Richard Swartz
Blut, Boden & Geld –
Eine kroatische Familiengeschichte
Aus dem Schwedischen
von Hedwig M. Binder
FISCHER E-Books
Richard Swartz wurde 1945 in Stockholm geboren, studierte dort und in Prag und war fast 40 Jahre lang Osteuropa-Korrespondent vom »Svenska Dagbladet« in Wien und Sovinjak (Istrien). Er ist Autor zahlreicher Bücher, 1997 erschien ›Room Service‹, seine erste belletristische Veröffentlichung, der weitere folgten, 2007 erschien bei S. Fischer seine Anthologie ›Der andere nebenan‹. Swartz ist mit der kroatischen Journalistin Slavenka Drakulic verheiratet.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de.
Seit über 25 Jahren lebt der schwedische Journalist Richard Swartz in Kroatien. Er ist mit einer Kroatin verheiratet, lebt in einem kleinen Dorf in Istrien und kennt wie kein anderer das Land und die Leute. Mittendrin und doch mit eigenem Blick von außen schält er aus Beobachtungen über Ideologie und Religion, Heimat und Grenze, aus der Geschichte dieses besonderen Landstrichs sowie Geschichten über seine Familie eine Mentalität heraus, die ganz anders ist als die uns vertraute westliche. Eine ethnographische, literarische, persönliche Annäherung an eine Region.
Erschienen bei FISCHER E-Books
© 2016 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Coverabbildung: plainpicture/neuebildanstalt/Kriwy
Covergestaltung: buxdesign | München
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-403291-7
Meine kroatische Familie ist wie ein Beefsteak Tatar, dieses Gericht, das auf dem Teller gut aussieht, von dem aber niemand so genau weiß, was es enthält.
Niemand in der Familie zeigt sonderlich großes Interesse an der Frage, was er oder sie ist, jedenfalls nicht, wenn es darauf hinausläuft, dass man sich in irgendeine Weltanschauung oder Massenbewegung einreiht. Identität als Bestimmung oder Bekenntnis ist ihre Sache nicht; im Alltag der Familie machen sich Blut, Boden oder Glaube kaum bemerkbar. Früher war das anders. Für die ältere Generation waren die Partei und die Kirche noch von Bedeutung, für meine Schwiegermutter die katholische Kirche, vor allem aus Tradition, und für ihren Mann die kommunistische Partei, an der er aus Überzeugung, allerdings nur um den Preis wachsender Kritik und Zweifel, festhielt. In der nächsten Generation ist das schon anders: Da verschwinden die traditionellen ideologischen Bindungen aus dem Leben der Familie.
Mit dem, was das neue Kroatien zu bieten hat, kann sich dagegen weder Alt noch Jung identifizieren. Meines Erachtens sind sich alle darüber im Klaren, dass das Leben ganz andere Zutaten enthält als das öffentliche Rezept des heutigen kroatischen Nationalstaats.
Mein Schwiegervater sollte als einer von Titos Partisanen nach dem Krieg sogar zum Oberst befördert werden. Als kleiner Junge war er daheim in Rijeka (auf Italienisch und Ungarisch Fiume, auf Deutsch Sankt Veit am Flaum oder Pflaum, auf Slowenisch Reka) in der Kirche Ministrant gewesen, hatte sich jedoch kurze Zeit später den Kommunisten angeschlossen, um Jugoslawien von den deutschen und italienischen Besatzern zu befreien. Solche Karrieren ermöglicht nur ein Krieg. Vom Krieg aber hatte er keine Ahnung, wusste nur, dass dieser mit Mut und Ehre zu tun hatte und dass er selbst das eine besaß, das andere wollte. Sein zwei Jahre älterer Bruder war bereits bei den Partisanen und hatte den jüngeren aufgefordert, sich ebenfalls in die Wälder zu schlagen. Mein Schwiegervater hörte auf alles, was sein bewunderter älterer Bruder sagte, und hätte dieser statt des roten Sterns der Kommunisten das schwarze Hemd der Faschisten getragen, dann hätte bestimmt auch er es angezogen.
Hasste er den Feind? Wohl kaum. Deshalb griff er nicht zu den Waffen. Nicht Hass hatte zum Krieg geführt, vielmehr lehrte erst der Krieg ihn, den Feind zu hassen. Und die anderen Partisanen? Patrioten, überzeugte Kommunisten, einige Abenteurer, andere, die weiter nichts gelernt hatten oder konnten und immer schon auf einen Krieg gewartet hatten, Leute, die sich für irgendetwas oder an irgendjemandem rächen wollten, und noch mehr Leute, denen nichts Besseres einfiel. Ein paar Tapfere waren auch darunter, allerdings bei weitem nicht so viele, wie sich heraushalten wollten und nur deshalb einreihten, um sich als einer unter vielen verstecken zu können.
Was mein Schwiegervater als Partisan getrieben hat, ist unklar, von sich aus sprach er mit der Familie selten oder nie darüber. Dieser Krieg hatte ihn mal hierhin, mal dorthin verschlagen und seine Zweifel und Einwände wie leere Patronenhülsen oder überflüssiges Gepäck wegwerfen lassen. Ebenso seinen christlichen Kinderglauben. Manchmal frage ich mich, ob er nicht einer der vielen von uns war, die kein besonderes Talent oder Geschick und auch keine über die Harmlosigkeit hinausgehenden festen Überzeugungen besitzen, die in den Tag hineinleben und damit ziemlich gut zurechtkommen. Die Familie wusste nicht einmal, ob er je einen Feind erschlagen hatte; jedenfalls ließ es sich nicht mit Sicherheit nachweisen. In ihren Augen schmälerte diese Unsicherheit seine Rolle im Krieg und machte sie weniger eindrucksvoll.
Auf Jugendfotos hat er ein helles und offenes, auffallend ziviles Gesicht, dessen Weichheit, ja, fast Verträumtheit von den schwarzen Locken noch unterstrichen wird.
Der Krieg war für ihn die große Schule und das große Abenteuer, sicherlich auch die beste Zeit seines Lebens. Alles, was er je erlebt hatte oder noch erleben sollte, stand im Schatten dieser zwei Jahre in den Bergwäldern des Gorski Kotar.
Der Krieg bestimmte auch seine Identität. Hätte man ihn gefragt, was er sei, so hätte er nicht Kroate gesagt, auch nicht Offizier oder Atheist, sondern jugoslawischer Partisan und Kommunist.
Nach dem Krieg gehörte er zu den Siegern und zur Nomenklatura der Partei. Meine Frau wurde in Rijeka geboren, wuchs infolge der Laufbahn ihres Vaters jedoch in verschiedenen Garnisonsstädten des jugoslawischen Kroatiens auf, in Senj (auf Italienisch Segna, auf Deutsch und Ungarisch Zengg), Zadar (auf Italienisch Zara, Diodora auf Latein) und Split (auf Italienisch Spalato), aber auch im slowenischen Ljubljana (auf Deutsch Laibach, auf Italienisch Lubiana). Wie bei der Eisenbahn oder eben bei der Armee üblich, wurde ihr Vater fortwährend im Land umherkommandiert, damit er andere kommandierte. Am längsten blieb er in seiner Heimatstadt Rijeka, wo er seine Parteikarriere als höchster Verantwortlicher der Hafenverwaltung beendete. Rijeka ist neben dem italienischen Trieste (auf Kroatisch und Slowenisch Trst, auf Deutsch Triest) der größte Hafen an der Ostküste der Adria. Was seine Verantwortung für den Hafen alles umfasste, ist nicht ganz klar; wahrscheinlich war sie mehr militärischer als kommerzieller Natur.
Die Karriere meines Schwiegervaters in Uniform war jedoch verhältnismäßig kurz. Aus dem Binnenland des Partisanenkrieges war er unmittelbar nach Kriegsende an die Küste zurückgekehrt, wo er geboren und aufgewachsen war, und hatte dort die graue Uniform der Partisanen gegen die blaue der Flotte eingetauscht. Seine Qualifikationen? Vermutlich reichte es, dass er im Unterschied zu den Kameraden aus dem Binnenland schwimmen konnte. Jetzt war er aus den Bergen ans Meer zurückgekehrt, hatte im Grunde eine Welt gegen eine andere getauscht, zurück in seine heimische an der Küste.
Schon Venedig hatte seine adriatischen Provinzen einst administrativ in Inseln, Küste und Binnenland eingeteilt, und diese Einteilung galt auch dann noch, als die venezianische Republik zu existieren aufgehört hatte. Die Küste und die Inseln galten immer schon als die reichere und vornehmere Welt, obwohl die Insulaner oft mindestens genauso arm waren wie die Binnenländer.
Die Partisanen von der Küste oder den Inseln hatten sich den Kriegskameraden aus dem Binnenland überlegen gefühlt, eine Überlegenheit, die mit Weintrauben, Olivenöl, Salzwasser, Schiffen und der einen oder anderen mittelalterlichen Kathedrale zusammenhing. Vielleicht auch mit den strengen Wintern im Binnenland, wenn die Kälte alles Leben lähmte und selbst die Sonne fror und sich in Nebel und Schneeregenböen hüllte. Es stimmt zwar, dass zu viel Sonne die Menschen verdummt und selbstgefällig macht, aber an der adriatischen Küste erfrischt der Südwind und lüftet gleichzeitig allen Mief aus.
Während des Krieges hatte mein Schwiegervater den Winter im Gorski Kotar mehr gefürchtet als die italienischen und deutschen Feinde. Außerdem gab es im Binnenland keine richtigen Städte. Richtige Städte gab es nur am Meer. Rijeka und Dubrovnik (auf Latein und Italienisch Ragusa) waren richtige Städte, während Knin (auf Latein Tininium), Šabac (Schabatz auf Deutsch, auf Ungarisch Szabács) oder Podgorica (auf Latein Birziminium, nach dem Krieg Titograd) nur Käffer mit Schafen und Ziegen auf den Straßen waren. Sie hatten keine Bürgersteige und wurden selten gefegt. Im Sommer und im frühen Herbst verwandelte der Regen die Wege und Straßen in breite Gräben voller Matsch und Schlamm. Entlang der Küste dagegen ging man, zumindest in den Städten, auf blankgetretenen Steinen oder Marmor, worauf schon die Römer gegangen waren. Und Besen gab es zuhauf.
Vor allem aber Fisch symbolisierte dieses Gefühl der Überlegenheit. Annähernd lautlos und ohne größere Anstrengung, ja fast lässig senkten die Fischer ihre Netze ins Meer. Das war etwas anderes, als die Erde zu behacken und Steine für Mauern zusammenzuschleppen; hacken und graben, das tat man an der Küste nur im Gemüsegarten. Während im Binnenland die Kartoffeln zuerst ein- und dann mühevoll ausgegraben werden mussten, wurde auf dem Meer ohne Säen geerntet. Der Fisch kam entlang der gesamten Küste rund ums Jahr auf Tische und Teller; binnenlands war er nahezu unbekannt, wie auch Fleisch eine Seltenheit war. Nicht einmal der Schlachtmonat lieferte viel mehr Beilagen zu Kartoffeln und Mangold (auf Kroatisch und Slowenisch blitva, auf Italienisch bietola) aus dem mageren Ackerstreifen.
Die Küstenbewohner machten sich lustig darüber, was weiter landeinwärts alles nicht verfügbar war und die Leute dort nicht kannten. Die armen Teufel! Hätte man ihnen Sardellen gegeben, hätten sie auch die wie Pflanzen in die Erde gesteckt.
Entlang der Küste führte der Weg aus der Armut übers Meer, oft bis nach Amerika. Oder aber ins Kloster oder in die Kirche. Die Männer konnten Mönche oder Priester werden. Im Binnenland wurden die Männer bestenfalls Gendarmen oder Polizisten, immerhin hob eine Uniform einen von der Umgebung ab. Aus den meisten wurde freilich selten etwas und aus den Frauen überhaupt nichts.
Der Partisanenkrieg war vielleicht das einzig Verbindende zwischen Binnenland, Küste und Inselwelt. Allerdings war es vor allem das Binnenland, das sich seiner rühmen konnte. Er war förmlich der Topographie des balkanischen Binnenlands entsprungen, den geographischen Voraussetzungen, die sowohl seinen Ort als auch seinen Charakter bestimmten; es waren die Berge, Schluchten und Wälder, die die Partisanen und nicht zuletzt ihre Kriegsführung hervorgebracht hatten. Die physische Beschaffenheit der Landschaft bot keine klassischen Schlachtfelder: Was sich auf den weiten Ebenen der Ukraine und Weißrusslands zu Schlachten mit Unmengen an Soldaten, Artillerie und Panzern entwickelte, Schlachten, die ohne Unterbrechung mehrere Tage dauern konnten, wurde vom balkanischen Terrain zu Scharmützeln, Sabotage und plötzlichen Überfällen verdichtet oder zerhackt. Der Partisanenkrieg hatte Ähnlichkeit mit den mageren und steinigen Ackerstreifen des Binnenlands; seine Dürftigkeit verwies den balkanischen Kriegsschauplatz auf eine Nebenbühne des Weltkrieges. Den Rest besorgte das Ausbleiben feindlicher Flugzeuge. Die Partisanen waren in den Bergen gut geschützt, fast unerreichbar.
In größeren Formationen als einer Handvoll Männer oder vielleicht der einer Kompanie entsprechenden Einheit war mein Schwiegervater selten an Kämpfen beteiligt gewesen. Sein Partisanenkrieg hatte sich überschaubar und sehr handfest gestaltet, und öfter als auf die ausländischen Besatzer traf er auf ihre Mittelsleute. Nicht selten kannte er diejenigen persönlich, denen er ans Leben wollte und umgekehrt sie ihm: ein Nachbar, jemand aus dem von Italienern, kroatischen ustaše oder Deutschen kontrollierten Dorf unten im Tal. Am liebsten hätte er gegen den italienischen Erbfeind gekämpft, da Nähe nicht immer nachbarschaftliche Eintracht fördert, eher Unversöhnlichkeit und Blutvergießen.
Ich stelle mir vor, dass sein Krieg etwas altmodisch Kleinmaßstäblichem geglichen hatte, das entfernt mit den Duellen früherer Jahrhunderte verwandt war, nur nicht deren strikte Regeln und höfische Formen besaß. Dieser sein Krieg auf dem Balkan war jedenfalls nicht mit dem Krieg anderswo in Europa zu vergleichen – was die Rote Armee und die Wehrmacht der Deutschen weiter im Osten trieben, war eine ganz andere Art von Krieg.
Dass der Krieg dort entschieden wurde, kam fast einer Beleidigung gleich.
Josip Broz, Tito genannt, hatte nicht nur an der Spitze des Partisanenkrieges gestanden, sondern ihn auch verkörpert. Anfangs war er nicht viel mehr als ein Name gewesen.
Zuerst hatte er im Ersten Weltkrieg für Habsburg, für Österreich-Ungarn, gekämpft, dann für die Weltrevolution, gegen Nazi-Deutschland, das faschistische Italien, gegen kroatische ustaše und serbische Königstreue, mit den Engländern und anderen Alliierten, für Stalin, danach gegen Stalin und seine eigenen Stalinisten, dann gegen den inneren Feind, kroatische, serbische oder albanische Nationalisten, und fast immer hatte er gewonnen, doch kurz nach seinem Tod ging alles verloren, mitsamt dem Staat, der mit dem Namen Tito verknüpft ist.
Niemand, nicht einmal die Partisanen, wusste genau, wer er war, nicht einmal, ob es ihn wirklich gab. Doch es gab ihn: ein mythischer Freiheitsheld mit dem romantischen Glanz, der den klassischen hajduk der Folklore umgibt, diese Kreuzung aus Wegelagerer und balkanischem Robin Hood, nun allerdings mit Maschinenpistole und Parteibuch ausgestattet.
Auch Tito hatte sich in die Berge zurückgezogen und sich vor dem Feind in Höhlen verborgen; war wie einst die Haiduken abhängig von der Schneeschmelze im Frühjahr, wenn er mit seinen Partisanen von den Bergen herabsteigen und den Krieg wiederaufnehmen konnte. In seiner nächsten Umgebung wurde er »der Alte« (Starši) genannt, was in einer Kultur, in der ein Patriarch oder Geront aus Tradition die größte Autorität besitzt, weit liebevoller als kritisch gemeint war. Dieser Berufsrevolutionär und Komintern-Agent hatte auch etwas zeitlos Altmodisches an sich, das selbst für diejenigen, die über den Kommunismus nicht sonderlich viel wussten und womöglich nicht einmal lesen und schreiben konnten, leicht zu erkennen und mit Sympathie zu bedenken war. Ebendiese kommunistische Ideologie und Disziplin waren im Verbund mit der Maschinenpistole fast der einzige moderne Einschlag am Partisanenkrieg.
Unter dem Pseudonym Tito waren somit Tradition und Moderne vereint. Dieser Mann, der von Anfang an wie eine halb mythische, wohlwollende Vaterfigur wahrgenommen worden ist und nach dem Krieg im Namen der Partei allmächtig über Jugoslawien herrschen sollte, blieb auch dann, als er sich nicht mehr vor seinen Feinden zu verstecken brauchte, eine Art Märchengestalt, ein fehlendes exotisches Glied zwischen dem alten und dem neuen Europa, auf Lebenszeit Präsident seines Landes, in Wirklichkeit ein Diktator, der mit seiner Vorliebe für phantasievolle Uniformen und seinem Appetit auf die guten Seiten des Lebens, am liebsten in dessen luxuriöser und kitschiger Form, einer längst verschwundenen Zeit anzugehören schien.
Vielleicht handelte es sich ja um einen sentimentalen Rückfall in die Wiener Operettenwelt seiner Jugend?
Sein Lebensstil besagt auch etwas über die Atmosphäre oder den Zeitgeist in dem Jugoslawien, das er schuf und das meine kroatische Familie prägte. In seiner Sommerresidenz auf Brijuni (auf Italienisch Brioni) hielt er sich nach dem Krieg einen Privatzoo. Es gehörte zum guten Ton, dass ausländische Staatsgäste ihm neue exotische Tiere schenkten, unter anderen einen Leoparden, einen Elefanten, eine Giraffe und einen sprechenden Papagei. Viele dieser Tiere wurden durch Illustrierte, Radio und Fernsehen zu jugoslawischen Berühmtheiten. Tito posierte gern vor der Kamera mit ihnen: Wenn er sie nicht gerade fütterte, unterhielten sie ihn mit allerhand Faxen. Die Jugoslawen bewunderten die Tiere in ihren Käfigen und Gehegen oder lasen in den Zeitungen über sie. Besonders beliebt war Titos sprechender Papagei Koki, eigentlich ein Kakadu, der mit einem großen Vorrat an groben Flüchen zur allgemeinen Beliebtheit seines Besitzers beitrug. Koki saß allerdings nicht ohne Grund in einem Gitterkäfig, denn wer Tito schmähte oder kritisierte, machte sich nach § 133 des Strafgesetzbuches der Verleumdung (eines sogenannten Verbaldelikts) schuldig und konnte zu mehreren Jahren Gefängnis verurteilt werden.
Leider starben etliche von Titos Tieren, da die Winter auf Brijuni zu streng für sie waren. Die Tiere, die im Freien lebten, wie die Hunde des Marschalls, erwiesen sich als robuster. Im Lauf der Jahre besaß Tito viele Hunde. Während des Krieges hatte ein deutscher Schäferhund namens Luks ihm das Leben gerettet, und alle Schulkinder in Jugoslawien wussten, wie sich die Geschichte zugetragen hatte; diese gewissermaßen staatstragende Tierfabel führte dazu, dass landauf, landab selbst Promenadenmischungen Luks getauft wurden.
Letzten Endes musste jedoch auch Tito sterben und sein Sohn Miša in Zagreb sich seiner beiden weißen Pudel annehmen. Es waren Titos letzte landesweit bekannten Hunde. Sein Sohn wohnte damals im selben Viertel wie meine Stieftochter, und deren beiden Hunde, ein Foxterrier mit Stammbaum und ein Köter, der unter die Straßenbahn gekommen und von meiner Stieftochter auf der Straße aufgelesen worden war, spielten oft mit den beiden weißen Staatspudeln, wenn alle vier Tiere im Park von Nova Ves von der Leine gelassen wurden.
Brijuni war Titos Sommerresidenz. Im Winter zog er das slowenische Bled in Alpennähe vor. Ihm standen im ganzen Land mehrere Jagdschlösser zur Verfügung, die zwar meist unbesucht und eingemottet, aber jederzeit bereit waren, ihn unverzüglich aufzunehmen, wenn ihm danach war. Nach Brijuni kamen auch Filmstars aus Hollywood zu Besuchen, die Audienzen gleichkamen. Erst wenige Jahre zuvor hatten die Deutschen Tito in den Bergen fast getötet: Das wurde nun verfilmt.
Kein anderer Kommunistenführer führte ein solches Leben, ausgenommen Nicolae Ceaușescu – genannt Conducator (Führer auf Deutsch, Duce auf Italienisch) – in Rumänien. Der eine wie der andere hätte als byzantinischer Fürst oder eine Gestalt aus »Tausendundeiner Nacht« überzeugender gewirkt denn als vorbildlicher primus inter pares aus den neuesten kommunistischen Parteibroschüren. Zwar verkörperte Tito sowohl den Kampf als auch den Sieg über sämtliche Feinde des Landes, so wie er später ein völlig neues Jugoslawien verkörpern sollte, doch als Vorbild taugte er nicht recht, dazu war er viel zu unerreichbar, mehr Mythos als Wirklichkeit. Denn Tito lebte für sein Land über und jenseits von Jugoslawien. Er soupierte und zerstreute sich fern vom Volk, verkehrte mit den Mächtigen der Welt, ließ sich bewundern und bejubeln und fasste in demselben Abstand vom Volk gleichzeitig Beschlüsse, die diesem galten. Nach seinem Tod hatte man bald den Eindruck, als hätte es ihn nie gegeben.
Nach seinem kurzen Ausflug in die Weltgeschichte war mein Schwiegervater an die Küste heimgekehrt. Zurück am Meer, schien es ihm, als sei auch die Welt aus dem Krieg nach Hause gekommen. Immer schon war ja über die Adria und das Mittelmeer der Atlantik zu erreichen gewesen, die Welt hatte dann offen dagelegen, doch während des Krieges hatte die Weltgeschichte ihn oben in den Bergen in einer Grube oder Spalte festgeklemmt, wo er sich versteckt gehalten und, flach auf dem Bauch liegend, hin und wieder, ohne richtig zu zielen, auf den Feind geschossen hatte. Dafür war er mit mehreren Medaillen belohnt worden.
Am Meer war ihm die Welt nun wieder ganz nah, auch wenn er sie nicht sehen konnte, allerdings eine andere Welt als in den Bergen, eine Welt, die von ebendiesem Meer bestimmt wurde, das da oben gefehlt hatte. Dieses endlose Wasser voller Tang und Salz war abwechselnd blau, smaragdgrün und grauweiß; wenn es grauweiß war, sah es in der Nähe der Küste manchmal so aus wie oben in den Bergen die Wiesen und Felder im Winter. Das Meer roch und schmeckte jedoch nach Salz. In den Bergen dagegen roch es nur nach Wald, Schnee oder dem knisternden Feuer gegen die Kälte.
Jenseits des Horizonts begann die Welt. Wer an der Küste wohnte, hatte sie in Reichweite des Wasserwegs, während sich einer, der in den Bergen lebte, mit Radio und Zeitung begnügen musste. Aus ihnen ging jetzt hervor, dass die Weltgeschichte sich zurückgezogen hatte und sich nun woanders abspielte. Das genügte ihm. Er wünschte sich keine Grube oder Spalte mehr, um sich darin zu verstecken.
Salz? In den Bergen war Salz noch immer etwas Seltenes und Kostbares, damit hieß es sparsam umgehen, so wie mit Zucker, Petroleum oder Zündhölzern. Und die Berge waren nah. Das Hochland erhob sich gleich hinter dem schmalen Küstenstreifen, doch es war eine täuschende, abweisende Nähe, zu Fuß brauchte man Stunden für die paar Kilometer dort hinauf. Niemand wäre aber auch auf die Idee gekommen, ohne Anliegen da hinaufzusteigen, und Anliegen gab es wenige bis keine. In den Bergen war jeder Fremde nur selten ein willkommener Besucher, und die wenigen, die keine Fremden waren, fast immer unwillkommen. Denn in den Bergen zeigte sich die Welt oft von ihrer schlechtesten Seite; viel mehr als die Post und den einen oder anderen Arzt hatte man ihr auch nicht zu verdanken, man begegnete ihr dort mit Misstrauen und Argwohn. Das spürte die Welt und hielt sich zurück.
In den Dörfern oberhalb der Küste lebte man allein unter anderen Alleinlebenden, Menschen, die hinter sich und ihren Angelegenheiten die Tür schlossen, wohingegen das Meer ohne Tür war und den Menschen erlaubte, frei zu kommen und zu gehen. An der Küste war auch ein Fremder eine Art entfernter Verwandter oder wenigstens Bekannter. Dort oben über der Küstenregion hing der Himmel meist tief über den Bergrücken. Der Horizont war kein feiner, durch all das Blau und Hellgrau gezogener Strich wie an der Küste, ein Strich, der in der Mittagshitze flimmerte und für das Auge kaum erkennbar Meer und Himmel voneinander trennte; in den Bergen war der Horizont zackig, düster, wie mit Kohle gezeichnet, ein Zaun gegen das Unbekannte, abschreckender als eine Mauer oder ein Kettenhund.
Mit der Welt meines Schwiegervaters hatten die Berge sehr wenig zu tun, und es muss eine Erleichterung für ihn gewesen sein, sie hinter sich lassen zu können. Sein Heimweg führte bergab; die Welt begann genau dort, wo Meer und Himmel ineinanderflossen.
Als der Krieg vorbei war, sollte er nicht nur an die Küste, sondern auch bald ins Zivilleben zurückkehren. Das verblüfft. Warum? Die Partisanen bildeten in der jugoslawischen Gesellschaft eine kleine, privilegierte Gruppe, der es nach dem Krieg auf unergründlichen Wegen gelungen war, weit mehr Leute zu umfassen, als sie ursprünglich gewesen waren. (Hätte ich gewusst, dass wir so viele sind, wäre ich bis nach Berlin marschiert, meinte Tito spöttisch dazu.) Doch obwohl mein Schwiegervater zu denen gehörte, die von der ersten Stunde an dabei waren, und nicht zu den vielen, die sich erst anschlossen, als schon alles vorbei war, um dann laut und lärmend aufzutreten, beschloss er, sich freiwillig zurückzuziehen.
Das war äußerst ungewöhnlich. Noch dazu schien es im Widerspruch zu seinem hohen Rang zu stehen.
Oder war sein Entschluss doch nicht so freiwillig, wie er ihn dargestellt hat? Wurden seine Dienste nunmehr als entbehrlich betrachtet? Es spricht nichts dafür: keine Dokumente, keine nachträgliche Information, weder Tratsch noch Gerüchte, die auf einen Konflikt zwischen ihm und seiner Partei schließen lassen. Die Frauen in der Familie, die es eigentlich hätten wissen können, zeigten sehr wenig Interesse an dem, was ihres Erachtens zur Welt der Männer gehörte. Deshalb bleibt uns nichts anderes übrig, als uns an seine eigene Version zu halten.
Er hatte die Nase voll vom Militär. Das Leben in Uniform war nichts für ihn.
Dafür spricht, dass er eigentlich kein martialischer Mensch war. Kasernenhöfe, Drill und Paraden waren seine Sache nicht. Ebenso wenig Schusswaffen. Deshalb könnte es scheinen, als ob er immer schon ein ausgemachter Zivilist gewesen sei und erst der Krieg sein Leben in eine andere Richtung gedrängt habe. Wer ihn noch aus jungen Jahren kannte, hatte ihn als Provinzdandy in Erinnerung, als einen fić firić (das, was man in Wien einen Feschak nennt), einen rund ums Mittelmeer nicht ungewöhnlichen Typ Mann. Auf der Ostseite der Adria gehört ein solcher südslawischer fić firić strenggenommen zur Italianità der Küstenregion, hat allerdings ein größeres Talent zum Müßiggang und noch weniger Geld in der Tasche als sein italienisches Gegenstück. Als Typus hat er sämtliche Regime und politischen Moden überlebt. Auch heute noch ist er, mit Sonnenbrille und in blütenweißem Hemd, unschwer in den Cafés am Korso oder an der Strandpromenade zu entdecken, wo er, ohne die Hände zu Hilfe zu nehmen, einen Zahnstocher im Mund herumdreht oder mit einer Zigarette nach der anderen und einem einfachen Espresso, der über Stunden reichen muss, lässig seine Zeit totschlägt.
Bevor mein Schwiegervater sich den Partisanen anschloss, hatte er seine Freizeit damit verbracht, mit dem Fahrrad in Rijeka und Umgebung herumzufahren, um Lokale zu besuchen, in denen getanzt wurde. Die Mädchen mochten ihn, und meine Schwiegermutter bestätigte diese verjährten Romanzen mit ärgerlich gerunzelter Stirn und gleichzeitig zufriedener Miene darüber, diejenige gewesen zu sein, die schließlich das Rennen gemacht hatte. Nach dem Krieg ließ er sein Interesse an Frauen und Autos wiederaufleben und auch an der heimischen Fußballmannschaft, deren Spiele er sonntags vom Tribünenplatz aus oder zu Hause vor dem Radiogerät verfolgte. Seine Lieblingsmannschaft wechselte jeweils mit der Garnisonsstadt. Zu diesen frühen Interessen waren noch maßgeschneiderte Anzüge hinzugekommen.
Dieses Leben ähnelte einer Art Nachahmung in Titos Fußstapfen, wenn auch in weit bescheidenerem Format. Während seine Mannschaft gewann oder verlor, saß mein Schwiegervater am Radio, rauchte und trank einen Espresso. Die ganze Welt redete über Jugoslawien. Die Zukunft gehörte dem Kommunismus, das Land war auf seiner Seite und Hajduk Split eine der besten Fußballmannschaften des Landes.
Vor allem aber ging er wie früher wieder tanzen, am liebsten ins Offizierskasino (Dom Armije) der jeweiligen Garnisonsstadt, ein Interesse, das er mit seiner Frau teilte. Meine Frau erinnert sich, dass ihre Mutter und die Schneiderin in ihrer Kindheit tagelang damit zubringen konnten, ein neues Kleid zuzuschneiden und zusammenzusticheln, das am Wochenende alles überstrahlen sollte, was die anderen Frauen trugen. Es muss ihnen oft gelungen sein; auch mein Schwiegervater war mit dem Ergebnis fast immer zufrieden. So konnten sie als Mann und Frau, als fesches Paar und von allen bewundert, einige Jahrzehnte lang zusammen über den Tanzboden schweben, gewissermaßen als Belohnung dafür, dass man den Krieg gewonnen hatte. Inspiration für die Ballkleider fand sich in italienischen Modemagazinen, Kostbarkeiten, die, obwohl mitunter schon Jahre alt, immer wieder studiert wurden, wobei Eselsohren oder Abdrücke von Kaffeetassen anzeigten, was das Interesse der Frauen besonders geweckt hatte.
Die Eltern meiner Frau lasen am liebsten Tageszeitungen und Illustrierte. Bücher gab es nur wenige in ihrem Haus, ein paar schwere Geschichtsbände, die mit vielen Zahlen und verschwommenen Schwarzweißaufnahmen die Operationen der Partisanen im Gorski Kotar und in Istrien dokumentierten, dazu einige von der Partei herausgegebene Bücher, die weit eher wie eine Loyalitätserklärung oder aus Pflicht im Regal standen, als dass sie tatsächlich gelesen wurden. Sowohl vom Inhalt als auch vom Aussehen her waren es triste Bücher, auf billigem Papier gedruckt und meistens in graue oder braune Pappe gebunden, Einbände, wie sie auch lange nach Ende des Krieges noch üblich waren, mit Buchseiten, die schnell brüchig wurden und deren Farbe bald ins Undefinierbare changierte, so dass sie schmutzig wirkten.
In dem Bücherregal stand in serbokroatischer Übersetzung auch »The Native’s Return« von Louis Adamic. Der Oberst hatte es ein paar Jahre nach dem Krieg seiner Frau geschenkt, ein seinerzeit sehr populäres Buch, in dem ein amerikanischer Journalist slowenischer Herkunft Slowenien vor dem Krieg besucht und mit überbordender Sympathie sein Heimatland schildert. Meine Frau erinnert sich deshalb noch daran, weil es ein so seltenes und zugleich rührendes Geschenk war, vermutlich das einzige Buch, das ihre Mutter jemals von ihrem Vater erhalten hatte.
Mit großer Sicherheit hat sie es nie gelesen.
Nachdem er noch nicht einmal fünfzigjährig seinen Abschied von der Marine genommen hatte, arbeitete mein Schwiegervater bis zu seiner Frühpensionierung als Geschäftsführer eines slowenischen Staatsunternehmens in Rijeka. Das Unternehmen war in der Möbelbranche tätig. Seine Uniform hatte er gegen allzu kurze Hosen und ein Sakko eingetauscht, wie es Zivilisten tragen. Er schien aus freien Stücken sich selbst degradiert oder einen Tausch nach unten vollzogen zu haben. Für seine Umgebung war es die falsche Richtung. Mit der Uniform muss er auch einiges an Autorität und Ansehen eingebüßt haben. Er war jetzt nur noch einer unter vielen, keine Respektsperson mehr, jedenfalls keine, die mit bloßem Auge als solche zu erkennen war.
Ohne Uniform lief er Gefahr, ein Irgendjemand zu werden, schlimmstenfalls ein Niemand. Hatte man ihn vielleicht doch bestraft?
Dann hätte man ihn aber kaum im Rang eines Obersts belassen. Politische Gegner konnten ohne Erklärung von der Bildfläche verschwinden, doch wenn es um die eigenen Leute ging, war die Partei peinlich darauf bedacht, zu begründen, warum sie bestraft oder ausgeschlossen wurden. Mein Schwiegervater blieb jedoch bis zu ihrer Auflösung Mitglied der Partei. Deshalb spricht eigentlich alles dafür, dass es tatsächlich seine eigene Entscheidung war, den Abschied einzureichen. Trotz seiner Karriere in Uniform wirkte alles Militärische an ihm eigentlich fremd, und es ist durchaus wahrscheinlich, dass er mit Erleichterung und großen Hoffnungen ins zivile Leben zurückkehrte.
Ich bin sogar versucht, seinen Kleidertausch als stummen Protest zu sehen, als Versuch, sich diskret von der Nomenklatura und der Macht der Partei zu distanzieren, von all dem, was bis dahin sein Leben war und ebendiese Uniform garantiert hatte.
Allem Anschein nach wollte er sich eine ganz neue Existenz aufbauen, ein andersartiges Leben, und hatte eingesehen, dass dies nur möglich wäre, wenn er sich dessen entledigte, was mehr als alles andere an sein altes erinnerte. Es stimmt zwar, dass eine Uniform alle gleichmacht, jeden in die gleiche Form presst, um zu unterstreichen, was wir gemeinsam haben, nicht, was uns trennt. So gesehen, ist eine Uniform ein großer Gleichmacher. Es stimmt aber auch, dass manche, die sie tragen, gleicher sind als andere, die sie ebenfalls tragen, und viele Bekannte meines Schwiegervaters waren bestürzt: Mit einem Offizierskasino konnte es in diesem Teil Europas doch kein Büro aufnehmen.
Zu dieser Zeit nagte bereits die Krankheit an ihm. Immer öfter war er müde und blieb im Bett, sein Haar wurde vor der Zeit schütter und grau. In seiner Jugend hatte er eine Schreinerlehre angefangen, doch wie bei so vielen seiner Generation war der Krieg dazwischengekommen. Aus einem halben Schreiner war ein Partisan und Soldat geworden, ebenfalls nur ein halber, und erst gegen Ende seines Lebens hatte er die Möglichkeit, die Entscheidung zu korrigieren, die nicht voll und ganz seine eigene, selbständig getroffene gewesen war. Er war zwanzig, als er sich den Partisanen angeschlossen hatte. Der Krieg hatte ihn gewählt, nicht umgekehrt.
Als er nun das Sakko wählte, schien er zu glauben, dass es möglich sei, noch einmal von vorn anzufangen. Als abgedankter Oberst musste er sich jedoch damit begnügen, in der Möbelfabrik zu kontrollieren, ob andere ordentlich geschreinert, gepolstert, tapeziert und geleimt hatten und diese Möbel einer Bevölkerung verkauft werden konnten, die ihre Einrichtung früher entweder von den Eltern geerbt hatte oder selbst anfertigen musste. Nun gab es immerhin nagelneue Möbel zu kaufen, die in Fabriken hergestellt wurden, die es früher nicht gegeben hatte. Niemand musste mehr darauf warten, dass jemand starb, oder mit zwei linken Händen versuchen, etwas zu tun, wozu er nicht taugte, und auch diesen großen Fortschritt heftete sich die Partei an ihre Fahne.
Da saß er nun, umgeben von seinen in der Fabrik hergestellten slowenischen Möbeln in alpin rustikalem, aber immerhin nicht bäurisch plumpem Stil, vielleicht in einem jener schwarzen Ledersessel, die in den siebziger Jahren in Mode gekommen waren, vor einer Vitrine oder Bücherregalen mit Glasschiebetüren, alles auf Raten gezahlt, wobei die Regale nicht mit Büchern vollgestellt werden sollten, sondern eher mit Familienporträts und Schneckenhäusern, Wimpeln, vielleicht einem Jesulein aus angeschlagenem Porzellan, einem Barometer und industriell erstarrten Plastikblumen in einer Vase mit der Aufschrift Ricordo di Trieste, all dem kleinbürgerlichen Krimskrams, der meinen Schwiegervater dazu veranlasst haben mag, darüber nachzusinnen, wie vergeblich und sinnlos doch jede Revolution ist, möglicherweise auch darüber, dass ebendiese Tatsache, dass einer wie er im Ledersessel da saß, um sozusagen diese kleinbürgerliche Welt zu vollenden, die endgültige Bestätigung dieser düsteren Erkenntnis war.
Gut zehn Jahre lang sollte er das Unternehmen leiten, dann stellten seine Nieren ihre Funktion ein. Die Krankheit erwies sich als größere Veränderung in seinem Leben als der Verlust der Uniform. Seine letzten Jahre verbrachte er als schwerkranker Mann, der alle drei Tage zur Dialyse musste. In der Zeit, die er noch zu leben hatte, wurde die Krankheit zu seiner Hauptbeschäftigung.
Als mein Schwiegervater aus dem Militär ausschied, behielt er seine Dienstwaffe, wie ich glaube, vor allem aus sentimentalen Gründen, so wie ein ziviler Staatsbeamter, der sich an seinem letzten Arbeitstag mit Stiften und Briefpapier mit dem Logo der Behörde oder des Ministeriums eindeckt. Die Waffe mag ihn an den Krieg und mehr noch an seine Jugend erinnert haben. Er verwahrte den Revolver zu Hause in einer Schreibtischschublade und holte ihn nur zum Zerlegen, Reinigen und Ölen hervor. Vorsichtig legte er die einzelnen Teile auf ein Stück Zeitungspapier, bevor er den Revolver wieder zusammensetzte und in der Schreibtischschublade verschwinden ließ. Als sich seine Tochter und ihr jüngerer Bruder eines Tages der Waffe bemächtigt hatten, um sie näher zu untersuchen, ertappte er sie auf frischer Tat. Der Oberst war Choleriker, doch dieser Zornesausbruch übertraf alle anderen, an die sich meine Frau aus ihrer Kindheit erinnern kann.
Wie so viele andere Kriegsteilnehmer redete der Vater selten über diese Zeit. Er schwieg. Mit wem hätte er auch darüber reden sollen? Mit denen, die nicht dabei gewesen waren, gab es keine gemeinsamen Erinnerungen, und die Kameraden, mit denen es gemeinsame Erfahrungen gab, brauchte er nicht daran zu erinnern. Sein Krieg wurde zum Schweigen. Darin verband sich Verzweiflung mit seiner Verachtung gegenüber allen, die nicht dabei gewesen waren. Über den Krieg gab es vielleicht kaum etwas anderes zu erzählen als das, was man am liebsten vergessen wollte oder wovon zweifelhaft war, ob ein anderer es verstehen konnte. Folglich erzählte er lieber nichts.
Hin und wieder tauchte ein Kamerad aus früheren Zeiten auf. Dann gingen sie zusammen in die Kneipe, und der Vater kehrte erst nach Mitternacht in schmuddeliger Uniform, auf unsicheren Beinen und viel unverständliches Zeug brabbelnd heim. Die Familie nahm an, dass er wieder an der Front war, und seine Frau tat so, als würde sie seine Ungereimtheiten verstehen, und vollzog stoisch ihren Part des Heimkehrrituals: stimmte allem zu, was sie nicht verstand, briet ein paar Eier und schenkte ihm widerstrebend ein letztes Glas ein.
Bei ihnen zu Hause wurde fast nie über den Krieg geredet. Nur dunkel erinnert sich meine Frau an Bruchstücke von Erzählungen, die diesen Namen eigentlich gar nicht verdienten, und was der Vater da sagte, war weder spannend noch sonderlich interessant. Ihrer Erinnerung nach haben die Partisanen vorwiegend geschlafen, gehungert, gefroren, miteinander gestritten oder darauf gewartet, dass etwas passiert.
Gewartet worauf?
Auch in diesem Punkt gab der Vater keine Auskunft. Das Warten schien in dem bisschen, was er dann doch gelegentlich erzählte, zur Hauptbeschäftigung der Partisanen zu geraten, eine alles andere als heroische Tatenlosigkeit, die zu dem Krieg, wie er sich in Film und Fernsehen ausnahm, nicht so recht passen wollte, und seine Tochter fragte sich das eine oder andere Mal, wie diese Deutschen von derart untätigen Gegnern wie ihrem Vater hatten besiegt werden können.
Der italienische Erzfeind vielleicht. Aber die Deutschen?