Stalin vernichtet worden. Das muss erst wieder aufgebaut werden.
Im »Tod des Widersachers« spielen Sie dieses Thema durch: Der Tod des Anderen ist auch immer ein eigener Tod?
Überhaupt die Verbindung zum Feind, zum Anderen und sich selbst. Beide spiegeln sich in diesem Verhältnis. Sie können sich auch fruchtbar spiegeln.
In einer Szene schänden Jugendliche einen jüdischen Friedhof. Und zwar mit dem Satz: »Wir waren gekommen, die Toten umzubringen.«
Das ist eine Seite des Antisemitismus. Die Jugendlichen haben etwas in sich selbst umgebracht. Das ist ein guter Satz. Er erklärt sehr viel. Ich hatte ihn völlig vergessen.
Warum gibt es noch Schändungen jüdischer Friedhöfe?
Das ist das Leben der Juden. Das Leben hat diese Antinomie. Ich finde, dass die Kirchen total versagt haben. Wenn sie einen Beweis für Notwendigkeit ihrer Existenz als moralischer Stellvertreter Gottes auf Erden hätten erbringen wollen, dann hätten sie dagegen aufstehen müssen. Bis hin zu dem »Ich opfere mein Leben«.
Was einige Pfarrer ja taten.
Sicher. Aber nicht die Höchsten. Hätte es Hitler gewagt, etwas gegen den Papst zu unternehmen?
Das hätte er wohl nicht. Die Verwurzelung der Kirchen in der Bevölkerung war ja noch eine ganz andere als heute.
Das denke ich auch. Der Umgang mit den Juden ist eine profunde menschliche Problematik: Wie gehe ich mit meinen Feinden um? Wie gehe ich mit Menschen um, die auch geboren wurden, die auch leben, die auch aus einer Samenzelle und einer Eizelle entstanden sind. Genau das ist doch das Wunder des Lebens. Wenn ich jetzt als Mann von hundert Jahren meine Enkelkinder bestaune, fünfzehn Monate und fünf Monate alt, dann sage ich zu meiner Frau und meiner Tochter: »Das ist das Wunder. Die Verbindung einer Samenzelle und einer Eizelle, aus der ein Mensch wird.« Damit akzeptiere ich jeden als Teil der Menschlichkeit.
Sie glauben nicht, dass Antisemitismus besiegt werden kann?
Nein, aber diese Grausamkeiten könnten überwunden werden.
Wie konnten Sie all die Probleme der jüdischen Kinder verkraften, die Sie als Psychotherapeut auf sich geladen haben?
Ich bin oft auf der Schneekoppe gewesen. Von Krummhübel an der Talsperre hoch, zur Prinz-Heinrich-Baude, wo wir übernachteten. Das ist auch eine Anstrengung. Wer Freude und schöne Dinge erleben will, muss sich anstrengen können, viel schlucken können.
Wer trainiert, kann seinen Körper anders erleben, und wer sich mit Problemen beschäftigt, kann Geist und Seele abhärten?
Er flüchtet nicht. Ich bin auch nicht geflüchtet. Aber ich weiß, wie schwer das ist. Wenn mir Leute in meiner Praxis erzählten, wie schwer sie es haben, konnte ich so zuhören, dass sie das Gefühl hatten, der Doktor erhört sie. Der Patient erwartet, erhört zu werden, nicht nur gehört.
Das führte dazu, dass Sie kleinere Texte veröffentlichten.
Wenn man diesen Beruf hat, muss man sich entscheiden, ob man schreiben oder ob man seinen Beruf ausüben will. Ich habe mich für meinen Beruf entschieden.
Ist Ihnen das schwer gefallen?
Nein. Man muss sich dazu verleiten können, wie Richard Wagner, der mit dem Tod seines Christus nichts anfangen konnte. Tod und Musik. Musik hat in meinem Leben auch eine große Rolle gespielt. Ich schätze Richard Wagner. So schreiben zu können, davor ziehe ich meinen Hut. Dazu muss man ein sehr großes Talent haben.
Aber Wagner war kein sonderlich angenehmer Mensch.
Bestimmt nicht.
Viele Genies sind nicht angenehm.
Ich bin angenehm als Mensch.
Das ist wahr. Entschuldigen Sie.
Aber ich bin ja auch kein Genie. Als Genie kann man kein Psychotherapeut sein. Ich weiß auch nicht genau, ob ich privat immer so angenehm bin. Meine Frau bezweifelt das manchmal.
Wagner gilt als typisch deutsch.
Tja, das deutsche Wesen hat auch etwas Anziehendes. Wenn ich Haydn oder Mozart höre, dann ist das für mich deutsch. Französische Musik ist anders, englische auch.
Was unterscheidet Deutsch und Niederländisch? Sie habe ein ganzes Leben Deutsch geschrieben und ein halbes Niederländisch gesprochen.
Ich spreche gern Niederländisch. Niederländisch ist bis in die Tiefe der Seele die Überlebenssprache. Sie ist das Leben, das Überleben. Überleben ist etwas anderes als Leben. Auch in meiner Praxis war das Überleben in mir sehr stark. Das sagten die Leute zu mir. Sie kannten meine Biographie.
Sie haben über Fußballreportagen im Radio Holländisch gelernt. Schauen Sie heute noch Fußball?
Wenn ich Zeit habe, ja. Aber ich schone meine Augen, deshalb schaue ich wenig.
Sind Sie dann für Deutschland oder für Holland?
Für Holland. Die spielen wunderbaren Fußball. Das sind auch ganz andere Typen als die deutschen Spieler.
Dachten Sie nach dem Krieg jemals daran, nach Deutschland zurückzukehren?
Nein. Niemals.
Sie sind 1990 Ehrenbürger Ihrer Heimatstadt Bad Freienwalde geworden.
Die Bibliothek trägt meinen Namen. Sie versuchen alles, um die Schande auszulöschen. Das ist sehr nett. Ich schätze das wirklich. Ich bin ja zweimal in Bad Freienwalde gewesen. Es ist ja Unsinn zu sagen, da gehe ich nicht hin. Als könnte ich mir eine ansteckende Krankheit holen.
Wollen Sie hier in Holland beerdigt werden?
Ja, auf dem jüdischen Friedhof in der Nähe von Amsterdam, neben meiner ersten Frau. Ich bin Mitglied der liberal-jüdischen Gemeinde in der Nähe von Amsterdam.
Hat der Tod für Sie seinen Schrecken verloren?
Dass ich meine Eltern nicht retten konnte, bereitet mir heute noch Pein. Das ist furchtbar. Und wenn ich meine Tochter, sie ist fünfunddreißig, mit ihren Kindern sehe, dann wird für mich der Abschied schwer. Es geht nicht um den Tod, es geht um den Abschied. Meine Neugierde ist so groß: Was wird aus meiner Tochter, was wird aus ihren Mädchen?
Inzwischen lösen sich die Grenzen auf. Es gibt die Europäische Union, es gibt eine gemeinsame Währung.
Es ist alles so verändert. Das nationale Moment ist nicht mehr so beherrschend.
Die Lehre aus der Geschichte?
Ja. Jetzt heißt es: Lernt, miteinander zu leben, auch mit den Problemen, Bankkonten und allem anderen. Das ist die Normalität. Das ist wunderbar.
In Ihrem ersten Buch schildern Sie, wie die Wirtschaftskrise die Existenz ihrer Eltern vernichtet. Hat die momentane Krise Ängste geweckt?
Wissen Sie, ich habe so viele Ängste in meinem Leben gehabt, dass ich jetzt etwas immun dagegen bin. Das ist so wie Zahnschmerzen.
Darf ich fragen, wie der Tagesablauf eines Hundertjährigen aussieht?
Ich fühle mich in vielen Dingen gehandicapt. Meine Augen. Ich sitze zu lang und laufe nicht genug. Schon in meiner Praxis habe ich stundenlang gesessen. Und das, obwohl ich staatlich geprüfter Sportlehrer bin. In letzter Zeit tue ich dafür zu wenig. Deshalb helfe ich im Haus, mache das Schlafzimmer und helfe meiner Frau in der Küche. Das ist meine Gymnastik.
Aber Sie kochen nicht selbst?
Wenn ich noch einmal auf die Welt komme, dann lerne ich bestimmt kochen. Es ist ein Fehler von mir, dass ich nicht kochen kann.
Mein Vater stammt aus Ostpreußen, meine Mutter kommt aus Schlesien. Sie zogen in die Mark Brandenburg, nach Freienwalde, einer kleinen Kreisstadt, – nicht weit davon fließt der Oderstrom in seinem neuen Bett. Der Fluss musste in der Nähe sein, er barg das Gemeinsame, von Breslau her wälzt er sich in die Ostsee hinunter. Als ich geboren wurde, Dezember 1909, trank mein Vater eine Flasche Sekt, er konnte es sich leisten. Es war der silberne Sonntag. Aber ich glaube nicht daran.
Meine Eltern betrieben ein Geschäft wie viele andere. Sie schickten mich auf eine hohe Schule, sie taten viel für mich. Sie ließen mich in Ruhe.
Nach dem Krieg kam die Inflation, danach die Stabilisierung – nach unten.
Ich beendete die Schule, ging nach Berlin, um zu studieren und Geld zu verdienen. Nach vier Jahren kamen meine Eltern nach.
Belangloses – Leben als Musiker, Turn-, Sport- und Schwimmlehrer – staatlich geprüft! hoppla – außerdem Medizinstudent.
Vorwort zu einer Anthologie 1939
Nur wenige Worte braucht es, um die hier zusammengetragenen Friedensstimmen einzuführen. Sind sie doch selbst aussagekräftig genug, um – jede für sich – ihre eigene, besondere, unmissverständliche Sprache zu sprechen, die unzweideutig ist und nicht misszuverstehen.
Konfuzius, Henriette Roland Holst, Plato oder der Marschall Foch, Männer und Frauen aller Länder und Zeiten, unterschiedlicher Herkunft, verschiedenen Berufs und verschiedener Weltanschauung: sie alle sind sich einig in dem großen und universellen Gedanken, der Friede heißt.
Diesen universellen Gedanken allgemein zu erfassen und unserem beschränkten Rahmen in ein neues Licht zu stellen, ist der Zweck dieses Buches. Es beabsichtigt nicht, eine Sammlung der schönsten und berühmtesten Aussagen über den Frieden zu sein. Damit ergab sich von selbst eine Beschränkung des Materials, und manche Berühmtheit, die man in einem Buch über den Frieden erwarten würde, musste unbeachtet beiseitegelegt werden.
Auch mussten wir bei der Auswahl außergewöhnlich sorgfältig zu Werke gehen, denn bei manchem, was beim ersten Hören wie eine Friedensstimme klang, fehlte, sooft auch das Wort »Friede« im Munde geführt wurde, bei näherem Zusehen die friedliebende Haltung, der aller Hass fremd war.
Dies galt vor allem für das Auswählen der Stimmen der Zeitgenossen, die grundsätzlich nicht fehlen durften. Geben sie dem Ganzen doch den Nachdruck, nach dem unsere friedlose und darum so friedenshungrige Zeit verlangt.
Gerade weil sie sich so oft derselben Worte bedienen, kam es darauf an, hier bewusst die wahren von den falschen Propheten zu scheiden, um die bereits ringsum herrschende Verwirrung nicht noch zu vergrößern.
Das Wort des Augustinus, wonach das Ziel des Krieges nur der Friede sein kann, möge erklären, warum auch und sogar bevorzugt Stimmen von Soldaten aufgenommen wurden. In diesem Sinne sind auch Soldaten, und die besten von ihnen wussten das, Werkzeuge des Friedens. Möge man dies doch niemals vergessen!
Auch die Stimmen, die von dem inneren Frieden des Individuums sprechen, sind hier vertreten. Sie gehören unverzichtbar in dieses große Wechselgespräch, das Zeugnis ablegt von dem Sieg über die Begierde, den Hass, die Angst von non-violence bis zum sozialen Frieden. Es führt uns den Frieden vor Augen als Ganzes, in dem bestimmte Ideen Hand in Hand gehen, das andere Ideen dagegen ausschließt. Friede und Freiheit! Kein Friede aus Angst, in Zeiten der Unterdrückung, kein Sonderfriede im Dienst bestimmter Interessen. Kein Friede auf Kosten der Gerechtigkeit!
Ein Friede aus Mut und Kraft, der der Überwindung der Aggression entstammt. Friede des Menschen mit sich selbst, ein menschenwürdiger Friede.
Erst aus der Verschiedenheit der Temperamente erwächst der Gedanke des Friedens zu etwas Vollkommenem, indem ein jeder für sich ihm einen neuen Gedanken hinzufügt.
So entsteht in allen die Idee des Friedens als eine praktische und ideelle Notwendigkeit, wie man sie sich in allen Zeiten erträumt hat, unbefleckt und unteilbar.
Denn der Friede ist unteilbar: Wo immer auf Erden, bei welchen Völkern und aus welchen Gründen er in Gefahr ist, da wird das innere Gleichgewicht der Welt gestört und unsere eigene Existenz bedroht.
Benjamin Cooper
An Fritz Landshoff
Lieber Herr – bei meiner Rückkehr aus den Ferien fand ich den Brief Ihres Verlages mit der Einladung, an einem Gedenkbuch für Klaus Mann teilzunehmen.
Gerne bin ich bereit, Ihrer Bitte zu entsprechen, auch wenn mich ihre Erfüllung ein wenig in Verlegenheit bringt. Denn mein Verhältnis zu Klaus ist von sehr besonderer Art. Sie wissen, ich habe ihn nie persönlich gekannt, habe nie ihm gegenübergesessen und die Gespräche mit ihm geführt, die ich zuweilen in meiner Vorstellung mit ihm führte. Und auch die Liebenswürdigkeit seines Wesens, die ein jeder zu rühmen wusste, der mit ihm zusammentraf, blieb mir vorenthalten. Auch weiß ich nicht viel von seinem Leben, einzig die Daten und Tatsachen, die ein jeder kennt. Das Persönlich-Menschliche, das besondere Wissen um das Geheimnis einer menschlichen Existenz, die sich nur im Gespräch offenbart, all das, was dem Gedenken eines Toten erst beseelende Wärme verleiht, werden Sie in meinem Beitrag vermissen. Aber wenn ich ihn auch nicht kannte, so lag doch seine Erscheinung und sein Werk von Beginn an in meinem Blickfeld. Und wenn ich Ihnen, der Sie sein Freund und Verleger waren, berichten darf, welche Bewandtnis es damit hatte, und Sie meinen, dass meine Aufzeichnungen beitragen können, den toten Klaus Mann zu ehren, so will ich nicht zögern.
Gehören die geistigen Begegnungen mit Zeitgenossen nicht zu den merkwürdigsten Erlebnissen, die man im Umgang mit Menschen haben kann! Diese Weise der Bekanntschaft, erstanden auf einem Gemeinsamen, das zum Erlebnis ward, erregt die Vorstellung, bewegt die Empfindung und trägt den Reiz einer sich dereinst vielleicht erfüllenden Verheißung in sich. Zugleich weitet sie das Persönliche ins Allgemeine, Umgreifende.
So erging es mir mit Klaus Mann.
Doch hier muss ich einfügen, dass ich ihn nach dem Krieg zweimal aus der Nähe gesehen habe. Das erste Mal anlässlich eines Vortrages seines Vaters, Thomas Mann, in Amsterdam, das andere Mal während eines Konzertes ebenfalls in Amsterdam. Beide Male saß ich einige Reihen schräg hinter ihm, und in seiner Art zuzuhören, besonders bei der Musik – das hocherhobene, etwas seitlich in den Nacken gebogene, erkahlende Haupt, als hörte er mit der Nase, lag ein Ausdruck, den ich auch heute noch nicht zu deuten vermag.
Dass ich Vater und Sohn nach dem Krieg zusammen und beide zum ersten Mal sah – ich kam wegen des Vaters –, nahm ich als Manifestation einer erlebten Wahrheit, die mir ungefähr zwanzig Jahre früher widerfahren war. Auch damals suchte ich den Vater und fand darüber hinaus den Sohn. Es war die Zeit, als ich, noch Schüler, das Werk von Thomas Mann kennenlernte, zuerst den Tonio Kröger, dann vieles andere und schließlich die bezaubernde Novelle Unordnung und frühes Leid. Sie erinnern sich der Figur des siebzehnjährigen Bert und des Inhalts der Monologe des Professor Cornelius, kreisend um seinen Sohn, Bert, »dass möglicherweise ein Dichter in ihm stecke«. Ein Freund jener Tage, ein aufsässiger Assessor und Vertreter des Landrates – auch er hat sich später »gleichgeschaltet« –, der mir die Bücher in die Hände drückte und sie mit dem nötigen Kommentar versah, ereiferte sich, mir die Familienhintergründe dieser Tanznovelle darzulegen. Wo hatte je ein Professor, Cornelius oder sonstwie geheißen, auf eine so väterlich-zarte und ermutigende Art von seinem Sohn gesprochen? Und ich war begeistert. Es klang, als wären alle Berts in der Welt gemeint.
Einige Zeit später las ich dann den ersten Novellenband von Klaus Mann, mit dem so charakteristischen Titel Vor dem Leben. Ich erinnere mich noch einer Erzählung aus diesem Buche, den Titel und den näheren Inhalt habe ich vergessen. Sie handelt von einem jungen Mädchen, das in einer Wirtschaft draußen vor der Stadt lebt, in einem großen Garten unter hohen, dunklen Bäumen. Aber geblieben ist mir die zarte Stimmung dieser Geschichte, die Farben, die wie getupft erscheinen; der verschwiegen-sehnsüchtige Blick auf das Leben, vor dem das Mädchen alles erwartend steht, aber doch schon erfüllt mit allen Wünschen und Ängsten des Lebens selbst. Jenen zarten Stimmungsgehalt, das Vibrato zwischen den Zeilen habe ich später nur noch bei Herman Bang wiedergefunden. Nur dass Bang von Beginn an schrieb wie einer, der das Leben hinter sich gelassen hat. Und später bei Klaus Mann in seiner schönen Erzählung von dem bayrischen König Ludwig, Das vergitterte Fenster, die mir von allem, was ich von ihm kenne, das Liebste ist. Übrigens enthält auch sie das gleiche Thema, das der Titel seines Erstlings anschlägt: der wahnsinnige König, der nicht mehr im Lehen verwurzelt ist, sondern draußen steht, davor, oder, wenn Sie wollen, dahinter.
Aber damals war Klaus Mann ein junger Dichter; seine Erzählung ergriff mich, wie man nur von etwas ergriffen wird, das man selbst vielleicht hätte vollbringen können oder zumindest zu vollbringen wünschte. Seither wurde mir sein Name ein Begriff, aber etwas Lebendiges, das zu mir gehörte kraft seiner inneren Gleichung, die nicht so sehr die Ähnlichkeit des Seienden als die des Werdenden zu meinen schien.
Und noch etwas Anderes kam hinzu. Erinnern Sie sich, wie man früher auf den Schulen lehrplanmäßig mit der klassischen Literatur bekannt wurde? Dabei genoss ich, nach dem ersten Kriege, schon einen modernen Unterricht. Aber es war mir immer, als wenn die Dezennien schwer drückten auf die Werke des jungen Goethe, des jungen Schiller und der anderen, ja selbst auf Liliencron und Dehmel, und nicht zuließen, dass man als »jung« empfand, was doch in der Tat jung war, als es niedergeschrieben wurde. Willkommen und Abschied? Ein wundervolles Gedicht! Aber ich hätte es nicht sein können, der da durch die Nacht ritt, und auch keiner meiner Freunde. Die Räuber? Hölderlins erste Dichtungen? Welche Kraft, welches Hingerissensein angesichts der göttlichen Schau. Aber zugleich war es irgendwie unwirklich, wie etwas, das man auf Eis gelegt und das sich zu gut gehalten hat. Nehmen Sie es nicht als Blasphemie diesen größeren Toten gegenüber – aber es bedurfte des zeitgenössischen Erlebens, um die Brücke zu schlagen zu uns selbst. Es bedurfte eines Professor Cornelius, eines Bert, »in dem möglicherweise ein Dichter steckt«, um an sich selbst die Daseinsform zu entdecken, die gemeinhin Literatur genannt wird, und die Gesundheit und Krankheit zugleich ist, himmlischer Ernst und fauler Zauber, Spiel und Arbeit – aber die einzige Legitimation des humanisierten Menschen auf diesem Planeten kraft der Koordination von Geist, Muskel und Nerv: in der Sprache.
Alles dies und meine eigenen ersten Versuche hingen mit dem Phänomen Klaus Mann zusammen. Er war ein geheimer und ein offener Antreiber; obwohl er selbst vielleicht ein Getriebener war. Das »Noch-nicht«, das sein damaliges Schaffen kennzeichnete, war vielleicht der stärkste und der wahrhaftigste Impuls jener vergangenen Zeit, ein Impuls, der nicht nur zu dem Künstlerischen hindrängte, sondern das Dasein in seiner vollen Gestalt meinte. Welche Hoffnung fand ich in ihrem Ausdruck!
Einige Jahre später schickte ich meinen ersten größeren Versuch an die Herausgeber einer Anthologie, zu denen er gehörte. Die Einsendung wurde abgelehnt. Dies war der Beginn der inneren Kameradschaft. Vier Jahre später bot uns der alte S. Fischer Verlag ein gemeinsames Dach. Und wieder Jahre später der Querido-Verlag. Diese einfachen äußeren Tatsachen sind zugleich Ausdruck einer inneren Entwicklung, von der Sie, als Verleger, sicherlich noch mehr zu sagen wissen, wenn Sie alle die betrachten, die sich in Ihrem Verlagshaus im Laufe der Jahre eingefunden haben. Auch dies ist eine Form der Gemeinschaft. Merkwürdigerweise müssen auch noch andere, die allerdings aus entgegengesetzten Richtungen in die Literatur kamen, dieses gleiche Erlebnis wie ich gehabt haben. Vor einigen Monaten fand ich beim Herumstöbern in einem kleinen Amsterdamer Antiquariat Klaus Manns Auf der Suche nach einem Weg. Auf der ersten Seite stand mit großen steilen Buchstaben eine Widmung: »Das ist unser Weg, das ist unsere Zeit.« Zufälligerweise kenne ich den Geber wie den Empfänger des Buches – einen jungen Dichter aus der Schule Stefan Georges und seinen jungen Freund.
Wieder war ich getroffen von dem Bewusstsein, dass es eine unsichtbare Verschwörung gab, in der Klaus Mann einer der Anstifter war. So wie er es auch war, der in der Emigration eine literarische Zeitschrift herausgab, in der er die besten Namen der alten und neuen Welt zusammenbrachte und sie gegen die Barbarisierung anführte in einem Streite, der, solange es Literaten gibt, nicht verloren werden wird. Diese seine Tat darf nicht vergessen werden über dem vielen, was er geschrieben und veröffentlicht hat. Sie entkräftigt alles, was »man« gegen ihn eingewendet hat: dass er zu viel schrieb, dass er überall dabei war, wo etwas »los« war, dass er seine Reife nicht abwartete. Welch eine Verkennung und Schmähung unseres Standes! Als wenn das Gesetz der Reife, das für Kürbisse, Kartoffeln und Eiterbeulen gilt, irgendeine Verbindlichkeit hätte für die menschliche Existenz, die sich zum Kampfe stellt. Dass er ohne Zögern sein großes Talent in diesen Streit warf, dass er scharf, heftig vorgehen konnte, wo er es für nötig hielt, dass er selbst in seiner neuen Heimat, Amerika, in englischer Sprache in die geistigen Diskussionen dieses Landes eingriff, verleiht ihm und seinem Werke eine moralische Größe, auch wenn ihm künstlerisch vielleicht der letzte, große Wurf nicht gelungen ist.
Wir vergessen, so will mir scheinen, nur zu oft, dass die Literatur nicht aus einzelnen Namen von Männern und Frauen und den Titeln ihrer Werke besteht. Auch sind es nicht die großen Namen, die allein das Fortbestehen der Literatur verbürgen. Die Literatur ist eine Landschaft – wir werden es nicht müde, dies zu wiederholen –, die einzig dem Menschen gemäße Landschaft, da die Sprache, in der ihm gegeben zu lachen und zu weinen, zu schweigen und zu reden, das einzige Klima ist, in dem er – und er allein – zu Hause ist. Kein Sterblicher sonst. Jeder Baum, jeder Strauch, jede kleine Anhöhe vervollständigt erst das Bild dieser Landschaft, und wer wie Klaus Mann viel geschrieben hat, ist wie der Gärtner, oder besser, wie der Straßenarbeiter, der unermüdlich am Werke ist, dass die Menschen und nicht allein die Sonntagsmaler und die Spätaufsteher die Pfade und Wege in ihr finden und das Laufen nicht verlernen und zuweilen auch hinaufwandern können auf die großen, einsamen Berge.
Sie kennen den gedankenreichen Aufsatz von Hofmannsthal über die Sprache. Selbst der Erbärmlichste von uns Schreibern trägt in seinem Bettlerdasein noch einen Abglanz der hohen Abkunft des Instrumentes, dem er mit klammen Fingern die Töne rein zu entlocken sucht. Wer wie Klaus Mann als deutscher Literat begann und sich so in die englische Sprache einlebte, dass er sie schrieb wie seine eigene, und ein Buch über André Gide veröffentlichte, der muss im Tiefsten gewusst haben, dass es viele Länder und Zungen gibt, aber nur eine Literatur, die des Menschen auf dieser Welt. Ich kenne kein sinnfälligeres Beispiel aus unseren Tagen als ihn, der dieses Wissen gelebt hat.
In Zürich bei Freunden, die auch ihn und die Seinen gut kennen, erfuhr ich die Nachricht seines Todes. Der Tod Ernst Tollers vor dem Kriege und der Stefan Zweigs während des Krieges fielen mir ein. Irgendein Schicksalhaftes schien sich hier vollzogen zu haben. Jedoch welches?
Aber ich muss diesen Brief nun beenden. Vielleicht hätte ich mich nicht in so persönliche Erinnerungen und Bespiegelungen verlieren sollen.
Wenn dereinst beim jüngsten Gerichtstag der Literatur der kleine Engel mit den beklecksten Flügeln die Namen aller Schreiber von dem dicken Kalender Blatt für Blatt abreißt und in die Papierkörbe der großen und kleinen Ewigkeiten verteilt, wird er, wenn er den Namen »Klaus Mann« aufgerufen hat für einen Augenblick einhalten und – nur dem Engel der Musik hörbar – leise, als erinnerte er sich, vor sich hinsagen: »Ach ja, der Klaus Mann…« Und dann wird er vielleicht ergriffen von einer Laune, das abgerissene Blatt mit dem Namen in den Wind zu werfen. In der Ferne wird es nur noch wie ein kleiner weißer Vogel sein. Und ein jeder, der es dort droben über den Wolken sieht, wird ergriffen und gelassen schweigen.
Es ist die gleiche gelassene Ergriffenheit, die mich bewogen hat, einen Stein beizutragen zu dem Grabmal meines Kameraden Klaus Mann.