Alexander Horn
Die Logik der Tat
Erkenntnisse eines Profilers
Knaur e-books
Alexander Horn, geboren 1973 in Bad Tölz, ist einer der bekanntesten deutschen Fallanalytiker. Seit 1998 leitet er die Dienststelle für Operative Fallanalyse (OFA) der bayerischen Polizei.
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Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
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ISBN 978-3-426-42244-1
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Bücher, Artikel und mediale Berichterstattung über unsere Fälle: John Goetz/Christian Fuchs, Die Zelle. Rechter Terror in Deutschland, Reinbek bei Hamburg 2012; Nadja Malak, Auf freiem Fuß. Rätselhafte Kriminalfälle, Leipzig 2009; Michael Kraske, Der Monster-Jäger. Zeit Wissen, Nr. 6/2012; Sendungen auf Spiegel TV: »Die Macht des Bösen. Von menschlichen Abgründen«, VOX, 21.4.2012; »Jagd auf einen Serienmörder. Die Soko Dennis«, VOX, 4. 2. 2011. www.spiegel.de. Außerdem: Dern, Profile sexueller Gewalttäter, und Käppner, Profiler, sowie Stefan Aust und Dirk Laabs, Heimatschutz. Der Staat und die Mordserie des NSU, München 2014
Dern, Harald/Frönd, Roland/Straub, Ursula/Vick, Jens/Witt, Rainer, Geografisches Verhalten fremder Täter bei sexuellen Gewaltdelikten, Wiesbaden 2004, S. 96
Hickley, Serial Murderers and Their Victims, S. 139
Harald Dern u.a., Fallanalyse bei der deutschen Polizei. Die Qualitätsstandards der Fallanalyse sowie das Anforderungsprofil und der Ausbildungsgang für Polizeiliche Fallanalytiker in Deutschland, Wiesbaden 2003, S. 17
Vgl. Karl Berg: Der Sadist. Der Fall Peter Kürten. Gerichtsärztliches und Kriminalpsychologisches zu den Taten des Düsseldorfer Mörders Peter Kürten, München 2004, S. 63f.
Helinä Häkkänen/Petri Lindlöf/ Pekka Santtila, Crime Scene Actions and Offender Characteristics in a Sample of Finnish Stranger Rapes. Journal of Investigative Psychology and Offender Profiling, 1 (1), 17–32.
Gabrielle Salfati/Alicia Bateman, Serial Homicide: An Investigation of Behavioral Consistency. Journal of Investigative Psychology and Offender Profling, 2 (2), 121–144
Canter, Criminal Shadows, S. 4
Udo Nagel, Neue Wege in der Ermittlungspraxis. In: Musolff/Hoffmann, Täterprofile (2. Auflage, 2006), S. 294
Keppel/Birnes, Serial Killer Investigations, S. 213
Kahneman, Schnelles Denken, langsames Denken, S. 528
Douglas, Jäger in der Finsternis, München 2001, S. 444
Douglas, Jäger in der Finsternis, S. 42
Kahneman, Schnelles Denken, langsames Denken, S. 79
Vgl. Münchner Merkur, 8. Oktober 2002
Polizeiliche Vorerkenntnisse: Ursula Straub/ Rainer Witt: Polizeiliche Vorerkenntnisse von Vergewaltigern. In: Kriminalistik, 1/2003, S. 51ff.
FBI, Serial Murder, Einführung (Übersetzung des Autors): www.fbi.gov.
Dörner, Die Logik des Misslingens, S. 99
Kahneman, Schnelles Denken, langsames Denken, S. 53ff.
Kahneman, Schnelles Denken, langsames Denken, S. 187
Dörner, Die Logik des Misslingens, S. 72
Vgl. Campbell-Report, zitiert nach Keppel/Birnes, Serial Killer Investigations, S. 114
Hickey, Serial Murderers and Their Victims, S. 211ff.
Dörner, Die Logik des Misslingens, S. 436
Deutscher Bundestag Drucksache 17/14600. 17. Wahlperiode. 22.8.2013. Beschlussempfehlung und Bericht des 2. Untersuchungsausschusses nach Artikel 44 des Grundgesetzes, S. 578
Ebenda, S. 578
Dörner, Die Logik des Misslingens, S. 98
Deutscher Bundestag Drucksache 17/14600. 17. Wahlperiode. 22.8.2013. Beschlussempfehlung und Bericht des 2. Untersuchungsausschusses nach Artikel 44 des Grundgesetzes, S. 571 und 951
Kahneman, Schnelles Denken, langsames Denken, S. 101.
Kahneman, Schnelles Denken, langsames Denken, S. 509
Adam Gregory, Offender Profiling & Behavioral Investigative Advice (2009): synergysolutions.org.uk
Kahneman, Schnelles Denken, langsames Denken, S. 515
Douglas/Olshaker, Die Seele des Mörders, S. 13ff.
Vgl. R.D. Hare, The Psychopathy Checklisted, Toronto 2003
Dern, Sexuelle Gewaltdelikte, Seite 88
Jo Reichertz, »Meine Mutter war eine Holmes«. Über Mythenbildung und die tägliche Arbeit der Crime-Profiler. In: Musolff/Hoffmann, Täterprofile, S. 28
Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Aphorismus 146
Kahneman, Schnelles Denken, langsames Denken, S. 473
Kahneman, Schnelles Denken, langsames Denken, S. 474
Kahneman, Schnelles Denken, langsames Denken, S. 521
Wenn es nach den Medien geht, bin ich ein Monsterjäger. Oder wenigstens ein Profiler. Zumindest sind das die klassischen Begriffe, die mir begegnen, wenn ich Auskunft über meinen Beruf geben soll. Oft werde ich gefragt, warum Serienmörder so genial sind, in welche Abgründe ich jeden Tag blicke und wie ich das bloß ertrage.
Dies ist nur eine kleine Aufzählung der Vorurteile und Klischees, die mit meinem Beruf verbunden sind. Oft stammen diese Vorstellungen aus Krimis und Fernsehthrillern, also aus der fiktionalen Welt, oder aus Büchern von ehemaligen Profilern des amerikanischen Federal Bureau of Investigation (FBI).
Tatsächlich bin ich Polizeilicher Fallanalytiker, ein Berater von Sonderkommissionen der Polizei. Ich unterstütze die ermittelnden Kollegen meistens in Fällen von Sexualmord, Serienmord oder Serienvergewaltigung. In meinem Team rekonstruieren wir die Tatabläufe dieser Fälle, bewerten das Verhalten des Täters und erstellen manchmal ein Täterprofil. Davon will ich in diesem Buch berichten. Ich möchte darüber aufklären, was die Fallanalyse tatsächlich leisten kann und wo ihre Grenzen liegen. Von den Schwierigkeiten, denen die Leiter von Sonderkommissionen bei ihrer anspruchsvollen Tätigkeit begegnen und welche Probleme sich in komplexen Handlungssituationen immer wieder einstellen. Auch möchte ich einen Einblick in die häufig so mit Vorurteilen besetzte Welt der Täter werfen und zeigen, dass manchmal das so oft mystifizierte Böse auch sehr banal, wenn auch nicht weniger grausam sein kann. Nachdem die Frage nach dem Umgang mit der Belastung immer wieder gestellt wird, versuche ich auch hier einen Einblick in unsere Bewältigungsstrategien zu geben.
Dieses Buch soll also nicht vor allem von mir handeln, sondern von meinem Beruf – von den vielen Dingen, die mich immer noch und immer wieder daran faszinieren. Es begeistert mich die Herausforderung, komplexe Probleme wie ein ungelöstes Verbrechen zu analysieren und an dessen Lösung mitzuwirken. Dabei haben meine Kollegen und ich viel gelernt: Wie der Mensch sich in Extremsituationen verhält und warum er die einen Entscheidungen trifft und nicht die anderen; was das über ihn verrät; auf welches Wissen wir tatsächlich vertrauen können.
Das Interessanteste dabei sind jene Fälle, bei denen erst große Hindernisse zu überwinden sind, bevor sie sich klären lassen. Oftmals im Leben errichten wir, ohne es zu merken, diese Hindernisse selbst. Manche Fehler sind offenbar so tief in uns oder in von uns selbst geschaffenen Systemen verankert, dass sie sich regelmäßig wiederholen – vor allem dann, wenn der Stress, und damit auch die Anfälligkeit für Irrtümer, besonders groß ist. Das ist bei der Polizei nicht anders als sonst im Leben auch; es kann allerdings gravierende Folgen haben, etwa wenn Ermittlungen in die falsche Richtungen gehen und ein Mörder nicht gefasst wird.
Ich habe lange mit mir gerungen, ob ich dieses Buch tatsächlich schreiben soll. Nach der Anfrage des Verlags war meine instinktive Reaktion Ablehnung. Es gibt schon genügend Bücher von Profilern und über sie. Höflicherweise nahm ich 2012 dennoch die Einladung des Droemer Verlags zu einem unverbindlichen Gespräch an. Um es mir einfach zu machen, schrieb ich als Vorbereitung des Treffens eine Liste der Aspekte auf, die meiner Meinung nach in einem Buch über Fallanalyse beleuchtet werden sollten. Ich war mir völlig sicher, dass dies nicht den Vorstellungen des Verlags entsprechen würde, da es andere Seiten waren als jene, die bisher in den typischen Profiler-Büchern zu finden waren. Ich wollte ein Buch schreiben, bei dem die Erklärung der Fallanalyse im Vordergrund steht, und keine bloße Schilderung herausragender Fälle. Zu meiner völligen Überraschung verlief dieses Treffen ganz anders. Sehr schnell hatten wir eine gemeinsame Gesprächsbasis, und die Ideen, die ich skizziert hatte, schienen sich mit den Vorstellungen des Verlags zu decken.
Dennoch sollte es noch über ein Jahr dauern, bis ich mich entschloss, dieses Buch wirklich zu schreiben. Ich hatte Sorge. Sorge, dass es nicht gut werden würde; Sorge, dass ich zu wenig zu sagen hätte; Sorge, wie meine Kollegen in der Ermittlung darauf reagieren würden. Viele hatten ja schon lange erwartet, dass ich endlich auch »mein« Buch schreiben würde. Würden mir die Kollegen anschließend anders begegnen? Beladen mit solchen Befürchtungen führte ich, ganz der ausgebildete Analytiker, eine Reihe von Gesprächen mit Menschen, deren Meinung mir besonders wichtig ist. Ich wollte mich von meinen Sorgen lösen und die Entscheidung auf eine objektive Basis stellen. Ich erhob die Einschätzung von Menschen mit unterschiedlichen Wissens- und Erfahrungshintergründen und wurde von allen Seiten bestärkt, meine Erfahrungen der letzten eineinhalb Dekaden niederzulegen.
Ganz besonders beeindruckt hat mich der Satz eines Freundes. Er sagte mir, dass »man ein Buch schreiben muss, um eine Sache tatsächlich zu durchdringen«. Und er behielt recht. Ich war überrascht, wie schnell ich diese Gedanken präsent hatte. Jahrelang waren es nur lockere Ideen, und nun wurden sie endlich geordnet, reflektiert und gewannen so an Schärfe und Präzision. Manche Aspekte meiner Arbeit wurden mir erst jetzt in ihrer ganzen Bedeutung bewusst. Diese Klarheit der Dinge hätte sich nicht eingestellt, wäre ich nicht verpflichtet gewesen, sie zu erklären und niederzuschreiben. Ich habe beim Schreiben sehr viel gelernt, über mich und die Dinge, mit denen ich mich beschäftige.
Manche Fälle, die ich hier schildere, sind wenig oder gar nicht bekannt. Andere hingegen, zum Beispiel die Suche nach einem sadistischen Sexualmörder in der Nähe von München, nach dem sogenannten Maskenmann in Norddeutschland oder nach den Mördern von neun ausländischen Geschäftsleuten (den Opfern der NSU-Terroristen), haben die Öffentlichkeit so in Bann gehalten, dass in Medien und Büchern bereits ausführlich darüber berichtet wurde. Meine Dienststelle, die OFA Bayern, hat in diesen und einigen anderen großen Fällen die Ermittler beraten. Der Sexualmörder als Phänomen wird auch beschrieben im Buch meines BKA-Kollegen Harald Dern über Profile sexueller Gewalttäter, die Fallanalyse bei den NSU-Morden in Die Zelle von Christian Fuchs und John Goetz und in Profiler meines Koautoren Joachim Käppner von der Süddeutschen Zeitung. Letzterer hat sich auch mit dem Maskenmann befasst, wie das auch mehrfach Spiegel TV getan hat oder Nadja Malak in dem Buch Auf freiem Fuß, das 2007 erschien, als einige der Taten noch ungeklärt waren. Alle diese Autoren haben neben vielen anderen Ermittlern auch die OFA Bayern befragt.
Mir geht es nicht darum, all die Details oder Kontroversen noch einmal zu referieren. Ich will die Taten aus unserer Warte schildern, als Herausforderungen für uns Fallanalytiker und unsere Methodik, als Fälle, in denen wir an unsere Grenzen gingen und bisweilen auch an Grenzen stießen.[1]
Dieses Buch soll keinen Endpunkt darstellen. Vielmehr soll es eine Zwischenbilanz sein. Seit 17 Jahren berate ich die Leiter von Sonderkommissionen der Polizei und Staatsanwälte bei ihren Ermittlungen. Bei diesen Beratungen habe ich gelernt, welche Schwierigkeiten komplexe Situationen denjenigen bereiten, die zumeist unter Druck gefordert sind, die richtige Entscheidung zu treffen. Meine Aufgabe ist es, sie dabei zu unterstützen.
Dieses Buch wäre ohne mein Team der Operativen Fallanalyse (OFA) Bayern beim Polizeipräsidium München niemals möglich gewesen. Die erfolgreich verlaufenden Beratungen sind immer eine Teamleistung, nie die eines Einzelnen. Meinen Dank und meine Wertschätzung möchte ich auch den vielen Ermittlern und Leitern von Sonderkommissionen aussprechen, die ich begleitet habe. Die Ermittlung des Täters ist deren Verdienst, wir beraten sie bei dieser schwierigen Aufgabe. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Galway, Irland: Der Fußweg entlang der Bahngleise ist bei Nacht ein unheimlicher Ort. Die Straßenlaternen werfen nur ein schummriges Licht; links sind die Schienen, rechts verläuft ein kleines Mäuerchen, dahinter ist ein Dickicht, das steil nach unten abfällt. Wer bei Dunkelheit hier entlanggeht, kann kaum erkennen, was sich dort verbirgt. Irgendwo hier muss der Mann gewartet haben, der Manuela R. an einem Sonntag nachts missbraucht und ermordet hat.
Jetzt, einige Tage später, ist es hell. Mein Kollege Klaus Wiest und ich gehen mit Derek und Neil, unseren irischen Kollegen, den Weg entlang. The Line heißt er schlicht; über viele Kilometer verläuft er längs der Bahnlinie und wird als Abkürzung zwischen dem Zentrum von Galway und dem Stadtteil Renmote genutzt. Nicht wenige Nachtschwärmer nutzen ihn am Wochenende, um nach der Disco oder dem Treffen im Pub schneller heimzukommen. Es gibt Eltern, die ihre Kinder davor warnen: Gelegentlich hat es hier Raubüberfälle gegeben. Auf diesem Weg ist Manuela, eine 17-jährige Austauschschülerin aus der Schweiz, in jener Nacht gegangen, allein. Am Dienstag fanden Spaziergänger ihre entstellte Leiche unten in den Büschen jenseits der Mauer. Die hiesige Polizei, die Garda, hat uns um Unterstützung gebeten.
So wie in Galway im Jahr 2007 sehen die Situationen aus, in denen wir ins Spiel kommen: die OFA Bayern, das Kommissariat für Operative Fallanalyse, das ich seit 17 Jahren leite.
Auf dem langen Wegstück, weit weg von allen Häusern, fällt uns eine Stelle auf, ein Trampelpfad nur, der von unten steil heraufführt zur Line. Das Gestrüpp ist sonst zu dicht, um sich darin zu bewegen. Hier also könnte der Täter dem Opfer aufgelauert haben.
Nun gibt es zwei Möglichkeiten. Er hat sich den Abend über in der Hoffnung auf ein Opfer an der Stelle versteckt, wo der Pfad auf den Fußweg trifft. Für wahrscheinlicher halten wir es, dass der Täter Manuela am Rande der City gesehen hat, als sie gerade zu Fuß in die Line abbog. Er wusste, dass sie den Weg allein langgehen würde. Wenn er sich auskannte, ist er ihr unterhalb der Böschung auf dem unbefestigten Parallelweg gefolgt, auf dem tagsüber oft Hundebesitzer mit ihren Tieren unterwegs sind, und von dort den Trampelpfad zur Line hinaufgestiegen. Oben konnte er ihr, falls er schnell genug war, den Weg abschneiden.
Wir gehen davon aus, dass der Unbekannte genau dies getan, sein Opfer dann überwältigt und hinunter in die Finsternis der Büsche und des Gestrüpps gezerrt hat. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass nachts hier jemand entlanggeht, und von oben, vom Fußweg, sieht man nichts in der Dunkelheit. Das spricht sehr dafür, dass der Mord nicht an der Line selbst geschah. Dort hätten ja vielleicht noch Radfahrer oder Kneipengänger auf dem Nachhauseweg vorbeikommen können. Sollte unsere Hypothese zutreffen, dann haben wir für Derek und Neil eine überraschende Neuigkeit. Viele in Galway sind der festen Ansicht: Ein Mensch, der so eine brutale Tat begeht, kann eigentlich nicht aus unserer Mitte stammen, nicht aus unserer kleinen, friedlichen Stadt. Aber genau das nehmen wir jetzt an: Dieser Mörder war nicht der große Fremde. Er lebt wahrscheinlich hier in Galway.
Es gibt im Leben Situationen, in denen man eine schwere Entscheidung treffen muss. Je größer deren Tragweite ist, desto schwerer fällt sie. Eine Sonderkommission der Kriminalpolizei wie jene in Galway kann schnell an den Punkt geraten, wo es ihr nicht anders geht: Sie muss sich entscheiden, für oder gegen eine Ermittlungsrichtung, für oder gegen eine Theorie. Sie kann ihre Kräfte natürlich auch aufteilen, aber das hat seine Grenzen. Selbst wenn der Soko viel Personal zur Verfügung steht, kann sie nicht in alle Richtungen gleichzeitig mit voller Kraft ermitteln. Sie muss Prioritäten setzen, sich entscheiden. So wie unsere irischen Kollegen in Galway: Sollen sie den Sexualmörder in ihrer Stadt suchen? Oder gehen sie davon aus, dass er ein reisender Täter war? Beides sind sehr aufwendige, aber auch sehr unterschiedliche Ermittlungen.
Wir werden gerufen von Menschen in Ausnahmesituationen, von Kollegen, die vor solch schwierigen Entscheidungen stehen. Mein Beruf als Polizeilicher Fallanalytiker ist es, sie als Berater zu unterstützen. In der Regel sind es Leiter von Sonderkommissionen der Kriminalpolizei. Sie tragen die Verantwortung für die Ermittlung von Sexualmorden, Serienvergewaltigungen oder auch Serienmorden, haben zu entscheiden, auf was und auf wen sich ihre Leute konzentrieren sollen – und auf was oder wen nicht.
Wir bieten ihnen kriminalistisches Hintergrundwissen, vergleichen ihren Fall mit einem der vielen ähnlichen Verbrechen, die wir bearbeitet haben, oder erstellen eine Fallanalyse und ein Täterprofil. In den Medien ist mein Beruf als »Profiler« bekannt. Dieser Begriff greift aber zu kurz, deshalb hören wir ihn eigentlich nicht so gern. Er stammt aus den USA und beschreibt einen Kriminalbeamten, der das Profil eines unbekannten Verbrechers entwirft. Auch wir erstellen solche Profile und beschreiben darin die Persönlichkeit eines Täters – schätzen unter anderem sein Alter, seine Lebensumstände und seine kriminelle Erfahrung ein. Tatsächlich aber geht die Arbeit eines Fallanalytikers weit darüber hinaus. Unser Job ist es vor allem, ein »vertieftes Fallverständnis« bei den eigentlichen Ermittlern herzustellen, wie wir es nennen. Wir wollen ihnen also helfen, noch besser zu begreifen, was eigentlich am Tatort geschehen ist und was das Verhalten des Täters über diesen verrät.
Eine Sonderkommission, wie jene von Derek und Neil in Galway, steht meist unter massivem Druck – der Medien, der Vorgesetzten, der Politik. Wir beraten Kollegen, die massiv unter Stress stehen. Die Männer und Frauen der Soko müssen Hunderten von Spuren und Hinweisen nachgehen; Angehörige des Opfers rufen an; Reporter drängeln, und Behördenleiter verlangen Ergebnisse. Sie fragen: »Wieso seid ihr noch nicht weiter?« Dazu kommt die berechtigte Sorge, in all der Hektik vielleicht die eine, entscheidende Spur zu übersehen oder falsch einzuordnen.
Genau das passierte 1977 bei einem der bekanntesten Kriminalfälle der deutschen Geschichte: während der Fahndung nach den Entführern von Hanns Martin Schleyer. Ein aufmerksamer Polizist hatte eine verdächtige Wohnung in Erftstadt-Liblar gemeldet. Doch durch eine Panne wurde der einzig richtig Hinweis nicht in das damals neue, revolutionäre Computersystem PIOS aufgenommen und blieb unbeachtet. Ein fatales Versäumnis: Es war die Wohnung, in der die RAF-Terroristen den Arbeitgeberpräsidenten während der ersten Tage versteckt hielten.
Um es noch mal zu verdeutlichen: Die Aufgabe des Beraters ist es nicht, die Ermittlungen zu übernehmen oder zu leiten. Was uns unterscheidet, ist die Häufigkeit, mit der wir uns mit den einschlägigen Delikten beschäftigen, das Hintergrundwissen, welches in unserer speziellen Ausbildung vermittelt wird, und eine besondere, streng methodische Herangehensweise.
Mit einem Sexualmord werden die meisten Kripobeamten glücklicherweise nur sehr selten konfrontiert. Für uns ist ein solches Verbrechen Alltag: Als Zentralstelle für Fallanalysen und Täterprofile sind wir für solche Fälle in ganz Bayern zuständig.
Wir kommen nur dann, wenn man uns ruft. »Ich fordere die OFA ja nicht jeden Tag an«, hat ein befreundeter Soko-Leiter mir einmal gesagt, »sondern bei Fällen, wie ich sie eben nicht jeden Tag habe.« Das ist treffend bemerkt. Die Anzahl der Anfragen an uns hat sich auf circa dreißig bis fünfzig Fälle jährlich eingependelt, die Hälfte davon betreffen Tötungsdelikte. Dies bedeutet, dass unser Kommissariat innerhalb von nur kurzer Zeit viel Erfahrung sammelt, und das ist vielleicht noch wichtiger als psychologische Kenntnisse in den entsprechenden Deliktsfeldern.
Gerade Sexualverbrechen sind oft viel schwerer zu verstehen, als es den Anschein hat, selbst für erfahrene Kollegen der Mordkommissionen. Das ist vor allem dann so, wenn der Täter sich außergewöhnlich verhalten hat. Ungewöhnliche Spuren am Opfer, eine seltsam drapierte Leiche – das sagt viel aus über den Verbrecher. Ein Berufskrimineller möchte nicht auffallen, ein Drogendealer oder ein Auftragsmörder will Spuren so weit wie irgend möglich vermeiden. Er tut nur, was er tun muss, um sein Ziel zu erreichen. Bei Sexualstraftaten ist dies oft anders; und mit solchen Verbrechen beschäftigen wir uns hauptsächlich.
Beispielsweise wissen wir aus Erfahrung, wie leicht Ermittlungen durch die Fixierung auf besonders grausame Elemente der Tat auf die falsche Spur geraten können. Wir sprechen dann davon, dass ein solcher Aspekt alle anderen »überstrahlt«. Das wird rasch zum Problem, wenn dadurch ein verzerrtes Bild der Tat entsteht und die Polizei sogar in der falschen Richtung sucht. In Wahrheit verbergen ganz andere Verhaltensmuster des Täters den Schlüssel dazu, ihn aufzuspüren.
Manuela R. war nur knapp eine Woche vor unserer Ankunft in Irland ermordet worden. Galway ist eine Touristenhochburg und Studentenstadt am Meer, ein hübscher Ort, in dem schwere Gewaltdelikte die Ausnahme sind. Umso größer war der Schock, als Spaziergänger an einem Dienstagmorgen um halb zehn die Leiche der jungen Frau fanden. Sie war auf Sprachferien bei einer irischen Gastfamilie und erst wenige Tage zuvor in Galway angekommen. Sonntagabend hatte sie einen Pub im historischen Zentrum besucht, danach wurde sie nicht mehr gesehen. Wie der Familienvater später vor Gericht aussagte, hatte er die junge Frau noch davor gewarnt, nachts allein den Weg bei den Bahngleisen zu nehmen.
Manuela R. war ganz offensichtlich Opfer eines Sexualmörders geworden. Die Tote war teilweise entkleidet, der Täter hatte ihren Körper mit einem Messer verletzt und ihre Genitalien verstümmelt. Angesichts eines solch verstörenden Verbrechens nannte die irische Presse den Mörder schnell »das Monster« oder den »Galway Ripper«, in Anlehnung an den legendären Serienmörder Jack the Ripper, der Ende des 19. Jahrhunderts in London auf grausame Weise mehrere Frauen erstochen hatte.
Klaus Wiest und ich landeten spätabends auf dem kleinen Flughafen von Galway und wurden von Derek und Neil, den dortigen Ermittlern, empfangen. Schon auf dem Weg zum Hotel erläuterten uns die Kollegen, die beide große Erfahrung mit Tötungsdelikten in ihrem Land hatten, den Stand der Dinge. Wir kannten uns bereits, hatten aber alle nicht damit gerechnet, uns so bald wiederzusehen. Derek und Neil prüften zu diesem Zeitpunkt für die irische Polizei die Einsatzmöglichkeiten des Profiling, sie hatten daher schon die Fallanalyseeinheiten in England und beim FBI besucht. Vor wenigen Monaten waren sie auch bei uns in München gewesen. Und nun hatten wir statt der Theorie einen echten Fall.
Derek und Neil standen unserer Arbeit sehr offen gegenüber, weshalb sie uns auch offiziell um Unterstützung gebeten hatten. Denn ihnen war sofort klar, dass dieser Mord eine eindeutige sexuelle Komponente besaß, die Tat also denjenigen entsprach, die sie bei uns studiert hatten. Nach der Ankunft im Hotel erzählten sie weiter, und wir beneideten sie nicht: In der Bevölkerung herrschte große Verunsicherung, vor allem unter den Studenten; die Ermittler standen unter hohem Druck. Deshalb erwarteten sie von uns keine komplexen Theorien, keine Grundsatzvorträge, sondern schnelle und brauchbare Hinweise für die Suche nach dem Mann, der die Schweizer Schülerin so grausam getötet hatte.
Am nächsten Morgen bezogen wir einen Arbeitsraum im Polizeigebäude, voller Akten, Fotos und Unterlagen. Schon in den ersten Gesprächen mit Derek und Neil wurde uns etwas deutlich: Die Brutalität des Mordes überstrahlte alles andere. Die Vorstellung, die man sich in Galway von jemandem machte, der so etwas Furchtbares getan hatte, überraschte Klaus und mich nicht. Im Gegenteil, sie entsprach genau dem Stereotyp, wie wir es nicht selten vorfinden, wenn wir als Berater gerufen werden: Der Täter, so glauben die Einheimischen, muss ein Fremder sein, einer von weit außerhalb, vermutlich sogar ein Ausländer, denn jemand von hier tut so etwas Furchtbares doch nicht. Dieses Denkmuster wird bei uns Fallanalytikern als das »No Monsters here«-Phänomen bezeichnet.
Psychologisch ist das durchaus verständlich. Selbst manche Polizisten können nur schwer verstehen, dass ein Mann ganz normal wirken und sogar ein fürsorglicher Vater für seine Kinder sein kann, auf der anderen Seite aber extreme Verbrechen begeht. In der Praxis finden wir diese Konstellation jedoch immer wieder. Sie erklärt die Fassungslosigkeit der Nachbarn, wenn ein Kindermörder kein auswärtiger Psychopath ist, dessen Tat wie ein Unwetter über die vertraute Umgebung hereinbricht, sondern der nette Herr X aus dem Reihenhaus drei Straßen weiter. »Das hätten wir dem nie zugetraut«, erzählen Nachbarn und Bekannte später den Reportern.
Vielleicht ist die anfängliche Abwehrhaltung sogar eines der ältesten Denkmuster der Menschheit. Doch die Idee vom Fremden als Ursache des Bösen ist ein klassisches Stereotyp und falsch, jedenfalls sehr häufig. Das Wort Xenophobie bedeutet ja ursprünglich viel mehr als politisch motivierter Hass auf Ausländer, wie wir es heute meist definieren. Es setzt sich zusammen aus den altgriechischen Wörtern für den Fremden und die Furcht. Die Vorstellung ist leichter zu ertragen, dass das Böse von außen hereinbricht. Vielleicht ist es eine Art Schutzmechanismus, dass der Mensch die Abgründe der Seele nicht in jenen sehen möchte, mit denen er täglich zusammenlebt.
Wenn jedoch die Polizei in solchen Kategorien zu denken beginnt, dann hat sie ein Problem: Sehr leicht kann sie in die falsche Richtung ermitteln. Sie macht sich nicht nur ein unzutreffendes Bild von der Person des Täters, sie sucht ihn auch am falschen Ort. Bei der großen Masse der Männer, die schwere sexuelle Gewaltdelikte begehen, handelt es sich nämlich um »regionale Täter«, wie es bei uns heißt, also um solche, die unweit des Opfers oder des Tatorts leben. Es sind also keine unheimlichen Fremden. 2004 haben die Fallanalytiker des BKA in einer aufwendigen Studie unter anderem herausgefunden, dass 62 Prozent der Vergewaltiger und der Sexualmörder »aus dem geographischen Nahraum des Opfers stammten«.[2] Dieser umfasste dabei fünf Kilometer. In diesem Bereich hatten sie einen direkten Bezugspunkt, sei es der eigene Wohnort oder derjenige der Familie oder die Arbeitsstelle. Selbst bei amerikanischen Serienmördern ist das meist nicht anders. Hier zeichnen, auch und gerade in den USA, reißerische »True Crime«-Autoren sehr gern das alte Klischeebild von reisenden Serienmördern, so wie die Bestsellerautorin Ann Rule: »Sie sind immer in Bewegung. Sie können die ganze Nacht lang fahren. Sie suchen immer nach einem Zufallsopfer. Sie sind eine neue Brut von Verbrechern.«
In den 1980er Jahren hatten die FBI-Beamten John Douglas und Robert Ressler, zwei Pioniere des Profiling, erstmals systematisch inhaftierte Sexualmörder interviewt – freilich eine Auswahl der krassesten Fälle. Die Special Agents wollten herausfinden, ob es bestimmte Typen und Kategorien solcher Täter gibt. Doch war die Stichprobe mit 36 Personen viel zu klein, und zufälligerweise waren tatsächlich nicht wenige der Befragten weit durch die USA gereist, aus den verschiedensten Gründen. Manche waren auf der Flucht vor der Polizei, andere wechselten häufig die Jobs. Douglas und Ressler verführte die auffallende Mobilität der Befragten zu dem Irrtum, dass dies typisch für Serienverbrecher sei. Diese bewegten sich sozusagen in der mobilen Gesellschaft der USA wie Raubfische im Wasser. Die Studie ist längst widerlegt: In Wirklichkeit sind selbst in den Vereinigten Staaten immer noch knapp 75 Prozent der Serienmörder regionale Täter und begehen ihre Verbrechen zumindest innerhalb ihres Bundesstaates.[3]
Insofern überraschte uns die Einschätzung in Galway nicht, dass der »Ripper« gerade wegen seiner Grausamkeit gegen ein 17-jähriges Mädchen eigentlich nicht aus der näheren Umgebung stammen könne. Die Folgen einer solchen Festlegung können verheerend sein: Die Sonderkommission verschwendet Zeit, Mittel und Personal, weil sie sich früh auf eine Theorie fixiert. Genau hier beginnt die Aufgabe des Beraters. Es geht darum, den Blick des Ermittlers zu weiten, Denkmuster in Frage zu stellen und Vorurteile abzubauen.
Klaus Wiest und ich wussten nun aus Erfahrung, wie wir helfen konnten. Wir befassten uns nicht in erster Linie mit der Verstümmelung des Opfers, sondern behandelten diesen Fall so wie jeden anderen Sexualmord auch, ließen uns also nicht in den Bann eines seiner schlimmsten Aspekte ziehen. Als Erstes versuchten wir uns ein umfassendes Bild des Tatablaufs zu machen. Wie sich herausstellte, hatte sich Manuela R. in der Nacht spontan entschlossen, jenen Verbindungsweg an der Bahnlinie, der zum Stadtzentrum von Galway führt, entlangzugehen. Der Mörder hatte also nicht wissen können, dass sie zu dieser Zeit dort sein würde. Manuela war aller Wahrscheinlichkeit nach ein zufälliges Opfer, sie befand sich schlichtweg zur falschen Zeit am falschen Ort. Der wiederum eignete sich aus Sicht des Mörders sehr für den Überfall auf eine Frau: einsam, abgelegen, gerade in der Dunkelheit im Dickicht neben dem Weg voller Verstecke und fernab des Überwachungssystems CCTV, dessen Kameras, wie in Großbritannien auch, in manchen größeren irischen Städten omnipräsent sind. Aus diesem Grund gingen wir davon aus, dass es sich um einen lokalen Täter handelte, der sich gut auskannte.
Er hatte außerdem ein feststehendes Messer mitgeführt, was in Irland bereits als Straftat gilt, und dies ließ uns annehmen, dass bereits eine latente Tatbereitschaft vorlag. Die Tatsache, dass er also schon mit solch einem Messer losgezogen war, um bei günstiger Gelegenheit eine Frau zu überfallen, erhöhte neben anderen Elementen der Tat die Wahrscheinlichkeit, dass dies nicht das erste Mal gewesen war. Also nahmen wir an, dass der Unbekannte unter Umständen bereits früher durch Angriffe auf Frauen aufgefallen war – und vermutlich ebenfalls durch ein außergewöhnlich hohes Maß an sexueller Gewalt.
In all den Jahren zuvor hatten wir gelernt, dass ein bestimmter Tätertyp zunächst ausprobiert, wie man sich einem Opfer nähert und es überwältigt. Vor Sexualmorden begehen diese Männer daher nicht selten Vergewaltigungen und andere Überfälle auf Frauen. Neil, Derek und ihre Kollegen sahen daher alle angezeigten Vergewaltigungen in und um Galway durch, insbesondere die der letzten Monate. Und sehr schnell stießen sie auf einen Fall, der unser Interesse auf sich zog.
Nur acht Wochen vor dem Mord an der Line hatte ein Mann spätabends auf einem Fußballfeld eine französische Studentin, die nachts allein auf dem Heimweg war, überfallen. Die 21-Jährige war mit Freunden ausgegangen und hatte mit dem Taxi heimfahren wollen, aber keines gefunden. Daher ging sie zu Fuß, und als sie an einer einsamen Stelle bemerkte, dass ihr ein Mann folgte, war es zu spät. Der Täter handelte auffallend aggressiv und gewalttätig, ja in einer Weise, die wir in Ansätzen als sadistisch einstuften: Er schien es zu genießen, seinem Opfer blutende Verletzungen zuzufügen. Genau diese Art von Delikt passte zu dem gesuchten Mörder.
Nun gab es ein überlebendes Opfer, das ihn beschreiben konnte. Nur wenige Tage später nahm die irische Polizei den Vergewaltiger fest. Es war für Klaus Wiest und mich wenig überraschend, dass der DNA-Abgleich den Mann auch als Mörder der 17-jährigen Manuela enttarnte.
Der Täter war kein Fremder, sondern ein Nachbar. Gerald B., 28 Jahre alt, wohnte nur zwei Straßen von der Gastfamilie Manuelas entfernt. Er wies genau das Durchschnittsalter von Sexualmördern auf. Typisch war auch, dass er mehrfach vorbestraft war wegen sexueller Gewalt, Körperverletzung, Einbruch und mancherlei mehr. Schon als Jugendlicher war er in eine Schlägerei verstrickt gewesen, bei der ein junger Mann starb. Die Französin, die B.s Angriff schwer traumatisiert überlebt hatte, sagte vor Gericht, der Mann habe keinerlei menschliche Regung gezeigt und sie hoffe, »dass er nie mehr freigelassen wird – denn er wird es wieder tun«. Der Richter wiederholte diesen Satz fast wörtlich. 2009 verurteilte der Central Criminal Court B. zu lebenslanger Haft. Das Vorurteil vom auswärtigen Monster hatte sich nicht bestätigt.
Den Mord an Manuela R. haben nicht wir geklärt, und nicht wir waren es, die den Täter fanden und fassten. Dies tat die Polizei in Galway. In den Schlagzeilen, vor allem der Boulevard-Presse, liest sich das häufig anders: »Jetzt übernehmen die Profiler!« Aber die OFA-Einheiten übernehmen keine Fälle. Sie sind, modern gesprochen, Servicedienststellen der Kriminalpolizei, die als Berater die ermittelnden Beamten unterstützen. In Galway hat diese Unterstützung dazu beigetragen, dass die irischen Kollegen den Zusammenhang zwischen der Vergewaltigung und dem Sexualmord herstellten und den Serientäter bald fassten. In diesem Fall und auch sonst sind wir jedoch immer nur Teil des Ermittlungsapparats. Man muss dies betonen, um falschen Vorstellungen vorzubeugen. Die meisten OFA-Kollegen, die ich kenne, sehen sich nicht als »Profiler« und mögen die Mythen nicht, die sich darum ranken.
Die Fallanalyse ist übrigens nur eine der Dienstleistungen, die unsere Abteilung anbietet. Im Mittelpunkt unserer Arbeit steht zumeist der gefährliche Straftäter; häufig handelt es sich dabei um Sexualverbrecher. Die Fallanalyse soll in herausragenden Fällen Sonderkommissionen helfen, Hinweise auf einen noch unbekannten Täter zu finden und in einem nächsten Schritt, den Kreis möglicher Verdächtiger zu verkleinern. Neben der Fallanalyse führen wir für Bayern außerdem die Datenbank ViCLAS, die Sexual- und Tötungsdelikte verknüpfen hilft, arbeiten mit den Einrichtungen des Straf- und Maßregelvollzuges zusammen und betreiben eigene Forschungsprojekte. Eine fünfte Säule unserer Arbeit ist HEADS, die »Haftentlassenen-Auskunftsdatei«, die sich mit jenen Sexualstraftätern befasst, die das Gefängnis wieder verlassen. Von alldem wird noch zu sprechen sein.
Dieses Buch beschäftigt sich in erster Linie mit der Fallanalyse. Der nüchterne Begriff klingt nicht so geheimnisvoll wie »Profiling«, und er soll es auch nicht sein. Eine Fernsehserie mit dem Titel »Operative Fallanalytiker« würde schwerlich Millionen vor den Bildschirm locken. Anders als »Profiling« ist die Fallanalyse genau definiert, und zwar durch die »Qualitätsstandards«, die Fachleute der Kriminalpolizei aus Bund und Ländern 2003 festgelegt haben. Das klingt alles recht technisch, hat aber seinen guten Grund. Die Standards erlauben es, unsere Arbeit anhand von klaren Kriterien zu messen. Sie definieren die Fallanalyse als »ein kriminalistisches Werkzeug«, welches bei herausragenden Fällen »auf der Grundlage von objektiven Daten« das Fallverständnis vertieft, mit dem Ziel, »ermittlungsunterstützende Hinweise zu erarbeiten«.[4]
Polizeiliche Fallanalysen und Täterprofile werden in Deutschland ausschließlich von den hierfür speziell ausgebildeten Beamten der Einheiten für Operative Fallanalyse erstellt. Ein Kollege von mir, der Psychologe Markus Hoga, scherzt manchmal: Wenn er Vorträge an der Uni halten würde, staunten manche Studenten, dass er nicht mit Spiegelsonnenbrille und schwarzem Designeranzug ans Rednerpult trete. Das ist natürlich nur ein Spaß, aber spiegelt schon die oft weit ins Klischeehafte reichenden Vorstellungen über unsere Arbeit wider. Oft werden wir von Studierenden der Kriminalistik oder Psychologie gefragt: »Wie kann ich Profiler werden?« Ich fürchte, die Antwort ist für die meisten eine Enttäuschung: Indem sie zur Kripo gehen, viel Erfahrung sammeln, ein Auswahlverfahren durchlaufen und eine mehrjährige Ausbildung zum Fallanalytiker auf sich nehmen. Anders geht es nicht oder nur sehr selten. Für frei schaffende Psychologen oder für Bewerber, die sich in den USA auf Privatlehrgängen von früheren Polizeibeamten zum »Profiler« ausbilden lassen, hat die deutsche Kriminalpolizei keine Verwendung.
Bei der Fallanalyse handelt es sich nicht um eine gänzlich neue Erfindung, auch wenn die meisten deutschen OFA-Kommissariate kaum älter als 15 Jahre sind. In Deutschland gab es manche Vorläufer, etwa Ende der 1920er Jahre bei der Suche nach dem Serienmörder Peter Kürten im Rheinland. Während die Zeitungen damals über einen »Vampir« und »irren Blutsäufer« schrieben, trug die Sonderkommission alle Hinweise auf die wahrscheinliche Persönlichkeit des Täters zusammen und informierte Polizeibehörden in ganz Deutschland. In einer Sondernummer des Deutschen Kriminal-Polizeiblatts aus dem Jahr 1930 finden sich einige Hypothesen, die schon stark an heutige Täterprofile eines Serienmörders erinnern:
»Es ist möglich, dass der spätere Täter schon früher durch seine Neigung aufgefallen ist, andere Lebewesen grausam zu quälen, (und) daß er sich vielleicht schon auf dem Gebiet des Sittlichkeitsverbrechens betätigt hat. […] Mit großer Wahrscheinlichkeit kann angenommen werden, daß der Täter in seinem Vorleben mit Behörden einschlägiger Art in Berührung gekommen ist: sei es Gericht oder Polizei – Erziehungsanstalt oder Gefängnis –, Nervenkliniken oder Irrenanstalten.«[5]
Ein solches Profil war damals noch ganz ungewöhnlich, es passte übrigens recht präzise auf Kürten und diente demselben Zweck wie unsere heutigen: den Kreis der möglichen Verdächtigen möglichst weit einzuengen. Die Düsseldorfer Kriminalpolizei wusste also ungefähr, dass sie den Mörder nicht im Kreise unbescholtener Familienväter suchen sollte und auch nicht einen, wie man damals vor allem glaubte, auffälligen »Geisteskranken«, sondern einen Typ Mann mit einschlägiger Vorgeschichte. Kürten wurde bald darauf mit Hilfe einer Zeugin überführt, die einen seiner Angriffe überlebt hatte. 1931 wurde er hingerichtet.
In den USA legte zwischen 1940 und 1956 ein Mann Bomben an öffentlichen Plätzen wie Kinos und Bahnhöfen ab, was ihm den Namen Mad Bomber einbrachte. Mehrere Menschen wurden verletzt. Die Polizei fragte, nachdem sie jahrelang vergeblich ermittelt hatte, den Psychiater Dr. James Brussel um Rat. Er studierte gründlich die Bekennerbriefe, Aufbau und Ablageorte der Sprengsätze und zog daraus Rückschlüsse auf die Motivation und die Persönlichkeit des Unbekannten. Brussels Hypothese zufolge handelte es sich um einen Einzelgänger und Pedanten mit psychopathischen Zügen. Der Mann müsse auch Immigrant sein, weil das Englisch der Briefe hölzern klang. Das Profil wurde veröffentlicht und trug dazu bei, dass der Bombenleger gefasst wurde; er hieß George Metesky und war von persönlichen Rachemotiven geleitet. Bei seiner Festnahme stellte sich heraus, dass Brussels Annahmen überwiegend zutrafen. Der Psychologe unterstützte auch in den 1970er Jahren die Polizei bei der Suche nach dem Boston Strangler, der für 13 Morde an älteren Frauen im Großraum Boston verantwortlich war.
Solche Beratungen der Polizei durch Fachwissenschaftler blieben jedoch Einzelfälle. Nicht selten scheiterten die ersten Versuche, sich dem Täter auf psychologischem Wege zu nähern, schlicht daran, dass die Experten zwar klinisches Fachwissen besaßen, aber sehr wenig von polizeilichen Ermittlungen verstanden. Sie wussten also nicht wirklich, was der Polizei weiterhalf und was nicht.
Ende der 1970er Jahre begann sich eine Systematik für Täterprofile zu entwickeln, und zwar in der Behavioral Science Unit des FBI: Die ersten »Profiler« wie die Agenten Teten und Mullany entwickelten Methoden zur Verhaltensbewertung bei ungeklärten Fällen: Was sagte es zum Beispiel über einen Mörder aus, wenn er sein Opfer nachher sorgfältig zudeckte? Oder wenn er es, im Gegenteil, in einer degradierenden Position zurückließ?
Ihre Gedanken wurden von den Special Agents John Douglas und Robert Ressler in den 1980er Jahren weitergeführt. Beide sind durch ihre Bücher später sehr berühmt geworden – und noch mehr durch den Umstand, dass sich der Bestsellerautor Thomas Harris für Das Schweigen der Lämmer aus dem Fundus ihrer bizarrsten Fälle bedienen durfte. Die Verfilmung von 1991CPRPFBI