Andreas Lebert | Stephan Lebert | Bruno Reichart | Elke Reichart
Herzensangelegenheiten
Bruno Reichart, unsere Mutter und die Geschichte der Herztransplantation
FISCHER E-Books
Andreas Lebert ist seit 2002 Chefredakteur von Brigitte. Er entwickelte das Magazin der Süddeutschen Zeitung, das er bis 1996 leitete, und die Jugendbeilage Jetzt. Außerdem konzipierte er die Leben-Seite der Wochenzeitung Die Zeit. Lebert ist Vater des Schriftstellers Benjamin Lebert.
Stephan Lebert arbeitet – nach Stationen bei der Süddeutschen Zeitung, dem Spiegel und beim Tagesspiegel - als Redakteur bei der Zeit. Er wurde u.a. mit dem Egon-Erwin-Kisch-Preis ausgezeichnet. Zusammen mit seinem Bruder Andreas Lebert veröffentlichte er die Bestseller ›Anleitung zum Männlichsein‹ und ›Der Ernst des Lebens. Und was man dagegen tun muss‹.
Bruno Reichart führte 1981 in der Universitätsklinik in München seine erste Herztransplantation durch. Bis 1984 transplantierte er dort 23 Spenderherzen. 1983 gelang ihm als erstem Arzt in Deutschland eine Herz-Lungen-Transplantation, ein Jahr später folgte Reichart dem Ruf an die Universität Kapstadt. Auf Vorschlag von Christiaan Barnard, dem 1967 erstmals in der Medizingeschichte eine Herztransplantation gelang, übernahm Reichart im September 1984 die Leitung der Chirurgischen Abteilungen für Herz- und Lungenerkrankungen am Groote Schuur Hospital und am Red Cross Children’s Hospital. Im Januar 1990 kehrte Reichart als Ordinarius der Herzchirurgie des Universitätsklinikums München nach Großhadern zurück. Heute, fünfzig Jahre nach der ersten Herztransplantation, arbeitet er immer noch an vorderster Front der Forschung in der Transplantationsmedizin.
Elke Reichart absolvierte die Deutsche Journalistenschule in München, arbeitete bei Tageszeitungen, beim ZDF und als freie Journalistin in Südafrika. Dort heiratete sie 1985 den Herzchirurgen Bruno Reichart. In ihren Tagebüchern berichtet sie über eine Pionierzeit der Herz- und Herz-Lungen-Transplantation vor dem Hintergrund der letzten Tage der Apartheid.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Die Geschichte der Herztransplantation ist auf sehr eigene Art eine Weltgeschichte der Hoffnung. Und obwohl es im Buch auch um Angst und Enttäuschung geht, um Schurken und schwarze Schafe, sind es doch vor allem die Geschichten um die Helden, die Götter in Weiß, die oft Unmenschliches leisten, die wir erzählen wollen. Denn in jeder Sekunde dreht es sich bei ihnen um Leben und Tod, um Menschlichkeit und den Sinn unseres Daseins an sich. Die Geschichte der Herztransplantation hat aber auch für die Autoren einen ganz persönlichen Aspekt: ihre Mutter lag im Sterben und wurde durch eine Herztransplantation, durchgeführt von Bruno Reichart, zurück ins Leben geholt.
Erschienen bei FISCHER E-Books
© 2017 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: kreuzerdesign, Agentur für Konzeption und Gestaltung
Coverabbildung: shutterstock
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-490471-9
Am 16. Mai 1997 wurde der Journalistin Ursula Lebert das Herz herausgeschnitten und durch ein fremdes Herz ersetzt.
Der Mann, der diese Operation ausführte, war der Herzchirurg Bruno Reichart.
Dieses Buch verwebt die Geschichte dieser Operation mit der Geschichte des großen Unternehmens der Medizin: der Herztransplantation.
Lilien durften nicht in ihre Nähe kommen. Dabei mochte sie Blumen. Alle, alle anderen. Sie hatte ein Herz für Blumen. Gerade für die, die schon leicht angewelkt waren. Sie kaufte sie im Laden, schnitt sie zu Hause in langen Streifen an, stellte sie in warmes Wasser, das sie dauernd wechselte. Und wenn es Nacht wurde, kamen die Blumen vor die Tür auf die Terrasse, wegen der frischen Luft. Sie sollten es noch mal gut haben an ihrem Lebensende.
Wir brachten ihr Blumen mit, wenn wir sie besuchten, immer, obwohl ihr Garten voll davon war. Und sie sagte noch Tage später am Ende eines Telefonats: »Deine Blumen sind schön.«
Nur Lilien waren ausgeschlossen. Das tat ihr leid – für die Lilien. Aber der Duft von Lilien beamte sie zurück ins Wohnzimmer ihrer Eltern, wo plötzlich ihr Vater durch die Tür kam und vor dem vierzehnjährigen Mädchen stehen blieb. Alles an ihm war rot, und er weinte, und er trug etwas Rotes in seinem Arm. Sie brauchte eine Weile, bis sie erkannte, was das war, bis sie in all dem Rot den blonden Haarschopf ihres Bruders sah. So hat sie es uns oft erzählt.
Es war ein Tag im Mai, im Mai 1945, ein strahlender Tag, das betonte sie immer. Blauer Himmel. Der große Krieg war vorüber, die Erleichterung war überall zu spüren, Lebensfreude breitete sich aus. Die Kinder spielten wieder auf der Straße. Auch ihr Bruder Albert, zehn Jahre alt.
Die Büchse, die ihm und seinem Vater als Ball zum Fußballspielen diente, war eine Handgranate. Als sie bei Albert am Fuß war, explodierte sie und riss ihn in Stücke. Der Vater hob auf, was von seinem Sohn übrig war, und trug es ins Haus. Über die Terrasse durch die offene Glastür, direkt ins Wohnzimmer, wo seine Tochter auf einem Sessel saß und ein Buch las. Neben ihr, auf einer Anrichte, stand eine Vase mit einem großen Strauß weißer Lilien.
Zweiundfünfzig Jahre später, wieder im Mai, wieder herrliches Wetter, lag sie in einem Bett im Klinikum Großhadern in München. Ursula Lebert, Journalistin, Witwe, Mutter von zwei Söhnen. In der Nacht zum Pfingstsamstag war ihr Brustkorb der Länge nach aufgesägt und ihr Herz herausgeschnitten worden. Der berühmte Herzchirurg Bruno Reichart hatte das erledigt. Und er hatte ihr ein anderes Herz eingesetzt, mit ihren eigenen Adern, Sehnen und Nerven verbunden, die Blutungen gestillt, den Brustkorb wieder geschlossen, die Haut zugenäht. Die ersten Tage in der Intensivstation an tausend Kabeln und Schläuchen im künstlichen Koma waren jetzt vorbei. Sie war wach, jedenfalls immer wieder mal, aber sie konnte noch nicht sprechen. Wenn man an ihrem Bett saß, erklärte man den fragenden Augen, was die Ärzte sagten. Dass zu Hause, in ihrem Häuschen im Süden Münchens, gerade die Handwerker anrückten, um die Teppichböden herauszureißen und durch Holzböden zu ersetzen, wegen der Keime. Bei Herztransplantierten muss das Immunsystem unterdrückt werden, damit es das fremde Herz nicht abstößt. Besonders in der ersten Zeit kann die kleinste Infektion lebensgefährlich sein. Auch die Zimmerpflanzen und Blumentöpfe waren deshalb problematisch. Aber das war leicht zu lösen: Die Erde in den Töpfen musste raus und durch braune Kügelchen ersetzt werden, aus denen eine Art Thermometer ragte. Nicht leicht zu lösen war ein anderes Keime-Problem: Paul, ihr Hund. Herzchirurg Reichart hatte sich sehr klar ausgedrückt: Der Hund muss weg. Wenn wir am Bett unserer Mutter saßen, vermieden wir dieses Thema. Denn das war ebenso klar: Niemals würde sie zustimmen, den Hund wegzugeben. Paul wartete beim Nachbarn.
Zwei entschiedene Meinungen steuerten aufeinander zu, so wie zuvor die zwei Leben aufeinander zugesteuert waren. Der Arzt und sein Wissen, das er in Südafrika und Amerika erworben hatte, ein Pionier der Herztransplantation, besessen davon, Menschen zu retten, der Experte des Muskels, den Menschen zum Leben brauchen. Und die Journalistin, die auf der ganzen Welt Menschen beobachtet und begleitet und über sie geschrieben hatte, Hausfrauen und Politiker, Schauspielerinnen und Mörder, getrieben von der Neugier, Beziehungen zu verstehen, Gefühle auszuleuchten, die Expertin des Schicksals.
Ihr Blick war in diesen Tagen oft in die Ferne gerichtet, in eine innere Ferne, wenn es so etwas gibt. Aus heutiger Sicht waren das ruhige Tage. Man konnte ihr vorlesen, dann senkten sich die Augenlider zustimmend. Aber in der Rückschau zeigt sich manches anders. Die Angst damals, die große Angst, ob das alles gutgehen wird, ist heute verblasst.
Nur einmal war der Blick beim Eintreffen am Bett panisch, die dunklen Augen in dem blassen Gesicht flehten.
Was war los? Sollte der Arzt kommen? Die Schwester? Hatte sie Schmerzen? Die Augen rollten hin und her.
Minutenlange Ratlosigkeit, dann die Antwort: Auf der Fensterbank im Rücken des Besucherstuhls stand eine Vase mit einem Blumenstrauß. Jemand hatte ihr eine Freude machen wollen – und weiße Lilien gebracht.
Wie wichtig ist die Seele, Herr Reichart, wenn man einem Menschen sein Herz herausnimmt?
»Enorm wichtig ist die Psyche eines Kranken. Deshalb haben wir auch das psychiatrische Gutachten, bevor wir einen Patienten für geeignet erklären. Nur ein Mensch, der leben will, der das Leben liebt, kann eine solche Operation überstehen. Wenn die Seele schon müde ist, geht das nicht.«
Wir haben Bruno Reichart damals oft gesprochen. Meistens ging es um Notlagen. Wir fragten: Wird sie die Nacht überleben? Oder: Kann man etwas gegen ihre Schmerzen tun?
Als Söhne machten wir uns Sorgen, aber wahrscheinlich noch wichtiger war: Wir suchten seine Nähe, um uns zu beruhigen.
Es war immer gut, mit ihm zu sprechen. Man musste nie viel erklären. Er war immer voll informiert, manchmal kam er gerade vom Krankenbett unserer Mutter. Ja, sie wird überleben, natürlich, sagte er. Und ja, ich kümmere mich.
Als Bruno Reichart jetzt anrief, Jahre später, hatte er eine Frage: »Es gibt bald ein Jubiläum in Sachen Herztransplantation, das ist eine große Sache. Habt ihr Lust, mit mir ein Buch zu schreiben?«
Lust? Vielleicht ist Schicksal das bessere Wort. Bruno Reichart ist der Mann, der unserer Mutter das Herz herausgeschnitten hat.
Seine Frage löste eine Kette von Gefühlen aus, holte ein Bündel von Erinnerungen hervor, verwahrt in tiefen Schubladen des Bewusstseins, verschnürt wie wichtige Briefe aus einem anderen Leben. Die Nächte in den Kliniken, die Geräusche der Geräte, die Gerüche der Chemikalien – wollen wir das alles zurückholen in unser Leben? Die Momente der Hilflosigkeit, die Momente des Glücks, das ganze Abenteuer – alles noch mal?
Über die eigene Mutter schreiben? Will man das?
Über die eigene Angst schreiben? Will man das?
Bruno Reichart ist der Mann, der unserer Mutter ein neues Leben schenkte. Dankbarkeit ist sicher kein schlechter Grund, ein Buch zu schreiben. Aber in unserem Fall gab es noch einen zwingenden Grund: Wer Bruno Reichart ein bisschen kennt, weiß, dass es wenig Sinn macht, ihn von einer Idee abzubringen, die er sich in den Kopf gesetzt hat.
Das erste Arbeitstreffen beginnt mit einer Irritation. Es findet in seinem Haus in Leutstetten statt, das ist in der Nähe von Starnberg, dort wo die deutsche Welt am schönsten ist, und am teuersten. Ein blau-weiß gestrichenes Haus, verwinkelt, mit Anbau im Garten. Im ersten Stock des Hauses, eine schmale Treppe führt nach oben, ist sein Arbeitszimmer. Dort soll das Gespräch über dieses Buch beginnen. Fünfzig Jahre Herztransplantation. Am 3. Dezember 1967 ist zum ersten Mal das Ungeheuerliche passiert: Der Chirurg Christiaan Barnard schneidet dem Patienten Louis Washkansky sein Herz raus und pflanzt ihm ein neues Herz ein – es ist das Herz einer Frau, der fünfundzwanzigjährigen Denise Darvall, die kurz vorher bei einem Autounfall tödlich verunglückt war. Und die Operation gelingt. Washkansky lebt, immerhin achtzehn Tage lang.
Barnard wird zur Legende – und Bruno Reichart wird in Kapstadt sein Nachfolger, von 1984 bis 1990 leitet er die dortige Herz- und Thoraxchirurgie. Darüber wollen wir reden. Also über die Vergangenheit. Das ist der Plan für diese erste Runde. Doch es geht nicht.
Bruno Reichart ist in die Wegmarke der Siebzigjährigen längst eingebogen. Gut sieht er aus, sehr gut, immer noch. Schlank, er wirkt durchtrainiert, und er wirkt nervös, unter Spannung, wie aufgeladen. Die Ruhe finden, die innere Mitte, das ist so gar nicht sein Ding.
Hunderte von Herzen hat Reichart verpflanzt. Tausende von Herzoperationen hat er hinter sich, Tausende von Menschen hat er in kompliziertesten Eingriffen gerettet. Doch davon will er nicht sprechen. Nein, er will von diesen Schweinen erzählen, einer speziellen Schweineart, »lustig sehen sie aus, irgendwie gutgelaunt«. Diese Schweine sind etwas ganz Besonderes, denn sie hatten noch nie Kontakt mit der Zivilisation. Sie tragen keine dieser lästigen Viren in sich, die Bruno Reichart so unendlich nerven. Denn diese Viren befinden sich auch in den Schweineherzen, und wenn er sie einem Affen einpflanzt, machen sie irgendwann Schwierigkeiten.
»Diese Schweine sind der Wahnsinn«, sagt Reichart. »Sie leben auf einer Insel, ganz weit weg. Sie sind virenmäßig völlig rein. Ich will diese Schweine unbedingt haben.« Das Problem ist, die Insel befindet sich in der Nähe von Neuseeland, weit weg von München. Doch was heißt Problem? Bruno Reichart ist nach Neuseeland geflogen, erst vor ein paar Tagen kam er zurück. Vierundzwanzig Stunden Flug nach Auckland, um alles zu besprechen, um alles zu organisieren für die große Expedition. Reichart wird ein Schiff ausrüsten, um diese Insel zu erreichen. Um diese Schweine mitzunehmen, »ich brauche das Erbmaterial dieser Tiere«. Natürlich fährt Reichart mit auf diesem Schiff, »du musst immer dabei sein, wenn du wirklich etwas erreichen willst«.
Man kann sich für einen Moment der Vorstellung nicht entziehen: Bruno Reichart als Kapitän eines Schiffes, auf dem Weg in die Weite des Meeres, auf der Jagd nach einem bestimmten Tier. Wie Captain Ahab im Film »Moby Dick«. Nur geht es bei dieser Expedition nicht um den Wahnsinn, sondern um die Zukunft der Medizin.
Xenotransplantation. In diesem Fall die Transplantation von Schweineherzen in Menschen oder allgemein: in Primaten. Das ist das große Projekt von Bruno Reichart. Es wird gefördert mit Millionen Euro, zunächst vom Bayerischen Staat und später von der Bundesrepublik, genauer: von der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Er ist der Kopf des Projektes. Er hat einen eigenen Raum im Münchner Klinikum Großhadern und Labors in einem Institut daneben, er hat ein eigenes Team zusammengestellt. Die Hochschulen von Hannover und Dresden sind beteiligt, ebenso wie das Robert-Koch-Institut, das Paul-Ehrlich-Institut und das Primatenzentrum in Göttingen.
Nicht nur Ärzte und Tiermediziner sind dabei (Letztere bevorzugen übrigens das Wort »Bioingenieur«, denn »Tiermediziner« klingt ihnen zu sehr nach Gummistiefeln), sondern auch Grundlagenforscher und Virologen. Wichtig sind auch die beiden Ethiker und der Rechtswissenschaftler, denn es gibt Bedenken in der Bevölkerung: Ist das in Ordnung, wenn man einem Menschen ein Schweineherz einsetzt? »Ich nehme die Bedenken ernst. Sie sind Teil dieses Projektes. Wir reagieren darauf und versuchen sie zu entkräften.«
Es wird weltweit an den Möglichkeiten der Xenotransplantation geforscht. Doch die Deutschen sind ganz vornedran. Wenn er nicht Schweine operiert oder Expeditionen organisiert, hält er Vorträge auf internationalen Konferenzen, in denen er über die neuesten Erfahrungen und Ergebnisse berichtet. Reichart sagt: »Wir brauchen noch zwei, drei Jahre. Dann klappt es. Dann könnten wir die Medizin revolutionieren.«
Ein Gespräch mit Bruno Reichart erinnert an die nervöse magnetische Nadel eines Kompasses. Reichart muss die Richtung spüren, wo das Gespräch hinläuft. Und die Richtung muss lauten: Nach vorne, in die Zukunft. Das interessiert ihn. Nur wenn das klar ist, kann er auch zurückblicken. Die Vergangenheit als Motivation für die Zukunft.
Bei diesem ersten Arbeitstreffen ist draußen noch ein bisschen Winter. Auf dem Rasen sind letzte Spuren vom Schnee. Bruno Reichart erzählt, dass er heute am Morgen ganz viele Frühlingsknotenblumen entdeckt hat. Sie sind schon da, obwohl es noch viel zu früh für sie ist. Er lacht. Das gefällt ihm: Eigentlich kann etwas gar nicht sein, aber es ist da.
Als sie dem Chirurgen Reichart das erste Mal an einem Herbsttag 1996 begegnet, hat unsere Mutter keine Zukunft mehr.
»Wie soll ich das schaffen?«, sagt sie angesichts des langen Flurs im Klinikum Großhadern. Ihre Beine sind dick von Wasserablagerungen, in ihrer Lunge ist Wasser, das Atmen fällt ihr schwer. Das viele Wasser ist ein Zeichen für die zu schwache Pumpleistung des Herzens. Einer von uns organisiert einen Rollstuhl. Langer Flur, Fahrstuhl, dritter Stock, wieder langer Flur, ein rotes Sofa, Klopfen an einer Tür: »Wir haben einen Termin bei Professor Reichart.«
Wir sprechen nicht viel, als wir nebeneinander auf dem Sofa sitzend darauf warten, dass sich die Tür gegenüber wieder öffnet. Unsere Mutter hält ihre Handtasche auf den Knien. Sie hat eine Art Videokassette mitgebracht, mit Aufnahmen der Herzkatheter-Untersuchung bei ihrem Kardiologen. Die Kassette befindet sich in ihrer Handtasche.
Jede Woche ist sie in den vergangenen Monaten beim Kardiologen gewesen. In der ersten Zeit fährt sie noch selbst dorthin, mit ihrem kleinen Renault. Zuletzt muss sie gebracht werden, vom Taxi oder von einem von uns. Sie nimmt allerhand Tabletten und Tropfen, die die Herzleistung verbessern oder wenigstens aufrechterhalten sollen. Das Medikament, das ihr das gefährliche Wasser aus dem Körper ziehen soll, heißt Lasix. Manche Begriffe aus dieser Zeit vergisst man nie, vor allem solche, die mit Hoffnung oder Bedrohung verbunden waren.
Terminale Herzinsuffizienz, lautet die Diagnose, Herzmuskelschwäche. Leider unheilbar, aber vielleicht ist wenigstens die Verschlechterung aufhaltbar, das ist die Hoffnung – am Anfang. Unsere Mutter ist damals 65 Jahre alt. Und aufzuhalten ist da nichts mehr, das wird von Woche zu Woche deutlicher.
»Weißt du, was der Arzt gerade zu mir gesagt hat?«, fragt sie einmal auf dem Parkplatz vor der Praxis beim Einsteigen ins Auto. Es ist Sommer, zwei große Buchen spenden Schatten, auf dem Gehweg radelt ein Kind mit einem gelben Dreirad. »Der hat gesagt: Sie brauchen ein neues Herz, Frau Lebert.«
Man muss sich vorstellen, dass dieser Satz sehr langsam in den Organismus der Familie einsickert. Der Arzt hat ihn ja auch nicht mit einer konkreten Möglichkeit verbunden. Er hat nicht gesagt: »Wollen Sie sich das überlegen, dann kann ich die notwendigen Schritte einleiten …« Er hat den Satz mehr als Zustandsbeschreibung gemeint. Um zu erklären, warum seine Maßnahmen nichts bewirkt haben. Es dauert also noch zwei, drei Wochen – und ein paar immer höher dosierte Lasix-Spritzen –, ehe das Wort Herztransplantation die richtige Bedeutung gewinnt. Zur Buchstabierung einer Chance wurde. Der Chance, das Schicksal zu drehen.
Wir Söhne arbeiten damals beide als Journalisten, der eine bei der »Süddeutschen Zeitung« in München, der andere beim »Stern« in Hamburg. Wir waren es gewohnt, dass sich Türen öffneten, wenn die Sekretärinnen dieser Medien irgendwo anriefen. Nicht so im Büro des Professors Bruno Reichart.
Reichart war in München ein prominenter Mediziner, der wie kein anderer für das Thema Herztransplantation stand. Deshalb wandten wir uns an ihn, ohne Erfolg. Nein, keine Aussicht auf einen Termin, no way, nein, auch am Telefon ist der Mann nicht zu sprechen. Schließlich wenigstens ein Telefonat mit seiner persönlichen Assistentin:
»Wissen Sie, der Herr Reichart hat so viel zu tun, die Patienten auf der Station, die Studenten von der Uni, und dann steht er ja jeden Tag so viele Stunden im OP, der hat einfach keine Zeit für Interviews, da kann man nichts machen.«
»Es geht gar nicht um ein Interview. Es geht um eine medizinische Frage, seine Einschätzung als Arzt. Ich möchte mich erkundigen, was meine kranke Mutter noch tun kann.«
»Ach so, um eine Patientin geht es? Ja, dann kann ich Sie gleich durchstellen.«
Das anschließende Gespräch ist kurz und sachlich. Eine der Fragen, die Reichart stellt, ist: »Warum ruft Ihre Mutter nicht selbst an?«
Der Röntgenfilm mit den Aufnahmen vom Herzen ist schwarzweiß. Für den Laien ist darauf ein Pumpen zu erkennen und ein Fließen in Adern, die sich weiß vom dunklen Hintergrund abheben. Der Bildschirm befindet sich an der Wand. Wir schauen ziemlich lange auf den Film, so kommt es uns in der Erinnerung jedenfalls vor. In Wirklichkeit ist es vielleicht nur eine halbe Minute. Das konzentrierte Gesicht des Chirurgen, die bange Stimme der Mutter: »Der Kardiologe sagt, die Adern sind noch ziemlich stark und gut.« Reichart beobachtet schweigend bis zum Ende. »Ja, die Kardiologen …«, sagt er schließlich. »Diese Gefäße sind vergrößert, weil das Herz nicht mehr genug arbeitet.«
Er fragt nach dem Zeitpunkt der Diagnose, nach dem Verlauf und den Medikamenten. Und er will wissen, unter welchen sonstigen Erkrankungen (Diabetes) unsere Mutter leidet, er fragt auch ein paar persönliche Sachen, wo und wie sie lebt. Dass sie noch arbeitet, von zu Hause aus, so gut sie kann, das gefällt ihm. »Ja, Frau Lebert«, sagt er schließlich, »Sie sind eindeutig eine Kandidatin für uns.« Und er erklärt auch gleich, was geschehen muss, möglichst schnell, Zeit ist da nicht zu verlieren, sagt er: ein paar Tage Klinik für alle notwendigen medizinischen Untersuchungen und ein psychiatrisches Gutachten. »Wenn alles passt, kommen Sie auf die Warteliste.« Fester Händedruck, klarer Blick. »Wir sehen uns wieder hier auf der Station G3.«
Rollstuhl, Lift, Flur. Dann im Auto, die geweiteten Augen der Mutter: »Der meint das ernst, oder?«
Unsere ganze Familie hatte 1967 die Nachrichten der ersten Herztransplantation verfolgt, die große Sensation an der Klinik in Kapstadt, das Siegerlächeln des Chirurgen Christiaan Barnard. Inzwischen betrug die Sterberate der Patienten im ersten Jahr nach der Operation nur noch zehn bis zwanzig Prozent. Vom Sterben hatte Reichart eben in seinem Büro nicht gesprochen, das Wort, das er benutzt hat, war »Überlebenschance«.
Welche Rolle spielt die Angst in der Beziehung zwischen Patient und Arzt, Herr Reichart?
»Ein Chirurg muss unbedingt versuchen, seinem Patienten die Angst zu nehmen. Natürlich muss er ihn aufklären über die Risiken, aber er muss vor allem Zuversicht ausstrahlen: Es wird gut, es wird klappen. Ein Chirurg darf seinem Patienten auf keinen Fall irgendwelche Zweifel vermitteln. Es gibt Untersuchungen, die belegen: Wenn ein Patient große Angst vor einer Operation hat, kann das die Heilungschancen mindern. Der Chirurg muss seinem Patienten Zuversicht vermitteln.
Das ist das eine. Der Chirurg selbst aber sollte immer Respekt vor einer Operation haben, sie darf keine Routine sein. Ich hatte manchmal regelrecht Angst vor den großen Eingriffen, das ist immer noch so. Diese Angst lähmt mich allerdings nicht, im Gegenteil: Sie schärft die Sinne, die Reaktionsfähigkeit, sie treibt einen an. Man muss immer vorbereitet in eine Operation gehen. Für große Taten muss man im Kopf schon den Plan B haben und noch den Plan C, wenn mal etwas nicht so läuft wie geplant, etwas, das man nicht erwartet hat. Wenn ein Chirurg denkt, ach, ich bin der Größte, ich mach das dann schon, das ist ganz leicht, dann ist er kein guter Chirurg. Nur wenn du maximal vorbereitet bist, kannst du am Ende maximal entspannt operieren.
Das nennt man antizipierend operieren. Mit dem zunehmenden Operationsverlauf verschwindet die Angst dann komplett. Ein starkes Gefühl.«
Zur Überprüfung, ob unsere Mutter tauglich ist für eine Transplantation oder besser: Um auf die Warteliste für eine Transplantation zu kommen, muss sie eine Woche stationär in die Klinik einrücken. Sie teilt das Zimmer mit einer jungen Frau, die einen Tumor am Herzen hat und auf ihre Operation wartet, und einer achtzigjährigen Dame mit zwei frisch gelegten Bypässen. Die meiste Zeit muss sie nüchtern sein für ihr tagfüllendes Programm: Magen-Darm-Spiegelung (nicht so unangenehm wie befürchtet), Rechtsherzkatheter (unangenehm, weil der Katheter in die Lungenarterie geschoben wird, um die Druckverhältnisse zu testen), verschiedene Lungenfunktionsprüfungen, Sonographie von Ober- und Unterbauch, Carotis-Doppler, alles harmlos wie auch Dauer-EKG und Blutdruckmessung, Thorax-Röntgen, Vorstellungen beim Zahnarzt, beim HNO-Arzt, beim Gynäkologen. »Mags Pumperl nimmer?«, hat sie der Gynäkologe gefragt, als sie auf den Stuhl kletterte. Sie lacht, als sie uns das erzählt. »Bisschen lachen zur Abwechslung tut gut«, sagt sie, »schließlich sind wir in Bayern.«
Nebenerkrankungen und nicht erkannte Infektionsherde können gegen eine Transplantation sprechen, deshalb die ganzen Untersuchungen. Bis jetzt ist bei unserer Mutter alles okay. Auch der Gynäkologe schreibt ins Formular: »Kein Einwand gegen HTX.« HTX ist das klinische Kürzel für Herztransplantation.
Für das psychiatrische Gutachten erklärt sie einem Professor der Universitätsnervenklinik und sechs anwesenden Studenten, warum sie sich für die Operation entschieden hat und dass sie von ihrem Entschluss nach wie vor überzeugt ist: »Ich will nicht sterben.«
Sie kommt auf die Warteliste. Ihre Daten werden bei »Eurotransplant« gespeichert, einer übergeordneten Organisation in den Niederlanden. Dorthin werden auch die Daten der Organspender gemeldet. Der Computer ermittelt, wer zu wem passt. Unsere Mutter hat die Blutgruppe Null, das ist die häufigste Blutgruppe. Ein kleiner Pluspunkt.
Die Geschichte der Herztransplantation, Teil 1
Die erste Herztransplantation ist nicht nur die Geschichte einer medizinischen Großtat. Es ist auch die Geschichte von vier Männern, verbunden durch die Pionierzeit der Herzchirurgie, jeder von ihnen getrieben von einem ausgeprägten Ehrgeiz: Norman Shumway, Richard Lower, Adrian Kantrowitz und Christiaan Barnard. Jeder von ihnen wollte der Erste sein, dem die Verpflanzung eines Spenderherzens in einen Menschen gelingt, jeder wollte seinen todkranken Patienten helfen – jeder wollte sich aber auch den Ruhm, den Lohn und den Eintrag in die ewigen Annalen der Medizingeschichte verdienen. Jeder war bereit, dafür einen Tabubruch zu begehen: das Herz, das seit Menschengedenken als Sitz der Seele angesehen wurde, zu verpflanzen. Gemeinsam war diesen Männern eine gewisse Art von Brutalität. Anderen, aber auch sich selbst gegenüber.
Vier Männer, drei in Amerika, einer in Südafrika. Und eine Geschichte, der es an nichts mangelt: nicht an wissenschaftlichen Sensationen, ohne die die damals undenkbare Herztransplantation nicht möglich gewesen wäre, nicht an Emotionen, nicht an tragischen Momenten und überraschenderweise auch nicht an Humor.
Es gibt eine frühe Phase der Herztransplantation, von der hier nur kurz die Rede sein soll. Der Amerikaner Alexis Carell (1873 bis 1944) und der Franzose Charles Claude Guthrie (1880 bis 1963) verpflanzten 1905