Nordseesommer
Eine Inselgeschichte
Illustrationen von Ole West
Der Schlüssel unter der Fußmatte, mal ehrlich, wo gab es so etwas heute noch?, dachte Frauke und betrachtete das Ding in ihrer Hand. Endlich waren sie angekommen. An der Nordsee. Auf einer Insel. In einer anderen Welt.
Das hieß, sie war angekommen – ihr Sohn Keno hingegen schlurfte so dermaßen langsam um die Ecken, wahrscheinlich wollte er bis übermorgen noch nicht in ihrem Feriendomizil am Deich eintreffen. Früher war es für ihn das Größte gewesen, als Erster am Piratennest anzukommen. Er hatte gejohlt, wenn er die gehisste schwarze Seeräuberflagge am Mast flattern sah, war schon am Hafen losgerannt und manchmal über seine eigenen Füße gestolpert. Frauke vermisste den Keno von damals, der so fröhlich, offen und neugierig gewesen war. Mit dem jetzigen Keno eine Woche an der Nordsee zu verbringen war etwas völlig anderes.
Drinnen roch es nach Zitronenreiniger. Frau Ekkenga hatte schon gewarnt, es würde knapp werden mit dem Putzen. «Fliegender Wechsel» nannte sie die Tage, an denen die abreisenden Gäste ihren Nachfolgern bereits an der Fähre begegneten. In den Sommerferien gaben sich die Ferienhausbewohner die Klinke in die Hand. Deswegen hatte Frauke auch lediglich sieben Tage ergattern können. Ansonsten war alles ausgebucht. Hauptsaison, die Insel platzte aus allen Nähten.
Es war schön, hier anzukommen und alles wie immer vorzufinden. Gut, der Schaukelstuhl hatte einen neuen Bezug, doch an den Wänden hingen die altvertrauten Landschaftsbilder: auf Seekarten gemalte Inselmotive in Kieferrahmen. Auch die Gardinen der Terrassentür waren nach wie vor ein paar Zentimeter zu kurz und etwas ausgeblichen, doch sie wurden ohnehin nie zugezogen, da man durch die Fenster einen traumhaften Blick direkt auf den Deich genießen konnte. Kein stylisches Interieur für ein Architekturmagazin, zum Glück nicht. Frauke atmete tief durch.
Auf einmal hörte sie hüpfende Kinderschritte hinter sich. Hatte Keno etwa seinen inneren Schweinehund überwunden? Wurde er trotz seiner 15 Jahre wieder zum erwartungsfreudigen Kind?
Frauke drehte sich zur Tür, das wäre ja … Da stand ein Mädchen mit schrägen Zöpfen und sah sie perplex an. In Fraukes Blick war wahrscheinlich dieselbe Frage geschrieben: «Was will die denn hier?»
«Papa!», rief das fremde Kind. «Hier ist ’ne komische Frau in unserem Wohnzimmer.»
Im Türrahmen tauchte jetzt ein Mann auf, so der lässige Typ, gewollt und nicht gekonnt, mit Bartstoppeln und Schlabbershirt, eine dicke, zerbeulte Sporttasche über der rechten Schulter. «Was machen Sie hier?», fragte er.
«Urlaub.» Mehr fiel Frauke in diesem Augenblick nicht ein.
«Aber nicht hier!», stellte das Mädchen klar. «Hier sind Papa und ich. Jedes Jahr. Also können Sie ja wohl schlecht auch Urlaub im Piratennest machen, stimmt’s?» Sie mochte höchstens zehn sein, redete aber daher wie die Managerin eines Reiseunternehmens, die Hände herausfordernd in die Hüften gestemmt. Naseweis, aber doch irgendwie niedlich.
Deswegen fiel es Frauke auch leicht, höflich zu bleiben. Fast automatisch wandte sie sich mit der offiziellen Buchungsbestätigung an das Kind. Der dazugehörige Vater sah nämlich keineswegs so aus, als hätten seine Gene für die Zielstrebigkeit des Nachwuchses gesorgt.
«Siehst du? Sechs Übernachtungen für zwei Personen im Piratennest. Und zwar ab heute.»
Die Kleine blickte unsicher zu ihrem Vater. Umständlich setzte der Mann die Tasche ab, wühlte darin herum und zog ein zerknittertes Papier heraus. «Bis auf die Anschrift sind unsere Schreiben identisch …»
Frauke starrte auf den Zettel. Der Mann hatte recht. «Und was nun?»
In diesem Moment sahen sie Frau Ekkenga die Straße auf sie zueilen. Eigentlich eine patente Vermieterin, doch ihr hochroter Kopf verriet bereits, dass ihr ebenfalls aufgefallen sein musste, was heute im Piratennest gründlich schiefgelaufen war. Noch bevor sie das Haus erreicht hatte, begann sie mit wortreichen Entschuldigungen.
Keno, der nun ebenfalls Richtung Eingang trottete, ließ sich von ihr geradewegs in die Hagebuttensträucher abdrängen.
«Frau Harsewinkel, Herr Trigg – es tut mir so leid, ich weiß gar nicht …» Im Flur blieb sie schnaufend stehen. «Das ist mir jetzt aber wirklich schrecklich unangenehm!»
Frauke holte Luft, so etwas durfte nicht passieren! «Also wirklich, ich bin …»
Doch da kam ihr dieser Herr Trigg schon zuvor. Im Gegensatz zu ihr schien er über ein weit gelasseneres Gemüt zu verfügen. «Ich bin sicher, wir finden eine Lösung», sagte er beschwichtigend. «Setzen wir uns doch erst mal alle an den Tisch.»
Und da hockten sie dann eine ganze Weile. Frau Ekkenga telefonierte die halbe Insel ab, um eine zweite Ferienwohnung zu finden. Sie selbst verwaltete ein ganzes Dutzend, alle mit so klangvollen Namen wie Nixenparadies, Matrosenheimat, Klabauterhaus und Undinenschloss, aber da war definitiv alles ausgebucht. Vielleicht wusste ihre Freundin aus der Trachtengruppe Rat, die arbeitete bei der Kurverwaltung. Aber – Fehlanzeige. Also weiter im Programm. Frau Ekkenga kannte alle Nummern auswendig, sie war wie ein wandelndes Telefonbuch. Der Schwimmmeister im Meerwasserhallenbad meinte, man solle die Frau aus der Teestube fragen, die sei doch mit dem Hafenwart liiert, und der wisse schließlich bestens, wer die Insel verließ oder gerade angekommen war.
Während Frau Ekkenga sich ein rotes Ohr telefonierte, zupfte Keno ständig am Häkeldeckchen herum. Frauke machte das schrecklich nervös, aber sie konnte ihrem Sohn ja hier schlecht auf die Finger klopfen, er war schließlich nicht mehr im Kindergarten. Außerdem fiel ihr auf, dass der Mann gegenüber genau dasselbe machte. Er bohrte seine Finger durch die kleinen Löcher des Tischläufers, zog daran und strich sie wieder glatt. Was für ein Kindskopf!
«Papa, lass das doch mal», zischte seine Tochter ihm ins Ohr, gerade laut genug, dass auch Frauke es hören konnte.
Irgendwann ließ Frau Ekkenga resigniert den Hörer sinken. Sie war verdächtig blass um die Nase. «Ich fürchte … Ach je …»
«Schon gut. Wir fahren wieder», entschied Frauke und hätte am liebsten sofort die Koffer gegriffen. Dann eben nicht. Vielleicht fand sich ja noch eine Wohnung auf dem Festland. Ihr würde auch ein Urlaub auf Balkonien reichen, denn Keno war ohnehin nicht scharf auf das Ganze hier.
Doch ausgerechnet ihr Sohnemann erhob sich jetzt und protestierte. «Warum sollen ausgerechnet wir fahren? Die haben vielleicht viel später gebucht, und dann hätten wir das Recht auf die Wohnung, oder nicht?»
«Darüber brauchen wir uns heute gar nicht den Kopf zu zerbrechen», unterbrach Herr Trigg. «Soweit ich weiß, geht überhaupt keine Fähre mehr.»
Frau Ekkenga nickte schwach.
«Dann bleiben wir doch einfach alle hier», schlug das Mädchen vor. «Ich schlafe bei Papa im Bett, und ihr könnt euch ja das Sofa teilen.»
Über die inzwischen völlig verzogene Tischdecke hinweg sah Frauke die anderen ziemlich irritiert an. Hier saßen vier Menschen, die sich zu früh gefreut hatten: ihr störrischer Junge im Stimmbruch, ein planlos wirkender Mann um die vierzig mit einer neunmalklugen Tochter und sie selbst, die ein Jahr lang Vollgas gab, im Ingenieurbüro und zu Hause, um sich diese kurze Inselwoche zu gönnen. Am liebsten wäre sie in Tränen ausgebrochen.
«Ich erlasse Ihnen auch den Mietpreis für diese Nacht», flüsterte Frau Ekkenga.
Als ob es darauf ankam!
«Okay, ich bin Frauke Harsewinkel», stellte sie sich schließlich vor, denn irgendwer musste ja den Anfang machen. «Und ich hätte heute Nacht eigentlich lieber das Bett.»