Unter der Gürtellinie

Renate Bruckmann

Unter der
Gürtellinie

Unerklärliche Beschwerden
im urogenitalen Bereich
körpertherapeutisch verstehen
und behandeln

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Renate Bruckmann

Renate Bruckmann war als Betriebswirtin als Kursleiterin und Beraterin im Bereich Gesundheit und Dienstleistung tätig. Es folgte eine Ausbildung zur Yogalehrerin (SKA) und zum Stresscoach (Prof. Kaluza Marburg), 2012 die Zulassung als Heilpraktikerin und die Ausbildung zur Pohltherapeutin bei Dr. Helga Pohl, Starnberg. 2012 gründete Renate Bruckmann die Praxis für alternative Schmerzbehandlung in Saarbrücken, 2019 eine Zweitpraxis in Ludwigshafen. Seit 2015 ist sie Zweite Vorsitzende des Berufsverbandes für Pohltherapeuten, Ausbildungsleiterin in Pohltherapie®, verheiratet mit dem Pohltherapeuten Tilo Mörgen und hat zwei erwachsene Töchter.

Impressum

Die in diesem Buch vorgestellten Übungen wurden von der Autorin und dem Verlag sorgfältig geprüft und haben sich in der Praxis bewährt. Dennoch kann keine Garantie für das Ergebnis übernommen werden. Der Verlag und die Autorin schließen jegliche Haftung für Gesundheits- und Personenschäden aus.

 

Originalausgabe August 2020

© 2020 Knaur Verlag

© 2020 der eBook-Ausgabe Knaur eBook

Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Redaktion: Ralf Lay

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Abbildungen im Innenteil: Alle Fotos im Buch von Angelika Klein, Saarbrücken, außer macrowildlife/Shutterstock.com: Abbildung 9

Alle Illustrationen im Buch von Undine Rau, Glinzendorf, Österreich, außer fascialnet.com: Abbildung 2; le-tex publishing services GmbH, Leipzig: Abbildungen 3 und 27; Uncle Leo/Shutterstock.com: Abbildung 26

ISBN 978-3-426-45910-2

Vorwort
von Dr. Helga Pohl

Ich freue mich sehr, dass Renate Bruckmann dieses Buch über die urogenitalen Beschwerden ohne organischen Befund geschrieben hat. Das Thema ist mir seit Langem ein Herzensanliegen und begleitet mich vom Beginn meiner körpertherapeutischen Tätigkeit in den 1990er-Jahren an. Damals arbeitete ich eng mit dem Urologen Dr. Ernst Albrecht Günthert zusammen, der sich in Deutschland wohl als Erster mit dem Thema Psychosomatik und Muskelverspannungen in der Urologie befasste. Er führte mich in dieses faszinierende Thema ein, schilderte mir detailliert die verschiedenen funktionellen Krankheiten auf diesem Gebiet und schickte mir viele Patienten, die er urologisch voruntersucht hatte und denen seiner Überzeugung nach mit »normaler« Urologie allein nicht zu helfen war. Dadurch bildeten die urogenitalen Beschwerden von Anfang an einen Schwerpunkt der sich entwickelnden Pohltherapie® (die damals noch »Sensomotorische Körpertherapie nach Dr. Pohl®« hieß) – sowohl vom theoretischen Verständnis wie auch von der praktischen Anwendung her. Als ich bei den Behandlungen die Leidensgeschichten dieser Patienten hörte, deren Elend man sich als Außenstehender kaum vorstellen kann, wuchs in mir ein besonderes emotionales Engagement für sie.

Die Verantwortung, gerade diesen Patienten mehr und umfassender zu helfen, als ich es allein konnte, bildete für mich einen Hauptmotor, die Ausbildung in Pohltherapie® zu konzipieren und mein Wissen und meine Erfahrungen auf diesem Gebiet weiterzugeben. Innerhalb der Ausbildung versuchte ich, das Engagement für diese verzweifelten, meist »austherapierten« Patienten, für die es keine andere Hilfe gab, an meine Ausbildungsteilnehmer zu vermitteln. Diejenige, bei der dieses Anliegen am meisten ankam, war Renate Bruckmann!

Sie widmete sich dem Thema von Anfang an mit Feuereifer und hat sich im Laufe der letzten Jahre zu der Spezialistin auf diesem Gebiet in Deutschland entwickelt. Als seltener Glücksfall vereint sie mehrere Talente in sich, die den Lesern mit diesem Buch auf allen Ebenen zugutekommen: Zum einen ist sie eine begnadete Therapeutin, voll Empathie, Wissen und Know-how, wovon die Falldarstellungen in diesem Buch zeugen. Außerdem verfügt sie über die seltene Gabe, ihren reichen Schatz an praktischen Erfahrungen systematisch darzustellen und ihn mit theoretischem Wissen zu ergänzen. Sie hat fundiert die wissenschaftliche Literatur durchforscht und empirische Forschungsergebnisse zusammengetragen und damit das Wissen und das Vorgehen der Pohltherapie® auf diesem Gebiet sehr eigenständig präzisiert, systematisiert, weiterentwickelt und um wertvolle Ergänzungen bereichert. Und nicht nur das: Renate Bruckmann kann ihre Ergebnisse in einer für Laien wie Fachleute so fesselnden, lebendigen und verständlichen Sprache darstellen, dass man ihr Buch kaum aus der Hand legen will. Daher ist dem Buch eine breite Leserschaft zu wünschen.

In erster Linie wünsche ich mir und Renate Bruckmann, dass dieses Buch seinen Weg zu den Betroffenen findet. Vielen von ihnen wird es schon beim Lesen helfen, da sie hier ihre eigenen Leiden wiederfinden werden und sie erstmals zu verstehen beginnen. Bis heute sind die urogenitalen Beschwerden ja ein schambesetztes Thema, das in der Öffentlichkeit kaum erwähnt wird und das man selbst im privaten Bereich oft verschweigt. Dadurch denkt jeder, er wäre der Einzige mit solchen »komischen« Beschwerden. Die Betroffenen werden erleichtert von vielen Leidensgenossen lesen. Sie werden erfahren, dass sie nicht die Einzigen sind, dass sie sich diese Beschwerden nicht einbilden und dass ihre Leiden gar nicht so »komisch« und unbegreiflich sind, sondern genauso verstanden, akzeptiert und behandelt werden können wie beispielsweise Kopfschmerzen oder Rückenschmerzen. Schon das dürfte sie entängstigen und damit etwas entspannen lassen, was zur Verbesserung ihrer Beschwerden beitragen kann.

Mehr wird ihnen helfen, wenn sie sich auf das in diesem Buch vermittelte Körperbewusstseinstraining der Pohltherapie® einlassen und damit eigene schädliche »spannende Gewohnheiten« entdecken und sich vielleicht schon etwas davon befreien können. Noch mehr wird ihnen helfen, wenn sie die hier beschriebenen Übungen und Selbstbehandlungen ausprobieren. Und erst recht wird ihnen helfen, wenn sie lesen, dass es die Pohltherapeuten gibt, die ihnen genau bei ihren Problemen kompetent helfen können.

Sicher wird das Buch auch die Fachleute ansprechen, in deren Praxen sich diese Patienten sammeln: Urologen und Gynäkologen, Allgemeinmediziner, aber auch Psychologen, Psychotherapeuten und Psychiater und Heilpraktiker. Für sie dürfte dieses Buch ein hilfreiches Nachschlagewerk sein. Es wird ihnen das Verständnis für diese Art von Patienten erleichtern, denen sie in der Vergangenheit häufig nicht so helfen konnten, wie sie gern würden, weil ihnen die ganz speziellen Kenntnisse auf diesem Gebiet bisher fehlten. Ihre Patienten werden sich von ihnen verstanden und angenommen fühlen, auch wenn sie sie dann kompetent überweisen. Vielleicht werden sie durch dieses Buch angeregt, schon selbst die entsprechenden Muskel- und Bindegewebspartien bei ihren Patienten zu palpieren und so nicht nur eine ausschließende, sondern eine positive Diagnose auf verspannungsbedingte Störungen stellen zu können. Eventuell werden sogar manche Fachleute selbst eine Ausbildung in Pohltherapie® ansteuern, sodass sie ihr Behandlungsspektrum zum Segen ihrer Patienten erweitern können.

Schließlich ist zu wünschen, dass dieses Buch auch einer breiten Öffentlichkeit zugänglich wird, nicht nur Menschen, die sich heute eigenverantwortlich mit Gesundheitsthemen beschäftigen und Angehörige, Freunde und Kollegen besser verstehen und ihnen zur Seite stehen möchten, sondern dass das Buch auch in sämtlichen Medien einen großen Widerhall findet. Ich habe die Vision, dass durch dieses Buch von Renate Bruckmann das Thema der urogenitalen Beschwerden so enttabuisiert wird, dass man über solche Störungsbilder genauso häufig berichtet, offen spricht und diskutiert wie über andere Erkrankungen und dass damit vielen Menschen sehr bald geholfen werden kann.

 

Danke, Renate!

Einführung

»Ich muss zuweilen zehnmal in einer Nacht auf die Toilette, und nach dem Wasserlassen brennt es.«

»Beim Sitzen habe ich mehr oder weniger ständig Schmerzen.«

»Nach dem Orgasmus habe ich tagelang Krämpfe im Damm und im Penis, die nur schwer zu ertragen sind.«

»Ich habe das Gefühl, als würde meine Scheide platzen.«

»Es fühlt sich an, als würde ein Stück glühende Kohle in meinem After stecken.«

»In meinem Unterbauch ist so ein widerliches Gefühl, das auch mit Schmerztabletten nicht besser wird.«

 

Diese Patientinnen und Patienten haben keine organischen oder psychischen Erkrankungen, sondern verspannte Muskeln im Becken. Es kann Männer wie Frauen treffen, die Symptome müssen nicht immer so dramatisch ausfallen, beeinträchtigen das Leben aber oft massiv: Beruf und Familie, PartnerschaftPartnerschaft und Hobby, nichts läuft mehr wie gewohnt. Das kostet Energie und Lebensfreude. Die Beschwerden sind vielfältig und wechselhaft, sie verändern sich in Stärke, Charakter und Lokalisation. Manche leiden schon lang, viele haben Angst, ihre Beschwerden nicht mehr loszuwerden. Auch wenn ihre Organe gesund sind und sie »nur« Verspannungen haben, sind sie wirklich schlecht dran, und das Beste wäre, ihnen einfach zu glauben.

In der Öffentlichkeit wird diese Art von Beschwerden kaum diskutiert, und sie sind auch kein partytaugliches Gesprächsthema. Niemand würde auf die Frage eines Bekannten, wie es denn so gehe, antworten: »Danke der Nachfrage, ich habe Schmerzen nach dem Wasserlassen und ein FremdkörpergefühlFremdkörpergefühl im After.« Die Betroffenen wissen dadurch nicht, dass das Problem weitverbreitet ist. Dabei kann es jeden betreffen, den Studenten genauso wie die Großmutter, den Lageristen wie die Anwältin und manchmal auch Kinder.

Das Becken ist ein weitgehend unsichtbarer Bereich und anatomisch komplex. Es gibt Öffnungen, Organe, Leitungswege mit ganz unterschiedlichen Prozessen und Empfindungen: Fortpflanzung und Zyklus, Sexualität und Ausscheidung. Und alles so nah beieinander, dass man nicht besonders verklemmt sein muss, um das ein bisschen unheimlich zu finden. Man denkt also nicht zuerst an Muskeln, wenn es zu Schmerzen im Becken kommt, während es für die meisten Menschen bei Schmerzen in ihrer Wade ganz naheliegend ist, an ihren Wadenmuskel zu denken, erst recht nach einer langen Wanderung. Die Muskeln innen und außen am Becken verhalten sich aber auch nicht anders als die Wadenmuskeln: Eine Überbelastung zieht Schmerzen und Funktionsstörungen nach sich.

In der Regel haben unsere Patienten viele Besuche bei Gynäkologen, Urologen, Proktologen, Neurologen und so weiter hinter sich und alle Organe untersuchen lassen. Trotzdem wird meist keine befriedigende Erklärung dafür gefunden. Die Patienten freuen sich nicht, wenn man ihnen sagt, sie hätten nichts oder nur psychische Störungen, da sie spüren, dass etwas in ihrem Becken nicht in Ordnung sein kann, wenn es so wehtut. So wechseln sie den Arzt und lassen die gleiche Diagnostik wieder und wieder durchführen. Viel sinnvoller wäre es stattdessen, systematisch Muskeln und Faszien zu untersuchen. Dann könnte man feststellen, ob VerspannungenVerspannungen der Grund sein können, und wenn ja, eine geeignete Therapie beginnen, die an den Ursachen ansetzt. Das könnte den Patienten Leid (und den Kostenträgern Geld) ersparen. Ich bin absolut sicher, dass die Einnahme etlicher MedikamenteMedikamente, viele Mehrfachdiagnostiken und manche Operationen damit obsolet wären.

Die PohltherapiePohltherapie® wurde entwickelt, um Menschen mit chronischen Schmerzen und Funktionsstörungen zu helfen, und ist ein Verfahren, das oft selbst dann noch helfen kann, wenn vieles andere nicht gewirkt hat. Aus meiner Erfahrung als Pohltherapeutin ist dieses Buch entstanden. Ich habe es geschrieben, damit die vielen Betroffenen verstehen, woher ihre Beschwerden kommen, und erkennen, was sie dagegen tun können. Etliche Patienten sind mir noch gut erinnerlich, und ich habe ihre Geschichten (wenngleich verfremdet) in das Buch einfließen lassen.

Das Verstehen der Ursachen mindert die Sorgen, Übungen und Anleitungen zur Selbstbehandlung helfen, die Beschwerden zu verringern. Auch wenn Sie sich lieber behandeln lassen, als es selbst zu lernen, kann das Buch Sie durch die Therapie begleiten und Ihnen Nachschlagewerk und Unterstützung sein.

Wie schnell es besser wird, ist verschieden: Manchmal geht es recht bald, häufiger braucht es Geduld, und selten funktioniert es auch nicht. Nach meiner Praxiserfahrung erreichen wir in gut 75 Prozent das Ziel: Die Beschwerden bessern sich, die Funktionen kehren zurück. Gemessen an dem, was viele hinter sich haben, sind das Ergebnisse, die sich wirklich sehen lassen können.

Manchmal sehe ich mir einen schwer belasteten Patienten an und denke, dass der Mensch, den ich vor mir habe, nicht der Mensch ist, wie er eigentlich gedacht ist. Es liegt etwas über ihm, ein Schatten, eine Verzerrung gewissermaßen. Doch irgendwann im Lauf der Behandlung passiert etwas Verblüffendes: Das Eigentliche kommt wieder hervor – ohne diese »Verschattung«, so, wie der Mensch war, bevor all das losging. Das ist immer ein bewegender Moment für mich, und es geschieht, sobald die Beschwerden besser werden und die Betroffenen sicher geworden sind, auf dem richtigen Weg zu sein. Wenn ich meinen Eindruck mitteile, sagen sie: »Ja, ich habe mein Leben wieder zurück, ich arbeite, mache Sport, gehe aus und weiß endlich, was ich tun kann.« Dafür lohnt sich jeder Aufwand.

Das Buch hat drei Teile. In Teil 1 erkläre ich die Zusammenhänge zwischen Schmerzen, Missempfindungen, Funktionsstörungen und Verspannungen. Falldarstellungen und Symptombeschreibungen helfen bei der Einordnung der eigenen Beschwerden. Mit den Spürübungen wird das Gelesene klarer und das Verständnis für den eigenen Körper größer. Weil ich weiß, wie ungeduldig man beim Lesen werden kann, wenn man ein Problem hat und eine Lösung dafür sucht, gibt es schon bei den Symptombeschreibungen Hinweise auf Lösungen und Hilfen mit der entsprechenden Seitenzahl. So können Sie direkt anfangen, Ihr Problem anzugehen, und sich nach und nach aneignen, was nötig ist, um Ihre Beschwerden in den Griff zu bekommen.

In Teil 2 geht es darum herauszufinden, woher Sie Ihre Daueranspannung haben und was sie aufrechterhält. Dabei spielen »spannende Gewohnheiten im Alltag und andere Einflüsse eine Rolle. Auch hier gilt: Spürübungen mitmachen. Sie kommen so viel schneller dahinter, wie Sie Ihre Beschwerden selbst beeinflussen können.

In Teil 3 erfahren Sie, wie Sie mit einem täglichen kurzen Übungsprogramm Ihren Körper und Ihr Becken wieder beweglich, locker und kraftvoll bekommen. Mentale Übungen helfen bei der Bewältigung von Stress und Sorgen. Sie erfahren, wie die Pohltherapie® Ihnen zu helfen vermag, und lernen, sich selbst nach diesem Konzept zu behandeln. Schließlich gehe ich auf weitere Aspekte ein, die zusätzlich eine Rolle spielen können, und gebe Tipps, was man noch tun kann.

Für besonders interessierte Leserinnen und Leser gibt es hin und wieder kleine Exkurse zu Körperfunktionen, Neurobiologie und Anatomie. Sie erweitern Ihr Verständnis, wenn Sie es genauer wissen wollen.

Den ersten Schritt haben Sie schon getan, indem Sie zu lesen begonnen haben. Sie werden sehen, dass es damit allein nicht getan ist, wenn Sie Ihre Beschwerden loswerden wollen. Das wäre nämlich so, als wären Sie hungrig und läsen ein Kochrezept, statt sich Essen zu kochen. Sie wüssten theoretisch, wie es vielleicht ginge, aber Sie würden nicht satt.

Für ganz Ungeduldige: Wenn Sie wissen wollen, ob Ihre Beschwerden muskulär bedingt sein können, machen Sie den Test auf Seite 24f.

Ich wünsche Ihnen beim Lesen und beim Spüren hilfreiche Erkenntnisse und Erfahrungen und vor allem: gute Besserung! Fassen Sie Mut und beginnen Sie.

Teil 1:
Beschwerden verstehen

In Teil 1 können Sie erkennen, ob Ihre Beschwerden möglicherweise muskulär bedingt sind, und verstehen, wie es so weit gekommen ist. Fakten und Wissen über die Zusammenhänge zwischen Anspannung und Symptomen sowie Patientengeschichten erleichtern die Einordnung der eigenen Beschwerden und Diagnosen. So können Sie dann die nächsten Schritte auf dem Weg der Besserung angehen.

VerspannungenVerspannungen als Ursachen chronischer Beckenbeschwerden

Wenn Sie an Beschwerden im urogenitalen Bereich leiden, werden Sie sich oft gefragt haben, woher Ihre Beschwerden kommen. Vielleicht haben Sie unterschiedliche Diagnosen erhalten und Behandlungsversuche gemacht, die Ihnen wenig oder gar nicht halfen. Möglicherweise haben Sie schon einmal daran gedacht, dass Ihre Beschwerden mit VerspannungenVerspannungen in Ihrem Körper, Ihren Muskeln zusammenhängen könnten. Eventuell spüren Sie sogar, dass es Verkrampfungen sind, die Ihr Becken leiden lassen. Vielleicht gehören Sie auch zu den Menschen, die es für absolut undenkbar halten, dass derartig starke SchmerzenSchmerzen und Funktionsstörungen »nur« von Verspannungen kommen können. Doch es kann durchaus möglich sein: Selbst stärkste Schmerzen, nervtötende Missempfindungen und quälende Funktionsstörungen der Blase, des Genitals und des Rektums können durch chronisch verspannte Muskeln und Bindegewebe oder Faszien verursacht werden.

Spannen Sie jetzt ganz leicht tief innen die Pobacken, und halten Sie die Spannung. Macht man das dauernd, merkt man es gar nicht mehr, und irgendwann beschweren sich die überlasteten Muskeln, und man bekommt Schmerzen am SteißbeinSteißbein. Man konsultiert den Arzt, und schließlich wird die Diagnose »Coccygodynie«Coccygodynie gestellt. Der Zungenbrecher besagt nichts anderes, als dass einem das Steißbein (Os coccygis) wehtut. Warum, wird nicht gesagt – und auch nicht, was man dagegen tun kann. Wenn man immer weiter das Gesäß anspannt, bringt das auch den BeckenbodenBeckenboden in Not, weil er ebenfalls am Steißbein ansetzt; und schon hat man die nächste Beschwerde: Hämorrhoiden. Das ist dann wenigstens etwas Fassbares im Gegensatz zur Coccygodynie, und man bekommt eine Therapie. Fühlt es sich dagegen so an, als stecke eine Walnuss im After und komme nicht heraus, wird man dagegen leicht in die Psychoecke gestellt.

Das »Nussgefühl«, die Schmerzen, die Hämorrhoiden, all das kommt tatsächlich nur vom ständigen Anspannen der Pobacken. Wenn es ganz schlecht läuft, wird man operiert oder kommt in die Psychosomatik, was beides nicht gegen das Anspannen hilft. Der Geplagte merkt in der Regel nicht, dass er mehr oder weniger ständig den Po anspannt, oder falls es ihm doch mal aufgefallen ist, hat er nie darüber nachgedacht, dass das etwas mit seinen Beschwerden zu tun haben könnte.

Dass chronische SchmerzenSchmerzen durch Verspannungen verursacht werden können, habe ich nicht selbst herausgefunden, und es ist auch keine neue Erkenntnis. Schon vor fast hundert Jahren hat man diesen Zusammenhang entdeckt, früher nannte man diese Stellen im Körper »Myogelosen« (Muskelhärten). Heute nennt man sie »Trigger-« oder einfach »Schmerzpunkte«Schmerzpunkte, in diesem Buch ist mit den Begriffen das Gleiche gemeint. Durch die neuere Forschung weiß man, dass auch die FaszienFaszien, also das Bindegewebe um die Muskeln herum und unter der Haut, Schmerzen und Missempfindungen auslösen können.

Mit den Händen sind die Verspannungen meist tastbar. Sie liegen in den Muskeln, wo man sie als verhärtete Stränge oder Punkte ertasten kann und Druck Schmerz auslöst, und im Bindegewebe, wo man sie oft sogar von außen sehen kann, weil sie bei Bewegung nicht recht mitmachen. Beim Tasten fühlt dieses Bindegewebe sich für Therapeuten zäh und dick an. Manchmal kann der Druck auf einen bestimmten Punkt auch Schmerz in einer anderen Region im Körper auslösen. Wir werden sehen, wie diese tastbaren Befunde mit den Beschwerden zusammenhängen und wie es gelingen kann, sie aufzulösen.

VerspannungenVerspannungen in Muskeln und im Bindegewebe können durch Fehlhaltungen und die Gewohnheit entstehen, sich in bestimmten Bereichen ständig anzuspannen. Auch Belastungen wie Entzündungen, Operationen, Verletzungen (auch scheinbar unbedeutende) können solche Dauerkontraktionen bewirken. Sie können überall im Körper auftreten und Schmerzen, Missempfindungen und Funktionsstörungen auslösen, im Rücken, im Nacken, in den Beinen genauso wie im Beckenbereich.

Mit der PohltherapiePohltherapie® kann man solche Verspannungen auffinden und behandeln. Wir untersuchen die Patienten und analysieren ihre Bewegungsgewohnheiten und Körperhaltungen. Dabei stellen wir in der Regel Befunde, welche die Beschwerden erklären können. Wir ertasten zum Beispiel einen angespannten Unterbauch mit TriggerpunktenTriggerpunkt (Schmerzpunkten) in den Bauchmuskeln, oft auch harte Pobacken, und stellen eine eingeschränkte Atmung fest. Erfolgt eine rektale oder vaginale Untersuchung, findet man recht häufig einen ziemlich angespannten BeckenbodenBeckenboden. Auch die Muskeln und FaszienFaszien an den Seiten des Bauchs und oberhalb des Nabels können sich verspannt und druckschmerzhaft anfühlen und Beschwerden im Becken auslösen. Die Untersuchung ist jedoch noch nicht beendet, denn auch die Beine müssen miteinbezogen werden. Hier sind die Beininnenseiten besonders oft betroffen. Nicht selten finden sich Narben im Bereich des Bauchs und der Leisten, die empfindlich sind und zähes Bindegewebe aufweisen. Die Patienten staunen dann oft und können zu Anfang kaum glauben, dass ihre Beschwerden »nur davon« kommen sollen.

Vielleicht ist Ihnen schon aufgefallen, dass in diesem Buch die Rede vom Becken und nicht vom BeckenbodenBeckenboden ist. Das hat seinen Grund: Der Beckenboden ist nämlich nur ein Teil der Muskeln, die bei urogenitalen Beschwerden wichtig sind. Deswegen ist er zwar einer der Verdächtigen, aber es gibt weitere: Die anderen sind Atem-, Bauch-, RückenRücken und Hüftmuskeln. Sie können ebenfalls zu Beschwerden im urogenitalen oder rektalen Bereich führen.

SchmerzenSchmerzen und Funktionsstörungen im Becken können von den Muskeln ausgehen, die zum Rumpf, den Hüften und dem BeckenbodenBeckenboden gehören.

Veröffentlichungen und Forschung

In Deutschland finden bislang muskulär bedingte Ursachen bei Beckenbeschwerden wenig klinische Beachtung (Bodden-Heidrich). Die Veröffentlichungen dazu stammen oft aus dem englischsprachigen Ausland, neben den hier genannten Quellen finden sich weitere im Anhang.

2018 veröffentlichte das Journal of Bodywork und Movement Therapies einen Fallbericht über die erfolgreiche manuelle Behandlung von Muskeln durch das Lösen von VerspannungenVerspannungen bei Pudendusneuralgie (Origo und Tarantino 2018).Pudendusneuralgie

2017 erschien im Ärzteblatt eine Studie zum Beckenschmerzsyndrom, wonach eine Behandlung in Form einer Kombination aus manuellen Techniken sowie Körperübungen auch noch nach über einem Jahr eine deutliche Verbesserung erbracht haben (Klingler 2016).

2015 wurde von den Autoren Baessler und Junginger als »ein häufiger gemeinsamer Nenner in der Pathogenese [der Entstehung der Beschwerden] ein hypertoner [übermäßig angespannter] BeckenbodenBeckenboden« genannt (Baessler und Junginger 2015).

2012 erschien im amerikanischen Journal of Urology ein Bericht, wonach Frauen mit der Diagnose »Blasenschmerz/Interstitielle Cystitis«Interstitielle CystitisCystitis im Vergleich zu normalen Massagebehandlungen deutliche Verbesserungen durch myofasziale Therapie hatten (Fitzgerald et al. 2012).

2014 erschien die letzte Auflage des Klassikers Handbuch der Muskeltriggerpunkte, eines zweibändigen Standardwerks für Ärzte und Therapeuten. Dr. Travell entwickelte zusammen mit Dr. Simons seit den Vierzigerjahren das Konzept der myofaszialen Triggerpunkte als Erklärung für chronische SchmerzenSchmerzen und Funktionsstörungen, auch im urogenitalen Bereich (Travell und Simons 1992).

2010 kam von Dr. Helga Pohl das Buch Unerklärliche Beschwerden? heraus. Sie wurde durch eigene Beschwerden (im Rücken) nahezu arbeitsunfähig, bis sie begann, sich mit den Ursachen zu beschäftigen. Wissenschaftliche Erkenntnisse bezog sie genauso mit ein wie körperbasierte Therapieverfahren. Daraus entwickelte sie die PohltherapiePohltherapie®. Ihre Arbeit half vielen Betroffenen zu verstehen, dass chronische SchmerzenSchmerzen und viele funktionelle Störungen auch im Becken durch chronische Anspannung entstehen können (Pohl 2010).

2008 erschien im amerikanischen Journal of Urology eine Studie zum Thema »Chronische ProstatitisProstatitis, chronischer Beckenbodenschmerz«. Dazu wurden Daten von 384 Probanden ausgewertet. Die Autoren kamen zu dem Schluss, dass bei CPPSCPPS und der chronischen Prostatitis die Beschwerden durch Muskeln und FaszienFaszien verursacht sein können (Shoskes et al. 2008).

Auch wenn im Rahmen dieses Buchs bei Weitem nicht der komplette wissenschaftliche Überblick dargestellt wird, reicht es Ihnen hoffentlich, um zu erkennen: Es ist nicht die »spinnerte Idee« eines Einzelnen, chronische Beckenbeschwerden ohne organischen Befund durch VerspannungenVerspannungen in Muskulatur und Bindegewebe zu erklären und dementsprechend zu behandeln. Das Konzept greift bekannte medizinische Erkenntnisse und Forschungsergebnisse auf und widerspricht der schulmedizinischen Betrachtungsweise überhaupt nicht.

Fragebogen: Können meine Beschwerden muskulär bedingt sein?

Wenn Sie wissen wollen, ob Ihre eigenen Probleme durch VerspannungenVerspannungen verursacht worden sein können, beantworten Sie den Fragebogen:

 

Meine Beschwerden

Auswertung: Wenn Sie bei drei oder mehr Aussagen festgestellt haben, dass sie auf Sie zutreffen, kommen VerspannungenVerspannungen als Verursacher Ihrer Beschwerden infrage. Nachdem Ihre Beschwerden ärztlich abgeklärt worden sind, sollten Sie sich von einem kundigen Therapeuten oder einer Therapeutin untersuchen lassen. Wenn Sie Letzteres nicht wollen oder können und es allein versuchen möchten, ist der zweite Teil des Buchs für Sie besonders interessant. Dort gibt es einen großen Teil zum Thema »Übungen und Selbstbehandlungen«.

Was sind chronische VerspannungenVerspannungen?

Damit Sie sich die Folgen einer chronischen Anspannung verdeutlichen können, ballen Sie Ihre rechte Hand zur Faust, spüren Sie die Spannung in Ihrer Hand und halten Sie diese, zählen Sie dabei langsam bis fünfzehn, und schließen Sie so lang die Augen. Dann lösen Sie die Hand langsam. Sie spüren, wie das Blut wieder besser fließt, die Hand wieder lockerer wird, sich wieder bewegen lässt.

Stellen Sie sich nun vor, Sie hielten Ihre Hand stunden-, ja monatelang ständig zur Faust geballt. Was würde dann aus Ihrer Hand werden? Wie würde sie sich anfühlen? Könnten Sie damit einen feinen Pinselstrich ziehen? Mit chronisch angespannten Muskeln im Becken passiert nichts anderes: Sie schmerzen, lassen sich nicht mehr gut bewegen, sind schlecht durchblutet und beeinträchtigen die Funktionen der OrganeOrgane und Strukturen, in die sie eingebettet sind.

VerspannungenVerspannungen können überall in den Muskeln und Bindegeweben oder FaszienFaszien des Körpers entstehen. Jeder kennt das: Nach einem langen Tag am Schreibtisch mit angespanntem Nacken tun Kopf und Schultern weh und fühlen sich verspannt an. Dann bewegen wir uns ein bisschen, kreisen mit den Schultern, lassen uns von unserem Liebsten den Nacken massieren, und alles ist wieder gut. Nicht so, wenn die AnspannungenAnspannungen andauern, sich nicht mehr lösen, dann entstehen aus chronischer Anspannung chronische Beschwerden. Das kann im Becken genauso passieren wie woanders im Körper. Nur: Was genau schmerzt eigentlich bei Verspannungen? Und wie entstehen diese SchmerzenSchmerzen?

Muskeln

Muskeln brauchen wir, um uns zu bewegen, Wärme zu erzeugen, zu atmen und so weiter. Ein Muskel besteht aus einzelnen Fasern, wie jeder weiß, der schon mal etwas davon zwischen den Zähnen stecken hatte, nachdem er ein Stück Fleisch gegessen hat. Diese Strukturen kann man noch mit dem bloßen Auge erkennen. In den Fasern finden wir kleinere Fäserchen, und das geht dann immer so weiter bis zur kleinsten Einheit, dem Sarkomer, das kann man nur noch im Mikroskop erkennen. Millionen davon müssen sich zusammenziehen, um die Seite eines Buchs umzublättern oder Wasser zu lassen. Wenn sich winzige oder größere Faseranteile in einem dauerhaft angespannten Muskel nicht mehr entspannen können, entstehen druckschmerzhafte Punkte, man nennt sie wie gesagt auch »Triggerpunkte« oder »Myogelosen« (siehe die Abbildung). Es sind winzige oder größere Faseranteile von dauerhaft verkrampften und verkürzten Muskeln, die sich nicht mehr entspannen können. Sie können in den äußeren Muskeln des Körpers oder innen im Becken auftreten.

Abbildung 1: Triggerpunkte in einem verspannten MuskelTriggerpunkt

Man sieht die kleinen Knötchen, die verdickten Stellen mit den Triggerpunkten. Die Fasern bleiben dann an dieser Stelle zusammengezogen und verlieren ihre Fähigkeit, sich wieder lang zu machen und glatt zu werden, so wie die Nachbarfasern. Meist gibt es in einem verspannten Muskel mehrere oder viele solcher Punkte.

Die kleinen verkrampften Stellen haben Folgen für das umliegende Gewebe: Eine davon ist, dass sich in der Region der Druck im Gewebe erhöht. Außerdem verlieren steife Fäserchen ihre Funktion als Minipumpe, die normalerweise dafür sorgt, dass Blut durch die kleinen Kapillargefäße fließen kann. Dadurch wird die Versorgung der Zellen mit Sauerstoff und Nahrung behindert. Doch nicht nur die Zufuhr ist erschwert, auch der Abfall aus den Zellen wird nicht mehr richtig entsorgt. Diese Veränderungen lösen Schmerzreize aus. Meist sitzt der Schmerz an dem Ort, an dem ein TriggerpunktTriggerpunkt sitzt, oder irgendwo in der Nähe. Sie lösen aber nicht nur SchmerzenSchmerzen aus, wenn man darauf drückt, das könnte man ja vielleicht noch vermeiden. Leider tun sie auch ganz von allein weh, und sie schmerzen ebenfalls, wenn man versucht, den verspannten Muskel zu bewegen.

Letzteres kompensiert der Mensch, ob er will oder nicht, indem er die schmerzauslösende Bewegung meidet, was zwar natürlich ist, aber den Muskel immer steifer macht. Dieses Verhalten spiegelt sich in einer Schonhaltung widerSchonhaltung. Schonhaltungen führen dazu, dass andere Muskeln mehr Arbeit bekommen, als ihnen guttut, sodass sie ebenfalls in Überlastung geraten und schmerzen, wodurch es leider sogar an ganz anderen Stellen anfängt wehzutun. Für Beschwerden im Bereich des Beckens und des Beckenbodens können verschiedene Muskeln in Betracht kommen, äußere Muskeln des Bauchs und der Hüften genauso wie innerhalb des Beckenbodens und der Beckenwände.

BindegewebeBindegewebe und FaszienFaszien

BindegewebeBindegewebe ist eine Gewebeart, die in vielen Regionen und Varianten im Körper vorkommt. Heute wird vielfach der Ausdruck »Faszie« verwandt, wenn damit das Bindegewebe im Bereich der Körperfunktion Bewegung gemeint ist (vom lateinischen fascia für »Binde, Streifen, Bandage«). In diesem Buch verwenden wir den Begriff »Bindegewebe« analog zum Begriff »Faszien«Faszien. Beide sind erst in jüngerer Zeit Gegenstand der wissenschaftlichen Betrachtung geworden. Zahlreiche Veröffentlichungen verweisen auf seine Rolle bei der Entstehung von SchmerzenSchmerzen und bei der Bewegung (Guimberteau und Armstrong 2016; Pohl 2010; Stecco und Stecco 2016).

Muskeln sind nicht denkbar ohne Bindegewebe und FaszienFaszien, sie würden ohne diese Strukturen auseinanderfließen und könnten keine Fasern und Fäserchen bilden. Ähnlich, wie eine Orange nur ihre charakteristischen Schnitze und Fasern des Fruchtfleischs bekommt, weil sie durch feines und weniger feines BindegewebeBindegewebe in einzelne Strukturen unterteilt und zusammengehalten wird, ist es auch mit den Muskeln und dem Bindegewebe.

Abbildung 2: Arbeitseinheit Faszien (Bindegewebe) und Muskeln (©fascialnet.com)

In der Abbildung können Sie die rosa Muskelfasern und die weißen FaszienFaszien und BindegewebeBindegewebe erkennen. Beide bilden zusammen eine Arbeitseinheit. Sie können auch sehen, wie der ganze Muskel außen umhüllt ist von Bindegewebe, das sich schließlich zu einer Sehne verdichtet, die zum Knochen läuft. So werden Kräfte übertragen von den Muskeln zu den Knochen, die Bewegung ermöglichen. Dachte man früher, dass nur die Sehnen die Kraft aus den Muskeln auf die Knochen übertragen, weiß man heute, dass das Bindegewebe hier eine viel größere Rolle spielt und dass einige Muskeln hauptsächlich über Faszien funktionieren.

BindegewebeBindegewebe ist elastisch, kann sich anpassen, kann Kräfte übertragen und ermöglicht das Gleiten der einzelnen Schichten und Strukturen im Körper. Jedes Organ, auch die im Becken, sind von Bindegewebe umhüllt. Seine Dehnbarkeit sorgt zum Beispiel dafür, dass die Blase sich weiten und zusammenziehen kann, je nachdem, wie gefüllt sie ist. Die BänderBänder, mit denen die Beckenorgane flexibel aufgehängt sind, bestehen ebenfalls daraus.

BindegewebeBindegewebe besteht aus Flüssigkeit, Zellen und Fasern, die auf mikroskopischer Ebene gitternetzartige Strukturen bilden. Man kann es sich vorstellen wie ein allumfassendes Netz, das die einzelnen Strukturen des Körpers miteinander verbindet, und zwar von den Tiefen der OrganeOrgane und Knochen über die Muskeln bis an die Körperoberfläche unter der Haut.

Es enthält eine große Menge verschiedener Rezeptoren, die fortlaufend Reize aufnehmen. Über Nerven werden diese Reize an die Zentrale, also das Gehirn,Gehirn weitergeleitet. Es gibt Rezeptoren für Wärme, Kälte, Streicheln, Druck, Schmerz, JuckreizJuckreiz und so weiter. Damit aber unser Gehirn weiß, ob wir unser Bein gerade gestreckt haben oder gebeugt (ohne hinzusehen), haben wir die Propriozeption. Das Zungenbrecherwort meint die innere Körperwahrnehmung. Dieses Sinnesorgan funktioniert den ganzen Tag, ohne dass wir uns dessen bewusst sind. Schon wenn wir aufwachen, spüren wir, dass wir auf dem Bauch liegen und den Kopf nach rechts gedreht haben, es warm unter der Decke ist, und das verdanken wir ebendieser Propriozeption.

Alle diese WahrnehmungenWahrnehmung nehmen wir mit den Rezeptoren in unseren Bindegeweben von Haut, Muskeln und Gelenken auf. Bindegewebe und Muskeln zusammen machen ungefähr 40 bis 50 Prozent unseres gesamten Körpergewichts aus. Das ist eine ganze Menge, und gemessen daran haben sie in der Medizin lange Zeit wenig Aufmerksamkeit bekommen.

Wie die Muskeln kann sich auch BindegewebeBindegewebe zum Schlechten verändern. So hat man festgestellt, dass sich FaszienFaszien bei StressStress und Entzündung und Verletzung zusammenziehen können (Guimberteau und Armstrong 2016). Hält dieser Zustand an, nennen die einen das »Verfilzung«, die anderen »Verklebung«, wieder andere sagen, es sei verspannt. Das spielt für uns in diesem Buch weniger eine Rolle. Auf jeden Fall fühlt es sich für Therapeuten zäh und dick an. Und es kann dann gewaltige SchmerzenSchmerzen und MissempfindungenMissempfindungen erzeugen. Es kann »nur« wehtun, es kann einem davon übel werden, es kann brennen, jucken, sich taub anfühlen oder wahnsinnig kälteempfindlich werden. Das kommt, weil es so viele Rezeptoren enthält. Wenn das Bindegewebe als Hülle um die Muskelfasern herum verspannt und trocken ist, behindert es natürlich die freie Bewegung des Muskels. Das kann man sich vorstellen, als würde man ein Rinderfilet in Vakuum packen lassen, die feste Hülle macht auch das Fleisch unbeweglich und steif.

Wie entstehen SchmerzenSchmerzen?

Mancher wünschte sich, keine SchmerzenSchmerzen empfinden zu können, doch die Wahrheit ist, dass wir Schmerzen zum Überleben brauchen. Sie sind ein wichtiges Warnsignal für uns; gäbe es sie nicht, hätten wir keinen Grund, mit einem gebrochenen Fuß stehen zu bleiben. Schmerzen machen uns auf ein Problem aufmerksam und wenden weiteren Schaden von uns ab. Auf der Welt gibt es etwa hundert Menschen wie Meggie Zahneis, die junge US-Bürgerin kann durch eine extrem seltene Genmutation keine Schmerzen empfinden, aber leider ist das ziemlich gefährlich, denn sie spürt keinen Grund, zum Arzt zu gehen oder mit dem Kratzen an einem Stich aufzuhören, auch wenn’s blutet, denn es tut ihr absolut gar nichts weh.

SchmerzenSchmerzen werden von winzig kleinen Nervenendigungen im Gewebe ans GehirnGehirn geschickt. Man nennt sie »Nozirezeptoren«Nozirezeptoren. Manche Schmerzsignale führen zu einem Reflex wie, die Hand von der heißen Herdplatte zu ziehen. Das passiert bereits im Rückenmark und ist keine bewusste Handlung. Wir handeln also, ohne darüber nachzudenken, denn das würde in dem Fall zu lange dauern, und der Schaden würde dadurch größer werden. Eigentlich also eine sehr schlaue Sache, das Ganze. Die meisten Schmerzsignale dringen aber weiter vor als bis zum Rückenmark, nämlich bis ins Gehirn, in unser Bewusstsein, und werden dort weiterverarbeitet. Hier können wir darüber nachdenken, sie bewerten, uns an sie erinnern, etwas entscheiden und etwas unternehmen.

Nehmen wir an, ein Angestellter in einem Büro hat einen arbeitsreichen Tag. Er bekommt Kopfschmerzen und denkt: »Hm. Mal wieder vergessen zu trinken vor lauter Arbeit«, nimmt sich ein großes Glas Wasser und trinkt es aus. Vielleicht schaut er dabei aus dem Fenster oder lässt frische Luft herein. Dann hat der Schmerz seine Funktion erfüllt, nämlich ihn darauf aufmerksam zu machen, dass dem Körper Wasser und Sauerstoff fehlen und sein GehirnGehirn eine kleine Pause braucht.

SchmerzenSchmerzen sind ein Symptom, dass irgendwo im Körper etwas nicht stimmt und wir uns darum kümmern sollen.

Je nachdem, wie wir SchmerzenSchmerzen bewerten und welche Erfahrungen wir damit haben, leiden wir mehr oder weniger darunter. Wenn wir denken, dass es sich um etwas Harmloses handelt, das wieder von allein vergehen wird, empfinden wir den Schmerz weniger dramatisch, als wenn wir denken, dass der Schmerz Symptom einer ernsten Krankheit ist oder nicht mehr weggehen könnte. Dazu ein Beispiel: Ein Mensch, der schon einmal in seinem Leben sehr starke Rückenschmerzen hatte und ein Jahr lang deswegen arbeitsunfähig war, wird beim erneuten Auftreten von auch nur leichten Rückenschmerzen andere Gefühle und GedankenGedanken haben als einer, der damit noch nie Probleme hatte und annimmt, dass es morgen wieder weg sein wird. Schmerz ist mit Gefühlen verbunden und seine Bewertung von Erfahrungen und Erwartungen abhängig.