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Impressum

Die Originalausgabe erschien 1967 unter dem Titel «The Crying of Lot 49» im Verlag Jonathan Cape, New York.

 

Redaktion Elfriede Jelinek

 

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, August 2015

Die deutsche Erstausgabe erschien 1973 im Rowohlt Taschenbuch Verlag in der Reihe «das neue buch»

Copyright © 1973 by Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

«The Crying of Lot 49» Copyright © 1965, 1966 by Thomas Pynchon

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Umschlaggestaltung any.way, Walter Hellmann

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Konvertierung epublius GmbH, Berlin

ISBN Printausgabe 978-3-499-13550-7 (12. Auflage 2011)

ISBN E-Book 978-3-644-54491-8

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-54491-8

1

AN EINEM SOMMERNACHMITTAG KAM MRS. OEDIPA Maas von einer Tupperware-Party, deren Gastgeberin vielleicht allzuviel Kirsch in das Fondue getan hatte, nach Hause und bemerkte, daß sie, Oedipa, zum Testamentsvollzieher oder, wie sie annahm, zur Testamentsvollzieherin des Vermögens eines gewissen Pierce Inverarity eingesetzt worden war, der wieder war Großgrundbesitzer in Kalifornien gewesen, hatte mal in seiner Freizeit zwei Millionen Dollar verloren, aber auf vielen und verschlungenen Wegen immer noch genügend Aktiva flüssig machen können, um aus diesem Schlamassel mehr als blütenweiß wieder herauszusteigen. Oedipa stand im Wohnzimmer, das grünliche tote Auge des Fernsehers starrte sie an, während sie laut den Namen Gottes vor sich hin sagte und versuchte, sich so besoffen wie möglich zu fühlen. Aber das nützte ihr gar nichts. Sie dachte an ein Hotelzimmer in Mazatlán, dessen Tür gerade, wie es schien, für immer zugeworfen worden war, der Krach war so laut, daß unten in der Halle 200 Typen davon aufwachten, sie dachte gleich weiter: an einen Sonnenaufgang über dem Bibliothekshügel der Cornell University, den kein Mensch je dort gesehen hat, weil das nämlich ein Westhang ist, sie dachte an eine lapidare, trostlose Melodie aus dem vierten Satz des Orchesterkonzerts von Bartók, an eine weißgekalkte Büste von Jay Gould, die Pierce über dem Bett stehen hatte, auf einem Brett, das so schmal war, daß sie in ständiger Angst lebte, sie würden das Ding noch mal auf den Kopf kriegen. War er vielleicht doch noch so gestorben, fragte sie sich, mitten in seinen Träumen von der einzigen Skulptur im ganzen Haus erschlagen? Aber das alles führte nur dazu, daß sie unbeherrscht losprustete mit einem schallenden und doch hilflosen Gelächter: Du bist ja so kaputt, Oedipa, sagte sie zu sich selbst oder auch zum Zimmer, das aber ohnehin Bescheid wußte.

Der Brief kam von dem Anwaltsbüro Warpe, Wistfull, Kubitschek und McMingus, alle Los Angeles, und war von irgendeinem, der Metzger hieß, unterschrieben. Es stand drin, daß Pierce im vergangenen Frühjahr gestorben wäre, daß man aber das Testament erst jetzt gefunden hätte. Metzger sollte als Co-Testamentsvollzieher fungieren und ihr spezieller Berater sein für den Fall, daß es in dieser Sache zu einem Rechtsstreit kommen sollte. Außerdem gab es eine Klausel, die aus dem Vorjahr stammte und Oedipa ausdrücklich als Vollstreckerin dieses Letzten Willens bezeichnete. Sie versuchte zurückzudenken, ob zu dieser Zeit irgend etwas Ungewöhnliches vorgefallen war. Und so ging das für den Rest des Nachmittags weiter, die ganze Zeit, während sie unterwegs war zum Markt in der Innenstadt von Kinneret-Among-The-Pines, um Ziegenkäse zu kaufen und sich die Muzak anzuhören (heute kam sie in dem Augenblick durch den mit Perlenschnüren verhängten Eingang, als das Kindergequäkkonzert von Vivaldi in der Variorum-Aufnahme des Fort Wayne Settecento-Ensembles, Solist: Boyd Beaver, etwa bei Takt vier angelangt war), und weiter dann, in der Sonne, als sie im Kräutergarten ihr Majoran und Basilikum pflückte, und danach, noch später, als sie schon die Buchbesprechungen im letzten Scientific American durchlas, und dann, mitten hinein, während sie eine Lasagne schichtete, ein Brot mit Knoblauchbutter bestrich, Salatblätter kleinzupfte und schließlich (die Ofenröhre war heiß) die üblichen Nachmittags-Whiskey-Sauers mixte, mit denen sie ihren Mann Wendell («Mucho») Maas, der gleich von der Arbeit zurückkommen würde, begrüßte – während all dem fragte und fragte sie sich die ganze Zeit, während sie die Tage durchblätterte wie eine Handvoll Karten, die alle mehr oder weniger miteinander identisch zu sein schienen (und sie wäre die letzte, die das nicht zugeben würde) oder die alle zumindest in eine bestimmte Richtung zu weisen scheinen, so wie der Partner beim Falschspiel mit seinem geübten Auge die besondere Karte im Blatt auf den ersten Blick entdeckt. Es dauerte immerhin die halbe Huntley & Brinkley Show lang, bis ihr endlich dieses Ferngespräch einfiel, das voriges Jahr eines Morgens so um drei durchgekommen war, woher, das würde sie nun wohl nie mehr in Erfahrung bringen (es sei denn, er hätte ein Tagebuch hinterlassen), gemeldet hatte sich damals einer, der sich als Zweiter Sekretär des Transsilvanischen Konsulats vorgestellt und mit zum Schneiden dickem slawischem Akzent nach einer entflogenen Fledermaus gefragt hatte; dann kamen noch andere Modulationen, zuerst ein komisch nachgeäffter Neger-Slang, der sich in einen feindseligen Pachuco-Dialekt voller chingas und maricones verwandelte, dann ein Gestapo-Offizier, der sie im Kasernenhofton fragte, ob sie Verwandte in Deutschland habe, und schließlich hörte sie die vertraute Lamont Cranston-Stimme, mit der er die ganze Zeit auf der Fahrt nach Mazatlán geredet hatte. «Pierce, bitte», endlich gelang es ihr, zu Wort zu kommen, «ich dachte, wir hätten …»

«Aber Margo», ernsthaft, «ich komme grade von Kommissar Westen, dieser alte Mann in diesem Puff wurde mit derselben Schrotflinte ermordet, mit der Professor Quackenbusch umgebracht worden ist», oder irgendwas Ähnliches.

«Um Gottes willen», sagte sie. Mucho hatte sich auf die Seite gewälzt und sah sie an.

«Wenn er’s ist, leg doch einfach auf», schlug Mucho zartfühlend vor.

«Das habe ich genau mitgekriegt», sagte Pierce. «Ich glaube, es wird langsam Zeit, daß Der Schatten Herrn Wendell Maas mal einen kleinen Besuch abstattet.» Schweigen, hartnäckiges, anhaltendes Schweigen. Das war also die letzte seiner Stimmen gewesen, die sie gehört hatte. Lamont Cranston. Dieses Ferngespräch hätte genausogut in jede andere Richtung gehen und viel länger oder viel kürzer sein können. Gerade seine verhaltene Vieldeutigkeit zwang sie im Laufe der folgenden Monate dazu, vieles wieder zum Leben zu erwecken: Erinnerungen an sein Gesicht, seinen Körper, an Dinge, die er ihr geschenkt hatte, Dinge, die er gesagt und bei denen sie sich taub gestellt hatte. Damit beschäftigte sie sich, mehr als mit ihm selbst, so lange, bis er fast vergessen war. Der Schatten hatte ein Jahr gewartet, bis er endlich seinen Besuch abstattete. Und jetzt war er da, dieser Brief von Metzger. Hatte denn Pierce deshalb voriges Jahr angerufen, um ihr von dieser Klausel zu seinem Testament zu erzählen? Oder hatte er sich überhaupt erst später zu diesem Zusatz entschlossen, weil sie am Telefon so verärgert und Mucho so uninteressiert gewesen war? Sie kam sich bloßgestellt vor, ausgetrickst, richtig reingelegt. Sie hatte noch nie in ihrem Leben ein Testament vollstreckt, wußte nicht, wo sie anfangen sollte, hatte keine Ahnung, wie sie dem Anwaltsbüro in L. A. sagen sollte, daß sie nicht wußte, wo sie anfangen sollte.

«Mucho, Baby», rief sie in einem Anfall von Hilflosigkeit.

Mucho Maas, endlich daheim, war mit einem Satz durch die Schiebetür im Zimmer. «Heute der Tag war wieder eine Niederlage», begann er.

«Laß dir erzählen», begann sie gleichzeitig, ließ Mucho dann aber doch den Vortritt.

Er war Diskjockey, der weiter draußen auf der Halbinsel arbeitete und durch seinen Beruf regelmäßig in Gewissenskonflikte gestürzt wurde. «Ich glaube an gar nichts mehr in dem Laden, Oed», war der Schluß, zu dem er gewöhnlich kam. «Ich versuch’s ja, aber ich kann’s einfach nicht», das kam dann, wenn er ganz unten war, tiefer vielleicht, als daß sie ihn noch erreichen konnte, so daß er sie in solchen Augenblicken oft an den Rand einer Panik trieb. Möglicherweise war es ihr Anblick, wenn sie drauf und dran war, die Nerven zu verlieren, der ihn wieder auf die Beine brachte.

«Du bist zu sensibel.» Ja, und außerdem hätte sie noch eine ganze Menge mehr sagen sollen, aber das war alles, was sie rausbrachte. Immerhin stimmte es. Ein paar Jahre war er Gebrauchtwagenhändler gewesen, und der Bedeutung, die dieser Beruf erlangt hatte, war er sich so überbewußt, daß er seine Arbeitsstunden als raffinierte Folter empfand. Jeden Morgen rasierte sich Mucho die Oberlippe, dreimal normal und dreimal gegen den Strich, um auch den leisesten Anflug eines Schnurrbarts sofort auszurotten, wobei er sich mit den neuen Klingen jedesmal bis aufs Blut schnitt, aber er hielt daran fest; er kaufte nur Anzüge ohne Schulterpolster, die er sofort zum Schneider trug, um sich die extrem schmalen Revers noch schmäler machen zu lassen, er benutzte für sein Haar nur Wasser und kämmte es wie Jack Lemmon, um es mit dem berühmten Ruck noch weiter aus der Stirn schleudern zu können. Der Anblick von Sägemehl, ja schon von Bleistiftschnipseln ließ ihn zusammenzucken, war doch gerade seine Branche dafür berüchtigt, daß sie kranke Getriebe damit behandelte, und obgleich er diät lebte, hatte er immer noch einen Horror davor, wie Oedipa Honig zum Süßen des Kaffees zu nehmen, denn der irritierte ihn wie alles Zähflüssige und erinnerte ihn allzu peinlich an das Zeug, das in betrügerischer Absicht oft ins Motoröl gemixt wird, damit es in den ausgewetzten Zwischenraum zwischen Kolben und Zylinderwand sickert. Eines Abends rannte er von einer Party weg, weil irgendwer das Wort creampuff benutzt hatte, was sich irgendwie bösartig anhörte. Es war nur ein aus Ungarn geflüchteter Konditor gewesen, der fachsimpelte, aber da haben wir unseren Mucho: eben dünnhäutig.

Doch an die Autos hatte er wenigstens geglaubt. Vielleicht bis zum Exzeß: Wie hätte er auch anders können, wenn er dauernd solche Leute ankommen sah, ärmer als er selbst, Neger, Mexikaner, heruntergekommene weiße Schlucker vom Lande, eine niemals abreißende Parade, alle sieben Tage der Woche lang, und alle brachten sie die gottserbärmlichsten Tauschobjekte an, die man sich nur denken konnte: motorisierte, metallene Auswüchse ihrer Leiber, ihrer Familien, ihres ganzen Lebens wahrscheinlich, da stand es, nackt vor aller Augen zur Besichtigung, ein Fremder wie er selbst, mit verbogenem Fahrgestell, durchgerosteten Bodenblechen, einem nachgespritzten Kotflügel, in der Schattierung nur einen Hauch anders als das übrige, aber immerhin anders genug, um den Preis, wenn nicht gar Mucho selbst, betrüblich hinunterzudrücken, im Innern stank es hoffnungslos nach Kindern, nach Supermarkt-Schnaps, nach zwei, manchmal drei Generationen von Zigarettenrauchern oder einfach nur nach Staub – und wenn die Wagen dann ausgeräumt waren, mußte man sich ansehen, was von diesen Menschen nun tatsächlich übriggeblieben war, und dabei konnte man unmöglich sagen, welche Dinge sie absichtlich hatten loswerden wollen (er nahm nicht an, daß sich viele deshalb nochmals auf den Weg machen würden, dennoch mußte man das ganze Zeug an sich nehmen und aufbewahren) und welche sie einfach (vielleicht mit tragischen Folgen) nur verloren hatten: ausgeschnittene Coupons, die Einsparungen von 5 oder 10 Cents versprachen, Rabattmarken, Reklamezettel mit der Verheißung von Sonderangeboten, Zigarettenkippen, Kämme mit ausgebrochenen Zinken, Stellenangebote, aus dem Branchenverzeichnis herausgerissene Seiten, Fetzen alter Unterwäsche, benutzte Monatsbinden zum Abwischen der vom eigenen Atem innen beschlagenen Windschutzscheibe, um, was es auch gewesen sein mochte, sehen zu können, einen Film, eine Frau oder ein Auto, auf das man scharf war, oder einen Polizisten, der einen heranwinken konnte, bloß um einem mal auf den Zahn zu fühlen, all das Zeugs und Gelump, wie ein Salat aus Verzweiflung, mariniert in grauer Aschensoße; im Niederschlag von Ausdünstungen, Auspuffgasen, Abfall, Körperausscheidungen – es machte ihn krank, das zu sehen, aber er mußte es sehen. Wenn es ein regelrechter Schrottplatz gewesen wäre, hätte er die Sache wahrscheinlich durchstehen und Karriere machen können: die Gewalt, die an jedem Autowrack schuld hatte, war doch so relativ selten, lag ihm so fern, daß ihr doch irgendwie etwas Wunderbares anhaftete, wie jedem Tod, bis zum Augenblick unseres eigenen, etwas Wunderbares anhaftet. Aber diese endlosen Tauschrituale, Woche für Woche, gingen nie so weit, daß es zu Gewalt oder Blut kam, und so waren sie allzu plausibel für den feinfühligen Mucho, als daß er sie auf die Dauer hätte aushalten können. Zwar war er dieser ewig gleichbleibenden grauen Krankheit lange genug ausgesetzt, um eine gewisse Immunität dagegen entwickeln zu können, aber es gelang ihm bis zum Schluß nicht zu akzeptieren, wie jeder Besitzer, jeder Schatten, sich in die Reihe seiner Vorgänger stellte, nur um eine verbeulte, schlecht funktionierende Version seiner selbst für eine andere, mindestens genauso zukunftslose automobile Projektion irgendeines anderen Lebens dafür einzutauschen. Als wäre es die natürlichste Sache von der Welt. Für Mucho war es grauenhaft. Endloser, nach rückwärts gewandter Inzest.

Oedipa konnte nicht verstehen, wie er sich darüber selbst jetzt noch so aufregen konnte. Als er sie heiratete, war er zwei Jahre bei dem Sender KCUF, und der Laden an der donnernden Verkehrsader lag schon lange hinter ihm, wie für ältere Ehemänner der Zweite Weltkrieg oder der Korea-Krieg. Vielleicht, Gott verzeih ihr, aber vielleicht hätte er einen Krieg mitmachen sollen, mit Japsen in den Bäumen, Krauts in Tigerpanzern, Schlitzaugen mit Trompetenstößen in der Nacht, dann hätte er vielleicht schneller vergessen, was es auch immer gewesen sein mochte, das ihn an dem Autohof so alarmierend beunruhigt hatte, daß es ihn immer noch nicht losließ, und das nun schon seit fünf Jahren. Seit fünf Jahren. Man tröstet sie, wenn sie schweißnaß aufwachen oder aus bösen Träumen schreiend hochschrecken, ja, man hält sie fest, sie beruhigen sich, und eines Tages verlieren sie es doch noch: das wußte sie. Aber wann würde Mucho vergessen? Sie hatte den Verdacht, daß der Job als Diskjockey (den er durch seinen Freund, den Leiter der Werbesendungen bei KCUF, gekriegt hatte, der einmal die Woche auf den Autohof gekommen war, weil Mucho seine Gebrauchtwagenangebote über den Sender durchsagen ließ) für ihn nur dazu da war, daß all die 200 Top-hits und sogar die Lokalnachrichten, die klappernd aus der Maschine kamen – der ganze trügerische Traum der Teenagergelüste –, nur dazu dienten, sich als Puffer zwischen Mucho und diesen Autohof zu schieben.

An den Autohof hatte er zu sehr geglaubt, an den Sender glaubte er überhaupt nicht. Und doch, wenn man ihn jetzt so sah in der Abenddämmerung des Wohnzimmers, wie er, getragen von einem Aufwind mit ausgebreiteten Schwingen wie ein großer Vogel, auf das beschlagene Glas Whiskey zuglitt, lächelnd im lautlosen Zentrum seines Wirbels, konnte man denken, alles sei völlig ruhig, golden, heiter.

Bis er den Mund aufmachte. «Heute hat Funch mich reingerufen», erzählte er ihr und goß sich nach, «wollte mit mir über mein Image reden, das er nicht mag.» Funch war nämlich der Programmdirektor und Muchos großer Feind. «Jetzt bin ich ihm zu scharf. Was ich sein soll, ist mehr ein junger Vater, ein großer Bruder. Diese kleinen Mädchen rufen doch dauernd an mit ihren Wünschen, und für Funchs Ohren spricht aus jedem Wort, das ich sage, die nackte Geilheit. Ich soll also jetzt alles, was übers Telefon reinkommt, vorher auf Band nehmen, und Funch höchstpersönlich will rausschneiden, was er unanständig findet. Das heißt für mich natürlich, daß es überhaupt kein Gespräch mehr gibt. ‹Zensur›, hab ich ihm gesagt, ‹Spitzel›, hab ich ihn angebrüllt und bin abgehaun.» Solche Szenen lieferten er und Funch sich vielleicht jede Woche einmal mit bemerkenswerter Routine.

Sie zeigte ihm den Brief von Metzger. Mucho kannte die ganze Geschichte mit ihr und Pierce: Ein Jahr bevor Mucho sie heiratete, hatte es zwischen den beiden aufgehört. Er las den Brief und wich mit geziert schüchternem Wimperngeklimper zurück.

«Was soll ich machen?» sagte sie.

«O ja», sagte Mucho, «da bist du aber genau an den Richtigen gekommen. Ich! Ich kann nicht mal unsere Einkommensteuererklärung richtig ausfüllen. Testamentsvollstreckung is nich! Frag doch Roseman.» Das war ihr Anwalt.

«Mucho. Wendell. Es war vorbei. Bevor er meinen Namen darauf setzte.»

«Ja, ja. Ich hab doch gar nichts gesagt. Ich kann das bloß nicht.»

Am nächsten Morgen suchte sie als erstes Roseman auf, das heißt nachdem sie eine halbe Stunde vor ihrem Eitelkeitsspiegel damit verbracht hatte, wieder und wieder auf ihre Augenlider dunkle Striche zu malen, die ihr jedesmal mißlangen, weil entweder ihre Hand zu zittrig war oder das Lid zu heftig zuckte, bevor sie den Pinsel wegnehmen konnte. Sie hatte fast die ganze Nacht nicht mehr schlafen können, nachdem gegen drei Uhr morgens wieder wie damals das Telefon gegangen war, und so laut hatte es geklingelt, so aus dem Nichts war es gekommen, das plötzliche Losschrillen des eben noch leblosen Instruments, daß sie fast einen Herzschlag gekriegt hätte. Beide waren sie sofort wach, und als sie so dalagen, beinahe unfähig, sich zu rühren, während es immer wieder schrillte, hatten sie nicht einmal Lust, einander auch nur anzusehen. Schließlich, da sie ihres Wissens nichts zu verlieren hatte, nahm sie den Hörer ab. Es war Dr. Hilarius, ihr Seelenklempner oder Psychotherapeut. Aber er hörte sich an wie Pierce, wenn er einen Gestapo-Offizier spielte.

«Ich habe Sie doch wohl nicht geweckt, oder?» begann er trocken. «Sie klingen so verängstigt. Wie sind die Pillen, keine Wirkung?»

«Ich nehme sie nicht», sagte sie.

«Sie fühlen sich durch sie bedroht?»

«Ich weiß ja nicht, was drin ist.»

«Sie glauben also nicht, daß es nur Tranquilizer sind.»

«Habe ich etwa kein Vertrauen zu Ihnen?» Sie hatte keins, und was er als nächstes von sich gab, erklärte auch, warum.

«Wir brauchen immer noch die 104. Testperson für die Brücke.» Kichern. Die Brücke war sein Kosename für eine Versuchsreihe, bei deren Durchführung er dem Stadtkrankenhaus behilflich war, der Zweck war, die Wirkungen von LSD-25, Meskalin, Psilocybin und verwandten Drogen auf eine größere Menge von Hausfrauen aus den Vororten zu untersuchen. Die Brücke nach innen. «Wann können wir mit Ihnen rechnen?»

«Nein», sagte sie, «es gibt außer mir eine halbe Million andere Frauen, suchen Sie sich eine von denen aus. Es ist drei Uhr früh.»

«We want you.» Über ihrem Bett erschien ihr, in der Luft schwebend, das allseits bekannte Porträt von Uncle Sam, das überall vor unseren Postämtern hängt: mit ungesund glühenden Augen, die eingefallenen gelben Wangen rot wie geschminkt, den Zeigefinger so ausgestreckt, daß er ihr genau zwischen die Augen zeigte. I want you. Sie hatte Dr. Hilarius nie gefragt, warum, denn vor jeder Antwort hatte sie Angst, egal, was er sagen würde.

«Ich habe gerade eine Halluzination, Drogen brauch ich dazu keine.»

«Beschreiben Sie sie nicht», sagte er schnell. «Gut. Haben Sie sonst noch was auf dem Herzen?»

«Hab ich Sie denn angerufen?»

«Ja, hatte ich eigentlich gedacht», sagte er, «ich hatte so das Gefühl. Keine Telepathie. Aber die Beziehung zu einem Patienten ist manchmal eine komische Sache.»

«Diesmal nicht.» Sie legte auf. Und konnte dann nicht mehr einschlafen. Aber verdammt sollte sie sein, wenn sie auch nur eine von den Kapseln nähme, die er ihr gegeben hatte. Buchstäblich verdammt, sie wollte nicht beschissen werden, in keiner Weise, und das hatte sie ihm auch deutlich genug gesagt.

«Also», er zuckte mit den Achseln, «von mir wollen Sie nicht beschissen werden? Dann gehen Sie. Sie sind geheilt.»

Sie ging nicht. Nicht daß dieser Seelenklempner etwa irgendeine finstere Macht über sie besaß. Aber zu bleiben war einfacher. Wer sollte ihr denn den genauen Tag sagen können, an dem sie geheilt wäre? Er jedenfalls nicht, das hatte er selber zugegeben. «Pillen sind was anderes», wandte sie ein. Aber Hilarius schnitt ihr nur ein Gesicht. Er steckte voll erfreulicher Abweichungen von der orthodoxen Lehrmeinung. Er vertrat die Theorie, daß ein Gesicht symmetrisch ist wie das Faltblatt für einen Rorschach-Test, daß es eine Geschichte erzählt wie ein TAT-Bild und genauso zu einer Reaktion reizt wie ein vorgesagtes Testwort, warum auch nicht? Er behauptete sogar, daß er einmal einen Fall von hysterischer Blindheit mit seiner Nummer 37, dem «Fu-Manchu», geheilt hätte (viele von diesen Gesichtern haben wie deutsche Symphonien eine Nummer und daneben noch einen Spitznamen). Bei diesem Fu-Manchu-Gesicht mußte man mit den Zeigefingern aus den Augen zwei Schlitze machen, die Nasenlöcher mit den Mittelfingern vergrößern, den Mund mit den kleinen Fingern auseinanderzerren und dann noch die Zunge herausstrecken. Bei Hilarius sah das wirklich beunruhigend aus. Und tatsächlich, als Oedipas Uncle Sam-Halluzination verblaßte, stellte sich dafür dieses Fu-Manchu-Gesicht ein und wich die restlichen paar Stunden bis zum Morgengrauen nicht mehr von ihrer Seite. Für einen Besuch bei Roseman brachte sie das nicht gerade in Form.

Aber auch Roseman hatte eine schlaflose Nacht hinter sich, und zwar deshalb, weil er die ganze Zeit über die Perry Mason-Sendung nachgrübeln mußte, die er am Abend im Fernsehen gesehen hatte. Es war eine Lieblingssendung seiner Frau, aber Roseman schwankte quälend zwischen Abscheu und Bewunderung hin und her, denn wie Perry Mason wollte er vor Gericht der erfolgreiche Anwalt sein, da dies aber nicht möglich war, wollte er Perry Mason durch ständige Wühlarbeit wenigstens fertigmachen. Oedipa trat mehr oder weniger überraschend ein, und so ertappte sie den vertrauenswürdigen Anwalt ihrer Familie dabei, wie er einen Wust verschieden großer und farbiger Papiere mit einer Hast in einer Schublade verschwinden ließ, die eindeutig auf Schuldgefühle schließen ließ. Sie wußte, daß es sich um den Rohentwurf zu Der Beruf v. Perry Mason. Eine gar nicht so hypothetische Anklageschrift handelte, ein work in progress, an dem er arbeitete, seit diese TV-Show über die Bildschirme flimmerte.

«Früher haben Sie nicht schuldbewußt ausgesehen, soweit ich mich erinnere», sagte Oedipa. Sie fuhren oft gemeinsam mit einem Fotografen aus Palo Alto, der sich für einen Volleyball hielt, in einem Wagen zu gemeinsamen Gruppentherapie-Sitzungen. «Das ist ein gutes Zeichen, nicht?»

«Sie hätten einer von Perry Masons Spitzeln sein können», sagte Roseman. Nach kurzem Nachdenken setzte er hinzu: «Haha.»

«Haha», machte Oedipa. Sie sahen einander an. «Ich muß ein Testament vollstrecken», sagte sie.

«Oh, nur zu», sagte Roseman, «lassen Sie sich durch mich nicht aufhalten.»

«Nein», sagte Oedipa und erzählte ihm alles.

«Warum hat er das bloß gemacht?» fragte Roseman nachdenklich, nachdem er den Brief gelesen hatte.

«Sterben, meinen Sie?»

«Nein», sagte Roseman, «daß ausgerechnet Sie die Sache in die Hand nehmen sollen.»

«Er war unberechenbar.» Sie gingen essen. Roseman versuchte, unter dem Tisch mit ihr das bekannte Fußspiel zu spielen. Sie hatte Stiefel an und empfand nicht viel dabei, aber isoliert, wie sie war, beschloß sie, kein großes Theater zu machen.

«Brennen Sie mit mir durch», sagte Roseman, als der Kaffee kam.

«Wohin?» fragte sie. Das stopfte ihm den Mund.

Als sie wieder zurück im Büro waren, umriß er in groben Zügen, was ihr bevorstand: Zuerst mal genaues Einsehen der Bücher und Geschäftskorrespondenz, dann Einholen einer Gültigkeitserklärung für das Testament, Eintreiben aller Außenstände, Bestandsaufnahme der Aktiva, Taxierenlassen des Vermögens, Entscheidungen darüber treffen, was zu verkaufen und was zu halten ist, Begleichen von Schulden, Abwehren von Steuern, Verteilen von Stiftungen …

«Hey», sagte Oedipa, «gibt’s denn keinen, der das für mich machen kann?»

«Mich», sagte Roseman, «einiges davon schon, sicher. Aber sind Sie denn nicht ein bißchen selber daran interessiert?»

«Woran?»

«Na, an dem, was Sie da vielleicht rausfinden könnten.»

Wie die Dinge sich anließen, sah es ganz so aus, als sollten ihr alle möglichen Offenbarungen zuteil werden. Über Pierce Inverarity oder sie selbst wohl kaum; aber über das, was übriggeblieben und dennoch bis jetzt irgendwie im verborgenen gesteckt hatte. Sie war sich eingemummelt vorgekommen, gepolstert gegen Püffe, isoliert; sie hatte ein Fehlen von Intensität empfunden, als würde sie einen Film sehen, bei dem der Projektionsapparat kaum merklich unscharf eingestellt ist und der Vorführer sich weigert, das zu beheben. Und außerdem hatte sie sich allmählich in die Rolle der Rapunzel eingelebt, eines schwermütigen Mädchens, das durch irgendeinen Zauber in den Salznebeln und Pinienwäldern von Kinneret gefangengehalten wird und den ganzen Tag darauf wartet, daß jemand kommt, der sagt: Hey, laß dein Haar herunter. Als sich herausstellte, daß Pierce derjenige war, durfte sie glücklich Nadeln und Lockenwickler entfernen, und schon rieselte der blonde Wasserfall flüsternd in die Tiefe; nur wenn dann Pierce vielleicht halbwegs oben war, verwandelte sich ihr wunderschönes Haar durch irgendeinen finsteren Zauber in eine große, nicht festgesteckte Perücke, und wums landete er unten auf seinem Arsch. Aber er ließ sich nicht unterkriegen, vielleicht benützte er eine seiner vielen Kreditkarten, um den Riegel des Schlosses an ihrer Turmtür zurückzuschieben, und dann stieg er die Schneckenhauswindungen der Treppe empor, was er genausogut von Anfang an hätte tun können, wenn echte List wirklich in seiner Natur gelegen hätte. Aber alles, was sich zwischen ihnen abgespielt hatte, war eigentlich nie aus dem Gefängnis dieses Turms ausgebrochen. In Mexico City gerieten sie irgendwie in eine Ausstellung von Gemälden des schönen Exilspaniers Remedios Varo: Auf dem Mittelstück eines Triptychons mit dem Titel Bordando el Manto Terrestre sah man eine Anzahl zerbrechlicher Mädchen mit herzförmigen Gesichtern, riesigen Augen, Haaren aus gesponnenem Gold, die im obersten Raum eines runden Turms offenbar gefangengehalten wurden, wo sie an einer Art Tapisserie stickten, die sich in breiten Bändern durch die schlitzschmalen Fenster in eine Leere ergoß, die so ungeheuerlich war, daß jeder Versuch, sie zu füllen, hoffnungslos scheitern mußte: denn alle anderen Bauwerke und Geschöpfe, alle Wellen und Schiffe und Wälder der Welt waren in dieser Tapisserie enthalten, und umgekehrt, die Tapisserie war die Welt. Oedipa hatte in perversem Staunen vor dem Bild gestanden und geweint. Kein Mensch hatte es bemerkt; sie trug eine fest anliegende Sonnenbrille mit dunkelgrünen, blasenartig gewölbten Gläsern. Einen Moment lang fragte sie sich, ob dieses Siegel, das sich um ihre Augenhöhlen schloß, dicht genug sein würde, daß sie einfach so lange weiter Tränen vergießen könnte, bis der gesamte Raum hinter den Gläsern gefüllt wäre und nie mehr trocknen würde. Auf diese Weise könnte sie die Traurigkeit des Augenblicks für immer mit sich herumtragen und die Welt durch diese Tränen gebrochen sehen. Und keine anderen als diese Tränen dürften es sein, als würden sich Tränen von einemmal Weinen zum andernmal durch bis jetzt noch nicht näher erforschte Merkmale wesentlich unterscheiden. Sie hatte auf ihre Füße geblickt, und da war ihr, ausgerechnet durch ein Gemälde, plötzlich bewußt geworden, daß der Boden, auf dem sie stand, ja auch nur ein paar tausend Meilen weit weg in ihrem eigenen Turm zusammengewebt worden war, daß er nur zufällig unter dem Namen Mexiko bekannt war, und so hatte Pierce sie von gar nirgends weggebracht, die Flucht hatte nicht stattgefunden. Was war es denn, wovor sie unbedingt fliehen wollte? So ein gefangenes Mädchen, das viel Zeit hat zum Nachdenken, merkt bald, daß dieser Turm mit seinen Ausmessungen, in der ganzen Art, wie er gebaut ist, schließlich genauso zufällig ist wie die ganze Existenz und daß die Gewalt, die sie in Wirklichkeit dort festhält, wo sie ist, ein Zauber ist, namenlos und böse, der sie von draußen und ohne jeden Grund heimsucht. Da ihr außer der Furcht, die tief in ihren Eingeweiden steckt, und ihrer weiblichen Schläue kein Mittel zur Verfügung steht, diesem amorphen Zauber irgendwie beizukommen, um wenigstens verstehen zu können, wie er funktioniert, wie man seine Feldstärke mißt, seine Kraftlinien zählt, kann sie entweder zurückfallen in den puren Aberglauben oder aber ein nützliches Hobby anfangen wie Sticken; oder sie kann wahnsinnig werden oder einen Diskjockey heiraten. Wenn der Turm überall ist und der erlösende Ritter keine Gewähr bietet gegen seinen Zauber, was bleibt ihr anderes übrig?

2

SIE VERLIESS DANN KINNERET, OHNE ZU AHNEN, DASS der Ort, auf den sie sich zubewegte, etwas Neues war. Mucho Maas, der Rätselhafte, stand da, Hände in den Taschen, und pfiff I Want to Kiss Your Feet, eine neue Aufnahme von Sick Dick and the Volkswagens (einer englischen Gruppe, für die er damals schwärmte, ohne jedoch an sie zu glauben), sie erklärte ihm, daß sie für eine Weile nach San Narciso hinunter wolle, um sich in Pierces Büchern und Geschäftsberichten umzusehen und sich bei dieser Gelegenheit gleich mit Metzger zu beraten, der bekanntlich als beigeordneter Testamentsvollzieher fungieren sollte. Mucho war traurig, daß sie ging, war aber nicht verzweifelt, und so sagte sie ihm noch rasch, er solle auflegen, falls Dr. Hilarius anriefe, und im Garten nach dem Oregano sehen, der einen seltsamen Schimmel angesetzt habe, und dann zog sie ab.

San Narciso lag weiter südlich, in der Nähe von L. A. Wie so viele bekannte Orte in Kalifornien war es weniger eine genau abgegrenzte Stadt als eine lose Gruppierung von Konzepten – ganze Trakte nur für Behörden und Banken, Viertel für Warenlager, Silos, Speicher, Einkaufszentren, und jeder Distrikt durchzogen von Zugangsstraßen, die zu seinem eigenen Freeway führten. Aber es war Pierces Wohnort und gleichzeitig sein Hauptquartier gewesen, der Ort, wo er vor zehn Jahren mit seinen Bodenspekulationen begonnen und den Grundstein zu dem Kapital gelegt hatte, auf dem dann später alles aufgebaut worden war, egal, wie wackelig oder grotesk es war, aber immer hinauf gegen den Himmel zu mußte es gehen; und das, bildete sie sich ein, gab dem Ort etwas Besonderes, so was wie eine Aura. Doch irgendwelche besondren Unterscheidungsmerkmale zum übrigen Kalifornien konnte sie beim besten Willen nicht entdecken, zumindest auf den ersten Blick nicht. Es war ein Sonntag, als sie in einem gemieteten Impala in San Narciso einfuhr. Nichts war los. Sie blickte einen Abhang hinunter, wobei sie gegen das Sonnenlicht die Augen zusammenkneifen mußte, und sah genau auf ein weites Feld von Häusern hinunter, die wie gut gedeihende Saat alle mit der gleichen Geschwindigkeit aus der dunkelbraunen Erde gewachsen waren. Sie erinnerte sich, daß sie einmal ein Transistorradio aufgemacht hatte, um eine neue Batterie einzusetzen, bei dieser Gelegenheit hatte sie zum erstenmal einen Schaltplan gesehen. Von ihrem erhöhten Beobachtungspunkt aus sprang ihr jetzt dieser wohlgeordnete, von Straßen durchzogene Häuserhaufen mit derselben unerwarteten und erstaunlichen Klarheit in die Augen wie damals der Schaltplan. Obwohl sie über Radios womöglich noch weniger wußte als über Südkalifornier, war in beiden Fällen in den Mustern, die nach außen hin sichtbar wurden, ein hieroglyphisch verschlüsselter, aber unzweifelhaft vorhandener Sinn zu erkennen, eine feste Entschlossenheit zur Kommunikation. Für das, was der gedruckte Schaltplan ihr hätte mitteilen können, schienen keine Grenzen festgesetzt zu sein (nur für den Fall, daß sie versucht hätte, welche herauszufinden); und so kam es, daß sie gleich in ihrer ersten Minute in San Narciso wie ein Blitz aus heiterem Himmel eine Erkenntnis traf. Rundherum hing der Horizont voller Smog, die Sonne brannte schmerzhaft auf die hellbeige Landschaft, sie und der Chevy schienen im Zentrum eines sonderbaren, beinahe weihevollen Augenblicks geparkt zu haben. Es kam ihr vor, als würden über irgendeine andere Frequenz oder aus dem Zentrum irgendeines Wirbelwinds, der sich so langsam drehte, daß nicht einmal ihre erhitzte Haut imstande war, seine Kühle zu fühlen, Worte zu ihr herüberkommen. Sie dachte an Mucho, ihren Mann, der versuchte, an seinen Job zu glauben. War es etwas Ähnliches, das er empfand, wenn er durch die schalldichte Scheibe einen seiner Kollegen beobachtete, der mit seinen Kopfhörern dahockte und die nächste Platte mit Bewegungen ansagte, die so durchritualisiert waren wie die heiligen Gesetze, nach denen ein Priester Salböl, Weihrauchfaß und Abendmahlskelch handhabt, und die dennoch der Stimme, den Stimmen, der Musik, der von ihr eingehüllten Botschaft angepaßt waren, von ihr durchdrungen waren, genau wie all die Gläubigen, für die jene Botschaft bestimmt war; stand Mucho da draußen vor Studio A und starrte hinein, während er sehr wohl wußte, daß er, selbst wenn er sie hören könnte, doch unfähig war, an sie zu glauben?

Sie gab es gleich wieder auf, als hätte sich ein Wolkenvorhang über die Sonne gelegt oder der Smog sich verdichtet und hätte so den «religiösen Augenblick», was immer das gewesen sein mochte, durchbrochen. Sie ließ den Motor wieder an und fuhr weiter, vielleicht mit 70 Meilen über die singende Asphaltdecke, auf einen Highway zu in Richtung Los Angeles, zumindest nahm sie das an, in eine Gegend, die rechts des mageren Randstreifens kaum weniger als die Landstraße von Autofriedhöfen, Tankstellen, Drive-Ins, kleinen Verwaltungsgebäuden und Fabriken gesäumt war, deren Hausnummern bis über 70000 und dann 80000 hinaufgingen. Daß es so hohe Hausnummern gab, hatte sie nicht gewußt. Es kam ihr unnatürlich vor. Zu ihrer Linken erschienen, über eine lange Strecke verstreut und auseinandergezogen, breite, fleischfarbene Gebäude, die Meile um Meile von einem Stacheldrahtzaun, aus dem hin und wieder Wachttürme ragten, eingeschlossen waren: Bald sauste eine Einfahrt vorbei, sie war flankiert von zwei 60 Fuß hohen Raketen, die an der Spitze in konservativer Schreibweise die Aufschrift YOYODYNE trugen. Das war San Narcisos große Einnahme- und Beschäftigungsquelle, die Galactronics Division of Yoyodyne, Inc., eines der Riesenunternehmen in der Raumfahrtindustrie.

Pierce hatte, das wußte er zufällig, einen hohen Prozentsatz der Anteile besessen und hatte irgendwie seine Finger in den Verhandlungen gehabt, in denen mit dem obersten Steuerbeamten des Countys die Bedingungen verhandelt wurden, unter denen sich Yoyodyne überhaupt erst dazu bewegen ließ, hier eine Zweigniederlassung aufzubauen. Damals hatte er ihr erklärt, daß er durch diese Geschichte so was wie ein Begründer der Stadt geworden sei.

Dann wich der Stacheldraht wieder der vertrauten Parade von noch mehr Gebäuden aus beigen Fertigteilen: Auslieferungslager für Büromaschinen, Werkshallen für die Herstellung von Dichtungsmaterial, Fabriken für Flaschengas, für Reißverschlüsse, Lagerhäuser und weiß der Teufel was noch alles. Der Sonntag hatte alles verstummen lassen und lahmgelegt, alles bis auf das gelegentlich auftauchende Büro eines Grundstücksmaklers oder einer Raststätte für Fernfahrer. Oedipa beschloß, beim nächsten Motel anzuhalten, egal, wie häßlich es auch sein würde, denn irgendwann hatte sie einen Punkt erreicht, wo Ruhe und vier Wände ihr mehr bedeuteten als diese Illusion von Geschwindigkeit, Freiheit, Wind im Haar, vorbeiziehender Landschaft – auf die Dauer war das nichts. Sie stellte sich diese Straße vor als eine riesige Injektionsnadel, die irgendwo vorn in die Ader eines Freeway gedrungen war, eine Vene, die den Fixer L. A. ernährte, ihn glücklich sein ließ, vor Zerfall und Schmerz bewahrte oder vor dem, was man bei einer Stadt als Schmerz bezeichnen könnte. Aber wäre Oedipa so ein vereinzeltes aufgelöstes Kristall urbanen Heroins gewesen, L. A. wäre durch ihr Ausbleiben nicht die Spur weniger angetörnt gewesen.