ART GARFUNKEL
AUF DEM WEG
Anmerkungen und Erinnerungen
Aus dem Amerikanischen
von Viola Krauß
FISCHER E-Books
Art Garfunkel wurde am 5. November 1941 in New York City geboren. Er ist Schauspieler, Musiker und studierter Mathematiker. Zusammen mit seinem Schulfreund Paul Simon gründete er 1957 Simon & Garfunkel. 1970 trennte sich das Duo, kam jedoch mehrmals wieder zusammen, u.a. für das legendäre Konzert im Central Park vor über einer halben Million Zuschauern im September 1981. Art Garfunkels Solokarriere umfasst zwölf Alben. Er lebt in New York.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Art Garfunkel schreibt über sein Leben vor, während und nach seiner Zeit mit Simon & Garfunkel – dem erfolgreichsten Duo aller Zeiten. Er erzählt von seiner Kindheit im Queens der 1940er und 1950er Jahre und der Entdeckung der eigenen Stimme, von seiner Freundschaft mit Paul Simon und ihrem ersten Erfolg als Tom & Jerry, vom Durchbruch mit »The Sound of Silence«, von ihren unterschiedlichen Persönlichkeiten und späteren Zerwürfnissen und berichtet offen über ihre Trennung ... Einfühlsam und poetisch nimmt uns Art Garfunkel mit auf seine ganz persönliche Reise zurück in die Zukunft.
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die Originalausgabe erschien 2017 bei Alfred A. Knopf,
einem Imprint von Penguin Random House LLC, New York.
Copyright © 2017 by Art Garfunkel
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2018 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: www.buerosued.de
Coverabbildung: Pictorial Press/Alamy
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-490616-4
[kömri]
Das ist Paul Simon
Geschrieben im Jahr 2006.
»It’s hard to imagine any single word that would accurately describe this book … an entertaining volume that’s more fun to read than a conventional memoir might have been.«
The Wall Street Journal
Dieses Buch ist Kathryn gewidmet,
meiner Frau, meiner Gattin
Ich erinnere mich, wie ich dich beinahe verlor.
1996 war das, James Arthur war sechs.
Mit der Hoffnung, deinen Krebs heilen zu können,
gingen wir nach Kanada.
Ich stellte mir vor, dich zu verlieren.
Meine Geliebte zu verlieren.
James ohne dich großzuziehen.
Ich konnte es nicht ertragen.
Es war meine absolut dunkelste Stunde – das tiefste,
traurigste Tal, das ich kannte.
Der Gedanke, es gäbe keine Mutter, kein Du
in unserem Leben, ließ mich das große Etwas spüren,
das du bist.
So groß wie mein Leben.
Doch du bist hier,
in all deiner herrlichen mystischen Wesenhaftigkeit.
Mom hatte recht – Gott meint es gut mit uns.
13.10.2016
Ich war mit den Nerven am Ende, als ich am 2. Januar 1969 mitten in der Nacht meine Sachen zusammenpackte. Da stand ich nun in meinem Junggesellen-Apartment mit den unverputzten Backsteinwänden auf der East 68th Street und war dabei, das Leben als frauenjagende Studioratte, das ich in den vergangenen vier Jahren geführt hatte, hinter mir zu lassen. Ich wollte mein Glück als Schauspieler versuchen. Als Popstar ohne Schauspielerfahrung war ich mir schmerzhaft bewusst, dass ich ein absoluter Quereinsteiger war.
Ja, die Panavision-Kamera ist quasi wie das Neumann-Mikrophon (die Leute bauschen Kleinigkeiten so gern auf), doch wie würde man mich in Mexiko unter den ganzen erstklassigen Schauspielern auf dem Gesellschaftsparkett willkommen heißen – unter Alan Arkin, Jon Voight, Orson Welles? Ich zitterte vor Angst, als ich mich am nächsten Tag auf den Flug in Mike Nichols’ dritten Spielfilm vorbereitete, den Nachfolger von Wer hat Angst vor Virginia Woolf? und Die Reifeprüfung – die während des Zweiten Weltkriegs spielende schwarze Komödie Catch-22.
Wieso hat Mike ausgerechnet mir die Rolle des Captain Nately, des Unschuldigen, gegeben? Was war mit meinem berühmten Gesangspartner? Solche Fragen stellte ich mir nicht. Ich war durch und durch von der Richtigkeit überzeugt, meine persönliche Hälfte von Simon & Garfunkel stärken zu dürfen. Paul schrieb die Songs. Paul spielte die Gitarre. Ich war der Sänger, Co-Produzent der Alben, der darauf wartete, dass die Songs für unser fünftes und letztes Album geschrieben würden. In meinen Augen hatte ich den Part des Unterlegenen.
Ich weiß noch, wie Paul als Schauspieler für diesen Film zur Diskussion stand. Oder anders ausgedrückt: Wir beide wurden gecastet und Paul dann fallengelassen. Musiker reden nicht viel. Wir waren zu cool, um verletzte Gefühle von innen nach außen zu kehren. Niemand nahm es Ringo übel, als er »They’re gonna put me in the movies« (Ich komme ins Kino) sang. Es stieß auf Zuneigung. Mike wusste, dass auch ich ein Recht darauf hatte. Erinnern Sie sich, er hatte früher ebenfalls einen brillanten Partner, in seinem Fall eine Frau.
Im Sommer 1969 brachte Mike den Film nach Rom, und Pauls Texte wandelten sich von »I know you’re part’ll go fine« – Worte einer tiefen Freundschaft (»The Only Living Boy in New York«) – zu »Why don’t you write me?« – Worte der Enttäuschung.
Ich habe diese Stimmbänder. Zwei. Seit ich fünf bin und mit dem Gefühl einer mich durchströmenden Gottesgabe zu singen begann, vibrieren sie vor Liebe zum Klang. In der sechsten Klasse fand ich einen Freund, der meinem Gesang sexy Gitarrenrhythmen und Gesangsharmonien beifügte. Zwölf Jahre alt waren wir, als der Rock ’n’ Roll geboren wurde. In unseren Zwanzigern machten wir ein paar besondere Aufnahmen. Sie erfreuten unsere Ohren und die auf der ganzen Welt. Ich versah diese Schönheiten mit Namen und Copyright.
Wieso habe ich ihm nicht geschrieben?
Es bestand kein Zweifel daran, dass Paul und ich unser Leben gegenseitig aufs Unermesslichste bereichert haben. Woher dieser Spleen, sich von diesem wundervollen Duo fortbewegen zu müssen? Aus Kränkung. Aus Verrücktheit.
Wenn Paul das Gefühl hatte, Mike habe es mir ermöglicht, »es ihm zu zeigen«, wer weiß, womöglich tat ich genau das. Wieso habe ich ihm nicht geschrieben? Wer sind diese beiden empfindsamen jüdischen Jungs, die so sehr geliebt werden von ihren Müttern? Wer wirft den ersten Stein, und wer erwidert ihn? Wessen Stein existiert nur in der Vorstellung? Wessen Stein ist real?
Ich wuchs unweit der Jewel Avenue und der Main Street im Stadtteil Queens in New York auf, als mittlerer von drei Jungs. Hitler war am Siegen im Jahr 1941, doch Rose und Jack brachten ein Kind nach Hause in ihr neues Backsteinhaus in den Kew Garden Hills.
Auf halbem Weg zwischen der Jamaica und der Forest Hill Highschool waren die Häuser Doppelhaushälften, mit zwischenliegenden Auffahrten und hintenliegenden Garagen, die sich wiederum neben drei mal neun Meter großen Rasenflächen befanden. Punchingball war das Größte. Zwölf von uns Jungs spielten es auf der Straße. Irgendjemand rief garantiert immer »Auto« und unterbrach damit das Spiel.
Ganz oft bin ich den Gully runter, in die Kanalisation, um den Hüpfball zu holen. Wir blätterten uns durch Baseball-Karten, fuhren Fahrrad (standen auf dem Lenker). Wir fingen Glühwürmchen, Japankäfer, wuschen uns fürs Abendessen – Abendmahl hieß es bei uns – oberhalb der Handgelenke, tagsüber spielten wir Schach und sahen uns abends die Brooklyn Dodgers im Fernsehen an, all das in unseren Veranda-Wintergärten. Die Abendspiele waren etwas Neues; die Dodgers spielten im Flutlicht, in weißer Seide. Duke Snider sah gut aus. Für mich aber war Stan Musial der stille König.
Das Bild eines Jungen unter Mänteln
in einem Wintergarten während des Gewittersturms.
Er rückt seinen Stuhl dorthin,
wo das Wasser eindringt,
näher an das Blitzen und das Regenmeer.
Ein blinder Passagier ist er.
Wir gehörten zur unteren Mittelschicht. Mein Dad baute mir einen Klapptisch in mein Zimmer mit dem blauen Linoleumboden. Bruder Jerome wohnte am anderen Ende des Flurs. Wir tranken Starlac und Alba (ein verdünntes Milch-Imitat); darin wurde ein weichgekochtes Ei verquirlt. Ekelhafte kleine Eiweißtupfer schwammen obenauf.
Das Leben musste ein wenig grässlich sein. Also schuf Gott die jüdische »Sonntagsschule«. Bei meinem jüdischen Unterricht ging es rein gar nicht um einen fünftausend Jahre alten Glauben. Wer weiß schon, woran die Juden glauben? Uns nach der Schule vom Spielplatz fernzuhalten? Es ging um die Langeweile des Lesens, um das Abfragen dieser Zeichen, ohne die Bedeutung der Worte zu kennen. Es ging um das Hören der Worte von der hintersten Reihe aus, während ich das Schild meiner Kappe über die geschlossenen Augen gezogen hatte.
UND UM DAS SINGEN DIESER WORTE.
Mit neun sang ich »Too Young« von Nat Cole in den Talentwettbewerben der Grundschulen. In einem Schultheaterstück spielte ich Stephen Foster und sang.
Mein Mitschüler Paul Simon muss zugesehen haben. Ich kannte ihn damals noch nicht; und ich wusste auch noch nichts von der Wirkung, die ich mit meinem Singen auf die Mädels hatte. Doch in der Synagoge, in dem Tempelraum mit den hohen Decken und den mitschwingenden Holzwänden, da wusste ich, dass ich beim Singen dieser uralten andächtigen Melodien in Moll erwachsene Männer in den Reihen vor mir zu Tränen rührte. Paul Simon sagt, bei meiner Bar-Mizwa war es rappelvoll.
Nur im Geheimen konnte mein Singen entstehen.
Der Geschichte wird alles entgehen.
Die Winzlinge unter den Mikroskopen, sie warten,
bis die Lichter des Labors aus sind,
und nachschauen wird kein einziger Wissenschaftler.
Alles wartet darauf, dass man es nicht bemerkt.
Alles Dokumentierte wurde nur für die Show aufgeführt.
Selbst Einstein applaudierte Köpfen, die klüger
als sein eigener sein sollten,
die sich jedoch partout nicht auftreiben lassen wollten.
Die Wahrheit liegt im Innern, allein der Ersatz für sie ist manifest.
Napoleons Grandeur – die innere Unrast.
Ich traf Paul Simon bei unserem Abschlusstheaterstück, hinter den Kulissen von Alice im Wunderland. Wir standen kurz vor der Mittelstufe. Er war das weiße Kaninchen (das zu spät kam). Ich war die Grinsekatze. Er war ZUM WEGSCHMEISSEN. Damals hat er angefangen, mich zum Lachen zu bringen, und von da an konnten wir kaum das Kichern unterdrücken. Für ihn war ich der blonde Sängerjunge. Für mich war er der aufgeregte Junge von nebenan, der Sohn eines Bandleaders am Bass, der aus Newark in unsere Nachbarschaft gezogen war. Wie James Dean in … denn sie wissen nicht, was sie tun gab er den Außenseiter.
Singen ist ein Kitzeln hinten im Hals, ein Flattern im Bauchraum, der Stimmbänder, genannt Vibrato. Es wird von Gott durch das Herz gesandt, und es ist nicht analysierbar.
Manche Menschen können es einfach. Sie hören Radio und fangen an, das Gehörte nachzuahmen. Mit fünf oder sechs sang ich die Lieder, die dort liefen, wie etwa »You’ll Never Walk Alone«, und sie inspirierten mich. Ich hörte meine Eltern im Wohnzimmer »Bye Bye Blackbird« singen – zweistimmig. Dass ich das auch konnte, das bereitete mir eine Freude, die mich an Orte führte, wo der Nachhall Fortsätze an den Noten wachsen ließ – wunderbare Klangausdehnungen. Ich verliebte mich in den verstärkenden Effekt gefliester Räume, Gänge und Treppenhäuser. Wenn keiner zuhörte, probierte ich, schöne Vokallaute hinzubekommen, nur um meiner eigenen Ohren willen. Mein Privatvergnügen. Während ich rhythmisch über Gehwegritzen schritt, sang ich meine Melodie. Und sang sie danach in der nächsthöheren Tonlage. Ich war auf dem Weg in die Grundschule.
Schreibe das Gedicht laut heraus
Autorisiere das Herz
Brenne die Brücke nieder und
Sei das Kunstwerk
Mein Gesang war ein immenses Geschenk, das ich meine gesamte Kindheit, mein gesamtes Leben hindurch ehrte. Ich war dünn, Linkshänder, Skorpion. Mein Vater nannte mich »Whitey Skeeziks« (übersetzt etwa »Weißer Bengel«), doch ich identifizierte mich mit dem »A« von Arthur. Das hatte eine spitze Form, strebte nach oben, hatte Gebetshaltung. Ich liebte meinen weißen Seidenkragen, wenn ich in der Synagoge sang. Ich war der Engelssänger und fühlte mich »berührt«.
Ich wählte die Lieder mit der Gänsehaut. »If I Loved You« aus dem Musical Carousel hatte es mir angetan, Nat Coles wunderbar andersartiges »Nature Boy«. Und ich wandte mich an Sänger, von denen ich einfach wusste, dass sie gut waren: Wie leicht Bing Crosbys »I’m Dreaming of a White Christmas« war. Wie brünett geschmeidig Jo Staffords »Fly the Ocean in a Silver Plane«. Wie offenkehlig »You Send Me« von Sam Cooke. Wie außergewöhnlich »It’s Not For Me to Say« (Johnny Mathis). Ich sah Little Richard 1955 im Paramount Theatre in Brooklyn, wie er in einem purpurroten Umhang auf dem Piano stand. Er fegte durch »Long Tall Sally« und eroberte den Saal im Sturm. Ich stand auf die großen Groove-Platten. »Whole Lotta Shakin’ Goin’ On« brachte es (Jerry Lee Lewis). Und »Don’t Ya Just Know It« (Huey »Piano« Smith). Frankie Fords »Won’t You Let Me Take You on a Sea Cruise« war für mich das Maß aller Dinge.
An jedem Samstagmorgen im Jahr 1953 nahm ich meinen Basketball und ging in reinweißen Keds-Turnschuhen zur Edith-K.-Bergtraum-Schule. Wir spielten auf einen Korb, drei gegen drei. Oder ich hörte mir Martin Blocks Sendung Make Believe Ballroom im Radio an. Ich liebte es, die Top-30-Songs aufzuschreiben. Die Zahlen waren es, die mich so faszinierten. Ich hielt sie alle in akribischen Listen fest – wenn ein neuer Sänger wie etwa Tony Bennett mit »Rags to Riches« in die Charts kam, beobachtete ich, wie die Platte in einer Woche von, sagen wir, 23 auf 14 sprang.
Die Mathematik dieser Sprünge entsprach ganz meiner Vorstellung von Spaß. Durch die Hitparade entwickelte ich ein Gespür für das Musikgeschäft und fühlte mich gleichzeitig mit der Musik verbunden. »Cry« von Johnnie Ray, »Sh-Boom« von The Crewcuts, die Balladen von Roy Hamilton, »Unchained Melody«, sie erreichten mich. Bald schon würden mich die Everly Brothers auf große Fahrt mitnehmen.
Als ich auf die Parsons Junior Highschool kam, wo die harten Kids waren, wurde Paul Simon mein einzig wahrer Freund. Wir erkannten die Einzigartigkeit des jeweils anderen. Wir rauchten die erste Zigarette gemeinsam. Wir hatten uns von allen anderen Kids zurückgezogen. Und wir lachten. 1954 klappte ich meine Schulbank auf und entdeckte die Nachricht von Ira Green an einen Freund: »Schalte heute Abend das Radio ein, dort wirst du eine Nachricht kriegen.« Mir wurde klar, dass Alan Freed seine subversive Musik von Cleveland nach New York mitgebracht hatte. Er las die Botschaften von verliebten Teenagern vor, bevor er »Earth Angel« oder »Sincerely« spielte. Wenn er »Long Tall Sally« von Little Richard spielte, ließ er das Mikro im Studio noch so weit offen, dass man ihn den Backbeat mit einem Stapel Telefonbücher trommeln hören konnte. An die Radiolegende Martin Block kam er allerdings definitiv nicht ran.
Ich mag mich im Land der dunklen Machenschaften, der bestochenen und zugedröhnten Discjockeys befunden haben, doch mein Gefühl war, dass Alan Freed uns leidenschaftlich gern zum Tanzen, zum schwärmerischen Dichten und zum Verlieben brachte, und das schaffte die Musik. Sie schaffte es ein Leben lang. Sie war Rhythm and Blues. Sie war schwarz. Sie kam aus New Orleans, Chicago, Philadelphia.
Sie war schmutzig (sprich: »sexuell«). Eines Abends nannte Alan Freed sie »Rock ’n’ Roll«. Für mich war die Coolness geboren worden. Chuck Berry, Jerry Lee Lewis. Bobby Freeman fragte: »Do you wanna dance, squeeze and hug me all through the night?« (Willst du die ganze Nacht lang mit mir tanzen, mich drücken und umarmen?), und uns war allen klar, dass sie das natürlich wollte.
Es hatte mich gepackt. Und Paul genauso. Wir verfolgten die Radiostation WINS. Paul kaufte sich eine Gitarre. Wir verwendeten das Drahtspeichergerät meines Vaters und dann Pauls Tonbandgerät von Webcor. In unseren Kellerräumen probten wir, kleine Perfektionisten waren wir. Wir schichteten Sound für Sound (und doppelten unsere Gesangsaufnahmen). Da wir den nötigen Mut besaßen, zuzuhören und Missklänge zu ertragen, begannen wir, Aufnahmen zu machen.
Die Basis für uns kleine Rocker war die Gitarre. Paul spielte sie. Ich schrieb geradlinige Harmonien als Terzen, wie ich es von den Andrew Sisters bis Don and Phil gelernt hatte, und ließ sie über Pauls tuckerndes Gitarren-Hammering fließen. Bluesig war das, Rockabilly, Rock ’n’ Roll. Wir übernahmen das »woo-bop-a-loo-chi-ba« von »Be-Bop-A-Lula« von Gene Vincent.
Wir klauten Buddy Hollys Country-Flavour (»Oh Boy«), die Harmonie der Everlys (»Wake Up Little Susie«). Und von Elvis nahm Paul schlicht alles (»Mystery Train«). Während er den Rhythmus antrieb, sorgte ich für die Verschmelzung mit dem Gesang. Wir waren die engsten Kumpels und machten mit unseren Mädels auf dem Kellerboden rum. »The Girl For Me« war unser erster selbstgeschriebener Song – unschuldig, ein kläglicher Abklatsch von »Earth Angel«. Auf der Junior Highschool kamen Stu Kutcher und Angel und Ida Pellagrini hinzu.
Währenddessen machte ich eine Menge Hausaufgaben, die Zuflucht der schüchternen Kids. Mein Geometrieheft war absolut vorbildlich. Alles, was die Sache wert ist, ist es wert, extrem gut gemacht zu werden – wieso nicht gleich Weltklasse gut?
Als Paul und ich uns zusammentaten, war ich zwölf und schon sieben Jahre Sänger. Wir wurden Proben-Freaks von großer Genauigkeit. Wir machten unsere Art des »doo-wop« und kopierten dabei Dion and the Belmonts. Wir schrieben »A Guy Named Joe«. Wir verschmolzen Rock ’n’ Roll mit Country (Rockabilly), genau wie es Buddy Holly tat. Doch all das verflüchtigte sich, als Don und Phil Everly im Jahr 1956 ihre ersten Hits landeten. Über ihren Sound verwarfen wir uns. Jede Silbe eines jeden Wortes einer jeden Zeile besaß einen gewissen Glanz, einen großartigen Kentucky-Tonfall, sprachliches Charisma. Ihre Arbeit am Mikrophon hatte in jedem einzelnen Moment Starqualitäten. Die Everlys waren unsere Vorbilder. Paul und ich schrieben unsere Songs gemeinsam, und wir bemühten uns um eine verzierte, sehr detailreiche Präzision in unseren Harmonien. Mit unseren Mündern kamen wir zusammen, einen Fußbreit auseinander, unter einer Kuppel feinen Gehörs, und wir schufen ein ganz eigenes akustisches Gebilde.
Keiner Menschenseele darf ich erzählen, dass ich an diesem Puzzle feile –
von Vincent van Gogh eintausend Teile.
Sieht aus wie ein Sämann auf einem flachen Feld im März
oder ein Aprilgaukler im Abendrot.
Ich bin bei Vincent und der hinreißenden Tollheit,
Aufruhr der Schönheit, die aus dem Ruder lief –
lachsviolett, hellgrün und braun,
altrosa und golden.
Unter der Südsee habe ich die Fische des Barrier Reef gesehen,
ihre Flanken erhabener als Matisse,
ihr Leuchten schöner als alles, was ich auf Erden je gesehen habe.
Bis auf Vincent
Ich möchte dem Puzzle den Rücken kehren und meinen Tag in Angriff nehmen,
doch Teil für Teil nimmt mich die zerbrochene Fülle
in Ehrfurcht gefangen,
die atemberaubende Genialität herrlich dissonanter
Farben.
Und so hocke ich in meinem Adlerhorst, an den Verstand
des verrückten Holländers von einst gekoppelt.
Wie wir an Empfindsamkeit leiden.
Zu Hause bleiben. In unseren Zauber gegossen. Talent geht hinaus.
Schönheit fesselt.
Da wir eine Klasse übersprangen, erreichten wir die letzte Highschool-Klasse kurz vor unserem sechzehnten Geburtstag.
Bei unseren Versuchen, ein Pop-Duo zu werden, hatte uns der Mut verlassen. Ende des Sommers 1957 trafen wir uns.
Paul: »Hast du den Sommer über ›Hey, Doll Baby‹ gehört?« Das hatte ich. Wir bastelten mit unseren Erinnerungen daran herum und entwarfen einen kompletten Song. Als wir schließlich den echten Everly-Song hörten, stellten wir fest, dass er sich von unserem Entwurf deutlich unterschied.
Unser »Hey, Doll Baby« war unsere ganz eigene Kreation. Wir nannten es »Hey, Schoolgirl« und gingen damit zum Sanders-Tonstudio auf der Seventh Avenue in Manhattan, um dort für sieben Dollar ein Demo aufzunehmen. Das sollte unser letzter Versuch sein, bevor wir die Sache mit uns als Band endgültig begraben würden. Doch es befand sich ein Mann namens Sidney Prosen im Warteraum, der total begeistert von uns war und sein eigenes kleines Label, BIG, hatte. Das Brill Building am Broadway mit seinen vielen Musikverlagen war uns ein Begriff. Und so waren wir starr vor Angst, als wir mit der Gitarre im Schnellzug aus Queens kamen und versuchten, (meinem Gefühl nach) schmierige Businesstypen für unseren Kram zu interessieren. »Jemand auf der Suche nach Musik hier?« Die Absagen kamen jeweils nach fünfzehn Sekunden unseres ehrlichen Herz-auf-der-Zunge-Vorspiels. »Was habt ihr sonst noch?« So wunderbar es auch war, dass Paul und ich einander hatten, und so phantastisch, dass wir uns trauten, uns in ihre Welt hineinzubegeben – so sah die Welt der Platten, die wir liebten und kauften, nun mal aus. Wir lasen die Adressen der Plattenfirmen von der Beschriftung ab. Ein Typ, Morty Kraft von 1650 Broadway, nahm uns unter Vertrag und riegelte uns sechs Monate lang von jeglichen Mitbewerbern ab. Den Trick kannten wir also bereits. Bei Prosen verlangten wir dann die Veröffentlichung unserer Platte innerhalb von neunzig Tagen. Und er willigte ein. In jenem Herbst nahmen wir »Hey, Schoolgirl« bei Bell Sound auf der Thirty Fourth Street auf. Pauls Vater stand während dieser Studiosession am Bass. Der Song stieg auf Platz 40 der US-Charts und verkaufte sich 150000 Mal! Plötzlich waren wir auf der Schule wer. Genossen Respekt. Waren die Typen mit dem Radiosong. Waren Tom und Jerry.
Eines Tages werde ich das »Angeber-Buch« schreiben. Davon erzählen, wie ich mit Paul in Dick Clarks Fernsehsendung American Bandstand mit »Hey, Schoolgirl« auftrat, Thanksgiving in Philadelphia im Jahr 1957