Felicitas Hoppe
Picknick der Friseure
Geschichten
FISCHER E-Books
Felicitas Hoppe, geb. 1960 in Hameln, lebt als Schriftstellerin in Berlin. 1996 erschien ihr Debüt ›Picknick der Friseure‹, 1999, nach einer Weltreise auf einem Frachtschiff, folgte der Roman ›Pigafetta‹, 2003 ›Paradiese, Übersee‹, 2004 ›Verbrecher und Versager‹, 2006 ›Johanna‹, 2008 ›Iwein Löwenritter‹, 2009 ›Sieben Schätze‹ und die Erzählung ›Der beste Platz der Welt‹, 2010 ›Abenteuer – was ist das?‹, 2011 ›Grünes Ei mit Speck‹, eine Übersetzung von Texten des amerikanischen Kinderbuchautors Dr. Seuss, 2012 der Roman ›Hoppe‹ und zuletzt 2018 der Roman ›Prawda. Eine amerikanische Reise‹. Für ihr Werk wurde Felicitas Hoppe mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem aspekte-Literaturpreis, dem Bremer Literaturpreis, dem Roswitha-Preis der Stadt Bad Gandersheim, dem Rattenfänger-Literaturpreis, dem Georg-Büchner-Preis und zuletzt dem Erich Kästner Preis für Literatur. Außerdem Poetikdozenturen und Gastprofessuren in Wiesbaden, Mainz, Augsburg und Göttingen, sowie am Dartmouth College in Hanover, New Hampshire, an der Georgetown University, Washington D.C., und in Hamburg.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Eine Familie vermietet stundenweise einen Balkon. Die frischluftnärrischen Mieter stürzen aus ungeklärten Gründen stets in die Tiefe. Mit den Schaulustigen macht die Familie durch den Verkauf von Schnäpsen gute Geschäfte bis eines Tages sich das Kind auf den geheimnisvollen Balkon wagt. ›Picknick der Friseure‹ ist ein Buch mit zwanzig grotesken und komischen Geschichten, die in der gegenwärtigen Literatur ihresgleichen suchen: manchmal bitterböse, voll atemberaubender Phantasie.
Erschienen bei FISCHER E-Books 2018
© Felicitas Hoppe 1996
Alle Rechte S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: hißmann, heilmann, Hamburg
Coverabbildung: vonzubinski.de
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-490981-3
Kein Zweifel, mein Geliebter will nicht mehr Hand an mich legen, und es ist Zeit, daß ich mich nach neuen Handlangern umsehe. Ich ging auf die Straße und rümpfte die Nase, denn die hohe Kunst des Beweinens habe ich nicht gelernt. Ich kam in unseren Kurpark, wo die Schwäne schwimmen.
Da traf ich den Gärtner. Gleich kamen wir ins Gespräch. Der Gärtner legte die Gartenschere aus der Hand und die auf diese Weise frei gewordene Hand, jetzt ganz ohne die Kraft, mit der er bis eben noch die Schere gehalten hatte, auf meine Schulter. Er lud mich ein, mit ihm den Park zu begehen, die Pflanzen und die Tiere und die Spaziergänger zu bestimmen und ihm im Vorübergehen meine Lebensgeschichte zu erzählen.
Mein Geliebter, begann ich, erklärt, er könne nicht mehr Hand an mich legen, da aus mir nichts wird. Ist das denn wahr, fragte entzückt der Gärtner. Das allerdings ist wahr, entgegnete ich, denn mir fehlt dreierlei: erstens der Glanz des Ruhms, zweitens der Glanz des Geistes, drittens der Glanz des Körpers.
Diese Auflistung, rief begeistert der Gärtner, ist ganz nach den Gesetzen der Logik zusammengestellt, aber sie ist alles andere als vollständig. Und wie um die Leere meiner Rede durch entschlossenes Tun auszufüllen, zog er mich unter einen in der Nähe wachsenden Busch, wo er mich nach den Regeln des Gartenbaus zu trösten versuchte.
Vieles spricht nicht gegen das Schreiben. Es ist eine warme und geschützte Tätigkeit. Selbst bei schlechter Witterung gelingt hin und wieder ein lesbarer Satz. Natürlich neigt der Schreibende zur Rechthaberei, weshalb mein Geliebter nicht mehr Hand an mich legen will und mich zwingt, ohne Gartenschere unter einem Busch zu liegen.
Mein Bericht ermüdete den Gärtner. Erschöpft schlief er neben mir ein. Kichernd näherte sich eine Gruppe von Spaziergängern, die einen so fröhlichen Eindruck auf mich machten, daß ich auf ihre Gesellschaft nicht verzichten wollte. Ich zog mein Kleid glatt und hakte mich bei einem von ihnen unter, der, wie sich an der Biegung herausstellte, Sohn eines Erfrischungsgetränkefabrikanten war und ein kurzweiliges Leben führte. Wir kamen gleich ins Gespräch, erörterten unsere Vorliebe für erfrischende Getränke aller Art und gelangten zu einem kleinen Pavillon, in dessen Innerem wir uns auf einer Holzbank niederließen, um einander auch den Rest persönlicher Wahrheit nicht vorzuenthalten. Sie werden den Anschluß an ihre Gruppe verlieren, sagte ich. Er zuckte nur mit der Wimper und lud mich zum Abendessen im Kurparkrestaurant ein. Die Sonne stand noch nicht tief genug, um Abschied voneinander zu nehmen.
Wir betraten Arm in Arm mit Appetit das kleine Kurparkrestaurant. Der Sohn des Erfrischungsgetränkefabrikanten war offenbar ein gerngesehener Gast, denn nicht weniger als drei Kellner hielten uns die Speisekarten so dicht unter die Augen, daß ich mich beim besten Willen nicht entscheiden konnte. Nach langem Hin und Her entschied ich mich schließlich für den dritten. Wir zogen uns in das Billardzimmer zurück, wo ich ihm meine Lebensgeschichte erzählte, während aus der Gaststube das laute Schmatzen des Fabrikantensohns zu uns herüberdrang.
Der Kellner erwies sich als verständiger Zuhörer. Er stellte behutsam die eine oder andere Frage, ohne dabei seine Berufspflicht zu vernachlässigen. Ich kann sagen, daß ich an dem Abend gut gegessen habe, was hinterher zu einem kleinen Streit mit dem Sohn des Erfrischungsgetränkefabrikanten führte. Stammkundschaft bringt am Ende nichts als Ärger, hoch die Erwartung, groß die Enttäuschung, sagte der Wirt, schließlich ist man gezwungen, Hand anzulegen, ohne es zu wollen. Ach wenn Sie wüßten, wie gut ich Sie verstehe, rief ich laut, aber da hatten mich die Kellner bereits auf ihre Schultern gehoben. Sie trugen mich vorbei an dem Sohn des Erfrischungsgetränkefabrikanten, an dem See mit den Schwänen, die nicht wissen, wovon die Rede ist, hinaus in die Nacht.
Als wir an dem kleinen Musikpavillon vorbeikamen, in dem eine dünnbemannte Kapelle die übriggebliebenen Kurgäste aufzuheitern versuchte, sprang ich ab. Ich setzte mich auf einen kleinen gelb gestrichenen Klappstuhl in der ersten Reihe, um für den Rest des Abends dem Dirigenten unermüdlich Kußhände zuzuwerfen. Dreierlei beeindruckte mich: erstens die Größe seiner Gesten, zweitens ihre Dichte, drittens die Enge seines Fracks, viel zu eng für den Glanz seines Körpers.
Ich will von nun an mein Leben an der Seite des Dirigenten unseres Kurparkorchesters verbringen, der abends gegen zehn den Taktstock aus der Hand legt, um die Leere meiner Rede durch entschlossenes Tun auszufüllen.
Was für eine Familie, schrie der Hausverwalter und schlug mir, ganz nach seiner Gewohnheit, gleich mehrmals auf den Kopf, als er mich in der Schlange entdeckte, wobei er so tat, als wolle er sich nur eine Zigarette anzünden und mein Kopf sei gerade dort, wo er das Zündholz reibe. Ich steckte meinen Kopf tiefer zwischen die Schulterblätter, wir sind eine ganz normale Familie, und daß ich hier stehe, erklärt sich daraus, daß ich klein und leichtgewichtig genug bin, von meiner Mutter jeden Morgen in ein Paar zu großer Hosen gesteckt zu werden, an deren Innenseite sie mit Hilfe einer großen Sicherheitsnadel die kleine Geldbörse befestigt. Man wickelt mich in einen Pullover und wirft mir eine Decke über die Schultern, die mich durch den Tag bringen soll. Meine beiden Schwestern stellen mich in die Gummistiefel meines verschollenen Bruders und drücken mir, bevor sie mich zur Tür hinausschieben, flüchtige Küsse auf die Wangen, die eine auf die linke, die andere auf die rechte, denn unsere Familie lebt nach festen Regeln.
Draußen starre ich auf einen vorübergleitenden Flußkahn, den ich freundlich grüße. Mein Vater, der zwischen Bier und Schnaps auf der Fensterbank hockt und mich bei dieser Vergnügung erwischt, prügelt mich grün und blau, obwohl er gerade erst meine Mutter kurz und klein geschlagen hat, was ich verstehe, denn sie hat unsere Familie ruiniert durch den Ankauf von Kurzwaren aller Art bei vorüberfliegenden Händlern. In unserer Wohnung stapeln sich Kisten und Kästen, gefüllt mit Gummizügen, Knöpfen, Wäscheklammern und Schnürsenkeln verschiedenster Sorten und Größen, mit denen hier weiß Gott niemand etwas anfangen kann. Während mein Vater seiner Verwaltungspflicht nachkommt, bedienen meine Schwestern die Gäste im Hinterzimmer, freundliche ältere Herren, die es in der Regel ohne viel Aufhebens tun.
Sicher wären wir verloren, wohnte nicht im Nebenhaus meine Tante, die glückliche Besitzerin eines Balkons ist, den sie wochenends stundenweise an Frischluftnärrische vermietet, an Menschen, die es lieben, morgens in rotseidene Bademäntel gekleidet auf Balkone zu treten, sich dort zu recken und zu strecken und die Zähne zu blecken und auszurufen: GUTEN MORGEN, DU SCHÖNER TAG, WAS BRINGST DU MIR HEUTE? Gelegentlich stürzt einer hinunter, und augenblicklich versammelt sich eine größere Menschenmenge unter dem Balkon meiner Tante, die in solchen Fällen die Treppe hinunterzuspringen pflegt, sie ist nicht mehr jung, und in einer kleinen Blechbüchse Gelder für die Gefallenen sammelt. Mit Hilfe der Gummizüge meiner Mutter verschnürt sie die Gestürzten zu handlichen Paketen, so daß sie anstandslos abgeholt werden können. Kommen die Angehörigen, so treten wir gemeinsam an und schmettern ein Liedchen, damit Rührung aufkommt. Mein Vater schenkt Schnäpse aus und läßt sich Trinkgelder zukommen.
Was für eine Familie, schrie der Hausverwalter und schlug mir ein viertes Mal auf den Kopf, bevor es mir gelang, unter den gespreizten Beinen meines Vordermannes hindurchzuschlüpfen, der gerade seine Hosen geöffnet hatte, um Wasser zu lassen. Meinst du vielleicht, ich wüßte nicht Bescheid, brüllte der Hausverwalter und fuchtelte dabei so sehr mit den Armen, daß er nach hinten zu fallen drohte. Sein Hintermann fing ihn auf, und er drehte sich um und begann, ihm Einzelheiten zu verraten. In der Kälte ohne Bewegung freut man sich über Neuigkeiten.
Ich versuchte mich Stück für Stück in der Schlange weiter nach vorne zu arbeiten, denn obwohl mein Vater jeden Morgen behauptet, mein Bruder werde zurückkommen und mich in der Schlange ablösen, weiß ich, daß ich mich nicht darauf verlassen kann. Ich ziehe es vor, auf eigene Faust voranzukommen. Da ich mich verspätet hatte, waren die Aussichten schlecht, unten Stiefel, oben Mützen, so weit das Auge reichte. Vor mir saßen drei Männer an einem Tischchen von der Art, wie viele es wegen der langen Wartezeiten mit sich führen, wenn sie zu Einkäufen unterwegs sind. Drum herum hatten sie kleine Klapphokker aufgestellt und gaben sich mit Eifer dem Kartenspiel hin. Sie aßen dabei große, verschwenderisch breit geschnittene Wurstbrote, wie man sie in unserer Gegend selten zu sehen bekommt. Zwischen den Scheiben quoll dick die fettige Wurst hervor, und mir lief das Wasser im Munde zusammen. Ich versuchte, mich durch Einflüsterungen bei dem mir am nächsten sitzenden Spieler beliebt zu machen. Tatsächlich begann er sofort unausgesetzt zu gewinnen, schlug mir kameradschaftlich gegen den Kopf, kniff mich in die Wangen, riß vor Freude an meinen Ohren, nannte mich Goldkäferchen und seinen Glücksstern, machte aber nicht die geringsten Anstalten, mich an seinem Gewinn zu beteiligen, so daß ich schließlich wie ein Hund nach dem Happen schnappte.