Mila und die geheime Schule

 

 

 

Für meine Tochter

Kapitel 1 (K)Ein Schattentrick und ein höllischer Freund

Konzentration!

Ich drückte meinen Rücken gegen die Wand neben der schweren Eingangstür. Hier war es am dunkelsten, hier sollte es funktionieren. Ich holte tief Luft und schloss die Augen. Es musste diesmal einfach klappen. Nur noch ein paar Minuten, bis der Frühstücksdienst in der Halle auftauchte, um die Tische zu decken. Und bis dahin wollte ich …

»Mila, was machst du da?«

Ich riss die Augen wieder auf und stammelte: »Oh, Sieben … äh, Frau Silberlocke, meine ich, also …« Ich verstummte.

Die junge Lehrerin schaute mit gerunzelter Stirn von mir auf einen Zettel in ihrer Hand und sagte: »Du bist doch gar nicht zum Frühstücksdienst eingeteilt, oder?«

»I-ich …«, begann ich erneut, als die Silberlocke zusammenzuckte. Ein kleiner schwarzer Flugwirbelwind kam von der großen Drachenstatue auf der gegenüberliegenden Seite der Halle auf uns zugeschossen und hielt schwirrend in der Luft neben mir an. Es war Fleda, eine kleine Flederratte, die ihr Nachtlager hier in der Halle hatte. Na ja, eigentlich sah es nur so aus, als würde Fleda in der Luft stehen – in Wirklichkeit hatte sie sich hingesetzt. Und zwar auf Adriks Schulter. Adrik, der die ganze Zeit direkt neben mir stand, sich allerdings verborgen hatte.

Adrik war ein Nachtmahr. Und die fabelmagische Fähigkeit von Nachtmahren war es, sich völlig unbemerkt von anderen Lebewesen in Schatten aufzuhalten.

So wie ich es auch vorgehabt hatte.

Schnell trat Adrik aus dem Schatten hervor.

»Huch!« Sieben fasste sich erschrocken ans Herz, stemmte dann beide Hände in die Hüften und musterte uns nachdenklich. »Was soll das, Adrik? Willst du mich zu Tode erschrecken? Wir hatten doch besprochen, dass du deine Fähigkeiten nicht in der Schule einsetzt?!«

Adrik nickte, bis seine schwarzen Haare das Gesicht verdeckten, und murmelte ein leises »Ja«.

»Also, was habt ihr hier zu suchen?« Sieben, die wir so nannten, weil sie sieben Sommersprossen auf der Nase hatte und wir sie so von ihrer Zwillingsschwester unterscheiden konnten (die vierzehn Sommersprossen hatte und ebenfalls Lehrerin hier war), klang ziemlich streng. Ich atmete erleichtert auf, als ein fröhliches »Guten Morgen« hinter uns ertönte.

Laila, gleichzeitig meine Internatszimmergenossin, Klassenkameradin und neue beste Freundin, kam durch die Halle marschiert. »Ix ist heute Morgen ganz unruhig!«, rief sie der Lehrerin entgegen. Sie deutete auf ihren Kopf, auf dem der kleine unsichtbare Drache saß, um den sie sich kümmerte und der Lailas Frisur immer ein wenig wie einen Wischmopp aussehen ließ. »Mila und Adrik haben mir deswegen angeboten, meine Frühstücksschicht zu übernehmen!«

Ich nickte Laila dankbar zu, obwohl kein Wort davon stimmte. Aber Sieben schien zufrieden, und mit einem letzten nachdenklichen Blick Richtung Adrik verschwand sie im Gang, der zur Küche führte.

»Also«, fragte Laila sofort. »Was macht ihr wirklich hier?«

Ich seufzte. »Adrik wollte mir noch mal zeigen, wie seine Fabelmagie funktioniert.« Ich seufzte ein zweites Mal. Denn seit ich vor einer Weile herausgefunden hatte, dass ich auch ein Fabelmensch war (glauben konnte ich das eigentlich immer noch nicht), versuchte ich, meine eigene Fabelmagie zu nutzen. Bisher erfolglos. »Aber ich bekomme es einfach nicht hin«, murmelte ich leise.

»Da kommt jemand!« Adrik deutete zur Burgtür, als kurz darauf ein Auto draußen hupte.

Wir warfen uns einen überraschten Blick zu. Wer war das denn? Es war schließlich noch ziemlich früh am Morgen, außerdem war das Burginternat Wiesenfels geheim und für Fremde eigentlich gar nicht auffindbar.

Adrik reagierte als Erster. Er lief zur Tür und machte sie auf.

»Aha, aha«, ertönte es im nächsten Moment hinter uns. Schuldirektorin Frau Abendschön kam herbeigeeilt, und auch die ersten Schüler tauchten nun langsam und zum Teil ziemlich verschlafen auf.

Ein Bellen schallte durch die Tür hinein, und mein Herz machte augenblicklich einen kleinen Freudensalto. Ich erkannte es nämlich.

»Fenni!«, rief ich.

Frau Abendschön hingegen stöhnte leise. »Das hätte ich mir ja denken können. Meine Schwester Agathe kommt gerne zu den seltsamsten Uhrzeiten vorbei. Und noch lieber zu den falschen Terminen.«

»Sie haben sie erwartet?«, rief ich und stürmte in den Burghof.

»Ja, aber erst morgen«, hörte ich Frau Abendschön hinter mir sagen, während Frau Agathe Bernstein gerade aus ihrem winzigen Wagen stieg. Sie öffnete die Heckklappe. Ein Hund sprang heraus und sofort auf mich zu.

»Vorsicht, Mila!« Lailas Stimme klang panisch. »Das ist eine Höllenbestie …« Sie verstummte überrascht, als Fenni vor mir Platz machte, mir die Pfote reichte und glücklich »Wuffwuff« bellte.

»Oh«, hauchte sie und begann zu lachen. »Das ist ja mal wieder typisch. Du und die Fabeltiere!« Trotzdem blieb sie in sicherer Entfernung von uns stehen, genau wie die anderen Wiesenfels-Schüler, die alle ziemlich skeptisch den dunkelbraunen Hund musterten.

Frau Bernstein und Frau Abendschön gesellten sich unterdessen zu uns und begrüßten sich kühl. Ich wusste, dass die beiden sich nicht immer einig waren. Aber als Frau Bernstein mich erkannte, strahlte sie drauflos. »Mila! Hast du dich gut hier eingelebt? Ich wusste sofort, dass du hierhergehörst!«

Ich lächelte sie an, nickte wie wild und kraulte Fennis Schlappohren. Frau Bernstein und ihrem Instinkt hatte ich es zu verdanken, dass ich überhaupt hier in der Fabelschule gelandet war.

»Agathe!«, schnarrte es dicht hinter mir. Herr Ritter, unser Biolehrer, war nun auch aufgetaucht. »Was macht dieser Höllenhund hier? Wir beschützen zwar Fabeltiere, aber solche hochgefährlichen Wesen bedrohen hier alles, wofür wir arbeiten!« Der Lehrer ließ seine Augen über Fenni und mich gleiten und machte sie dann zu Schlitzen, als Adrik auf uns zukam und das Fabeltier ebenfalls zu streicheln begann.

»Es kommt nicht immer auf das Aussehen an! Wie ihr bemerkt, ist Fenni überhaupt nicht gefährlich!«, sagte Frau Bernstein und deutete auf uns.

»Gleich und gleich gesellt sich gern«, zischte Herr Ritter laut genug, dass es alle hören konnten, und ich verdrehte die Augen: Herr Ritter mochte mich nicht. Dabei hatte ich ihm und den anderen Lehrern noch gar nicht davon erzählt, dass ich auch ein Fabelwesen war. Sogar eins, das wie Nachtmahre und Chimären angeblich zu den gefährlichen Fabelwesen zählte: Ich war eine Gestaltwandlerin.

Oder so was in der Art jedenfalls.

Und ich wusste es besser. Von uns war ganz bestimmt niemand gefährlich. Oder sogar böse. Wir waren nur einfach fabelmagisch! Einige mehr – und andere so ziemlich gar nicht! Mit einem unterdrückten Stöhnen dachte ich daran, dass ich es heute mal wieder nicht geschafft hatte, Adriks Schatten-Versteck-Fähigkeit zu bewältigen. Denn die Fähigkeiten von anderen Fabelwesen, genauso wie ihr Erscheinungsbild, zu übernehmen, das war doch etwas, was eine Gestaltwandlerin (also ich!) eigentlich können müsste.

Sollte.

Oder?

Aber was wusste ich schon? Viel zu wenig!

Nur eines war mir klar. Nämlich, dass ein Höllenhund für die meisten Betrachter zwar aussah wie eine fiese Bestie, mit langen Zähnen und feuerroten, flammenden Augen. Aber ich – und anscheinend auch Adrik – sahen nur einen fluffigen Kuschelhund. Fennis wahres Wesen (laut Frau Bernstein).

»Was führt dich einen ganzen Tag zu früh hierher, Agathe, aha, aha?«, fragte Frau Abendschön ihre Schwester. »Bringst du uns ein neues Fabeltier?«

Frau Bernstein schüttelte den Kopf. »Heute nicht, Schwesterherz. Oder eigentlich doch«, fuhr sie dann fort. »Ich möchte euch Wiesenfelsler bitten, ein paar Tage auf Fenni aufzupassen. Sobald ich deine Lieferung in Amsterdam ins Fabelforscher-Hauptquartier gebracht habe, muss ich nun doch noch Herrn Rabenhut und Frau Sonntag helfen, den Yeti ausfindig zu machen. Sie haben seine Spuren zwar endlich entdeckt, aber er scheint sehr schüchtern zu sein. Und einen Höllenhund mit in den Schnee zu nehmen …« Frau Bernstein hob die Schultern. »Das ist keine gute Idee.«

»Wir passen gut auf ihn auf, Frau Bernstein«, sagte ich sofort und wollte noch fragen, was für eine Lieferung sie denn meinte, als es prompt von Herrn Ritter kam: »Ich denke nicht, dass du das bestimmen kannst, Mila.«

Fenni hatte sich mittlerweile auf den Rücken gelegt, streckte alle viere von sich und ließ sich von Adrik den Bauch kraulen.

»Wie lange bist du weg?«, erkundigte sich Frau Abendschön bei ihrer Schwester.

Herr Ritter stöhnte, und Frau Bernstein lachte erleichtert auf. »Nicht lange, Schwesterherz.«

Und während Frau Abendschön nur ein leises »Aha-aha« seufzte, drehte sich Frau Bernstein um und lief zurück zu ihrem Auto. Sie kramte auf dem Rücksitz herum und hob dann einen Karton heraus. »Ich habe eure Post aus dem Postfach in der Stadt mitgebracht, dann musst du heute nicht mehr los, Dorothea.«

Post! Mein Herz begann zu klopfen. Normalerweise fuhr eine der Lehrkräfte alle paar Tage in den Ort, um die Post zu holen, denn natürlich durfte auch ein Briefträger nichts von der geheimen Schule wissen.

Ich nahm Frau Bernstein den Karton ab. Vielleicht hatte mein Vater endlich geschrieben? Sollte ich endlich Antworten zu meiner (und höchstwahrscheinlich seiner) Fabelhaftigkeit bekommen?

Frau Abendschön verschwand noch einmal in der Burg und kam mit einem Koffer zurück, den sie mit der Hilfe von Herrn Ritter in den Kofferraum hievte.

Frau Bernstein zwinkerte mir zu, streichelte ihren Hund zum Abschied und stieg ein. Als sie davonfuhr, kurbelte sie noch einmal kurz das Fenster herunter und rief: »Ach übrigens, eins der Ellies ist da hinten an der Bushaltestelle unterwegs, nur falls ihr es schon gesucht habt! Ist ganz schön groß geworden!«

Die Ellies waren Fabeltiere, die ein wenig wie Hühner aussahen, aber Fell statt Federn hatten. Es war nichts Ungewöhnliches, dass sie mal allein im Wald herumrannten. Aber besonders groß waren sie nun wirklich nicht, dachte ich, als Frau Bernstein noch mal zum Abschied winkte und davonbrauste.

Kapitel 2 Fabelsport und flammende Augen

»Komisch«, sagte Laila. Sie kam zögerlich näher und beobachtete dabei etwas ängstlich den fröhlichen Höllenhund, deutete mit der Hand aber zur Koppel, die an den Burghof grenzte. »Alle drei Ellies sind doch bei Cleopatra auf der Wiese.« Cleopatra war eine Chimäre – also eines der angeblich so gefährlichen Fabelwesen (laut Herrn Ritter). Ich fand sie genauso niedlich wie Fenni.

»Hmm … Bestimmt ist es zwischenzeitlich einfach nach Hause gekommen«, antwortete ich.

»Oh, guck mal!« Laila hob eine kleine Blechdose und deren Deckel auf, der daneben lag, dort, wo eben noch das Auto geparkt hatte. »Die muss Frau Bernstein verloren haben.« Sie suchte den Boden ab, kickte ein paar Kieselsteine weg und sagte: »Scheint aber nichts drin gewesen zu sein.« Damit reichte sie die beiden Teile Frau Abendschön und machte noch einen vorsichtigen Schritt auf Fenni zu.

»Er ist wirklich lieb, Laila«, ermunterte ich sie.

Laila nickte, streckte ihre Hand aus und berührte zaghaft Fennis Ohr.

»Weißt du, was in dem Koffer drin war?«, fragte ich sie.

Meine Freundin kraulte mittlerweile Fennis Ohr und erwiderte: »Frau Bernstein soll die fabelmagischen Dinge nach Amsterdam ins Fabelforscher-Hauptquartier bringen, du weißt schon, die Greifenkralle, die Pegasusfedern und das Einhornhorn.«

»Ach so«, sagte ich. Nach dem Chaos, das die Dinge hier angerichtet hatten, war das eine ziemlich gute Idee. Immerhin hatte das Greifengift, das selbst nach Jahrzehnten noch an der Kralle haftete, alle Fabelwesen auf Wiesenfels in einen gefährlichen Fabelschlaf versetzt. Das Horn hingegen, das hätte ich gerne behalten. Darin war nämlich noch Einhornstärke – eine Kraft, die mir eine ganze Weile geholfen hatte, dem Gift zu widerstehen (und mir letztendlich überhaupt erst meine Fabelhaftigkeit gezeigt hatte!).

Plötzliche zuckte Laila vor Fenni zurück, als der den Kopf hob und anfing zu knurren.

»He, du Frechdachs!« Ich strich über Fennis Rücken, der sofort mit seinem Schwanz zu wedeln begann und das Knurren sein ließ.

»Was haben wir verpasst?«

Auf den Stufen, die zum Burgeingang führten, standen nun auch die beiden Zwillinge, Frau Amelie und Emilie Silberlocke. Oder eben auch: Sieben und Vierzehn.

Herr Ritter beugte sich zu ihnen und schien sie aufzuklären, während ich begann, die Post zu verteilen. Die meisten Briefe waren an Schüler adressiert und kamen von ihren Familien, ein paar Rechnungen hatten Frau Abendschöns Namen darauf, und ein dicker Umschlag ging an Sieben. Die junge Lehrerin schien sich sichtlich zu freuen, als ich ihr den Brief reichte, und ich biss mir traurig auf die Lippen.

Denn das war alles. Kein Brief für mich. Kein Umschlag, kein Päckchen.

Nichts.

Nicht mal eine Postkarte.

Enttäuscht schmiss ich den leeren Karton in den Papiermüll und ging hinein.

 

»Dein Vater wird bestimmt bald antworten«, versuchte mich Laila zu trösten.

Wir standen mittlerweile in Sportkleidung auf der Koppel (die Ställe waren ausgemistet, das Frühstück aufgegessen, abgeräumt und der Fußboden sauber gefegt), die gleichzeitig als Sportfeld diente, denn auf dem Burggelände gab es weder eine Turnhalle noch einen Sportplatz. »Du hast doch selber gesagt, dass es eine Weile dauern kann, weil er so zurückgezogen im Busch von Australien lebt.«

Ich nickte. »Ich brauche aber endlich Antworten«, murmelte ich. Nur er konnte mir sagen, ob er auch ein Gestaltwandler war und ich wirklich aus einer Fabelfamilie stammte. Das wäre jedenfalls die einzige logische Erklärung für meine neu entdeckte Fähigkeit. Deshalb hatte ich ihm vor einiger Zeit einen Brief geschrieben.

Meine Mutter nämlich glaubte nicht nur nicht an Fabelwesen, sie wusste noch nicht einmal, dass Wiesenfels nicht einfach eine Schule, sondern auch die Schutzstation der letzten Fabelwesen der Welt war.

»Vielleicht solltest du endlich mit Frau Abendschön sprechen«, schlug Laila nicht zum ersten Mal vor.

Wieder nickte ich. Das sollte ich. Das musste ich sogar. Aber irgendwie schob ich das Gespräch immer wieder vor mir her. Denn wenn Frau Abendschön von meinem Geheimnis wusste, dann würde es auch Herr Ritter erfahren. Und ihm vertraute ich nicht.

Der Pfiff einer Trillerpfeife unterbrach meine Gedanken. Sieben, die unsere Sportlehrerin war und wie meist in Jogginghose und Turnschuhen mit grünen Blitzen darauf gekleidet war, winkte uns zu sich.

Gemeinsam mit Adrik, Laila und unseren anderen Mitschülern Janus und Kim stellte ich mich vor sie hin. In diesem Moment segelte auch Freddie in seiner Gleithörnchenform vom Turm herunter und landete gekonnt auf meiner Schulter. Nun war die fünfte Klasse komplett.

»Guten Morgen«, begrüßte ich meinen Freund. »Du hast das Frühstück verpasst.«