Friedrich Nietzsche
Das große Lesebuch
Herausgegeben von Ludger Lütkehaus
FISCHER E-Books
Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK.
Covergestaltung und -abbildung: bilekjaeger, Stuttgart
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2014
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ISBN 978-3-10-403020-3
Vgl. das Quellen- und Siglenverzeichnis, S. 432
Ludger Lütkehaus
Am Vormittag des 6. Januar 1889, es ist ein Sonntagmorgen, ereignet sich in Basel Ungewöhnliches. Jacob Burckhardt, der berühmte Kultur- und Kunsthistoriker der Universität, sucht den Kirchenhistoriker Franz Overbeck auf. Es ist alles andere als Besuchszeit, besonders für Basel, wo man auf Distanz hält. Doch beide sind über ihre kollegialen Kontakte hinaus durch die Beziehung zu einem Dritten verbunden: Friedrich Nietzsche, Burckhardt distanziert wohlwollend, Overbeck als Nietzsches bester Freund. Und Burckhardt hat gerade von Nietzsche aus Turin einen verstörenden Brief erhalten:
Lieber Herr Professor,
zuletzt wäre ich sehr viel lieber Basler Professor als Gott; aber ich habe es nicht gewagt, meinen Privat-Egoismus so weit zu treiben, um seinetwegen die Schaffung der Welt zu unterlassen. Sie sehen, man muss Opfer bringen, wie und wo man lebt. (…) Ich (…) leide an zerrissenen Stiefeln und danke dem Himmel jeden Augenblick für die alte Welt, für die die Menschen nicht einfach und still genug gewesen sind. – Da ich verurtheilt bin, die nächste Ewigkeit durch schlechte Witze zu unterhalten, so habe ich hier eine Schreiberei, die eigentlich nichts zu wünschen übrig lässt, sehr hübsch und ganz und gar nicht anstrengend (…). Was unangenehm ist und meiner Bescheidenheit zusetzt, ist, dass im Grunde jeder Name in der Geschichte ich bin; auch mit den Kindern, die ich in die Welt gesetzt habe, steht es so, dass ich mit einigem Misstrauen erwäge, ob nicht Alle, die in das ›Reich Gottes‹ kommen, auch aus Gott kommen. In diesem Herbst war ich, so gering gekleidet als möglich, zwei Mal bei meinem Begräbnisse zugegen (…) da ich gänzlich unerfahren in den Dingen bin, welche ich schaffe, so steht Ihnen jede Kritik zu, ich bin dankbar, ohne versprechen zu können, Nutzen zu ziehn. Wir Artisten sind unbelehrbar. – (…) Erwägen Sie, wir machen eine schöne schöne (sic!) Plauderei, Turin ist nicht weit, sehr ernste Berufspflichten fehlen vor der Hand, ein Glas Veltliner würde zu beschaffen sein. Negligé des Anzugs Anstandsbedingung.
In herzlicher Liebe Ihr
Nietzsche
(…) Von Zeit zu Zeit wird gezaubert … Ich habe Kaiphas in Ketten legen lassen; auch bin ich voriges Jahr von den deutschen Ärzten auf eine sehr langwierige Weise gekreuzigt worden. Wilhelm(,) Bismarck und alle Antisemiten abgeschafft.
Sie können von diesen (sic!) Brief jeden Gebrauch machen, der mich in der Achtung der Basler nicht heruntersetzt. –
Ein bewegendes Dokument, geprägt von einer verzweifelten Komik, offensichtlich diktiert vom Wahn. Overbeck nimmt unverzüglich Kontakt auf zu Professor Wille, dem Direktor der Basler Psychiatrie. Wille rät zu sofortiger Intervention. Noch am Abend des 7. Januar bricht Overbeck mit der Bahn nach Turin auf. Dort kommt es zu einer »fürchterlichen« Wiederbegegnung:
Ich erblicke Nietzsche in einer Sophaecke kauernd und lesend (…), entsetzlich verfallen aussehend, er (…) stürzt sich auf mich zu, umarmt mich heftig mich erkennend, und bricht in einen Tränenstrom aus, sinkt dann in Zuckungen aufs Sopha zurück, ich bin auch vor Erschütterung nicht im Stande auf den Beinen zu bleiben (…). Es kam vor, dass er in lauten Gesängen und Rasereien am Klavier sich maßlos steigernd Fetzen aus der Gedankenwelt, in der er zuletzt gelebt hat hervorstieß und dabei (…) sublime, wunderbar hellsichtige und unsäglich schauerliche Dinge über sich als den Nachfolger des toten Gottes vernehmen ließ, das Ganze auf dem Klavier gleichsam interpungierend, worauf wieder Konvulsionen und Ausbrüche eines unsäglichen Leidens erfolgten, (…) Äußerungen des Berufs, (…) der Possenreißer der neuen Ewigkeit zu sein, und er, der unvergleichliche Meister des Ausdrucks, war außer Stande selbst die Entzückungen seiner Fröhlichkeit anders als in den trivialsten Ausdrücken oder durch skurriles Tanzen und Springen wiederzugeben.
Mit Hilfe eines Begleiters gelingt es Overbeck, Nietzsche nach Basel zu überführen. Am 10. Januar 1889 wird er in die Basler Psychiatrie, die »Friedmatt«, eingeliefert. Eine Woche später trifft Nietzsches Mutter in Basel ein. Assistiert von einem Krankenwärter und einem jungen Arzt, der einst einer der Schüler Nietzsches am Basler Pädagogium gewesen war, bringt sie den vom Wahn zerrissenen, sie im Wahn gewalttätig bedrohenden Sohn in die Jenaer Nervenklinik. Ein Jahr später erhält sie die Erlaubnis, ihn in ihre Naumburger Wohnung zu nehmen, wo sie ihn bis zu ihrem Tod 1897 hingebungsvoll pflegt (vgl. Exkurs 1: Die grausame Wiederkehr des Dionysos. Friedrich Nietzsche liest Euripides – und antizipiert sein eigenes Geschick, Anhang S. 427ff.).
Danach bemächtigt sich die Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche, die Witwe des militanten Antisemiten Bernhard Förster, endgültig des inzwischen berühmt gewordenen Bruders. Schon die Mutter hatte ihren rigorosen Zugriff befremdet registriert. In der Weimarer »Villa Silberblick«, zugleich dem Domizil des Nietzsche-Archivs, lässt die Schwester den »lieben Kranken« pflegen. Mehr noch stellt sie die spektakuläre menschliche und philosophische Sehenswürdigkeit, die nun von der Aura des irrsinnigen Genies umweht ist, für die immer zahlreicheren Besucher aus. Sie ist Regisseurin, Agentin, Impresario, Managerin. Sie verwaltet sein Werk. Sie schreibt, stilisiert, mystifiziert seine Biographie. Sie nimmt es mit der Wahrheit nicht so genau. Sie, die er einst auf das Kosewort »Lama« getauft hatte, ohne schon so viel Böses zu ahnen, spuckt gegen ihre Feinde Gift und Galle. Sie fälscht seine Schriften und Briefe. Sie radiert und rasiert, was ihr nicht passt. So macht sie auf ihre Weise die Probe auf seine Lehre »Ueber Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne« und vom »Willen zur Macht« – vor allem darauf, dass der Wille zur Macht »interpretiert« (vgl. Exkurs 2: Der Wille zur Macht und der Wille zum Text. Zur Geschichte der Nietzsche-Edition, Anhang S. 460ff.). Die Schwester ist der böse Dämon Friedrich Nietzsches, der sein Werk zum Unglück für die Deutschen, zur Wegbereitung des Dritten Reiches macht, bis hin zum Empfang Adolf Hitlers, dem sie den Spazierstock des Bruders vermacht, drei Jahrzehnte später im Weimarer Nietzsche-Haus. Der wahnsinnige, hellsichtige Nietzsche kommentiert das vorauseilend am 4. Januar 1889: »Ich lasse eben alle Antisemiten erschießen … Dionysos.«
Doch mit dieser weitreichenden Aufgabe wie mit etlichen anderen, die er in den ersten Januartagen 1889 in Angriff nimmt, überfordert der im Größenwahn delirierende Nietzsche sich. Die Erschießung »aller Antisemiten« durch »Dionysos«, den einst aus Asien nach Griechenland eingewanderten, den zerreißenden und zerrissenen Gott, der für Nietzsche zur wichtigsten mythischen Identifikationsfigur geworden ist, bleibt ihm ebenso versagt wie die Verhaftung des Papstes, das Arrangement einer Begegnung mit Nietzsches »Sohn Umberto«, dem italienischen König, mehr noch die Verklärung der von ihm einst als Gott geschaffenen Welt: so seine Phantasien, die er in Zettelform, den berühmt gewordenen »Wahnsinnszetteln«, am 31. Dezember 1888 und in den ersten Januartagen 1889 an alte Freunde und Bekannte, an diverse Briefpartner wie an die Spitzen der geistlichen und weltlichen Hierarchien schreibt. Allein im Wahn ist jene verklärende »frohe Botschaft« noch denkbar, noch sagbar, die Nietzsche so paradox wie schlüssig mit der Unterschrift »Der Gekreuzigte« neben den von »Dionysos« gezeichneten Zetteln versieht.
In dieser Doppelsignatur kommen die zentralen Chiffren von Nietzsches Leben und Denken zusammen, bis zur Unversöhnlichkeit konträr, gleichzeitig unterschwellig verbunden im Zeichen leidender und – wie auch immer – wiederauferstehender Gottes- und Menschensöhne. »Dionysos« ist das Symbol, das der seiner Herkunft entlaufene Pfarrerssohn Nietzsche dem Christentum entgegensetzt.
Dionysos’ Beziehung zum christlichen Gott aber ist komplexer, als es die philosophische Schulweisheit will. Denn einerseits ist Dionysos zwar für Nietzsche der Gott der Immanenz, eines entschlossenen Wohnens hienieden ohne »Hinterweltler« und »Hinterwelt«, einer strikt weltlichen Religion, die das Leben in allen seinen Formen, jenseits von »Gut und Böse«, in Lust, nicht zuletzt der sexuellen Lust, und in Weh bejaht. Dionysos und Antichrist fallen insofern tatsächlich zusammen. Der asiatisch-hellenische Gott ist die Chiffre für eine »unio mystica« mit dem Leben, für eine vitalistische Mystik, die der Religionserneuerer, der philosophische Religionsstifter Nietzsche wiederbeleben will.
Andererseits aber, auf Grund einer nie gelösten Ambivalenz, die Nietzsche zum gläubigsten aller atheistischen Philosophen, zum frömmsten aller Gottesmörder, manchmal geradezu zum Hoftheologen des toten Gottes macht, zeichnen sich hinter der tragischen Maske des Dionysos wieder und immer stärker die Züge des christlichen Gottessohnes ab, in dessen Rolle Nietzsche sein »Ecce homo« sagt. Vor allem die Bejahung des Leidens und die Verkündigung von Verklärung und Wiederauferstehung, Wiedergeburt stiften die Verbindung von Dionysos und Crucifixus. Was sich in Nietzsches letztem Brief an Jacob Burckhardt ausdrückt und sein Freund Franz Overbeck in Turin erlebt, ist der verzweifelt komische Totentanz eines Geistes, der als »Possenreißer der neuen Ewigkeiten« der parodistische »Nachfolger des toten Gottes« und Weltenschöpfers ist. »Zur Räson« werden Nietzsche in gewissem Sinn erst wieder die Psychiatrie und die Schwester bringen. Aber zu was für einer »Räson«.
Am 15. Oktober 1844 wird Friedrich Nietzsche als erstes Kind des Pfarrers Carl Ludwig Nietzsche und seiner Frau Franziska, ihrerseits einer Pfarrerstochter, im sächsischen Röcken bei Lützen geboren. 1849 stirbt der Vater nach einem schlimmen Siechtum an einem Gehirnleiden, ein halbes Jahr später der erst zweijährige Bruder Ludwig Joseph. Ein früher Riß geht durch Nietzsches Leben. Die Identifikation mit dem Vater, die Bestimmung zur Theologen-Rolle in einem durch die pietistisch inspirierte Frömmigkeit der Mutter geprägten Milieu soll den Riß schließen. Acht Jahre lang wächst der »kleine Fritz« nach dem Umzug der Familie 1850 nach Naumburg fast ausschließlich unter Frauen auf. Fast ebenso ausschließlich dann der Wechsel in die Männerwelt, die der Theologen, der Philologen. Von 1858 bis 1864 besucht Nietzsche das berühmte Internat von Schulpforta. 1864 beginnt er das Studium der Theologie an der Universität Bonn, im zweiten Semester wechselt er in die Philosophische Fakultät über. Ab 1865 studiert er Klassische Philologie an der Universität Leipzig. In demselben Jahr wird er mit der Philosophie Schopenhauers bekannt, der zu seinem wichtigsten philosophischen Lehrer wird. Der Militärdienst 1867/8 endet mit einem schweren Reitunfall.
1869 wird der erst 24jährige Nietzsche, der noch nicht einmal promoviert ist, auf eine außerordentliche Professur für Klassische Philologie an der Universität Basel berufen. Bald unternimmt der Wagner-Verehrer Nietzsche seine ersten Besuche bei den Wagners in Tribschen am Vierwaldstättersee. 1870 beginnt die Lebensfreundschaft mit Franz Overbeck, dem bekennenden Nichtchristen auf dem Lehrstuhl für Neues Testament und alte Kirchengeschichte. Fürwahr liberal geht es in Basel zu. Im deutsch-französischen Krieg leistet der »aus dem preußischen Untertanenverbande« ausgeschiedene Nietzsche als Freiwilliger Sanitätsdienst; er selber erkrankt an Ruhr und Rachendiphtherie. 1871 scheitert seine Bewerbung um den vakanten Basler Lehrstuhl für Philosophie. 1872 trägt Nietzsche seine erste große philosophische Schrift »Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik«, die er aus einer Verbindung des »Apollinischen« mit dem »Dionysischen« hervorgehen sieht, die Bewunderung der Wagner-Anhänger und die harsche Kritik der exakten Philologen ein. 1873–1876 erscheinen die vier »Unzeitgemäßen Betrachtungen« über David Friedrich Strauss, Schopenhauer, Wagner und den »Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben.«
1876 beginnt mit Nietzsches Beurlaubung krankheitshalber (schwere chronische Kopfschmerzen, Augen- und Magenbeschwerden) sein einsames europäisches Wanderleben, das ihn sommers in die Alpen, in den übrigen Jahreszeiten an die französische und italienische Mittelmeerküste führt. Genua, Venedig, Nizza, schließlich Turin, in den Alpen seit 1881 das Engadiner Sils-Maria sind Nietzsches bevorzugte Plätze. Doch zuhause ist der Nomade Nietzsche nirgendwo und nie.
Mit der Veröffentlichung von »Menschliches, Allzumenschliches« 1878 endet die Freundschaft mit Richard und Cosima Wagner. In dem Maße, wie Wagner nach dem Wort Nietzsches »zum Christentum zurückschleicht«, wendet er selber sich im Zeichen Voltaires einer religions- und moralkritisch radikalisierten Aufklärung zu. 1881 folgen unter dem Titel »Morgenröte« die »Gedanken über die moralischen Vorurteile«, 1882 die »Idyllen aus Messina« und »Die Fröhliche Wissenschaft«. Im selben Jahr stürzen die unerwiderte Liebe zu Lou von Salomé, der Bruch der Freundschaft mit Paul Rée und der zeitweilige Abbruch der Kontakte zur Mutter und zur Schwester, deren Intrigen Nietzsche zum Opfer fällt, ihn in eine tiefe Krise. In diesem Jahr lebt er mehr denn je, wie freilich schon länger und auch danach immer wieder, am Rande der Selbsttötung.
Mit dem ersten Teil von »Also sprach Zarathustra« 1883 versucht Nietzsche sich nach dem »Tod Gottes« und der »Heraufkunft des Nihilismus« in eine neue positive Philosophie zu retten, die in einer hymnischen, biblisch inspirierten Sprache die neue frohe Botschaft verkünden will. Sie steht im Zeichen der »Umwertung aller Werte«, des »Übermenschen«, des »Amor fati«, der »Liebe zum Geschick«, und der emphatisch bejahten »Ewigen Wiederkunft«, da capo, noch einmal, noch einmal …
Nach dem Erscheinen des vierten Teiles des »Zarathustra« in einem Privatdruck 1885 radikalisiert sich schließlich 1886 mit »Jenseits von Gut und Böse«, 1887 mit der »Genealogie der Moral« und immer wieder neu ansetzenden nachgelassenen Fragmenten, die nach Nietzsches Tod unter dem Titel »Der Wille zur Macht« von seiner Schwester willkürlich zusammengestellt, zensiert, gefälscht werden, Nietzsches letzte Philosophie. 1888 publiziert er »Der Fall Wagner«, die »Götzen-Dämmerung«, »Nietzsche contra Wagner«, »Der Antichrist«, das autobiographische »Ecce homo« und die »Dionysos-Dithyramben«. In den ersten Januartagen 1889 bricht Nietzsche in Turin zusammen. Die – nach wie vor kontroverse – Diagnose der Basler wie dann der Jenaer Psychiatrie lautet auf progressive Paralyse, verursacht durch eine lange Zeit zurückliegende syphilitische Infektion.
Noch fast elf Jahre, ein Fünftel seines gesamten Lebens, hat Nietzsche in Jena, Naumburg und Weimar, bis 1897 bei und mit seiner Mutter, dann unter der Ägide seiner Schwester, weitergelebt. Am 25. August 1900 gibt er nach seinem Geist auch seinen Leib auf.
Mehr als 100 Jahre nach seinem Tod ist Nietzsche heute weltweit der meistgelesene, meistdiskutierte Denker. Aber ist er denn überhaupt ein Philosoph? Ist er nicht vielmehr ein Schriftsteller, ein Poet, ein Prophet, ein Religionsstifter? Finden sich in seinem Werk nicht Widersprüche, Brüche zuhauf? Spricht er nicht jeder Systematik Hohn? Ist er nichts zutiefst irrational? Worin liegt denn überhaupt die beispiellose Faszination, die ganz ohne Frage von ihm ausgeht?
Dafür gibt es viele Gründe, der offensichtlichste ist sein tragisches Geschick, sein ruheloses Wanderleben, sein spektakulärer Zusammenbruch. Christlich milde Geister haben nicht gezögert, seinen Wahnsinn als verdiente Strafe für den gotteslästerlichen, gottesmörderischen Atheisten zu deuten. Weniger bestrafungsbegierige Seelen werden sich des Mitgefühls nicht erwehren können – jenes Gefühls, das Nietzsche so heftig bekämpft und selber noch heftiger empfunden hat.
Wer Nietzsche gelesen hat und liest – und erstaunlich viele Menschen, auch, gerade Nichtphilosophen, lesen Nietzsche – wird darüber hinaus von einem der größten Schriftsteller deutscher Sprache fasziniert sein. Nietzsche ist in der Tat ein glänzender Stilist. Seine Aphorismen sind buchstäblich Geistes-Blitze, seine Kurzessays von einer unvergleichlichen Verdichtungsenergie. Und die Berufskrankheit der Schulphilosophie ist ihm fern: die Langeweile. Trotz des »größten Schwergewichts«, das er auf sich, seinem Denken lasten fühlt, ist er oft überaus witzig. Nur ein paar Beispiele: »Lucas, 18,14 verbessert. – Wer sich selbst erniedrigt, will erhöhet werden« (KSA II, 87). »Der Unterleib ist der Grund dafür, dass der Mensch sich nicht so leicht für einen Gott hält« (KSA V, 97). »Nicht wenige, die ihren Teufel austreiben wollten, fuhren dabei selber in die Säue« (KSA X, 103). »Schlechtes Gedächtniss. ›Das habe ich gethan‹, sagt mein Gedächtniss. ›Das kann ich nicht gethan haben‹, sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich – giebt das Gedächtnis nach« (KSA V, 86).
Sein berühmtestes Werk, der »Zarathustra«, ist, gemessen an diesen Qualitäten, vielleicht sein schwächstes: viel zu viel Pathos, zuviel »Pedal«, viel zu viele Unterstreichungen, die sein neues Evangelium ihm diktiert. Wenn Nietzsche als »freier Geist« in der Tradition der westeuropäischen Aufklärung »kalt«, analytisch schreibt, ist er viel besser. Die »Fröhliche Wissenschaft« ist sein größtes Buch. Die deutsche Philosophie ist – oft mit Recht – wegen ihrer Hartleibigkeit, Schwerverständlichkeit, Umständlichkeit, ihrer fatal unauslotbaren »Tiefe« gescholten worden. Aber man vergisst dabei, dass sie mit Nietzsche und seinem Lehrer auch in dieser Hinsicht: Schopenhauer, zwei große Stilisten mitumfasst. Hegel und Heidegger? Nein, Schopenhauer und Nietzsche!
Indes geht es Nietzsche nicht um sprachlich glänzenden Firnis, sondern um existentielle Fragen, die ihn umtreiben und niemanden unberührt lassen. Nietzsche ist nicht nur der größte Psychologe unter den Philosophen, zumal einer der Entdecker des Unbewussten vor Freud, er ist die leidenschaftlichste, die »umfänglichste« Seele der Philosophie. Nach dem Satz vom zu vermeidenden Widerspruch mögen nüchternere und ärmere akademische Schreibtischtäter agieren.
Schließlich und vor allem: Nietzsche provoziert. Er scheut kein Risiko. Dass das Denken kein Glasperlenspiel ist, lässt sich bei ihm wie bei kaum einem anderen erfahren. Inzwischen provoziert er nicht mehr als Denker des »Willens zur Macht«, des Dritten Reiches, zu dem er, der Anti-Antisemit, zurechtgefälscht wurde. Das sind vergangene Zeiten. Ausgerechnet zwei erklärte italienische Antifaschisten, Giorgio Colli und Mazzino Montinari, haben den Deutschen die bisher beste, zuverlässigste Nietzsche-Ausgabe beschert, auch wenn seither die Kritische Gesamtausgabe des handschriftlichen Nachlasses ab 1885 für substantielle Korrekturen sorgt.
Nietzsches größte Provokationen knüpfen sich an zwei Zitate. Das erste lautet: »Du gehst zu Frauen? Vergiss die Peitsche nicht!« So steht es im »Zarathustra« (KSA IV, 86) (vgl. Exkurs 3: »Peitsche und Küche!«. »Zarathustras Schwester« und Nietzsches Peitschen-Rat, Anhang S. 464ff.). Aber es steht dort, ganz abgesehen davon, dass es zumeist falsch zitiert wird, als doppelt distanzierte Rollenprosa: Nietzsches Zarathustra lässt ein »altes Weiblein« so sprechen. Und sieht man sich in den Bildern von Nietzsches Leben um, so entpuppt sich der rabiate Satz als Ge-
genbild jener Szene, die Nietzsche 1882 mit sich, Lou von Salomé und Paul Rée in einem Luzerner Photostudie inszeniert. Das »Weib« ist es hier, das über den beiden hoffnungslos verliebten Männern seine zierliche Peitsche schwingt. Nietzsche war ein sehr sensibler Freund und Verehrer der Frauen. Wenn er in seinen Schriften den übermännlichen Mann herauszukehren versucht – späte Reaktion auf den reinen Frauenhaushalt, in dem er aufwuchs –, so misslingt ihm das ebenso oft.
Das zweite Zitat ist sein berühmtestes und – je nach Position – auch sein umstrittenstes: »Gott ist todt«. Es steht im 125. Stück der »Fröhlichen Wissenschaft« (KSA III, 480ff.). An den betonierten Wänden der Philosophischen Fakultäten liest man gelegentlich in Graffiti-Form die halbwegs witzige Replik: »›Gott ist tot‹: Nietzsche.« »›Nietzsche ist tot‹: Gott« – auch wenn man nicht genau weiß, wann und wo Letzterer das gesagt haben kann. Gleichwie: Das Nietzsche-Zitat ist der Satz des »tollen Menschen«, der dem Stück den Titel gibt, also wieder distanzierte Rollenprosa. Überdies geht es um ein potenziertes Zitat: Der »tolle Mensch« ist der Nachfahre des Kynikers Diogenes, der bei helllichtem Tag mit der Lampe Menschen sucht – jetzt ist der Neokyniker auf der vergeblichen Gottsuche.
Unverkürzt lautet das Zitat: »Gott ist todt! Gott bleibt todt! Und wir haben ihn getödtet!« (KSA III, 481) Diese Formel schreibt den Tod Gottes zwar fest: Hier gibt es keine Ewige Wiederkehr. Aber der Satz räumt immerhin ein, dass Gott einmal gelebt habe. Er nennt die spezifische Ursache des Gottestodes: einen Mord. Und er nennt die Täter: ein »Wir«, das den »tollen Menschen« und sein Publikum, »uns alle« umfassen soll. Das Publikum aber will nichts von seiner neuen Botschaft wissen – nicht etwa, weil es noch an einen lebenden Gott glaubte, das tut es gerade nicht, sondern deswegen, weil ihm die Botschaft vom Tod Gottes nichts sagt. Die Frage ist nur, ob sie das nicht mehr tut wie in einer vollendet gottlosen Zeit, die selbst die vom Tod Gottes hinterlassene Lücke nicht mehr empfindet, oder ob sie das noch nicht tut.
Und eben das ist die Einsicht des »tollen Menschen«: Die Menschen auf dem Markt haben noch nicht realisiert, was mit Gott gestorben ist: »das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besaß«; ihre »Sonne«, ihr Heliozentrum, das dem Kosmos bisher Richtung und Ordnung, buchstäblich »Orientierung« gab; das Licht, das sie vor Finsternis, Kälte und Leere schützte; das Sein, das sie vor einem »unendlichen Nichts« bewahrte. Wenn in den unendlichen Zeit-Räumen der kopernikanischen Welt das Licht der Gestirne den Menschen noch leuchten kann, auch nachdem sie längst verglüht sind, so ist hier nach der eigenwilligen paradoxen Wendung, die der »tolle Mensch« der kosmologischen Metapher gibt, die Bedeutung des Todes des Gestirns aller Gestirne, das Licht der gottesmörderischen Tat bei den Menschen noch nicht wirklich angekommen, obwohl, nein gerade weil die Tatsache als solche für sie längst zu einer Banalität geworden ist. Im Gegensatz zu seinem Publikum ist der »tolle Mensch« ein höchst bewusster Gottesmörder, ein inständiger Atheist, der ebensowohl um die Größe der mörderischen Tat wie um das Ausmaß des Verlustes weiß. Ernsthafter, in gewissem Sinn frömmer als diese Traueranzeige könnte ein atheistisches Manifest schwerlich sein.
In anderen Stücken der »Fröhlichen Wissenschaft« gibt der inständige Atheist Nietzsche, der seiner Herkunft unter Schmerzen entlaufene ehemalige »kleine Pastor«, weitere eindrucksvolle Versionen seiner Verlustmeldung, seiner unfrohen Botschaft: Noch sind die Menschen heiter, weil sie von einer großen Last befreit sind, mit der sie der furchterregende alte Gott beschwert hatte, aber auch deswegen, weil sie die damit einhergehende Verdüsterung noch nicht wahrgenommen haben und sich noch nicht fragen müssen wie Nietzsche in der Nachfolge Schopenhauers, was denn und ob überhaupt das Leben jetzt noch lohne.
Das heißt keineswegs, dass Nietzsche in der Rolle des bekennenden Gottesmörders nun Reue empfände: »Gott ist todt! Gott bleibt todt!« Aber der »freie Geist« Nietzsche ist redlich genug, die Verlustgeschichte des Gottestodes nicht zu verleugnen: weil sie seine eigene ist. Andere, freiere Geister mögen durchaus fröhlicher empfinden.
Hier liegt vielleicht Nietzsches größter Vorzug: Er diagnostiziert den Tod der Ideen, der Idole, in seinen Anfängen der Geschichte als wissenschaftlicher Religion seiner Zeit, dann den Tod Gottes, den Tod der Wahrheit, den Tod der Moral, den Tod des Sinns. Er ist überragend als desillusionierter und desillusionierender Analytiker. Er versucht diese Tode nicht wertrestaurativ rückgängig zu machen. Nötigenfalls stößt er im Gegenteil noch, was fällt. Reue und Reversion liegen ihm fern. Doch nicht die Trauer. Anders als die »letzten Menschen« des »Zarathustra«, die das »Glück erfunden« haben und darob »blinzeln«, die Menschen der Spaßkultur, dementiert er nicht den Verlust. Und er weiß in unangenehmster Klarheit, was nun die Frage ist: Wie jetzt auch nur »aushalten«? Woher den »Sinn« nehmen und nicht stehlen, wenn er nirgendwo mehr zu finden ist?
Die Zumutung dieser Frage freilich hält Nietzsche nicht aus. Dafür ist der Verlust ihm noch zu nah. Einen gelassenen Nihilismus, einen Atheismus, der weder banal noch inständig ist, kennt er nicht. Mit allen Mitteln und um jeden Preis sucht Nietzsche deswegen neue Positivitäten zu schaffen. Neue und alte Götter wie Dionysos und der Übermensch, vermeintlich neue, in Wahrheit sehr alte Ideen und Maximen wie der »Amor fati« und die »Ewige Wiederkunft« sollen die hinterbliebene Leerstelle füllen. Das Konzept des »Willens zur Macht« ist der letzte, der scheiternde Versuch Nietzsches, des Leidenslebens noch einmal Herr zu werden. Sein eigenes Leben soll die Probe darauf sein. Deswegen mündet Nietzsches Werk in eine extrem stilisierte philosophische Autobiographie. Doch damit wird der Bogen seines Lebens vollends überspannt – bis der »toll« gewordene Mensch Nietzsche in der Doppelrolle von Dionysos und Gekreuzigtem, der sich selber ans Kreuz des Lebens geschlagen hat und dazu »Ecce homo« sagt, in Turin zusammenbricht.
»Zuletzt wäre ich viel lieber Basler Professor als Gott«:
Es wäre Nietzsche zu gönnen gewesen.
Das Glück meines Daseins, seine Einzigkeit vielleicht, liegt in seinem Verhängniss: ich bin, um es in Räthselform auszudrücken, als mein Vater bereits gestorben, als meine Mutter lebe ich noch und werde alt. Diese doppelte Herkunft, gleichsam aus der obersten und der untersten Sprosse an der Leiter des Lebens, décadent zugleich und Anfang – dies, wenn irgend Etwas, erklärt jene Neutralität, jene Freiheit von Partei im Verhältniss zum Gesammtprobleme des Lebens, die mich vielleicht auszeichnet. Ich habe für die Zeichen von Aufgang und Niedergang eine feinere Witterung als je ein Mensch gehabt hat, ich bin der Lehrer par excellence hierfür, – ich kenne Beides, ich bin Beides. – Mein Vater starb mit sechsunddreissig Jahren: er war zart, liebenswürdig und morbid, wie ein nur zum Vorübergehn bestimmtes Wesen, – eher eine gütige Erinnerung an das Leben, als das Leben selbst. Im gleichen Jahre, wo sein Leben abwärts gieng, gieng auch das meine abwärts: im sechsunddreissigsten Lebensjahre kam ich auf den niedrigsten Punkt meiner Vitalität, – ich lebte noch, doch ohne drei Schritt weit vor mich zu sehn. Damals – es war 1879 – legte ich meine Basler Professur nieder, lebte den Sommer über wie ein Schatten in St. Moritz und den nächsten Winter, den sonnenärmsten meines Lebens, als Schatten in Naumburg. Dies war mein Minimum: »Der Wanderer und sein Schatten« entstand währenddem. Unzweifelhaft, ich verstand mich damals auf Schatten … Im Winter darauf, meinem ersten Genueser Winter, brachte jene Versüssung und Vergeistigung, die mit einer extremen Armuth an Blut und Muskel beinahe bedingt ist, die »Morgenröthe« hervor. Die vollkommne Helle und Heiterkeit, selbst Exuberanz des Geistes, welche das genannte Werk wiederspiegelt, verträgt sich bei mir nicht nur mit der tiefsten physiologischen Schwäche, sondern sogar mit einem Excess von Schmerzgefühl. Mitten in Martern, die ein ununterbrochner dreitägiger Gehirn-Schmerz sammt mühseligem Schleimerbrechen mit sich bringt, – besass ich eine Dialektiker-Klarheit par excellence und dachte Dinge sehr kaltblütig durch, zu denen ich in gesünderen Verhältnissen nicht Kletterer, nicht raffinirt, nicht kalt genug bin. Meine Leser wissen vielleicht, in wie fern ich Dialektik als Décadence-Symptom betrachte, zum Beispiel im allerberühmtesten Fall: im Fall des Sokrates. – Alle krankhaften Störungen des Intellekts, selbst jene Halbbetäubung, die das Fieber im Gefolge hat, sind mir bis heute gänzlich fremde Dinge geblieben, über deren Natur und Häufigkeit ich mich erst auf gelehrtem Wege zu unterrichten hatte. Mein Blut läuft langsam. Niemand hat je an mir Fieber constatiren können. Ein Arzt, der mich länger als Nervenkranken behandelte, sagte schliesslich: »nein! an Ihren Nerven liegt’s nicht, ich selber bin nur nervös.« Schlechterdings unnachweisbar irgend eine lokale Entartung; kein organisch bedingtes Magenleiden, wie sehr auch immer, als Folge der Gesammterschöpfung, die tiefste Schwäche des gastrischen Systems. Auch das Augenleiden, dem Blindwerden zeitweilig sich gefährlich annähernd, nur Folge, nicht ursächlich: so dass mit jeder Zunahme an Lebenskraft auch die Sehkraft wieder zugenommen hat. – Eine lange, allzulange Reihe von Jahren bedeutet bei mir Genesung, – sie bedeutet leider auch zugleich Rückfall, Verfall, Periodik einer Art décadence. Brauche ich, nach alledem, zu sagen, dass ich in Fragen der décadence erfahren bin? Ich habe sie vorwärts und rückwärts buchstabirt. Selbst jene Filigran-Kunst des Greifens und Begreifens überhaupt, jene Finger für nuances, jene Psychologie des »Um-die-Ecke-sehns« und was sonst mir eignet, ward damals erst erlernt, ist das eigentliche Geschenk jener Zeit, in der Alles sich bei mir verfeinerte, die Beobachtung selbst wie alle Organe der Beobachtung. Von der Kranken-Optik aus nach gesünderen Begriffen und Werthen, und wiederum umgekehrt aus der Fülle und Selbstgewissheit des reichen Lebens hinuntersehn in die heimliche Arbeit des Décadence-Instinkts – das war meine längste Übung, meine eigentliche Erfahrung, wenn irgend worin wurde ich darin Meister. Ich habe es jetzt in der Hand, ich habe die Hand dafür, Perspektiven umzustellen: erster Grund, weshalb für mich allein vielleicht eine »Umwerthung der Werthe« überhaupt möglich ist. –
Abgerechnet nämlich, dass ich ein décadent bin, bin ich auch dessen Gegensatz. Mein Beweis dafür ist, unter Anderem, dass ich instinktiv gegen die schlimmen Zustände immer die rechten Mittel wählte: während der décadent an sich immer die ihm nachtheiligen Mittel wählt. Als summa summarum war ich gesund, als Winkel, als Specialität war ich décadent. Jene Energie zur absoluten Vereinsamung und Herauslösung aus gewohnten Verhältnissen, der Zwang gegen mich, mich nicht mehr besorgen, bedienen, beärzteln zu lassen – das verräth die unbedingte Instinkt-Gewissheit darüber, was damals vor Allem noth that. Ich nahm mich selbst in die Hand, ich machte mich selbst wieder gesund: die Bedingung dazu – jeder Physiologe wird das zugeben – ist, dass man im Grunde gesund ist. Ein typisch morbides Wesen kann nicht gesund werden, noch weniger sich selbst gesund machen; für einen typisch Gesunden kann umgekehrt Kranksein sogar ein energisches Stimulans zum Leben, zum Mehr-leben sein. So in der That erscheint mir jetzt jene lange Krankheits-Zeit: ich entdeckte das Leben gleichsam neu, mich selber eingerechnet, ich schmeckte alle guten und selbst kleinen Dinge, wie sie Andre nicht leicht schmecken könnten, – ich machte aus meinem Willen zur Gesundheit, zum Leben, meine Philosophie … Denn man gebe Acht darauf: die Jahre meiner niedrigsten Vitalität waren es, wo ich aufhörte, Pessimist zu sein: der Instinkt der Selbst-Wiederherstellung verbot mir eine Philosophie der Armuth und Entmuthigung … Und woran erkennt man im Grunde die Wohlgerathenheit! Dass ein wohlgerathner Mensch unsern Sinnen wohlthut: dass er aus einem Holze geschnitzt ist, das hart, zart und wohlriechend zugleich ist. Ihm schmeckt nur, was ihm zuträglich ist; sein Gefallen, seine Lust hört auf, wo das Maass des Zuträglichen überschritten wird. Er erräth Heilmittel gegen Schädigungen, er nützt schlimme Zufälle zu seinem Vortheil aus; was ihn nicht umbringt, macht ihn stärker. Er sammelt instinktiv aus Allem, was er sieht, hört, erlebt, seine Summe: er ist ein auswählendes Princip, er lässt Viel durchfallen. Er ist immer in seiner Gesellschaft, ob er mit Büchern, Menschen oder Landschaften verkehrt: er ehrt, indem er wählt, indem er zulässt, indem er vertraut. Er reagirt auf alle Art Reize langsam, mit jener Langsamkeit, die eine lange Vorsicht und ein gewollter Stolz ihm angezüchtet haben, – er prüft den Reiz, der herankommt, er ist fern davon, ihm entgegenzugehn. Er glaubt weder an »Unglück«, noch an »Schuld«: er wird fertig, mit sich, mit Anderen, er weiss zu vergessen, – er ist stark genug, dass ihm Alles zum Besten gereichen muss. – Wohlan, ich bin das Gegenstück eines décadent: denn ich beschrieb eben mich.
Ich betrachte es als ein grosses Vorrecht, einen solchen Vater gehabt zu haben: die Bauern, vor denen er predigte – denn er war, nachdem er einige Jahre am Altenburger Hofe gelebt hatte, die letzten Jahre Prediger – sagten, so müsse wohl ein Engel aussehn. – Und hiermit berühre ich die Frage der Rasse. Ich bin ein polnischer Edelmann pur sang, dem auch nicht ein Tropfen schlechtes Blut beigemischt ist, am wenigsten deutsches. Wenn ich den tiefsten Gegensatz zu mir suche, die unausrechenbare Gemeinheit der Instinkte, so finde ich immer meine Mutter und Schwester, – mit solcher canaille mich verwandt zu glauben wäre eine Lästerung auf meine Göttlichkeit. Die Behandlung, die ich von Seiten meiner Mutter und Schwester erfahre, bis auf diesen Augenblick, flösst mir ein unsägliches Grauen ein: hier arbeitet eine vollkommene Höllenmaschine, mit unfehlbarer Sicherheit über den Augenblick, wo man mich blutig verwunden kann – in meinen höchsten Augenblicken, … denn da fehlt jede Kraft, sich gegen giftiges Gewürm zu wehren … Die physiologische Contiguität ermöglicht eine solche disharmonia praestabilita … Aber ich bekenne, dass der tiefste Einwand gegen die »ewige Wiederkunft«, mein eigentlich abgründlicher Gedanke, immer Mutter und Schwester sind. – Aber auch als Pole bin ich ein ungeheurer Atavismus. Man würde Jahrhunderte zurückzugehn haben, um diese vornehmste Rasse, die es auf Erden gab, in dem Masse instinktrein zu finden, wie ich sie darstelle. Ich habe gegen Alles, was heute noblesse heisst, ein souveraines Gefühl von Distinktion, – ich würde dem jungen deutschen Kaiser nicht die Ehre zugestehn, mein Kutscher zu sein. Es giebt einen einzigen Fall, wo ich meines Gleichen anerkenne – ich bekenne es mit tiefer Dankbarkeit. Frau Cosima Wagner ist bei Weitem die vornehmste Natur; und, damit ich kein Wort zu wenig sage, sage ich, dass Richard Wagner der mir bei Weitem verwandteste Mann war … Der Rest ist Schweigen … Alle herrschenden Begriffe über Verwandtschafts-Grade sind ein physiologischer Widersinn, der nicht überboten werden kann. Der Papst treibt heute noch Handel mit diesem Widersinn. Man ist am wenigsten mit seinen Eltern verwandt: es wäre das äusserste Zeichen von Gemeinheit, seinen Eltern verwandt zu sein. Die höheren Naturen haben ihren Ursprung unendlich weiter zurück, auf sie hin hat am längsten gesammelt, gespart, gehäuft werden müssen. Die grossen Individuen sind die ältesten: ich verstehe es nicht, aber Julius Cäsar könnte mein Vater sein – oder Alexander, dieser leibhafte Dionysos … In diesem Augenblick, wo ich dies schreibe, bringt die Post mir einen Dionysos-Kopf …
Ich habe nie die Kunst verstanden, gegen mich einzunehmen – auch das verdanke ich meinem unvergleichlichen Vater – und selbst noch, wenn es mir von grossem Werthe schien. Ich bin sogar, wie sehr immer das unchristlich scheinen mag, nicht einmal gegen mich eingenommen. Man mag mein Leben hin- und herwenden, man wird darin, jenen Einen Fall abgerechnet, keine Spuren davon entdecken, dass Jemand bösen Willen gegen mich gehabt hätte, vielleicht aber etwas zu viel Spuren von gutemso
sehr grossesauerebittenhumanstethunSchuld
Wehr- und Waffen-Instinktistrussischen Fatalismusinwennan sichseinHygienedavonnichtüberflüssigesInstinkt-Sicherheitverbotunterfühlengrosse Vernunft
könnensuchtaggressiveMaassnichtgleicherechtschaffnenWo kann unterhatmeinErfolg
riecheverborgenenichtauszuhaltenEinsamkeitReinheitreine ThorheitEkel
KSA VI264269271276[1]
– Warum ich Einiges mehr weiss? Warum ich überhaupt so klug bin? Ich habe nie über Fragen nachgedacht, die keine sind, – ich habe mich nicht verschwendet. – Eigentliche religiöse Schwierigkeiten zum Beispiel kenne ich nicht aus Erfahrung. Es ist mir gänzlich entgangen, in wiefern ich »sündhaft« sein sollte. Insgleichen fehlt mir ein zuverlässiges Kriterium dafür, was ein Gewissensbiss ist: nach dem, was man darüber hört, scheint mir ein Gewissensbiss nichts Achtbares … Ich möchte nicht eine Handlung hinterdrein in Stich lassen, ich würde vorziehn, den schlimmen Ausgang, die Folgen grundsätzlich aus der Werthfrage wegzulassen. Man verliert beim schlimmen Ausgang gar zu leicht den richtigen Blick für Das, was man that: ein Gewissensbiss scheint mir eine Art »böser Blick«. Etwas, das fehlschlägt, um so mehr bei sich in Ehren halten, weil es fehlschlug – das gehört eher schon zu meiner Moral. – »Gott«, »Unsterblichkeit der Seele«, »Erlösung«, »Jenseits« lauter Begriffe, denen ich keine Aufmerksamkeit, auch keine Zeit geschenkt habe, selbst als Kind nicht, – ich war vielleicht nie kindlich genug dazu? – Ich kenne den Atheismus durchaus nicht als Ergebniss, noch weniger als Ereigniss: er versteht sich bei mir aus Instinkt. Ich bin zu neugierig, zu fragwürdig, zu übermüthig, um mir eine faustgrobe Antwort gefallen zu lassen. Gott ist eine faustgrobe Antwort, eine Undelicatesse gegen uns Denker –, im Grunde sogar bloss ein faustgrobes Verbot an uns: ihr sollt nicht denken! (…).
wie man wird, was man ist,SelbstsuchtSchicksalmitwasFehlgriffeMissverstehnkannSelbstsuchtSelbstzucht istzurückeinzelnedienendenUmwerthung der Werthehöhere ObhuthervorsprangenRingenweiteEhrenWeiberGeld24
umzulernenLügenkannerstenichtfalschSpielleidenWenerräthamor fatilieben
Das Eine bin ich, das Andre sind meine Schriften. – (…)
(KSA VI, 278f., 293–298)