Andreas Gößling
Drosselbrut
True-Crime-Thriller
Knaur e-books
Andreas Gößling, 1958 in Gelnhausen geboren, lebt als Schriftsteller und Verleger in Berlin. Der Germanist, Politik- und Kommunikationswissenschaftler hat zahlreiche Romane und Sachbücher für erwachsene und junge Leser publiziert, aktuell die True-Crime-Thriller »Zerschunden«, »Zersetzt« und »Zerbrochen« zusammen mit Michael Tsokos, allesamt Top-Ten-Bestseller auf der Spiegel-Liste. »Drosselbrut« ist die Fortsetzung seiner mit »Wolfswut« gestarteten True-Crime-Reihe.
© 2019 der eBook-Ausgabe Knaur eBook
© 2019 Knaur Verlag
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Ein Projekt der AVA International GmbH Autoren- und Verlagsagentur
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Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit
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Redaktion: Regine Weisbrod
Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Coverabbildung: © FinePic / shutterstock.com
ISBN 978-3-426-45315-5
All denen, die geopfert werden
Um Viertel vor neun fährt die Regionalbahn in den Bahnhof Friedersdorf ein: Endstation. Paula Nieburg steht mit ihrem Fahrrad schon an der Waggontür. Ihr Shirt ist auf dem Rücken unangenehm feucht.
Ich bin zu warm angezogen, denkt die junge Frau. Jeans, Wanderschuhe, und das bei sechsundzwanzig Grad. Der Rucksack klebt ihr zwischen den Schultern. Die Münzknöpfe an ihrem Shirt fühlen sich an wie heiße Fingerspitzen. Aber im Wald ist es bestimmt kühler.
Ihr Herz schlägt schneller als normal, doch Paula fühlt sich gut. Sie kann es kaum erwarten, hinaus ins Freie zu kommen. Das stickige Abteil hinter sich zu lassen und alles andere, was bis gestern ihr Leben war. In ihrem Kopf hört sie die suggestive Männerstimme, die in allen Filmen der »Befrei dich!«-Kampagne aus dem Off ertönt. »Mach es wie der junge Vogel: Zerreiße deine Fesseln, verlasse das Plastiknest, solange du noch die Kraft dafür hast. Befrei dich!« Paula hat jedes der bislang fünf Schocker-Videos unzählige Male auf YouTube gesehen.
Die Schutzbleche scheppern, als sie ihr Fahrrad über den menschenleeren Bahnsteig zum Ausgang schiebt. Die wollte ich schon lange mal festschrauben, geht es ihr durch den Kopf. Das hat sich jetzt auch erledigt.
Verlassen liegt der Bahnhofsvorplatz in der Nachmittagssonne. Friedersdorf scheint nur aus einer Handvoll mickriger Häuser links und rechts der Dorfstraße zu bestehen. Die Stille kommt Paula fast unwirklich vor. Ein Vorposten der Zivilisation, denkt sie. Dabei ist sie gerade mal fünfzig Kilometer östlich von Berlin.
Sie steigt auf ihr Fahrrad und folgt der Landstraße in Richtung Süden. Bald hat sie die letzten Häuser hinter sich. Hier draußen gibt es nur noch Wälder und Seen. Und die Junisonne, die gnadenlos vom Himmel brennt. Keine Autos, keine Radfahrer oder Fußgänger. Nur einmal kommt ihr ein bärtiger Mann in einem alten Geländewagen entgegen. Bestimmt der Förster, denkt Paula.
Mit sechs war sie ein einziges Mal gemeinsam mit ihren Eltern im Urlaub. Im Böhmischen Wald, sie erinnert sich noch gut daran. An die Bergluft, die Stille, die Rufe der Waldvögel. Und an ihren Vater, der sie und ihre Mutter kurz nach diesem Urlaub verließ. Ohne ihnen etwas anderes zurückzulassen als den altertümlichen Lederrucksack, der Paula weich und formlos zwischen den Schultern hängt.
Die Bäume am Straßenrand fliegen nur so an ihr vorbei. Von dem Wald zu ihrer Rechten geht ein Sog aus, fordernd und lockend, der sie ganz kribblig macht. Immer fester tritt sie in die Pedale. Sie kann es kaum mehr erwarten, auch die Straße hinter sich zu lassen. Das grelle Tageslicht, die Schwüle, die ihr den Schweiß aus den Poren treibt. Befrei dich!
Laut Google Maps braucht man vom Bahnhof Friedersdorf bis zu dem kleinen Waldparkplatz mit dem Fahrrad dreiundzwanzig Minuten. Paula ist gefühlt nach einer Viertelstunde am Ziel. Der halbrunde Platz ist mit Betonplatten gepflastert und zur Straße hin durch Bäume abgeschirmt. Alles wie auf dem Video. Paula fährt Schlangenlinien, um den Schlaglöchern auszuweichen. Aus den Ritzen zwischen den Platten wachsen Wildblumen und Gräser.
Vor der verwitterten Infotafel steigt sie ab und lehnt ihr Fahrrad dagegen. »Erholungsgebiet Storkower Moor« kann sie mit Mühe entziffern. »Achtung, unwegsames Sumpfgelände! Bleiben Sie auf den markierten Wegen.« Auf der Wanderkarte daneben sind nur noch ein paar vergilbte Linien zu erkennen, die sich im Zickzack zwischen ausgebleichten Baumsymbolen dahinwinden.
Egal, denkt Paula. Seit gestern Mittag hat sie sich das Gelände auf Google Earth mehrfach angesehen. Sie wird einfach dem Weg folgen, der parallel zu einem Bachlauf nach Osten führt. Alles Weitere wird sie ihrer Intuition überlassen. Und der Magie des Ortes. Dafür ist sie schließlich hier.
Sie greift hinter sich, zieht ihr Smartphone aus der Seitentasche ihres Rucksacks und ruft ihren Instagram-Account auf. Sie klickt das fünfte Video der »Befrei dich!«-Kampagne an und zieht den Regler bis 04:39 min, zu dem Moment, in dem der Startpunkt dieses Selbstbefreiungstrips ins Bild kommt.
Schon als sie zum ersten Mal ein »Befrei dich!«-Video sah, war sie fasziniert. Auch jetzt beschleunigt sich ihr Herzschlag, und sie spürt ein Kribbeln tief im Bauch, als sie die sanfte und doch drängende Stimme hört. »Lass alles zurück, was dir in deinem neuen Leben hinderlich wäre. Die schlechten Dinge. Die falschen Freunde. Die lähmenden Gedanken, Gewohnheiten, Gefühle. Nimm nur das Nötigste mit, damit du sofort durchstarten kannst. In dein neues, freies Leben.«
In jedem der fünf kurzen Filme ist ein anderer Startpunkt am Rand eines Waldes zu sehen. Seit Wochen wetteifern Hunderte Fans der Kampagne darum, die realen Schauplätze der Videos zu identifizieren. Der Startpunkt des fünften Videos wurde vor zwei Tagen erst von der Followerin Lena94 lokalisiert. Als Paula die GPS-Daten und Beweisfotos in ihrer Chatgruppe sah, stand ihr Entschluss fest. Genau dort würde sie ihren Selbstbefreiungstrip beginnen, am Storkower Moor. Sie hatte nicht die blasseste Ahnung, wo das sein sollte, aber der halbrunde Platz, der dunkle Wald dahinter und das Rauschen der Bäume lösten etwas in ihr aus.
»Achte auf die Zeichen, von innen oder außen«, heißt es in den Videos. »Den Geheimcode deiner Selbstbefreiung. Nur du kannst ihn bemerken, für jeden anderen ist er bedeutungslos. Aber wenn du achtsam bist, wirst du ihn erkennen und verstehen.«
Paula gleicht die Bilder auf dem Display ihres Samsung Galaxy mit der realen Umgebung ab. Dabei weiß sie längst, dass sie am richtigen Ort ist. Zum ersten Mal in meinem Leben, denkt sie. Am Startpunkt meiner Selbstbefreiung.
Sie schaltet das Smartphone aus, löst die Rückseite ab und nimmt Akku und SIM-Karte heraus. »Dein Handy ist die elektronische Fessel, die dich an dein falsches Leben kettet«, heißt es in den Videos der Kampagne. »Facebook, WhatsApp, Snapchat, Instagram, Pinterest, Twitter – alles digitale Fallen, in denen du dich mehr und mehr verfangen hast. Befrei dich! Wie ein Fisch im Netz bist du verstrickt. Befrei dich! Wie die Drosselbrut, die sich in ihren Nestern aus Plastikmüll und Luftballonschnüren selbst stranguliert. Befrei dich, solange du es noch kannst!«
Der Müllbehälter neben der Infotafel ist ein rostiges Stahlskelett mit einem leeren, blauen Plastiksack darin. Paula lässt das Handy zu Boden fallen und tritt mit ihrem ganzen Körpergewicht darauf. Sie hört, wie das Display bricht, und spürt durch ihre Sohle hindurch, wie sich die empfindlichen Innereien des kleinen Geräts verformen. Es fühlt sich befriedigend an. Sie bückt sich, sammelt die Überreste auf und wirft sie in den Mülleimer. Den Akku schmeißt sie ins Gestrüpp hinter der Infotafel. Die SIM-Karte zerbricht sie in zwei Teile, die sie mit der linken Hand umschließt, während sie auf den Waldrand zugeht. Alles genau so, wie es die Videos empfehlen.
In der Baumkrone über ihr stößt ein Vogel einen Warnruf aus. Ein weiterer Vogel, tiefer im Wald, antwortet mit genau der gleichen Tonfolge. Ki-ra-du! Paula lächelt in sich hinein. »Wälder sind Orte der Freiheit, eben die freie Natur«, hört sie die lockende Stimme aus den »Befrei dich!«-Filmen sagen. »Wälder sind ideal, um zur Besinnung zu kommen, die eigene innere Stimme zu hören. Die Sinnsucher, die Minnesänger, die romantischen Dichter – sie alle zog es immer schon in den Wald. Beladen gingen sie hinein, befreit kamen sie heraus. Im Wald, ganz allein für dich, kannst auch du finden, was dir fehlt. Im Wald kannst du befreien, was in dir gefangen ist. Im Wald kannst du mit dir verbinden, was von dir abgespalten ist. Im Wald wirst du ganz du selbst, heil und mit dir eins. Also befreie dich von den Fesseln, die dich in der Stadt festhalten. Oder willst du enden wie die Drosselkinder in ihren Nestern aus Plastikmüll?«
Nein, das will ich nicht, sagt sich Paula. Ich werde mich selbst befreien. Sie lässt die Überreste der SIM-Karte ins Unterholz rieseln. Entschlossen folgt sie dem Weg, der ins Erholungsbiet Storkower Moor hineinführt.
Kurz vor neun. Max Lohmeyer, Kriminaloberkommissar beim LKA Berlin, betritt das Büro und legt den Piaggio-Helm auf seinen Schreibtisch. Nagelneues Retro-Modell, »naturlederbraun« laut Verkäuferin, in Max’ Augen eher dackelfarben. Aber er mochte den Topf sofort. Passt perfekt zu seinem cremefarbenen Vespa-Roller.
Während Max noch dabei ist, sich aus der Lederjacke zu schälen, fangen sämtliche Telefone das Klingeln an. Vorne auf seinem Schreibtisch, hinten auf Hallsteins Schreibtisch, und irgendwo im Regal plärrt noch ein drittes Mobilteil.
Geht ja gut los, denkt Max. Dabei ist er noch nicht mal richtig wach. Die Kaffeemaschine zu Hause kaputt und das Nescafé-Glas, seine Notfallreserve, rätselhaft leer.
Er lässt sich in seinen Schreibtischsessel fallen, greift nach dem Telefon. »Dezernat elf, KOK Lohmeyer.«
»Geben Sie mir die Hauptkommissarin. Frau Hallstein.«
Männlich, Mitte bis Ende sechzig, taxiert Max. Polterige Stimme, eher ungehobelt als befehlsgewohnt. »Die ist nicht im Haus. Mit wem spreche ich denn? Kann ich etwas ausrichten, Herr …?«
»Schon mal von der Enkelin-K.-o.-Masche gehört?«
Jetzt ist Max hellwach. Er schiebt seinen Helm zur Seite und zieht den Schreibblock mitsamt Kugelschreiber zu sich heran. »Können Sie sachdienliche Hinweise geben?«
»Sind Sie zuständig?«, blafft der Anrufer. »Ja oder nein?« Seine Stimme klingt plötzlich brüchig.
Ein Großvater, geht es Max durch den Kopf. Seine Enkelin ist weg. Oder hat er sie auch schon freigekauft? Wie die fünf anderen Großelternpaare davor. »Sie sind genau richtig bei mir«, versichert er in seinem vertrauenswürdigsten Tonfall. »Oberkommissar Lohmeyer. Meine Kollegin Hallstein und ich arbeiten zusammen an dem Fall.«
»Hat ja bisher nicht viel gebracht«, grollt der Anrufer. »Das perverse Schwein ist immer noch unterwegs. Und jetzt hat er meine Enkelin. Unsere Jäcky …« Er unterbricht sich, aus dem Telefon dringen unartikulierte Laute.
»Bitte versuchen Sie, Ruhe zu bewahren«, sagt Max. »Ich weiß, das ist unter den gegebenen Umständen leicht gesagt, aber es ist absolut notwendig. Den ersten Schritt haben Sie schon getan. Es war vollkommen richtig, dass Sie mich angerufen haben, Herr …«
»Reinhardt. Ihre Ruhe ist für den Arsch. Ich muss heute noch fünfzehntausend Taler hinblättern, sonst hackt er Jäcky in genauso viele Stücke. Das hat er wortwörtlich so geschrieben. Der perverse Dreckskerl!« Die letzten Wörter bellt der Großvater heraus, dann bekommt er einen Hustenanfall.
Max lässt ihn erst mal wieder zu Atem kommen. Wenn er zu viel Druck macht, legt Herr Reinhardt womöglich auf. Das darf auf keinen Fall passieren, er ist der Erste, der sich an die Polizei wendet, während seine Enkelin noch in der Gewalt des Kidnappers ist.
Warum tut er das?, fragt sich Max. Bisher hat der Mix aus massiver Bedrohung und überschaubarer Lösegeldforderung dafür gesorgt, dass die Angehörigen mit dem Täter kooperiert haben. Jedenfalls in den Fällen, von denen wir wissen, schränkt Max in Gedanken ein. Aber trotzdem, warum geht Reinhardt das Risiko ein?
»Fünfzehntausend sind eine Menge Geld«, sagt er versuchsweise.
»Bullshit! Die Kohle krieg ich zusammen. Jäcky ist sechzehn. Unser einziges Enkelkind. Für unsere Kleine würde ich alles tun!«
»Aber Sie finden den Gedanken unerträglich, dass der Täter erneut davonkommen könnte«, sagt Max. »Das geht mir genauso, Herr Reinhardt. Also lassen Sie uns jetzt den nächsten Schritt machen. Schicken Sie die Täternachricht an mich weiter. Ich gebe Ihnen meine Mail-Adresse. Vielleicht finden unsere IT-Experten ganz schnell einen Hinweis, der uns …«
»Vergessen Sie’s«, fällt ihm der Großvater ins Wort. »Wenn der Typ nicht total verblödet ist, kontrolliert er den Traffic auf dem Server und merkt sofort, dass das Video von einer anderen IP-Adresse aus abgerufen worden ist.«
Max macht große Augen. Der Mann kennt sich aus. »Ihre Bedenken sind im Prinzip natürlich berechtigt. Aber unsere Experten kennen die nötigen Mittel und Wege, damit der Täter nichts bemerkt.«
»Kommt trotzdem nicht infrage«, gibt Reinhardt zurück. »Viel zu gefährlich für Jäcky. Ich bestimme, wo es langgeht, jeden einzelnen Schritt. Oder Sie sind draußen. Verstanden?«
»Sie können sich auf mich verlassen, Herr Reinhardt. Hundertprozentig. Sagen Sie mir bitte, wo wir uns treffen können. Sie sind doch in Berlin? Ich komme sofort zu Ihnen.«
Reinhardt räuspert sich. Er scheint zu überlegen. »Meine Frau weiß von nichts«, sagt er, »aber das biege ich schon hin. Und Sie kommen allein und in Zivil, verstanden? Kein Lametta, kein Blaulicht.«
»Selbstverständlich«, versichert Max. »Ich komme mit dem Roller. Niemand würde mich für einen Polizisten halten. Wohin also?«
»Auto-Paradies Lichtenrade, Motzener Straße. Sie sind ein Kaufinteressent, kapiert?«
»Hundertprozentig, Herr Reinhardt.« Max notiert die Adresse. Vor Monaten war er mit Hallstein mal in der Gegend, südlichster Zipfel von Berlin. Irgendwie düster. Als würde die Mauer dort noch immer Schatten werfen. »Ich bin in einer halben Stunde bei Ihnen.«
Er behält das Telefon in der Hand, um sofort Hallstein anzurufen. Kriminalhauptkommissarin Kira Hallstein, seine direkte Vorgesetzte, hat zum ersten Mal seit Wochen einen freien Tag. Und seit Kurzem einen neuen Lover, falls Max das richtig mitbekommen hat. Es versetzt ihm einen Stich, wie jedes Mal. Hallstein steht auf wilde, verrückte Typen. Und jung müssen sie sein. Max passt nicht in ihr Beuteschema, das hat er mittlerweile kapiert. Zu höflich, zu altmodisch, dazu der bayerische Akzent. Aber das heißt noch lange nicht, dass er seine Hoffnungen begraben würde. Immerhin ist er zehn Jahre jünger als sie. Aber wenn er sie jetzt anruft, kann es sein, dass sie stinksauer reagiert.
Wo sie in letzter Zeit sowieso so leicht aus der Haut fährt, sinniert Max und legt das Telefon vor sich auf den Schreibblock. Eigentlich schon, seit sie aus ihrer Auszeit zurück ist.
Hallstein hat angeordnet, sie umgehend zu informieren, wenn ein größerer Fall hereinkommt. Wenn er jetzt allein weiter ermittelt und sich herausstellt, dass er wirklich dem Kidnapper mit der Enkelin-K.-o.-Masche auf der Spur ist, wird Hallstein ihn pfählen und am Drehspieß braten. Wenn er sie aber aufscheucht und der Erpresser sich als Trittbrettfahrer herausstellt? Oder wenn sich, schlimmer noch, Reinhardt als Spinner erweist, der sich alles nur ausgedacht hat? Dann pfählt und brät sie mich erst recht, denkt Max und wird ganz kribblig. So weit würde Hallstein zwar mutmaßlich nicht gehen, aber ziemlich dominant ist sie schon.
Trotzdem, beschließt er, ich fahre allein ins Auto-Paradies. Erst mal die Mail und das Video prüfen. Wenn das Zeug echt aussieht, schlage ich Alarm.
Ganz wohl ist ihm dabei nicht, aber das ist eben das klassische Dilemma an Hallsteins freien Tagen. Er stellt das Telefon zurück in die Ladeschale, hinterlässt eine Notiz für seine Kollegin Svenja Wuttke und greift sich erneut den Retro-Helm.
Schneller als erwartet schwingt sich Paula Nieburg in den Rhythmus des Waldes ein. Ihre Schritte, ihr Atem, ihre Gedanken, alles an und in ihr bewegt sich im gleichen ruhigen Takt wie die Zweige über ihr, wie der Bach, der neben dem Weg dahinfließt. Der Boden federt unter ihren Füßen. Die Luft riecht würzig und ist angenehm kühl. Sonnenlicht dringt in vereinzelten Strahlen durch die Baumkronen und taucht alles in gedämpftes Grün.
Genauso, denkt Paula, wie damals in unserem Urlaub im Wald. Erinnerungen steigen in ihr auf. Wie sie zwischen ihren Eltern einen moosbewachsenen Weg entlangging, alle drei Hand in Hand. Wie zufrieden sie sich fühlte. Glücklich, denkt Paula, ein Wort, das sie sonst nie gebraucht. Schon gar nicht für sich selbst. Sie sieht sich als kleines Mädchen von sechs Jahren, wie sie mit seligem Lächeln zu ihren Eltern emporschaute. Papa, Mama, beide für mich da. Sie fühlt sogar die Wärme, die sie in jenem Moment durchströmte. Lächelnd greift Paula hinter sich und zieht ihre Wasserflasche aus der Netztasche an ihrem Rucksack. Sie trinkt einen Schluck, schiebt die Flasche zurück ins Fach, alles ohne im Laufen innezuhalten. Eigentlich doch ganz praktisch, Vaters alter Rucksack.
Als sie gefühlt eine Stunde gewandert ist, bleibt sie stehen und schaut sich um. Der Weg ist breit genug für einen Geländewagen, wenn auch mit Löchern und Steinen übersät. Doch die Fahrrinnen im torfig weichen Boden zeigen, dass hier ab und zu ein Forstfahrzeug vorbeikommt. Links neben dem Weg erstreckt sich Sumpf, so weit man schauen kann. Brauner Schlamm, teilweise schillernd grün überzogen, dazwischen Baumskelette, die wie erstarrte Tänzer aussehen. Rechter Hand wird der Weg von dornigem Dickicht gesäumt, dahinter muss der Bach sein.
Ein bisschen ausruhen wäre nicht schlecht, denkt Paula und hält nach einer Sitzgelegenheit Ausschau. Sie steht neben einem mächtigen Baum, der sich über Weg und Dickicht erhebt. Vielleicht eine Eiche, aber mit Bäumen kennt sie sich nicht aus. So wenig wie mit allem anderen, was zur freien Natur gehört.
Ein helles Pfeifen, wie von winzigen Flöten, erregt ihre Aufmerksamkeit. Sie legt den Kopf zurück und sieht nach oben. Da ist ein Nest in einer Astgabel, vielleicht zwei Meter über ihr. Es besteht aus Zweigen, Grashalmen, Federn, ein kunstvoll erbautes kleines Wunderwerk. Vier Vogelküken sitzen darin, schwarz-braun getupfte Federbällchen, die auf einmal zu schreien beginnen.
Was ist los mit euch?, denkt Paula. Habe ich euch erschreckt? Da kommt die Antwort herbeigeflattert, zwei ausgewachsene Vögel, genauso gemustert wie die Küken, nur viel größer. Bestimmt die Eltern, denkt Paula, sie haben Futter für die Kleinen besorgt.
So leise wie möglich tritt sie ein paar Schritte zur Seite. Die Vogeleltern sind auf dem Nestrand gelandet und stopfen Futter in die weit aufgerissenen Schnäbel der Kleinen. Natürlich, denkt Paula, das sind Drosseln, genau wie in den »Befrei dich!«-Videos. Wieso hat sie das nicht gleich erkannt?
Fasziniert beobachtet sie die Drosselfamilie in ihrem Waldnest und sieht gleichzeitig die Vögel aus den Videos vor sich. Ihr schäbiges Nest in einem verkrüppelten Straßenbaum, erbaut aus Plastikmüll und Schnüren. Ein Slum-Nest, denkt Paula, ein Albtraum-Nest. Während sie die glückliche Vogelfamilie beobachtet, sieht sie vor ihrem inneren Auge die unglücklichen Küken in ihrem Müllnest. Sie sind in den Luftballonschnüren verheddert, die ihre Eltern für den Nestbau verwendet haben. Sie schlagen mit den kleinen Flügeln und geben jämmerliche Schreie von sich. Mit jeder Bewegung zieht sich das Netz um sie herum noch enger zu. Die Kleinen bekommen keine Luft mehr, zucken kraftlos mit den Flügeln. Ihre Eltern flattern um das Nest herum, stupsen die Kinder an, stoßen Klagerufe aus.
Doch neben alldem Horror geschieht in den »Befrei dich!«-Videos auch jedes Mal ein Wunder. Einer der jungen Vögel schafft es mit einem verzweifelten Ruck, seine Fesseln aufzusprengen. Er reckt den Hals, pumpt seinen kleinen Körper auf, flattert mit den Flügeln und erhebt sich schwankend in die Luft. Erst mühsam und unbeholfen, dann zunehmend kraftvoll steigt er in den Himmel empor. Am Ende des Videos ist die Erde aus der Perspektive der Jungdrossel zu sehen, die sich selbst befreit hat. Aus luftiger Höhe beobachtet der Vogel eine junge Frau, die sich zu Fuß, mit einem kleinen Rucksack als einzigem Gepäck, auf den Weg gemacht hat. Die schmale Gestalt verlässt die Straße und biegt in einen Waldweg ein. »Entgehe dem Schicksal der Drosselbrut!«, fordert die drängende Stimme. »Befrei dich, solange du noch die Kraft hast, das Netz zu zerreißen!«
Paula hat Tränen in den Augen, als sie weitergeht. Aber sie weint vor Freude, weil auch sie es geschafft hat, sich zu befreien. Von ihrem Studium, das ein Albtraum für sie war. Von ihren Freundinnen, im Netz und im analogen Leben, denen sie sich nie nahe fühlte. Sie gab ihr Bestes, um wie alle anderen zu sein, postete die gleichen Bilder und Sprüche, stylte sich wie alle, smilte wie alle, wenn sie Selfies schoss, und fühlte sich immer fremder, beengter dabei. Eingeschnürt wie von unsichtbaren Schnüren. Befrei dich!
Paula ist so tief in Gedanken, dass das Motordröhnen nur allmählich in ihr Bewusstsein dringt. Hinter ihr nähert sich ein Fahrzeug. Räder mahlen im weichen Untergrund, mit hellem Knallen spritzen Steine unter den Reifen hervor. Bestimmt der Förster, denkt Paula wieder und tritt an den Wegrand, um den Wagen vorbeizulassen.
In Gedanken ist sie noch bei den Drosselküken, die in ihrem Müllnest erstickt sind. So wie fast auch ich, denkt sie, dabei ist sie schon neunzehn, längst kein Küken mehr. Da kommt der Wagen angeschlingert, es ist nicht der alte Geländewagen, den sie erwartet hat, sondern ein himmelblaues Gefährt. Ein Transporter, offenbar neu hergerichtet und strahlend blau lackiert, aber so hochbeinig und altertümlich, als käme er direkt aus der Vergangenheit. Aus den Neunziger- oder Achtzigerjahren, so genau kennt sich Paula nicht aus. Jedenfalls ist das ein Oldtimer, sagt sie sich, die haben sich bestimmt verfahren. Oder führt der Weg vielleicht zu einem Campingplatz?
Sie drückt sich mit dem Rucksack ins Dickicht am Wegrand, weiter zurückweichen kann sie nicht. Der Fahrer des Nostalgiemobils hat sein Tempo verlangsamt, Paula sieht sein Gesicht, von gespiegelten Ästen in der Scheibe halb verdeckt. Die abwärts weisenden Mundwinkel, die starren Augen hinter der übergroßen Brille – er sieht selbstgerecht aus, mürrisch, wie ständig gekränkt. Paula hat ein Gespür für Menschen, für das, was sie im Innern ausmacht. Deshalb dachte sie ja – oder ließ sich einreden –, es wäre eine gute Idee, Psychologie und Soziale Arbeit zu studieren. Als ob ich jemandem helfen, gar irgendwen heilen könnte, geht es ihr durch den Kopf. Doch der Mann im himmelblauen Kastenwagen hat nichts Gutes im Sinn, das spürt sie so klar, dass sie sich am ganzen Körper versteift.
Im Schritttempo fährt er an ihr vorüber, so nah, dass sie winzige Pusteln auf dem strahlend neuen Lack ausmachen kann. Das Herz hämmert ihr in der Brust. Gleich ist er vorbei, denkt sie, da fliegt krachend die Schiebetür hinten an der Beifahrerseite auf. In der Öffnung erscheint ein zweiter Mann, jünger, dürrer als der massige Mann am Steuer, und grinst Paula an.
Sie will sich wegducken, herumwerfen, aber ihr Rucksack hat sich im Gestrüpp verheddert und hält sie fest. Der Mann hat rote Augen, Vampiraugen, Säuferaugen, er zieht irre Grimassen, und bevor Paula auch nur den Mund aufbekommen hat, beugt er sich vor, packt sie bei den Hüften und reißt sie in den Wagen hinein. Sie verlieren beide das Gleichgewicht, liegen keuchend übereinander auf dem Boden, während der Mann am Steuer wieder beschleunigt. Das Letzte, was Paula zu sehen bekommt, ist ihr Fahrrad, das neben ihr im Laderaum liegt, und das Aufblitzen der Injektionsnadel, die der dürre Mann ihr in den Hals sticht. Sofort wird es um sie herum schwarz.
Das wuchtige LKA-Gebäude in Berlin-Tiergarten stammt noch aus der Kaiserzeit. In den Räumen mit den viel zu hohen Decken ist es bei jeder Wetterlage düster und kühl. Als Max unten aus der Tür tritt, kneift er die Augen zusammen. Die Helligkeit draußen ist jedes Mal ein Schock. Außerdem ist es schon wieder drückend warm, und das im Frühsommer um neun Uhr früh.
Während er mit seiner Vespa auf der Martin-Luther-Straße stadtauswärts fährt, lässt er sich durch den Kopf gehen, was sie bis jetzt über den »Kidnapper mit der Enkelin-K.-o.-Masche« wissen. Allzu viel ist es nicht.
Den holprigen Titel hat irgendein Boulevardreporter dem Täter verpasst. So ungelenk er klingt, so umständlich ist das kriminelle Geschäftsmodell, nach dem der Kidnapper vorgeht. Umständlich, aber erfolgreich, denn bisher hat die Masche aus Sicht des Täters durchweg funktioniert – jedenfalls in den Fällen, von denen sie Kenntnis haben. Kriminologen gehen davon aus, dass höchstens zehn Prozent aller Lösegelderpressungen angezeigt werden.
Im Grunde hat der Täter zwei alte Hüte miteinander kombiniert, den Enkeltrick und die K.-o.-Tropfen-Masche. Der Enkeltrick besteht darin, überforderten Großeltern Geld abzugaunern, indem man ihnen vorspiegelt, ihr Kindeskind befinde sich in einer akuten finanziellen Notlage. Die K.-o.-Tropfen-Masche läuft darauf hinaus, einem ahnungslosen Opfer ein Betäubungsmittel – meist auf Benzodiazepin-Basis – einzuflößen, das bei entsprechender Dosierung das Bewusstsein für viele Stunden ausschaltet. Benzos sind zudem schon circa zwanzig Stunden nach der Einnahme nicht mehr im Organismus nachweisbar. Das Opfer leidet an einer Gedächtnislücke, kann sich also bei entsprechender Dosierung weder an den Täter noch an irgendwelche Tatumstände erinnern. Benzodiazepine schalten außerdem nicht nur das Bewusstsein aus, sondern erhöhen zugleich massiv die sexuelle Erregbarkeit. Daher heißen sie auch »Date Rape«-Tropfen und werden häufig von Vergewaltigern eingesetzt.
Der »Kidnapper mit der Enkelin-K.-o.-Tropfen-Masche« schöpft alle Möglichkeiten aus, die sich ihm mit dieser sinistren Kombination bieten. Seine Opfer sind dreizehn- bis sechzehnjährige Mädchen, die er irgendwo im Stadtgebiet aufgreift. Er verabreicht ihnen (mutmaßlich) K.-o.-Tropfen auf Benzo-Basis und verschleppt sie in eine bizarre Dschungelkulisse, wo er sie vor laufender Kamera vergewaltigt. In den Missbrauchsvideos, betitelt »Im Harem des Affenkönigs«, tritt er selbst als »Affe« auf, mit Ganzkörperfellanzug einschließlich Affenmaske. Nur sein total enthaarter Unterleib ist auf den Videos unverhüllt, das muskulöse Gesäß und der abnorm dimensionierte Penis. Ein Psychopath, daran lässt auch der Stil seiner Botschaften an die Angehörigen keinen Zweifel. Aber er agiert keineswegs impulsiv oder gar chaotisch, sondern durchaus kontrolliert.
Das Snuff-Video lädt er auf einem Server irgendwo in Postsowjetistan hoch und schickt den Link samt Erpresser-Mail an die jeweiligen Großeltern des Opfers. Darin fordert er ein Lösegeld im niedrigen fünfstelligen Bereich. Kategorisch werden die Großeltern angewiesen, keine weiteren Familienangehörigen zu informieren, sonst werde der Link an alle Online-Kontakte des Opfers verschickt und somit »die Zukunft des verfickten Flittchens geschreddert«. Sollten die Großeltern die Polizei einschalten, werde ihre Enkelin »in Einzelteilen zurückerstattet«. Bei vollständiger Kooperation dagegen komme das Mädchen unversehrt frei, das massiv kompromittierende Video werde aus dem Netz genommen und (angeblich) gelöscht.
Auf der Stadtautobahn fährt Max bis zur Abfahrt Tempelhofer Damm und über die B 96 weiter in Richtung Süden. Die Straßen sind verstopft wie praktisch immer, aber mit seiner Vespa schlängelt er sich sogar an hochverdichteten Blechverklumpungen vorbei. Sich kleiner zu machen, als man in Wirklichkeit ist, hat klare Vorteile, nicht nur im Straßenverkehr.
Lichtenrade liegt am südlichen Stadtrand, ein kleinstädtisch anmutender Kiez mit meist unscheinbaren Einfamilienhäusern und absurd holprigen Kopfsteinpflasterstraßen. Mittendrin erhebt sich ein Hochhausgebirge aus den Siebzigerjahren, Modell Plattenbau West. Ein sozialer Brennpunkt mit stattlichen Deliktraten und Großfamilien, die seit Generationen von staatlichen Transferleistungen leben.
Max ist seit eineinhalb Jahren in Berlin, aber die brutale Hässlichkeit mancher Straßenzüge kann ihn noch immer schockieren. Berlin ist nicht nur die Hauptstadt der Schwerkriminalität, sondern auch die Kapitale der Architekturverbrechen, geht es ihm durch den Kopf, als linker Hand die Hochhaussiedlung Lichtenrade-Ost vor ihm auftaucht. Doch seine Gedanken kehren rasch zum »Kidnapper mit der Enkelin-K.-o.-Masche« zurück.
In bisher fünf Fällen haben die Angehörigen beziehungsweise Opfer nachträglich Anzeige erstattet, allerdings erst Wochen oder sogar Monate nach der Tat. Über die Erpresser-Mail hinaus konnten sie nur wenige sachdienliche Hinweise liefern. Den Link zum Video hatte der Täter zu diesem Zeitpunkt längst deaktiviert. Die Opfer selbst wiesen keine körperlichen Gewaltspuren (mehr) auf und gaben an, keine Erinnerungen an die erlittenen Übergriffe zu haben. Das erste Opfer der Serie, Evy Kalasch, vierzehn, wurde Anfang Februar dieses Jahres gekidnappt, das fünfte, Charlotte Halbach, fünfzehn, Ende März. Keines der fünf Mädchen war länger als achtundvierzig Stunden in der Gewalt des Entführers. Nach Zahlung des Lösegelds wurden sie umgehend freigelassen. Sediert und traumatisiert, aber ohne ernstere körperliche Verletzungen.
Trotz intensiver Ermittlungen konnten Hallstein und Max bislang keine Hinweise auf Identität oder Aufenthaltsort des Täters ausfindig machen. Oder der Täter, denn natürlich kann er über Helfershelfer verfügen, doch auch dafür haben sie keine Anhaltspunkte entdeckt. Alle fünf Mädchen waren zum Zeitpunkt der Entführung in Berlin wohnhaft, allerdings in weit voneinander entfernten Stadtteilen. Sie besuchten unterschiedliche Schulen, standen in keiner persönlichen Verbindung miteinander, hatten keine gemeinsamen Freunde oder Bekannten. Und doch gibt es auffällige Gemeinsamkeiten zwischen den Opfern.
Alle fünf Mädchen waren zum Zeitpunkt ihrer Entführung bei ihren Eltern beziehungsweise bei einem Elternteil wohnhaft. Trotzdem wandte sich der Erpresser mit der Lösegeldforderung jedes Mal an die gleichfalls in Berlin lebenden Großeltern. Genau wie in diesem Fall, sagt sich Max. Auch Jäcky lebt bei ihrer Mutter in Berlin, und auch diesmal hat der Kidnapper seine Lösegeldforderung nicht an sie, sondern an den Großvater gerichtet. Was ist die Logik dahinter? Darauf haben sie bis jetzt nicht einmal eine hypothetische Antwort. Drei Monate intensiver Fahndung, denkt Max, und wir tappen noch immer im Dunkeln. Was sich aber heute ändern könnte.
Max biegt vom Tempelhofer Damm in die Barnetstraße ein. Hier gibt sich Lichtenrade eher bürgerlich, weniger Mietblocks, dafür etliche Eigenheime in liebevoll gepflegten Gärten.
Warum hat Großvater Reinhardt angerufen?, fragt er sich erneut. Wie in den Fällen zuvor hat der Erpresser damit gedroht, seine Geisel in Stücke zu hacken, falls die Polizei eingeschaltet wird. Und da Reinhardt die Berichterstattung in den Medien offenbar genau verfolgt hat, muss ihm auch klar sein, dass sich der Kidnapper an seine eigenen Spielregeln hält: Wenn die Angehörigen kooperieren, lässt er die Geisel nach Zahlung des Lösegelds umgehend frei. Da er keine unerfüllbar hohen Forderungen stellt, erscheint es aus Sicht der Angehörigen wenig sinnvoll, seine Anweisungen zu missachten und damit das Leben ihrer Enkelin zu gefährden.
Das ist letztlich sein Erfolgsgeheimnis, sagt sich Max. Trotzdem hat uns Reinhardt zu Hilfe gerufen. Aus welchem Grund? Tut ihm die Lösegeldzahlung doch so weh, dass er Jäckys Leben riskiert, um die fünfzehntausend Euro möglichst schnell zurückzubekommen?
Max setzt den Blinker und biegt rechts in die Motzener Straße ein. Nicht weit von hier verlief bis vor knapp dreißig Jahren die Mauer zwischen Westberlin und DDR. Nach der Wiedervereinigung haben sich hier allerlei Gewerbebetriebe angesiedelt, Baumärkte, Discounter und Billig-Outlets. Mitten im Einerlei grauer Funktionsbauten entdeckt er schließlich das angerostete Schild über einem Metalltor:
Auto-Paradies LichtenradeInh.: Gerd Reinhardt
Das Schild hat seine Glanzzeiten seit vielen Jahren hinter sich, genauso wie das Tor und der Metallzaun, der das Firmengelände umgibt. Und wie die vierzig oder fünfzig Gebrauchtwagen, die hinter dem Zaun aufgereiht stehen.
Das Tor ist angelehnt. Max drückt es mit dem Vorderrad auf und rollt durch ein Spalier betagter Karossen auf die Verkaufsbaracke zu. Golf, Corsa, A-Klasse, registriert er, alle mindestens zehn Jahre alt. Nicht Vintage, keine Youngtimer, sondern einfach nur abgewrackt. Das hier ist kein Paradies, sondern ein Hospiz für Autos.