Katja Maybach
Roman
Knaur eBooks
Katja Maybach schrieb schon als Jugendliche, arbeitete aber zunächst als Modedesignerin in Paris und München. Nach einer Krankheit begann sie wieder, ihrer ursprünglichen Passion zu folgen: Bereits ihr Debüt »Eine Nacht im November« war ein großer Erfolg und erreichte in Frankreich Bestsellerstatus. Es folgten zahlreiche Familienromane aus den schicksalhaften Jahren des 20. Jahrhunderts, die Katja Maybach eine große Fangemeinde einbrachten. Katja Maybach wohnt in München.
Dieser Roman ist in Teilen inspiriert vom Schicksal des Großonkels der Autorin, Hauptmann Franz Leiling. Die anderen Figuren und ihre Lebensläufe entspringen jedoch der Phantasie.
© 2021 Knaur Verlag
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Redaktion: Catherine Beck
Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Coverabbildung: Collage aus einem Motiv von Richard Jenkins Photography und mehreren Shutterstock.com Motiven
ISBN 978-3-426-45684-2
Diesen Roman widme ich meinem Großonkel Franz Leiling, den ich nur aus Erzählungen kenne und der vor allem für seinen Einsatz im Ersten Weltkrieg an der Westfront bewundert wurde. Als Hauptmann ließ er einen tief minierten, dreistöckig nach unten gehenden Schacht bauen, der bereits über modernste Technik verfügte, wie zum Beispiel Abhöranlagen für die feindlichen Sender. Auch konnten durch die unterirdischen Räume fast zweitausend Zivilisten gerettet werden.
Die Engländer nannten diesen Schacht, auch als »Schlucht« bezeichnet, wegen seiner Y-Form auch die »Y Ravine« (Y-Schlucht). Damals wurde er viel kopiert und nach dem Krieg zum Kulturerbe ernannt.
Am 2. Oktober 1918, nur einige Tage vor dem Waffenstillstand, stürmte Franz Leiling als Hauptmann seinem Bataillon voraus und fiel.
Ein eleganter Kurort nahe der französischen Grenze
Bad Lichtenberg
Weil sie jung war und der Tag so strahlend, rannte Victoria die Birkenallee hinunter bis zum Kurhaus. Außer Atem blieb sie stehen, sah kurz zurück auf die elterliche Villa und lief weiter. Schützend hielt sie sich die Hände über die Augen und blinzelte in die Höhe. Das Gleißen des Sonnenlichts auf dem gewölbten Glasdach der Halle blendete und reflektierte wie in einem Kaleidoskop. Jedes Mal, wenn Victoria hierherkam, empfand sie einen kleinen Schauer – war es Freude oder Traurigkeit? Ganz genau konnte sie ihre Gefühle nicht definieren, doch eines stand fest: Dies war der Ort ihrer Erinnerungen an ihre Kindheit, an eine glückliche Zeit.
Sie blieb in der Wandelhalle stehen und sah sich um. Viele Gäste drängten sich hier um die Marmorbrunnen, aus denen das Heilwasser sprudelte; Kellner in schwarzem Frack reichten den eleganten Kurgästen die Gläser auf silbernen Tabletts. Victoria nahm sich ein Glas, zwinkerte dem Kellner zu, hielt es unter den Hahn und trank gierig das Wasser. Es sollte gegen jede Art von Altersbeschwerden helfen und zu einer vorsichtigen Wiedergeburt der Jugendlichkeit führen.
»Sind Sie für dieses Wasser nicht zu jung, kleines Fräulein?« Ein alter Herr beugte sich lachend zu ihr und erklärte, wie beneidenswert frei doch die Jugend heutzutage sei, früher habe ein junges Mädchen ohne seine gouvernante gar nicht aus dem Haus gehen dürfen.
Victoria nickte ihm freundlich zu, schlenderte aber dann den Wandelgang weiter.
Am nächsten Brunnen wurde laut diskutiert.
Wenn es doch Krieg gibt …
Nein, der Kaiser ist in seine Sommerresidenz gefahren, wir sollten nicht schwarzsehen …
Aber viele Franzosen sind bereits abgereist …
Deshalb auch keine Eleganz mehr hier in der Halle …
Sie sind verschwunden, aus Angst vor einem Krieg …
Victoria drehte sich erschrocken um, doch die kleine Gruppe schlenderte weiter und geriet außer Hörweite.
Krieg. Musste dann ihr Bruder Franz an die Front?
Versunken in Gedanken an ihren Bruder, ging sie ein Stück weiter, sah in den großen Tanzsaal des Palmengartens hinüber, in dem gerade das Orchester für den Abend Platz nahm. Ein Tangoabend – der Tanz, den der Kaiser verboten hatte, aber Berlin war weit und die Versuchung dieses Tanzes groß.
Das Restaurant davor war voll besetzt. Mit seinen hohen Palmen, den eleganten Korbmöbeln und dem Springbrunnen bot der Raum das Ambiente des Kolonialreichs. Victoria sah sich weiter um, bis sie am letzten Tisch, fast ganz verborgen hinter einer Palme, ihre Mutter mit deren Freundinnen entdeckte. Victorias Blick wanderte weiter zu dem Flügel, an dem der junge Juri Petkov mit seinem Spiel die gedämpfte Unterhaltung der Gäste untermalte. An der schönen blauen Donau, schließlich war Österreich ein Freund Deutschlands, dann Operetten bis hin zu Mozarts Kleiner Nachtmusik. Als er spürte, dass er beobachtet wurde, hob er den Kopf, lächelte und nickte Victoria zu. Sie lächelte zurück und spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. Dann wandte sie sich hastig ab, ging an den beiden Pfauen in ihrem Gehege vorbei und bog nach links in den runden Saal ein, dessen hoher Pavillon aus Glas alle Blicke auf sich zog. Hier drängelten sich die Kurgäste, um exotischen bunten Vögeln zuzusehen, wie sie ihre Federn spreizten und der alte Papagei den Kopf schräg legte. Wenn er Lust hatte, öffnete er den Schnabel, und schon jubelten die Kinder, die sich vor dem Pavillon drängten. Er schien zu wissen, was man von ihm erwartete: »Seemann ahoi«, krächzte er, »ahoi, ahoi«, und die Kinder jubelten und klatschten.
Victoria sah den Kindern zu, und aus einem Impuls heraus klatschte auch sie und lachte zu dem Papagei hoch. Als Kind hatte sie oft mit ihren älteren Geschwistern Franz und Luise hier gestanden. Die beiden hatten ihre kleine Schwester Victoria an den Händen genommen, zusammen über den Papagei gelacht und waren anschließend hinüber ins Restaurant gegangen, um Eis zu essen.
Jetzt aber war Franz siebenundzwanzig Jahre alt und lebte in Berlin. Und Luise? Seit fünf Jahren ausgestoßen aus der Familie. Die Tochter, über die man nicht sprach. Sie lebe in Paris – mehr erfuhr Victoria nicht, auch wenn sie die Mutter hartnäckig mit Fragen löcherte.
Paris, Frankreich. Die Franzosen fuhren ab, hatte sie gehört. Beunruhigt schlängelte sie sich im voll besetzten Restaurant durch die Tische bis zu ihrer Mutter und deren Freundinnen. Auch Gerda von Bitten saß bei ihnen.
Victoria wusste, wie sehr ihre Mutter die junge Frau mochte – immerhin sei sie doch die Verlobte ihres geliebten Sohns Franz. Victoria verstand das nicht. Wie konnte ihr Bruder nur dieses Mädchen mit dem runden Gesicht und den blauen, stets aufgerissenen Augen lieben, sogar den Wunsch haben, sie zu heiraten? Dieses Puppengesicht? Als Victoria an den Tisch trat, prosteten sich die Frauen gerade mit Eierlikör zu.
»Setz dich doch«, forderte Irene ihre Tochter freundlich auf, die stumm neben ihr stand und sich nicht rührte.
Victoria überhörte die Aufforderung. Sie sah ihre Mutter fest an. »Wenn es Krieg gibt, muss Franz dann an die Front?«
Die Stimmung am Tisch änderte sich schlagartig. Die drei Freundinnen sahen sich in stummem Erschrecken an und stellten die Gläser ab.
»Wer behauptet, dass es Krieg gibt?«, wandte sich Irene besorgt an die Tochter.
»In der Wandelhalle, da …«
»So ein Unsinn«, unterbrach Irene sie. »Am Brunnen wird viel geredet, nur weil die Gäste sich langweilen. Niemand weiß irgendetwas«, setzte sie hinzu. »Die Diplomaten Europas betonen, dass es keinen Krieg geben wird. Kein Land will Krieg.«
»Und du, kleines Fräulein, setz dich doch«, schlug Irenes Freundin Ella vor. »Willst du einen Kakao?«
»Ich bin doch kein Baby mehr.« Victorias Antwort klang verächtlich, und sie kam der Aufforderung nicht nach. Aber eine Frage brannte ihr noch auf der Seele. »Wenn es Krieg gibt, kommt Luise dann nach Hause?«
Irene atmete durch, bevor sie antwortete: »Victoria, du weißt, deine Schwester hat jetzt ihr Leben in Paris.«
Ihre Freundinnen blieben stumm, sahen sich im Restaurant um und gaben vor, nicht mitzuhören.
Victoria ließ nicht locker. »Wenn es in Frankreich Krieg gibt, was ist dann mit Luise? Kommt sie zurück?«
»Wenn du mich fragst«, mischte sich Gerda ins Gespräch ein, »hat sich deine Schwester egoistisch verhalten und euren Eltern viel Kummer bereitet. Sie verdient es nicht, dass man ihr hilft oder sie sogar nach Hause holt.«
»Ich frage dich aber nicht«, fuhr Victoria sie wütend an.
»Ich weiß es nicht, Victoria, es ist die Entscheidung deines Vaters.« Die Stimme ihrer Mutter klang unsicher. »Vielleicht will sie ja gar nicht zurückkommen«, setzte sie nach einem kleinen Zögern hinzu.
Victoria wartete, doch da ihre Mutter schwieg, nickte sie ihr nur zu. »Bis später.«
Schon war sie weg.
Victorias Vater verstand sich als Patriarch im positiven Sinne, wie er gern betonte. Er übernahm Verantwortung für die Familie, und das bedeutete auch, alle Entscheidungen zu treffen. Aber hatte ihre Mutter nicht traurig gewirkt?
Im Foyer zwischen Wandelhalle und Restaurant blieb Victoria stehen. Tief atmete sie durch. Sie war sechzehn Jahre alt, neugierig, hungrig aufs Leben, nachdem sie sechs Jahre im strengen Internat erzogen worden war. Was aber wurde aus Luise und Franz? Warum hatte ihre Mutter keine eindeutige Antwort geben können?
Sie zögerte, und während sie noch fieberhaft überlegte, lauschte sie unwillkürlich auf das Spiel von Juri. Was für eine schöne, auch traurige Melodie, Musik, die sie tief berührte. Sicher war es verletzend für den jungen Pianisten, dass ihm kaum jemand zuhörte. Ihre Mutter hatte ihr erzählt, sein Name sei Juri Petkov und er studiere Klavier an der Berliner Musikhochschule. In seinen Ferien verdiene er sich hier im Kurort Geld als Pianist. Wie alt mochte er sein? Anfang zwanzig? Er war hübsch, seine blonden, etwas zu langen Haare gaben ihm ein interessantes Aussehen. Während er spielte, lag auf seinem Gesicht ein ernster, fast entrückter Ausdruck. Aber was dachte er über die reichen Leute, die aus kostbaren Gläsern das Wunderwasser tranken, danach im Restaurant die Champagnerkorken knallen ließen und seinem Spiel kaum Beachtung schenkten? Sie beobachtete ihn, wie er den Schoner über die Tasten legte und behutsam den Klavierdeckel schloss, fast zärtlich, liebevoll, schoss es ihr durch den Kopf. Er erhob sich, strich noch einmal nachdenklich über die glatte schwarze Fläche des Flügels. Wie würde es sein, wenn diese Hände sie berührten – mit dieser Nachdenklichkeit, dieser Zärtlichkeit?
Bei diesem Gedanken erschrak sie. Sie sollte nach Hause gehen, doch sie verharrte immer noch im Foyer und starrte zum Flügel hinüber. Jetzt schien Juri ihren Blick zu spüren, denn er hob den Kopf, lächelte fragend, und da sie das Lächeln erwiderte, kam er auf sie zu.
»Gnädiges Fräulein?«
»Sie haben so schön gespielt«, verhaspelte sie sich beinahe. »Was war das für eine Melodie?«
»Liebestraum. Komponiert von dem deutschen Komponisten Franz Liszt.«
»Das war schön«, seufzte sie. »Aber spielen Sie gern hier?«, platzte sie heraus.
Jetzt lachte er, offenbar begriff er, worauf sie hinauswollte. »Es ist gut, wie es ist. Man soll die Dinge nehmen, wie sie kommen. Und ich kann mich hier ausprobieren, lernen, üben.«
Sie sah ihn an, dann warf sie einen Blick in den Palmengarten zu ihrer Mutter. Sicher wollte sie nicht, dass sie hier stand und sich mit Angestellten unterhielt. »Ich sollte jetzt gehen.« Doch sie rührte sich nicht von der Stelle.
»Ich habe Sie hier schon oft gesehen«, flüsterte er und beugte sich ganz nahe zu ihr, berührte mit seinen Lippen fast ihr Ohr.
Das war frech, fand sie. Und doch aufregend. So blieb sie stehen, hielt den Kopf ganz ruhig, und Juri flüsterte schnell weiter. »Wir wissen nicht, ob es Krieg gibt, sollten wir da nicht jeden Moment des Lebens auskosten und genießen?«
Den letzten Satz hörte sie nicht mehr, denn eisiges Entsetzen griff nach Victorias Herzen. Da war es wieder, das Gespenst des Kriegs und des Tods.
Die Stille in der Halle der Villa wurde nur unterbrochen vom Klappern des Geschirrs und der lebhaften Unterhaltung, die aus der Küche im Souterrain heraufdrang. Berta, die Köchin, und das Dienstmädchen Franzi unterhielten sich laut und lachten, und der Duft nach dem Kalbsfrikassee in Weißweinsauce mit Lorbeer und Wacholder stieg hoch und durchzog die Halle.
Victoria, atemlos und erhitzt vom Nachhauseweg, horchte nach unten. Sah so Angst vor einem drohenden Krieg aus?
Sie ging zur Treppe, blieb stehen und blickte hinauf zu dem Gemälde. Jedes Mal, wenn sie hier vorbeiging, lächelte sie. In dem Bild saß ihre Mutter Irene aufrecht auf dem roten Sofa, das jetzt im Herrenzimmer stand. Victoria war damals sechs Jahre alt gewesen, Luise fünfzehn und Franz siebzehn. Sie hatten gelacht und gekichert, weil ihre Mutter dem Maler einschärfte, ihre Taille enger zu zeichnen und das Gesicht schmaler. Irene neigte ein wenig zur Fülle, die kein Korsett verbergen konnte. Neben ihr saß Luise. Sie sah schön aus, so strahlend. Franz stand neben dem Vater hinter dem Sofa, beide in aufrechter Haltung, und es schien, als imitiere Franz den Vater – hätte er sich sonst in diese männliche Pose geworfen? Und sie selbst? Sie lehnte auf der anderen Seite des Sofas, ein wenig verloren und auch ungeduldig umklammerte sie die Lehne. Ein schmales Kind.
Es war eine Qual gewesen, dem Maler so viele Stunden Modell zu stehen. Heute war das alles schon besser, die Fotografie entwickelte sich.
Langsam ging Victoria weiter die Treppe hoch, drehte sich um und sah durch die offen stehende Tür ins Herrenzimmer. Dort saß ihr Vater, die unvermeidliche Zigarre im Mund, und zog gerade die goldene Uhr an ihrer Kette aus der kleinen Westentasche.
»Guten Abend, Papa«, rief Victoria ihm zu.
Er winkte, lächelte, nickte und rief zu ihr hoch, sie sei spät dran, seine Lieblingstochter müsse sich umziehen, ihr Onkel und seine Frau kämen zum Essen. Lieblingstochter? Victoria wusste, das war immer Luise gewesen. Hatte er sie wirklich vergessen, aus seinem Leben gestrichen?
Betroffen zögerte sie. Sollte sie wieder die Treppe hinunterlaufen, ihn fragen, ob Luise zurückkam, falls … ja, falls es Krieg gab? Und was war mit Franz?
Doch dann entschied sie sich dagegen. Alles war so friedlich im Haus, sie wollte, dass es so blieb, zumindest für diesen Moment, während sie nach oben ging und an Juri dachte. Vielleicht, hatte sie ihm geantwortet, ja, vielleicht käme sie morgen um zwei Uhr in das kleine Café zwischen den Weinbergen. Aber sie hatte nichts versprochen. Es war so mutig von ihm, sie dorthin einzuladen.
Oben in ihrem Zimmer lief sie in ihr angrenzendes Bad und stellte sich vor den Spiegel. Wie sah sie überhaupt aus – war Juris Vorschlag wirklich ernst gemeint gewesen? Ihre Haare hatten sich aus den Kämmen gelöst und hingen teilweise wirr auf die Schultern herab. Sie waren tizianrot, so wie die Haare ihrer Schwester Luise und ihrer Mutter. Irene war hübsch, doch Luise in ihrer Schönheit perfekt. Victorias Gesicht war übersät mit Sommersprossen, während Luises Teint makellos war.
Und sie war so dünn, ihre Brüste waren kaum sichtbar, und die Taille konnte man mit zwei Händen umfassen. Wie würde es sein, wenn Juris schöne Hände sie streicheln und er sie küssen würde? Sie wusste nicht viel von der Liebe, nur das, was sich die Mädchen im Internat zuflüsterten, wenn sie heimlich in französischer Sprache den Roman Claudine erwacht lasen.
Es klopfte leise, und Anni, das Hausmädchen, schob sich rasch durch die Tür. »Ich habe nicht viel Zeit«, wisperte sie. »Ihre Mutter kommt sicher gleich nach Hause.«
»Was ist los, Anni?«
»Es geht um die Post. Ich muss doch jeden Morgen vorne am Tor auf den Boten warten und bringe die Briefe dann zu Ihrem Vater, bevor er in seine Kanzlei geht.«
»Ja, ich weiß, Anni, und?« Annis Geheimniskrämerei weckte Victorias Neugierde.
Anni sah sich um, als würde Johannes Laverne plötzlich drohend hinter ihr auftauchen. »Heute«, erzählte sie flüsternd, »war ein Brief an Sie dabei, mit einer ausländischen Briefmarke und einem Stempel. Französisch. Der Absender ist …«
Anni hatte die Hände auf dem Rücken verschränkt, und da sie nicht weitersprach, schlug Victoria einen Bogen um sie, doch Annis verschlungene Hände auf dem Rücken waren leer. Victorias Herz klopfte laut. »Von wem ist er? Stand ein Absender darauf?« Der Brief konnte doch nur von Luise sein. »Wo ist er?«
»Ihr Vater hat ihn mir aus der Hand genommen. Ich konnte nichts tun. Es ging alles so schnell, ich konnte auch den Absender nicht mehr lesen.« Anni zögerte, sprach dann aber im Flüsterton weiter. »Ich muss gehen, ich glaube, Ihre Mutter ist da …«
Schon war Anni weg, die Tür schloss sich leise hinter ihr. Es war offensichtlich, der Brief war von ihrer Schwester. Von wem sonst? Hatte Luise vielleicht sogar geschrieben, sie käme nach Hause? Wollte sie, dass Victoria zwischen dem Vater und ihr vermittelte? Sah Luise in ihr eine ebenbürtige Schwester und nicht mehr das kleine Mädchen, dem man lachend durch die Haare fuhr und in die Wange kniff?
Wilde Spekulationen schossen Victoria durch den Kopf.
Was aber, wenn ihr Vater ihr den Brief nicht gab? Nun, der Tag war noch nicht zu Ende – oder würde er ihr gegenüber Luises Brief unterschlagen?
Sie überlegte fieberhaft, während sie sich langsam aufs Bett setzte. Sie würde nichts sagen. Ihrem Vater eine Chance geben. Eine Chance, ihr den Brief zu überreichen, vielleicht mit einer kleinen Ausrede, er habe ihn vergessen, so viel Berufliches im Kopf gehabt, schließlich habe er eine große Kanzlei und …
Es wäre eine Ausrede, gewiss, aber dann hätte er dennoch entschieden, ihr den Brief zu geben.
Vor Aufregung biss sich Victoria auf die Lippen. Sie durfte ihm nicht sagen, dass sie von dem Brief wusste, schließlich konnte sie Anni nicht verraten. Nach langem fieberhaften Nachdenken ging Victoria eine imaginäre Wette mit ihm und Juri ein. Sollte ihr Vater ihr heute noch Luises Brief übergeben, bedeutete es, dass er ihr vertraute, ihr die Entscheidung überließ, wie sie damit umging. Dann hatte er die Wette gewonnen und Juri verloren. Dann würde sie den jungen Pianisten nicht treffen, das Vertrauen des Vaters nicht missbrauchen. Ihn nicht mit einem heimlichen Rendezvous hintergehen. Unterschlug ihr Vater ihr jedoch den Brief, bedeutete es, er traf die Entscheidung für sie und schenkte ihr kein Vertrauen.
Vertrauen gegen Vertrauen. Wenn es nicht existierte, dann Lüge gegen Lüge. Eigentlich ganz einfach, oder?
Johannes Laverne blickte seiner Tochter nach, wie sie leichtfüßig die Treppe nach oben lief und kurz vor dem imposanten Familienporträt verharrte.
Erst als sich oben die Tür zu ihrem Zimmer schloss, hob er nachdenklich den Brief von Luise vom Schreibtisch und drehte ihn unschlüssig in der Hand. Adressiert an Victoria. Nicht an ihn, den Vater. Ein Brief, in dem sie ihn demütig um Verzeihung bat. So jedenfalls sollte es sein. Was war nur in sie gefahren, sich über den Vater hinwegzusetzen und an Victoria zu schreiben?
Fünf Jahre waren vergangen. Damals hatte sie schon ein Jahr in Paris gelebt, war nur für einen Tag nach Hause gekommen. Längst wusste er durch französische Kurgäste, dass seine schöne Tochter in Paris die Geliebte eines verheirateten Mannes geworden war. Hier im Kurort hatte sich das Getuschel zu einem Skandal ausgeweitet. Sie hatte der ganzen Familie geschadet und sie zum Gespött aller gemacht. Vor allem ihn, den Vater und angesehenen Anwalt.
Als sie ihre Ankunft in einem Telegramm angekündigt hatte, bedeutete es für Johannes einen kleinen Triumph. Sie kam zurück, sie würde ihn demütig um Verzeihung bitten
Wie schlecht hatte er seine Tochter gekannt. Demut war kein Begriff, der zu Luise passte. Er hatte sich in Illusionen verstrickt, und umso härter traf ihn ihre Aussage, sie sei nur gekommen, um die Auszahlung ihres Erbes von Tante Anna zu erbitten. Sie wolle finanziell unabhängig sein, und ihr Entschluss stehe fest: Sie würde zurück nach Paris gehen, dort sei jetzt ihr Lebensmittelpunkt.
Ihr Erbe waren die Anteile von fünfunddreißig Prozent am Grand Hotel, die seine Schwester Anna ihrer Nichte vererbt hatte. Doch Johannes hatte sie ihr verweigert – erst mit fünfundzwanzig Jahren habe sie Anspruch darauf, denn so stand es im Testament seiner Schwester.
Und so berief er sich auf Annas Wunsch und stellte Luise vor die Wahl: entweder die Familie oder Paris. Es war die Möglichkeit, zurückzukommen und wieder ein ehrbares Leben zu führen, oder weiterhin die Hure eines verheirateten Mannes zu sein.
Sie hatte ihn nur schweigend angesehen. Tief verletzt wartete sie auf eine Entschuldigung von ihm. Aber Johannes war ein Mann des Worts. Und sich zu entschuldigen hieße, Schwäche zu zeigen. Auch wenn er seine harte Aussage sofort bereute.
Sie hatte gewartet, und da er schwieg, war sie auf die Tür zugegangen. Dort hatte sie sich noch einmal zu ihm umgedreht. »Zu dieser Familie, deren Oberhaupt du bist, will ich nicht mehr gehören.«
Und damit war sie gegangen.
Reglos, wütend, auch ratlos hatte er hinter seinem Schreibtisch gestanden, in der Hoffnung, die Tür ginge wieder auf und Luise bäte ihn weinend um Verzeihung. Doch Luise kam nicht zurück.
Aber seine Unerbittlichkeit hatte in eine ausweglose Situation geführt, aus der es kein Zurück gab. Vielleicht wäre dieses Gespräch anders verlaufen, wenn Irene dabei gewesen wäre. Doch sie war verreist, denn sie brachte Victoria nach Lausanne ins Internat.
Und nun schrieb Luise an ihre kleine Schwester. Was sollte er mit dem Brief anfangen? Ihn seiner Jüngsten geben? Ihn selbst lesen? Hatte er als Familienoberhaupt nicht das Recht dazu? Die Entscheidung lag in seiner Hand. Er musste nachdenken. Nichts überstürzen. Und so nahm er den ungeöffneten Brief, zog die Schreibtischschublade auf, legte ihn hinein und sperrte die Schublade ab. Eine Entscheidung wollte genau überlegt sein.
Er hörte, wie das Dienstmädchen die Eingangstür öffnete und seine Frau nach Hause kam. Er blieb sitzen und sah ihr durch die geöffnete Tür entgegen.
Sie blieb stehen, winkte ihm kurz zu, erklärte, sie wolle sich zum Abendessen umziehen, da ihre elegante Schwägerin Elisabeth käme. Schon drehte sie sich um und ging auf die Treppe zu.
»Wenn du dich in der Öffentlichkeit weiterhin lautstark amüsierst und Alkohol trinkst, werden die Leute schnell reden. Wir haben einen Ruf zu verlieren«, rief er ihr nach. Der Empfangschef des Palmengartens hatte ihn diskret auf das doch sicher ungebührliche Verhalten seiner Ehefrau hingewiesen.
Einen Moment lang schwieg Irene, dann drehte sie sich um. Jegliche Heiterkeit war aus ihrem Gesicht verschwunden. Sicher hatte Johannes gedacht, sie wäre jetzt zerknirscht, würde sich entschuldigen, dass man über sie, die Ehefrau von Johannes Laverne, redete.
»Die Leute haben andere Sorgen«, erklärte sie ruhig. »Und was heißt hier Ruf zu verlieren? Sagst du nicht immer, den haben wir durch Luises Schuld schon längst verloren?«
Johannes nahm die angerauchte Zigarre vom Aschenbecher, drehte sie mehrmals in den Händen, dann zog er daran. Sie wartete auf seine Antwort. Achtundzwanzig Jahre war sie mit Johannes verheiratet, und er sah jetzt, mit einundfünfzig Jahren, immer noch sehr gut aus. Er war groß und schlank, mit blondem dichten Haar und einem gepflegten Kaiser-Wilhelm-Bart. Da er schwieg, sich nur mit der Zigarre beschäftigte, sagte sie wie nebenbei: »Ach übrigens, Victoria hat mich gefragt, ob Luise nach Hause kommt, wenn es Krieg gibt.«
Johannes’ ruhige Haltung verlor sich. »Und was hast du geantwortet?« Mühsam versuchte er, Ruhe zu bewahren.
Irene hob die Schultern. »Dass ihr Vater es entscheiden wird, wie er das immer macht.« Der spitze Unterton in ihrer Stimme war nicht zu überhören.
»Das hast du ihr gesagt?«
»Es ist doch so. Du hast damals entschieden, dass Luise nie mehr nach Hause kommen kann, also musst du jetzt auch über ihre Rückkehr entscheiden. Falls Luise das überhaupt will«, betonte Irene. Es war eine Provokation, doch wieder schwieg Johannes, drückte nur nervös seine Zigarre aus. So sprach sie unbeirrt weiter. »Auch wenn sie wollte, du wirst ihr eine Rückkehr verweigern, ist es nicht so?«
Ihr ruhiger Blick verunsicherte ihn. »Wie meinst du das?«
»So wie ich es sage. Denn für dich bedeutet Nachgeben Schwäche. Du kannst nicht verzeihen, schon gar nicht Luise. Frage dich doch mal, ob es nicht einfach deine Eitelkeit ist, die dich daran hindert. Luise, deine geliebte Tochter, wirft sich weg, wie du es genannt hast. Sie, deine Tochter, die du nicht loslassen konntest, sie geht einfach aus dem Haus zu einem Mann nach Frankreich.«
»Der verheiratet ist«, erwiderte Johannes scharf. »Außerdem hast du damals hinter meiner Entscheidung gestanden, oder nicht?«
Irene wurde blass. Er hatte ins Schwarze getroffen.
»Ja, und das bereue ich seit genau fünf Jahren.«
»Außerdem«, erklärte Johannes, um Würde bemüht, »habe ich ihr sehr wohl eine Wahl gelassen. Die Familie oder dieser Mann.«
»Eine unmenschliche Forderung. Hast du damals wirklich geglaubt, sie würde sich für die Familie entscheiden, und das bedeutete natürlich, für dich?«, setzte sie ironisch hinzu. »Gegen den Mann, den sie liebt?«
Irene verlor die Fassung. Und je erregter sie wurde, desto kühler reagierte Johannes.
»Wir müssen uns keine Vorwürfe machen, auch du nicht. Du hast deine Pflicht erfüllt«, erklärte er. »Als meine Ehefrau hast du dich hinter meine Entscheidung gestellt, was selbstverständlich ist.«
Doch dann sah sie ihn lange an und erklärte in demselben kühlen Ton, in dem er gesprochen hatte: »Du erhebst dich zur Instanz für Moral und Recht, aber was ist mit deiner Schwester Anna? Jeder wusste, dass ein russischer Großfürst ihr die Wohnung in Berlin gekauft hat. Und die Perlen, die ein Vermögen wert sind. Wo ziehst du die Grenze? Bei deiner Schwester ist alles gut gewesen und bei deiner Tochter nicht? Luise hat sich nicht aushalten lassen wie Anna.«
Jetzt drehte sie sich um und wartete die Antwort ihres Mannes nicht mehr ab. Sie lief aus dem Zimmer und warf die Tür hinter sich zu.
»Ich habe mir nichts vorzuwerfen!«, rief er ihr noch nach, doch das hörte Irene nicht mehr. Aufgelöst lief sie die Treppe hoch und blieb keuchend in der Mitte stehen, dieses verflixte Korsett drückte ihr die Luft ab.
Langsam zog sie sich am Geländer hoch. Die Unterhaltung mit Johannes hatte sie zu sehr aufgeregt. Aber es hatte gutgetan, endlich auszusprechen, was ihr schon seit langer Zeit auf der Seele lag.
Luise. Sie hatte versucht, einfach nicht an sie zu denken. Von Franz, der mit seiner Schwester seit einem Jahr in brieflichem Kontakt stand, wusste sie, dass es ihr in Paris gut ging. Sie lebe gern dort. Sie habe Freunde, arbeite auch, es mache ihr Spaß. Aber über diesen Mann schrieb sie offenbar nichts, oder Franz gab es nicht an sie weiter. Irene hatte Franz gebeten, Luise auszurichten, dass ihre Mutter ihr gern schreiben oder sie sogar besuchen wolle. Doch dann schrieb Franz, Luise wolle keinen Kontakt zu den Eltern – auch nicht zu ihr, der Mutter.
Berlin
Als Clara Weinberg stolperte und die Balance verlor, griff Franz nach ihrer Hand und hielt sie fest. Dann rannten sie zusammen weiter, bis sie keuchend an der Kreuzung zur Pariser Straße stehen blieben, um Luft zu holen.
»Wir haben Glück gehabt.« Claras Atem ging immer noch schnell, dann lachte sie und strich sich die krausen dunklen Haare aus der Stirn. »Sie haben uns nicht erwischt.« Auch Franz lachte, während sie weiterliefen und sich immer wieder umdrehten, während sie sich noch an den Händen hielten.
Vom Kurfürstendamm hörten sie Schreie, Rufe, Warnschüsse der Polizei, die die Demonstranten auseinandertrieben.
Gegen den Krieg, gegen den Kaiser
»Da vorne«, Franz zeigte auf das letzte Haus in der Straße, »da wohne ich. Sollten wir unseren Erfolg nicht mit einem Glas Kognak feiern?«
Clara zögerte. Franz und sie kannten sich kaum, nur bei einigen Demonstrationen der letzten Tage hatten sie sich kurz zugenickt.
Sie sah ihn an und dann an dem Haus hoch, vor dem sie jetzt standen. Bei den Demonstrationen hatte Clara die Frauen tuscheln hören. Man kannte ihn, und die Frauen mochten seinen Charme, sein Lachen, seine natürliche Höflichkeit, die er den Frauen entgegenbrachte. Alle in Claras Umfeld wussten, dass er aus sehr reichem Haus kam und zu einer elitären Studentenverbindung gehörte. Und alle stellten sich die Frage, wieso er mit ihnen, der Arbeiterklasse, demonstrierte – gegen den Kaiser, gegen den Krieg –, während doch die Studenten und die elitäre Gesellschaft kaiserfreundlich waren und begeistert einem Krieg entgegenfieberten.
Sie zögerte noch, dachte kurz daran, dass eine Freundin ihr erzählt hatte, Franz Laverne sei leider vergeben. Irgendwo in der Provinz verlobt. Allerdings spreche er nie darüber und trage auch keinen Ring.
»Es ist französischer Kognak«, hörte sie ihn sagen, da sie noch nicht geantwortet hatte. Sein Gesicht kam ihr sehr nahe, während er sich mit einer Hand an der Hausmauer abstützte. In seinen blauen Augen konnte sie Bewunderung lesen, und das verwirrte sie, denn Clara war es nicht gewohnt, von Männern bewundert zu werden. Sie war ein Mädchen aus der unteren Mittelschicht, eine Verkäuferin im KaDeWe in der Damenwäscheabteilung,
»Also? Kognak aus Frankreich?«, schmeichelte er.
»Ist gut, aber nur kurz, nur auf einen kleinen Schluck«, gab sie nach. Warum nicht? Es war ein Abenteuer, eine neue Erfahrung, mit einem jungen begehrten Mann in seine Wohnung zu gehen.
Während sie noch unschlüssig herumstand, läutete Franz am Hauseingang, und die Tür schwang lautlos nach innen auf. In der eleganten Halle begrüßte der Portier sie beide, und zu Claras Verwunderung stellte Franz sie dem Portier vor.
»So kennt er Sie, wenn Sie mich einmal besuchen.«
Clara war so erstaunt, dass sie nichts erwiderte, sondern stumm mit ihm in den Aufzug aus Glas und Schmiedeeisen stieg. Dann standen sie vor der Tür zu seiner Wohnung, fast ein wenig verdeckt von einer ausladenden Palme in einem großen Keramiktopf. Franz hob ihn an einer Seite leicht hoch und holte den Schlüssel hervor. »Ich deponiere ihn hier«, erklärte er Clara, »ich weiß nicht, wie viele Schlüssel ich bereits verloren habe, und jedes Mal musste ich mir einen neuen anfertigen lassen. Das kostet Zeit und Geduld.«
Und Geld, schoss es Clara durch den Kopf, aber sie sprach es nicht aus. Für ihn schien das keine Rolle zu spielen. »Haben Sie keine Angst, dass jeder ihn nehmen und bei Ihnen einbrechen kann?«
Franz schüttelte den Kopf, während er mit dem Schlüssel die Tür öffnete. »Nein, Sie haben es doch gesehen, unten wacht ein Portier darüber, dass niemand unbefugt ins Haus kommt. Meine Wohnung wird rund um die Uhr bewacht.«
»Und ein Besucher?«
»Der muss sich anmelden. Ohne Rücksprache kommt niemand herein.«
»Das habe ich noch nie erlebt«, murmelte Clara.
Verwirrt blieb sie in der Diele stehen, einem Raum, größer als die Wohnung, in der sie mit zwei Kolleginnen lebte. Eine Reihe Türen, ein großer Schrank, ein venezianischer Spiegel, der an der Wand lehnte.
»Kommen Sie, es ist sechs Uhr, schnell.«
Schon zog er sie in den Raum, dessen Tür offen stand. Er lief zu den hohen Fenstern, die weit geöffnet waren und deren zarte Vorhänge sich leicht im Sommerwind bauschten. Rasch zog er die Vorhänge auseinander, winkte Clara zu sich, und sie sah in einen schön bepflanzten Innenhof hinunter. Franz legte den Finger auf die Lippen und flüsterte: »Gleich fängt er an.«
Bevor sie erstaunt nachfragen konnte, hörte sie, wie jemand ein Klarinettensolo spielte, eine wunderbare Musik, die durch den stillen Innenhof klang.
»Wie schön«, flüsterte sie, ergriffen von der Stimmung des späten Sommernachmittags und der Musik.
Jetzt brach die Melodie ab, und sie hörten, wie ein paar Leute Beifall klatschten. Auch Franz hängte sich weit aus dem Fenster und rief: »Bravo, bravo!«
Dann zog er sich zurück, und mit einem Lächeln erklärte er der erstaunten Clara, dass jeden Abend um diese Zeit ein Bewohner auf der anderen Seite des Hofs ein kleines Solo spiele. »Seit dem achtundzwanzigsten Juni, jeden Tag.«
»Da ist er sicher Österreicher«, meinte Clara ergriffen. »Er trauert um seinen ermordeten Kronprinzen.«
»Ja, ein Solo ihm zu Ehren. Ein schreckliches Attentat«, stimmte Franz ihr zu. Der österreichische Thronfolger war mit seiner Ehefrau in Sarajewo in einem offenen Wagen erschossen worden. Der Beginn großer diplomatischer Auseinandersetzungen in ganz Europa.
»Fräulein Weinberg, sehen Sie sich ruhig um, ich gehe in die Küche und bringe den Kognak. Und bitte nehmen Sie doch Platz«, rief er ihr zu, während er durch die offene Küchentür ging, die sich dem Raum anschloss.
Clara aber setzte sich nicht. Stattdessen sah sie sich erstaunt um. Eine breite Verbindungstür stand weit offen und gab den Blick auf einen Flügel frei.
»Spielen Sie Klavier?«, rief sie Franz zu.
»Nein«, kam es aus der Küche. »Ich habe die Wohnung von meiner Tante geerbt. Und den Flügel nur mit allen anderen Möbeln übernommen.«
Welche Möbel?, wollte sie schon fragen, denn außer einem breiten dunkelroten Sofa und einem Schreibtisch vor den Fenstern war der große Raum leer. Offenbar ahnte er ihre Frage.
»Die Möbel«, rief er ihr aus der Küche zu, »habe ich in den kleinen Tanzsaal gestellt. Es ist der letzte Raum in dieser Wohnung.«
Clara kam aus dem Staunen nicht heraus. Tanzsaal? »War Ihre Tante verheiratet? Hat sie große Gesellschaften gegeben?«
Ein Lachen aus der Küche, Klirren von Gläsern war die Antwort. »Nein, das war sie nicht. Sie war die Geliebte eines russischen Großfürsten. Sind Sie jetzt schockiert?« Franz kam mit zwei gefüllten Kognakgläsern aus der Küche zurück und bot ihr eines an.
Sie hatte viel erwartet, eine elegante Wohnung, Teppiche, Gemälde. Doch die Wände waren leer, bis auf einige Bilder, die angelehnt auf dem Boden standen.
»Warum sind sie abgehängt?«
»Sehen Sie sich das eine hier an, dann wissen Sie, warum.«
Sie war neugierig geworden und zog das Tuch ab, mit dem das größte Bild verhüllt war. Es zeigte eine üppige nackte Frau, die sich auf einem Diwan räkelte.
»Verstehen Sie, dass ich es nicht aufhängen will? Die anderen sind auch nicht geschmackvoller. Es ist meine Tante«, erklärte er der staunenden Clara. »Alle Bilder stammen von diesem einen Maler«, erzählte er weiter. »Als ich zum ersten Mal in diese Wohnung kam, hingen auch überall Fotos von ihr.«
»Das Gemälde kommt mir irgendwie bekannt vor«, überlegte Clara.
Jetzt lachte Franz. »Ja, ja, Francisco de Goya, die nackte Maja. Diesem spanischen Genie versuchte er offenbar nachzueifern.«
Clara konnte es kaum glauben. War Franz Laverne doch nicht nur der konservative Sohn aus einer wohlhabenden Familie? Die Vorstellung gefiel ihr. »Wie war Ihre Tante, haben Sie sie gut gekannt?« Sie war neugierig geworden. Franz lachte. »Nein, nicht wirklich, sie lebte hier in Berlin, aber die meiste Zeit des Jahres an der Côte d’Azur. Ich habe sie vielleicht ein- oder zweimal gesehen. Sie war bildschön«, fügte er noch hinzu. »Mein Vater und auch mein Onkel liebten ihre ältere Schwester, mehr kann ich dazu nicht sagen.«
Clara griff nach dem angebotenen Glas und trank einen kleinen Schluck. »Und? Wie finden Sie ihn?« Franz sah sie erwartungsvoll an.
»Ja, er schmeckt wunderbar, so mild.«
Sie lächelten einander zu, tranken, während sie ganz nahe beieinanderstanden. Clara wich nicht zurück. »Ich bin noch nicht dazu gekommen, diese Wohnung zu verändern, neue Möbel zu kaufen. Meine Tante starb bereits vor acht Jahren, aber laut ihres Testaments wurde sie mir notariell erst vor einigen Monaten übertragen. An meinem siebenundzwanzigsten Geburtstag.«
Clara hörte mit großem Interesse zu, ihr eröffnete sich eine Welt, die sie nicht kannte. Eine reiche Familie und die Tante die Geliebte eines russischen Großfürsten. Clara sah sich weiterhin interessiert um, während sie spürte, dass er sie beobachtete.
»Warum sehen Sie mich so an?«
»Darf ich das nicht?«
»Doch, doch, natürlich«, antwortete sie mit einem kleinen Lachen. Aber sie wurde unsicher unter seinem Blick, vielleicht sah er die kleine Lücke zwischen ihren Vorderzähnen, oder ihm gefielen ihre krausen Haare nicht. Doch sein Lächeln gab ihr die Antwort, er fand sie hübsch.
»Nun …« Jetzt räusperte er sich. »Fräulein Weinberg, Sie wissen jetzt schon eine ganze Menge über mich, sogar das Geheimnis um meine Tante Anna habe ich gelüftet. Erzählen Sie mir von sich. Was machen Sie so?«
Clara sah rasch an sich hinunter. Den einfachen Rock hatte sie selbst genäht, und ihre Bluse war ein Bonus als beste Verkäuferin. »Ich verkaufe Wäsche in der Damenabteilung vom KaDeWe«, erzählte sie. »Aber«, der Kognak löste ihre Zunge, und so gab auch sie ein gut gehütetes Geheimnis preis, »ich möchte Fotografin werden. Ich spare auf diese neue Handkamera. Eine Leica, ganz modern und gerade erst auf den Markt gekommen.«
»Sie werden es schaffen, wenn Sie es wirklich möchten.«
Ein kleines Lachen war ihre Antwort, doch es klang nicht zweifelnd oder unsicher. »Ja, natürlich, irgendwann …« Wenn ich eine Kamera habe, schoss es ihr durch den Kopf. Sie stellte ihr Glas auf dem Schreibtisch ab.
»Ich sollte jetzt gehen.«
»Warten Sie, Fräulein Weinberg, sagen Sie mir noch, wann die nächste Demonstration ist. Sie wissen, ich will unbedingt daran teilnehmen.«
»Morgen Nachmittag, wir treffen uns im gleichen Lokal wie heute«, antwortete sie. »Warum?«, fragte sie plötzlich. Sie dachte an einen Mitdemonstranten, der verächtlich über Franz gesprochen hatte – da wolle sich wohl ein reiches verwöhntes Söhnchen einen Spaß machen, weil er sich langweile.
»Warum was?«
»Warum nehmen Sie an den Demonstrationen teil, was ist Ihre Motivation?«
Auch er stellte sein Glas ab. Er dachte kurz nach, dann sah er sie an. »Ich mache mit, weil ich etwas bewirken will, teilhaben an etwas Großem. An einer Veränderung. Unser Kaiser wird das Land in einen blutigen Krieg treiben. Aus Dummheit und weil er ein Sympathisant des Militärs ist, das die modernsten Waffen wie zum Beispiel Giftgas ausprobieren will. Es wird Hunderttausende Menschen töten, aber nicht unseren Kaiser, sondern die jungen Männer, die in den Krieg gehetzt werden und auch noch jubelnd in den Tod rennen, in den Heldentod fürs Vaterland. Er ist nichts als ein eitler egoistischer Kaiser.« Franz ließ sich mehr und mehr hinreißen, voller Wut, Verzweiflung und Leidenschaft für die Gerechtigkeit. »Man muss den Kaiser zwingen, abzudanken. Unser Land muss eine Demokratie werden.«
»Aber Sie haben eine Ausbildung zum Offizier gemacht, ist das kein Widerspruch?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich empfinde es nicht so. Ich liebe das Militär«, setzte er hinzu.
Viele Jahre später erinnerte sich Clara an diesen Augenblick in seiner Wohnung, als sie Kognak tranken, während im Innenhof ein trauriger Österreicher jeden Tag ein Lied für seinen ermordeten Kronprinzen spielte. Sie erinnerte sich, wie sich die zarten Vorhänge im Wind ein wenig bauschten, und vor allem an das Gesicht von Franz, das so ernst und leidenschaftlich zugleich war. Er war ein Idealist, wollte die Welt verändern und sogar für sein Vaterland kämpfen, wenn es sein sollte. Es war dieser Moment, in dem sie sich in Franz verliebte. Da beugte sie sich vor und küsste ihn.
Und es war das Selbstverständlichste der Welt.