Moritz Matthies
Voll Speed
Roman
FISCHER E-Books
Moritz Matthiesist ein Pseudonym. ›Ausgefressen‹, der erste Titel der Erdmännchen-Serie, ist ebenfalls bei FISCHER Taschenbuch erschienen (Band 19356). Der neue Band der Reihe, ›Dumm gelaufen‹, ist bei FISCHER Scherz lieferbar.
Weitere Informationen, auch zu E-Book-Ausgaben, finden Sie bei www.fischerverlage.de
Coverabbildung und Motiv: www.buerosued.de
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2013
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-402517-9
RAY lebt mit seinem Erdmännchenclan im Berliner Zoo. Allerdings ist er etwas aus der Art geschlagen. Mit dem Graben hat er es nämlich nicht so. Dafür hat er einen Wunsch: Privatdetektiv zu sein. Mit seiner Spürnase ist er der perfekte Schnüffler. Und als er mit seinem Bruder im Speedboot an einer Leiche hängenbleibt, kann er dies auch wieder einmal beweisen.
RUFUS – Rays Bruder – hat sich mit Hilfe der Zeitungen, die jeden Tag in dem Mülleimer am Gehegezaun landen, das Lesen beigebracht. Außerdem ist er ein genialer Tüftler. Das von ihm aufgemotzte Modell-Speedboat, das er in der Kanalisation gefunden hat, ist seine neueste Errungenschaft. Eine verhängnisvolle, wie sich schnell herausstellt.
ROCKY – der Erstgeborene – ist mittlerweile Clanchef und wird demnächst Vater. Mit der künftigen Mutter Roxane ist er glücklich vereint im geistigen Vakuum. Er hat zwar viele Muskeln, dafür aber null Hirn. Und seit neuestem eine ganze Menge Verantwortung. Kann das auf Dauer für den Clan gut sein?
Stammbaum des ganzen Clans
Es gibt ein altes Erdmännchensprichwort, das geht so: »Wer allzeit gräbt, hat nie gelebt.«
Gut, ich gebe zu, das ist meine persönliche Variante des Sprichworts. Bei Ma würde ich damit nicht durchkommen. In Wirklichkeit geht es nämlich so: »Wer allzeit gräbt, hat brav gelebt.« Aber das »brav« darin hat mich schon immer genervt. Rufus, mein Klugscheißer-Bruder, meint, an dem Sprichwort könne man unsere protestantischen Wurzeln erkennen. Natürlich hab ich keine Ahnung, was protestantisch bedeutet, und natürlich weiß Rufus das. Nachgefragt hab ich trotzdem nicht. Die Genugtuung konnte ich ihm einfach nicht geben. Bei vielen Zoobesuchern ist ja »Prostata« ein großes Thema, aber ob das jetzt irgendwie zusammenhängt … Außerdem, ich meine, hey, wir kommen ursprünglich aus der Savanne. Keine Ahnung, ob es da Prostata-Wurzeln gibt. Und wenn ja: Wen interessiert’s?
Weshalb ich das erzähle? Nun, ich schätze, ich bin etwas aus der Art geschlagen. Mit dem Graben hab ich es nämlich nicht so. Dafür bin ich Frühaufsteher. Die schönste Zeit des Tages in unserem Zoo ist kurz vor Sonnenaufgang: Wenn die meisten Säuger noch dabei sind, den Schlaf abzuschütteln, sich hinten über dem Okapigehege der Himmel rosa färbt und das neue Kupferdach von Elsas Gehege zu glänzen beginnt. Und bevor die Pfleger kommen und die Besucher hereinströmen. Ich war nie in der Savanne, und, realistisch betrachtet, werde ich da wohl auch niemals hinkommen, aber schöner als im Zoo kurz vor Sonnenaufgang kann es da auch nicht sein.
»Morgen, Ray«, begrüßt mich ein Flamingo.
Ist ein kleiner Wermutstropfen, dass ich auf meinem morgendlichen Rundgang durch den Zoo immer als Erstes den Flamingos begegne, aber hinter deren Haus führt nun mal unser Geheimgang nach draußen. Kaum etwas ist ermüdender als das Gespräch mit einem Flamingo – was ich noch wegstecken könnte, wenn sie sich wenigstens vernünftig verarschen ließen. Ist aber nicht, weil sie bis zur nächsten Begegnung unter Garantie vergessen haben, dass sie verarscht worden sind.
Ich demonstriere das mal eben: »Morgen, Heinz«, antworte ich.
»Du kennst meinen Namen?«, fragt der Flamingo.
»Klar«, lüge ich, »du bist Heinz.«
Er wechselt in Zeitlupe von einem Bein auf das andere. Klares Zeichen von erhöhter Gehirnaktivität. »Ist das ein cooler Name?«, fragt er.
»Kommt darauf an.«
»Worauf?«
»Ob du ein Männchen oder ein Weibchen bist. Als Weibchen Heinz zu heißen wär’ eher uncool.«
»Und … Bin ich ein Weibchen?«
»Seh ich aus wie ein Gynäkologe?«, entgegne ich. Was das bedeutet, weiß ich zufällig.
Damit hab ich den Flamingo intellektuell in eine Sackgasse manövriert, aus der er so bald nicht wieder herausfinden wird. Ich will ihn den einsamen Weiten seiner Gehirnwindungen überlassen, als mich ein zweiter Flamingo fragt: »Weißt du auch, wie ich heiße?«
»Logisch. Du bist Wiesel.«
»Wiesel?«
»Brauchst mich gar nicht so schräg anzugucken. Ich hab dir den Namen schließlich nicht verpasst.«
»Aber das ist doch ein Tier?«
»Beschwer dich bei deinen Eltern.«
Auch er wechselt von einem Bein auf das andere: Bssssssssssss – Bein raus – bsssssssssss – Bein rein. Ein Fahrstuhl schafft in der Zeit locker acht Stockwerke. »Aber ich könnte Männchen oder Weibchen sein – würde beides passen, oder?«
»Stimmt. Wär’ beides uncool.«
Der Flamingo, den ich Heinz getauft habe, hat zwischenzeitlich mit dem Schnabel im Gefieder zwischen seinen Beinen herumgestöbert. »Ich glaube, ich bin ein Weibchen«, sagt er jetzt.
Der andere sieht eine Chance, von seinem eigenen Dilemma abzulenken: »Dann bist du uncool.«
»Du bist doch selber uncool«, wehrt sich Heinz, »schließlich heißt du … Ray, wie heißt der noch mal?«
»Wiesel.«
»Genau. Wiesel. Voll der Doofname, echt.«
Wiesel lässt nervös den Kopf um die eigene Achse rotieren. »Wenigstens bin ich kein Weibchen, so wie du.«
An diesem Punkt ziehe ich mich vornehm zurück, überlasse die beiden einander, schlüpfe durch die Hecke und schlendere lässig Richtung Elefantengehege. Wie gesagt: Könnte ganz lustig sein, so eine Flamingoverarsche. Aber zu wissen, dass die beiden beim nächsten Mal unter Garantie alles vergessen haben werden, verdirbt einem echt den Spaß.
Eigentlich könnte dies ein besonders schöner Morgen sein. Die Blätter an den Bäumen haben sich bereits herbstlich verfärbt und baumeln träge in der schweren Luft, leuchten aber noch einmal in einem angeberischen Gelb- und Rot-Finale, sobald sie von den Strahlen der Altweibersonne gestreichelt werden. Und doch traue ich dem Frieden nicht. Ich kann es nicht genau sagen, aber da ist etwas – eine nervöse Anspannung. Wie eine Neuigkeit, die sich im Zoo verbreitet und die du spürst, bevor du weißt, was es eigentlich genau ist.
Am Gehege der Breitmaulnashörner Ursula und Justus wird meine Ahnung zur Gewissheit. Normalerweise läuft das so: Bei den Flamingos schlage ich den Weg nach Norden ein, grüße freundlich die Elefanten, ignoriere die Steinböcke auf ihrem lächerlichen Felsen, auf den sie sich so viel einbilden, und nehme mir bei den Nashörnern etwas Zeit, um Ursula so lange zu … sagen wir: necken, bis Justus wutschnaubend mit seinem vorderen Horn gegen das Stahlgeländer rennt.
Um das zu erreichen, mache ich Ursula meist Komplimente über ihren Hintern – dass sie mich total heiß macht mit diesem schlanken, geradezu grazilen Dickhäuterpo und dass ich gar nicht verstehen könne, wie Justus das aushalte, den ganzen Tag mit ihr das Gehege zu teilen, ohne sie nicht wenigstens stündlich zu bespringen, obwohl in Justus’ Fall springen wohl nicht das richtige Wort sei und so weiter und so fort. Justus versucht dann immer, Ruhe zu bewahren. Das ist der eigentlich lustige Teil – wie er versucht, die Kontrolle zu behalten. Denn er weiß natürlich, dass ihn wirklich hässliche Schmerzen erwarten, sobald er mit dem Horn das Geländer knutscht. Schließlich ist das vordere Horn von Breitmaulnashörnern mit der Nasenwurzel verwachsen. Aua.
Selbstredend gelingt es Justus nicht, die Kontrolle zu behalten. Unmöglich. Dreieinhalb Tonnen Kampfgewicht, aber eine Steuereinheit von der Größe einer kandierten Mandel. Rufus meint, es liege daran, dass Nashörner keine natürlichen Feinde haben. Es gibt sozusagen keine evolutionäre Notwendigkeit, dass sich da im Kopf etwas entwickelt. Wenn ihnen jemand blöd kommt, gibt’s was auf die Glocke, und das war es dann. So weit das Gehirn eines Breitmaulnashorns. Funktioniert leider nur in freier Wildbahn. Hier im Zoo trennt Justus und mich ein Vierkant-Stahlrohr so dick wie ein Laternenpfahl. Und das ist der Grund dafür, weshalb eine Nashornverarsche deutlich mehr Spaß bringt als eine Flamingoverarsche. Denn Justus erinnert sich zwar morgen noch an die Schmerzen von heute, am Ende aber dengelt er doch wieder gegen das Geländer. Er kann nicht nicht dagegen rennen.
Und so zwänge ich mich wie jeden Morgen möglichst unauffällig durch die Hecke, die sie entlang des Stahlgeländers gepflanzt haben, lehne mich lässig gegen einen der Betonpfeiler, betrachtete den felsblockartigen Hintern von Ursula und rufe: »Morgen, Ursula!«
Sie antwortet, ohne sich umzudrehen: »Geh weg, Ray.«
»Ich würde ja gerne«, antworte ich, während ich mit einer Kralle die Ritzen zwischen meinen Zähnen sauberkratze, »aber dein Hintern macht mich einfach derartig heiß … Wo ist eigentlich Jus…«
In diesem Moment beginnt die Erde zu beben, und Justus kommt um das Haus gestürmt, und – kein Witz – so schnell hab ich ihn noch nie laufen sehen. Wusste gar nicht, dass ein Nashorn überhaupt so rennen kann. Er muss sich richtig auf die Seite legen, um nicht aus der Kurve zu fliegen. Ich tätschele kurz den Betonpfeiler und kreuze das Spielbein über das Standbein. Das wird weh tun, denke ich, doch da galoppiert Justus auch schon heran, hält direkt auf mich zu, grunzt wie ein Posaunenchor, und die Erde vibriert so stark, dass ich immer wieder für Sekundenbruchteile den Bodenkontakt verliere. Jetzt wird mir doch etwas mulmig. Ich sehe den Staub tanzen und habe gerade noch Gelegenheit, zwei Schritte rückwärts zu stolpern, während ich mit aufgerissenen Augen verfolge, wie Justus auf den letzten Metern noch einmal zulegt – Mann, der würde glatt einen Geparden abhängen. Dann kneife ich die Augen zusammen, höre, wie sein Horn in das Geländer kracht und er ein Brüllen ausstößt, das selbst die Kängurus im entlegensten Winkel des Zoos schockiert zusammenfahren lässt.
Das Nächste, was ich wahrnehme, ist ein Luftstoß, der nach vergorenem Gras riecht und mich anbläst wie ein Föhn auf Stufe drei. Ich öffne meine Augen und blicke in die von Justus, blutunterlaufen, hitzig, zu allem entschlossen. Er hat es tatsächlich fertiggebracht, das Geländer zu verbiegen, den Stahl zu knicken wie ein Streichholz, und jetzt schnauft er mir seinen Grasatem ins Gesicht, und die Spitze seines Horns ist ziemlich genau eine Klauenbreite davon entfernt, meine kleinen Erdmänncheneier aufzuspießen. Ich blicke an mir herab und stelle fest, dass ich Justus gerade vor Schreck auf sein Horn pinkele. Für einen Moment steht die Zeit still. Er schnauft, ich pinkele. Dann hab ich keinen Urin mehr und mich wieder unter Kontrolle. Bin schließlich kein Nashorn. Mit einer einzelnen, abgespreizten Kralle tippe ich sehr behutsam die Spitze von Justus’ Horn an.
»Wie es scheint«, sage ich, »sind wir heute ein bisschen … dünnhäutig, hm?«
Statt einer Antwort stößt Justus nur ein weiteres Brüllen aus, das mich tatsächlich in die Hecke hinein- und auf der anderen Seite wieder herausschleudert. Dann sitze ich benommen auf dem Kiesweg und habe ein garstiges Fiepen im Ohr.
Bis ich mich von dem Schock erholt und so weit gesammelt habe, dass ich aufstehen und meinen Weg fortsetzen kann, höre ich von jenseits der Hecke Justus’ dröhnende Stimme, die sich mühelos an dem Fiepen in meinen Ohren vorbeiarbeitet.
»Komm schon, Baby«, höre ich ihn gurgeln, und es dauert einen Moment, ehe ich begreife, dass Ursula gemeint ist und nicht ich.
»Justus, mein Großer«, antwortet Ursula, und ich bilde mir tatsächlich ein, ein laszives Raspeln aus ihrer Stimme herauszuhören. »Schon wieder?«
Ich klopfe mir den Staub ab, spucke ein Blatt aus und sehe zu, dass ich weiterkomme. Seit Jahren wartet der Zoodirektor darauf, dass Justus sich endlich mal wieder aufschwingt und Ursula begattet, und jetzt haben die beiden nicht nur Sex, sondern sie sagt zu ihm: »Schon wieder?«
Gedankenversunken setze ich meine Runde fort, vorbei an den Wölfen und Bibern, an den Pinguinen und Sumpfbüffeln. »Alles in Ordnung, Ray?«, höre ich eine Stimme durch das Fiepen in meinen Ohren, achte aber nicht darauf. Ist garantiert sowieso nur wieder Bernhard, das Okapimännchen, das am liebsten für alle im Zoo die Mutti wäre – ausgenommen die Leoparden, versteht sich –, und das jede sich bietende Gelegenheit nutzt, dir ein mehrtägiges Verständnisgespräch aufs Ohr zu drücken. Er meint es doch nur gut, sagt Ma immer, und damit hat sie natürlich recht. Aber genau das ist ja das Schlimme: Diejenigen, die ihre Tyrannei in einen Deckmantel wohlmeinender Anteilnahme wickeln, sind echt die Gefährlichsten. Gegen die ist schwer anzukommen.
Ich tapse also durch den Zoo, warte darauf, dass das Fiepen nachlässt, frage mich, was wohl in Justus gefahren sein mag, und merke erst wieder, wo ich bin, als sich mein Herzschlag beschleunigt. Das passiert automatisch, sobald ich am unteren Waldschenkenteich abbiege, auf die Affengehege zusteuere und dahinter Elsas Käfig in Sicht kommt. Und offenbar geschieht es sogar, wenn ich völlig in Gedanken bin. Kann man mal sehen, wie so ein Organismus funktioniert – ganz von selbst nämlich. Echt krass, Wunder der Natur und so weiter.
Wenn ich sage, dass ich etwas aus der Art geschlagen bin, dann bezieht sich das übrigens nicht nur auf meine Grabungsinstinkte, sondern ebenso auf Elsa. Meine Elsa. Die flauschigste Versuchung auf diesem Planeten. Und außerdem ein Chinchilla. Rufus meint ja, das sei pervers – als Erdmännchen auf ein Chinchilla steil zu gehen. Aber, mal ehrlich: Der Typ liest Konfuzius und Dieter Bohlen und all so’n Zeug. Neulich wollte er sogar einen Antrag zur Einführung einer neuen Gesprächs- und Reflexionskultur im Clan einbringen. Da frag ich mich doch, wer von uns beiden der Perversere ist. Glücklicherweise wusste Rocky nicht, was eine Kultur ist, also hat er die Idee sofort abgeschmettert.
Zurück zu Elsa: Besonders schlimm erwischt es mich, wenn ein lauer Südwestwind weht. Dann streift mich, sobald ich die Gorillas passiert habe, dieser unwiderstehliche Duft aus Pfirsich und Urin, der ihrem in langen Mußestunden geputzten Fell entsteigt, und ich muss echt den Hintern zusammenkneifen, um nicht automatisch in die Knie zu gehen. Elsa. Ich könnte viel erzählen über Elsa, könnte Rufus’ frisch angelegte Bibliothek mit Geschichten über meine ewige Sehnsucht füllen …
Hier nur so viel: Sie ist meine Elsa. Aber ich bin nicht ihr Ray. Sie hat mir das Herz gebrochen, mehrfach. Es zu Staub zerrieben und sich darin gesuhlt wie ein Dickhäuter. Spätestens seit der Geschichte mit Giacomo hätte ich allen Grund, sie mit Nichtachtung zu strafen, sie zu verachten, zu meiden, zu hassen. Das Problem dabei ist: Ich bin ein Erdmann, und in Liebesdingen, das weiß ich seit letztem Sommer, sind wir Erdmännchen den Menschen kein Stück voraus. Soll heißen: Mein Verlangen ist größer als jede Selbstachtung. Was Elsa angeht, bin ich also – harte Erkenntnis – nicht reifer als Justus: Während der jeden Morgen gegen das Geländer rennt, schiebe ich willig mein Herz durch die Schreddermaschine.
Alles, was ich tun kann, ist, mir nichts anmerken zu lassen. So zu tun, als ob. Was nicht funktioniert, kein Stück, nie funktioniert hat und nie funktionieren wird. Elsa kann mein Herz schlagen hören, wenn ich noch am Waldschenkenteich bin. Manchmal glaube ich sogar, ich muss nur in meiner Kammer liegen und an sie denken, damit sie es hören kann.
»Morgen, Elsa«, rufe ich. Ich rufe es tatsächlich. Und schicke hinterher: »Wie läuft’s denn so?« Mann, muss ich bescheuert sein.
Von ihrem Hügel aus lässt Elsa einen beiläufigen Blick zu mir herabrollen, schwer wie ein Felsbrocken. »Lass stecken, Ray.« Danach wendet sie sich ab.
Das war’s. Ein Satz, ein Meteorit und ein Herz so groß wie ein Pfirsichkern. Wumm! Matsch.
Schwer atmend krabbele ich aus dem Meteoritenkrater meines Elends und schleppe mich zu unserem Gehege hinüber. Wo nehme ich nur immer wieder diese Kraft her? Jeden Morgen dasselbe bittersüße Spiel. Eines Tages, überlege ich, bleibe ich einfach liegen. Aber nicht heute und nicht morgen. Wahnsinn, so ein Organismus. Lebt, ob man will oder nicht. Wunder der Natur.
Am Zaun erwartet mich Rufus mit seinem Schlaumeiergesicht und einem Grinsen, als hätte er eine Pommesgabel quer im Maul stecken. Vor lauter Aufregung haut er sich mal wieder die Klaue aufs Ohr. Klassische Übersprungshandlung. Im üblichen Nörgelmodus kann mein Bruder einem bereits mächtig auf den Zeiger gehen, aber gutgelaunt ist er einigermaßen unerträglich. Und mein endzeitlicher Seelenzustand macht es kein Stück besser.
»Ich will’s nicht wissen«, komme ich ihm zuvor, während ich mit gesenktem Kopf am Gehege vorbeischleiche.
Er tut so, als habe er mich nicht gehört. Ein sicheres Indiz dafür, dass er bester Stimmung ist. »Du wirst nicht glauben, was …«
»Ich will’s nicht wissen!«, wiederhole ich.
Damit verschwindet zwar das Pommesgabelgrinsen, aber dieser Ich-weiß-etwas-was-du-nicht-weißt-Blick will einfach nicht aus seinem Gesicht weichen. »Verstehe«, spielt er den Beleidigten. »Dann werde ich die Jungfernfahrt wohl ohne meinen Bruder unternehmen müssen.«
Ich bleibe stehen und richte mich auf. Das glaube ich nicht. Korrektur: Ich glaube es doch. Rufus’ Grinsen sagt alles. Er ist ein nervtötender Besserwisser. Aber er ist auch ein Genie. Momente wie dieser sind es, die einem immer wieder klarmachen, dass das Leben am Ende doch seinen Preis wert ist.
»Du hast das Boot klargemacht«, sage ich ungläubig.
Und schon ist es wieder da: dieses dämliche Pommesgabelgrinsen.
Rufus und ich stehen in der einzigen Kammer auf der Minus-3-Ebene unseres Baus. Jedenfalls nennt Rufus sie so. Hier haben sich Nino und die anderen Traubenzucker-Junkies aus dem vierten Wurf im Sommer versehentlich in die Kanalisation durchgegraben. Seitdem ist der Zutritt zur Minus-3-Ebene für alle Clanmitglieder strengstens verboten. Ausgenommen die Erdmännchen aus dem ersten Wurf.
Das Loch hat den Durchmesser einer Radkappe, und als wir jetzt das Rollgitter entfernen und in die Kanalisation hinabblicken, liegt es da wie eine Verheißung: unser Boot. Rufus meint, es hätte einen gemäßigten V-Boden (»kommt leicht ins Gleiten, läuft aber in rauem Wasser schnell hart«), wäre also für unsere Zwecke bestens geeignet. Mir so was von egal. Auf jeden Fall glänzt es wie ein frisch gestriegeltes Rennpferd, das auf seinen großen Auftritt wartet.
Letzte Woche oder so hab ich es entdeckt – bei einem meiner gelegentlichen Ausflüge in die Unterwelt. Da, wo der Regenwasserkanal auf den Entlastungskanal trifft, bewegte sich ein silberglänzendes Ding im Wasser. Zuerst dachte ich natürlich an einen Raubwels, aber das Ding gab so ein merkwürdiges Sirren von sich, also hab ich es mir aus der Nähe angesehen, und dabei stellte sich dann heraus, dass es ein Boot war. Hatte sich in einem Netz aus Tamponfäden verfangen, die in einer Astgabel festhingen, steckte kopfüber im Wasser und zappelte um sein Leben. Krass cooles Teil, voll spacemäßig, gemäßigter V-Boden und so weiter.
Ich wartete, bis die Schrauben der beiden Außenborder endgültig festsaßen, dann löste ich das Tamponknäuel aus der Astgabel, nahm zwei lose Enden, zog das Boot mühsam bis unter unser Einstiegsloch und knotete es an dem Eisenring fest, der im Bordstein eingelassen ist. Später hievten wir es dann in den Bau hoch. Mussten eine Seilwinde bauen und das Loch verbreitern. Aber das Leuchten in Rufus’ Augen, als er seine Krallen über den pfeilförmigen Bug gleiten ließ, sagte mir, dass wir mit dem Ding noch eine Menge Spaß haben würden.
»Carnaubawachs«, bemerkt Rufus, während er langsam den Knotenstrick herablässt.
Ist so eine Masche von ihm – etwas in den Raum zu werfen, das keiner versteht und wo du dann nachfragen musst, damit Rufus nichts anderes übrigbleibt, als dir eine Lehrstunde zu erteilen. Gewöhnlich lasse ich ihn damit auflaufen, aber heute, finde ich, hat er es sich echt verdient, mich belehren zu dürfen.
Artig frage ich: »Carnaubawachs?«
»Ein Hochleistungswachs aus der Surf-City-Garage«, sagt er so beiläufig wie möglich. »Ist mit Polymeren versetzt. Garantiert maximale Haltbarkeit, ohne dass das Glanzbild darunter leidet.«
Oh Mann. Mich befällt der Verdacht, dass Natalie und er möglicherweise doch noch keinen Sex hatten. Ich meine: So redet doch keiner, der Sex hat. Um Rufus aber nicht die Jungfernfahrt zu versauen, sage ich nur: »Cooool.«
Er sieht mich an, als könne das unmöglich alles gewesen sein. Er will noch etwas gefragt werden, unbedingt. Shit, Brüderchen, wenn ich nur wüsste … Gerade noch rechtzeitig fällt es mir ein: »Und was ist mit dem Riss im Bug?«
Rufus macht eine bedeutende Pause, während seine Mundwinkel ein Lächeln zu unterdrücken versuchen. »Da war es mit ein bisschen Wachs natürlich nicht getan«, erklärt er.
»Natürlich nicht«, bestätige ich.
Wir hangeln uns den Strick hinab. Ich zuerst, gefolgt von meinem Bruder.
»Zwei-Komponenten-Epoxidharz-Spachtel«, höre ich Rufus über mir. »Wenn du das an die Krallen kriegst, hast du eine ganze Nacht lang zu tun, es wieder abzuknabbern.«
»Krass«, sage ich.
Dann stehen wir auf dem Randstein, vor uns das Boot. Ein erhebender Anblick. Der Bug glänzt so sehr, dass ich mich im Carnaubawachs spiegeln kann wie im Vierwaldstätter See bei Vollmond. Wenn ich nah rangehe, wird mein Kopf so klein wie der einer Wüstenspringmaus. Trete ich zurück, verzerrt die Wölbung mein Gesicht, und ich sehe aus, als hätte mich ein Dreißigtonner überfahren. Quer über den Rumpf zieht sich ein schwarzer Schriftzug. Offenbar hat Rufus etwas mit Edding draufgekritzelt. Jede Wette, dass er erwartet, nach der Bedeutung gefragt zu werden. Mach ich aber nicht. Noch eine Belehrung würde mir jetzt echt die Vorfreude verderben.
Als hätte er die Szene wochenlang für einen Bond-Film einstudiert, flankt Rufus über die Reling auf die Heckplattform. Anschließend klemmt er im Fahrstand ein rotes und ein blaues Kabel ab, die vom Gewölbe herabhängen, wirft sie mir zu und sagt: »Roll mal zusammen und leg sie da drüben hin. Aber pass auf, dass sich die Enden nicht berühren, sonst geht im Zoo das Licht aus.«
»Und wenn ich sie berühre?«
»Dann geht bei dir das Licht aus.«
Während ich die Kabel zusammenrolle, als hielte ich schlafende Puffottern in den Klauen, wird mir klar, weshalb mir diese Situation – abgesehen von dem Motorboot, den Kabeln und allem – so merkwürdig vorkommt: Ich habe Rufus noch nie, nie, nie unseren Bau verlassen sehen. Der Typ pinkelt sich sonst bereits auf die Füße, wenn er eine Klaue durch den Zaun stecken soll. Und jetzt legt er seine Krallen um das Lenkrad eines Motorbootes, checkt die getönte Windschutzscheibe auf zermatschte Fliegen und macht einen auf dicke Hose.
»Rufus?«, frage ich zaghaft.
»Hier.«
»Du hast noch nie unser Gehege verlassen.«
Sein Kopf verschwindet für einen Moment: »Keine Sorge«, tönt es aus dem Rumpf, »das Boot ist safe.«
Das Boot ist safe – ich halt’s nicht aus. Alles, was dem Typ noch fehlt, ist ein Cowboyhut und ein Patronengurt. Im nächsten Moment ist ein bedrohliches Brummen zu vernehmen, das Wasser gerät in Wallung, und der Hintern unseres Bootes schlingert hin und her wie zur Balz. Rufus’ Kopf taucht wieder auf, und diesmal kennt sein Siegerlächeln kein Halten mehr.
Ich kralle mich an der Reling fest und klettere auf die Heckplattform. »Letzte Frage«, sage ich. »Müssten wir nicht unseren Clanchef auf die Jungfernfahrt mitnehmen?«
»Rocky?«, fragt Rufus. Als wüsste er nicht, wer unser Clanchef ist. Da ich mir die Antwort erspare, gibt er sich selbst die Antwort. »Überleg mal, Ray: Wenn wir Rocky auf die Jungfernfahrt mitnehmen, dann …«
»… dann besteht Roxane darauf, ebenfalls mitzukommen«, führe ich seinen Gedanken zu Ende.
Roxane, das Boxenluder in unserem Wurf, ist die Trophäe, die Rocky erhalten hat, als er im Sommer Pas Nachfolge als Clanchef angetreten hat. So läuft das bei Erdmännchen: Wer Clanchef wird, der kriegt seine Schwester als Clanchefin dazu. Und da Roxane das einzige Weibchen aus dem ersten Wurf ist, gab es für Rocky nichts zu entscheiden. Inzwischen ist sie trächtig. Behauptet sie zumindest. Problem dabei: Bereits nicht schwanger hält Roxane zum Beispiel eine »Passionsblume« für eine Stellung beim Sex. Und offenbar ist nicht nur sie, sondern ihre ordinäre Dämlichkeit gleich mit schwanger geworden. Jedenfalls paart sich Roxanes schrilles Unwissen neuerdings mit einer Bio-Hysterie, die selbst Rocky zur Verzweiflung treibt. Und das, wo er gar nicht weiß, was Verzweiflung eigentlich bedeutet. Eins ist also klar: Wenn es jemanden gibt, der uns den Spaß an der Jungfernfahrt verderben könnte, dann unsere Schwester.
Rufus ist auf das Vorderdeck gekrabbelt und löst den Knoten von dem Eisenring. Sofort beginnt das Boot, von der Kante wegzudriften. Geilomat!, wie Rufus neuerdings sagt. Wie Schweben.
»Wäre es nicht unverantwortlich von uns«, überlegt mein Bruder, »unsere schwangere Clanchefin auf einen Ausflug in die Kanalisation mitzunehmen, ohne zuvor das Boot auf seine Funktionstüchtigkeit getestet zu haben?«
Während er seine Position im Fahrstand einnimmt, lasse ich meinen Blick an dem Knotenstrick hinaufwandern, der in dem schwarzen Loch der Decke verschwindet. »Absolut«, bestätige ich.
Rufus dreht an dem Regler der kleinen blauen Box, die er unter dem Lenkrad installiert hat. Nur ein klitzekleines bisschen. Sofort bekommt das Boot eine Richtung und surrt sich leise gegen die Strömung durch den Tunnel. Vor Begeisterung haut sich mein Bruder mal wieder volle Suppe die Klaue aufs Ohr. Aber, ganz ehrlich, bei mir sieht’s auch nicht besser aus. Vor Aufregung kraule ich mir so hektisch die Eier, dass ich sie gleich in der Klaue halte, wenn ich nicht aufpasse.
Geschmeidig schleichen wir bis zum Ende der Röhre, wo der Überlaufkanal auf den Mischwasserkanal trifft, das Wasser nicht mehr so seicht und die Strömung stärker ist. Rufus kurbelt am Lenkrad, das Boot neigt sich zur Seite, wir gleiten in den Strom und nehmen Fahrt auf.
Rufus wirft mir einen triumphierenden Blick zu, und ich schwöre, ich weiß, was er mir gleich zuruft, bevor er selbst es weiß. Dann ist es so weit:
»Gemäßigter V-Boden!«
Lässig lehne ich mich nach hinten. Jetzt noch eine Orangina mit zwei Strohhalmen und Elsa an meiner Seite, und ich wäre ziemlich sicher das coolste Erdmännchen auf diesem Planeten. Rufus quatscht noch etwas von einem Eisenbahntrafo, den er zwischenschalten musste, und dass die Außenborder sonst durchschmoren würden, aber ich höre gar nicht hin, schließe nur die Augen und strecke meine Nase in den stinkenden Fahrtwind.
Holla! Als wir auf den nächsten Kanal treffen und die Wasserstraße sich abermals verbreitert, dreht Rufus den Regler höher. Jetzt wird es sportlich, denke ich und springe auf. Das Heck drückt sich ins Wasser, die Nase kommt nach oben und mein Bruder rauscht in vollendeten Schlangenlinien die Röhre hinab. Aus dem Augenwinkel nehme ich ein paar Ratten wahr, die sich um die Reste eines vergammelten Cheeseburgers streiten und ungläubig aufblicken.
»Jo, man!«, rufe ich ihnen zu und spreize überschwenglich zwei Krallen ab. »Peace!«
Rufus, der spätestens beim Anblick der Ratten schlotternd in die Knie gehen müsste, reckt eine zur Faust geballte Klaue über die Windschutzscheibe: »Miami, wir kommen!«
Zu den Ratten in der Kanalisation gibt es eine Geschichte. Eigentlich müssten wir uns vor denen nämlich total in Acht nehmen. Machen wir aber nicht, weil: Im Sommer, bei unserer Durchbruchaktion, sind ein paar von den Ratten, die unter dem Zoo leben, auf die geniale Idee verfallen, in unseren Bau einzudringen und Natalie zu entführen. Also, das haben die gedacht, dass das eine geniale Idee wäre. War es aber nicht. Ausgerechnet Natalie, in die mein Bruder seit Jahren ebenso geräuschlos wie unsterblich verliebt war.
Rufus hat also in Windeseile den Elektroschocker aus der Asservatenkammer klargemacht, und dann ist Rocky da runter. Na ja, kann man sich ja vorstellen, was passiert, wenn man einen wie Rocky mit einem Elektroschocker auf ein Rudel Ratten loslässt. Gab ein ziemliches Gemetzel. Ratten sind zäh, die können echt ’ne Menge ab, aber bei 200000 Volt stehen ihnen nicht nur die Haare zu Berge. War kein erbaulicher Anblick, wie sie da mit rauchendem Fell unter dem Loch vorbeitrieben. Jedenfalls ist die Situation jetzt die, dass ich immer kumpelmäßig grüße, wenn ich in der Kanalisation einer Ratte begegne, die dann jedes Mal voll genervt den Kopf wegdreht und so tut, als würde sie mich nicht sehen – weshalb Rufus der Population unter dem Zoo inzwischen den Namen »Wendehälse« gegeben hat.
Kaum haben wir die Ratten passiert, schickt mir mein Bruder ein Grinsen, dass einem angst und bange werden kann. Der Typ hat komplett Oberwasser, heute. »Soll ich mal richtig aufdrehen?«
»Das geht noch schneller?«, rufe ich ungläubig.
Im nächsten Moment reißt Rufus das Lenkrad herum, und wir tauchen in eine Röhre ein, die so schmal ist, dass ich mit meinen Krallen die Wände berühren könnte. Ich ziehe automatisch den Kopf ein, dann spuckt uns die Röhre auch schon wieder aus, und wir befinden uns im Hauptsammelkanal unter der Straße des 17. Juni, wie Rufus mir sagt, bevor er den Regler bis zum Anschlag aufdreht und ich mit beiden Klauen den Rahmen der Windschutzscheibe umklammern muss, um nicht über die Reling geschleudert zu werden.
»Bike-Bull-Starterbatterie!«, ruft mir mein Bruder zu. Der Fahrtwind reißt ihm die Worte von den Lippen. »Zwölf Volt und knackige vierzehn Amperestunden! Alles, was für reinen Fahrspaß nötig ist.«
Ich blicke mich um und sehe, wie sich die Wellen, die wir erzeugen, mit denen kreuzen, die von den Rändern zurückgeworfen werden. Bei dem Tempo, überlege ich, müsste man mühelos Wasserski fahren können.
Wie sich herausstellt, bin ich nicht der Einzige, der diesen Gedanken hat: »Ich arbeite dran!«, ruft Rufus.
Er legt ein kühnes Wendemanöver hin, und wir rauschen mit der Chromleiste so nah am Begrenzungsstreifen entlang, dass keine Kreditkarte mehr dazwischenpassen würde. Das Heck des Bootes zieht einen perfekten Halbkreis ins kloakige Wasser, dann stehen wir plötzlich auf der Stelle, und der Motor knurrt wie ein Tiger vor dem Sprung. Rufus tritt einen Schritt zurück und sieht mich an. Seine vier Krallen klopfen der Reihe nach aufs Lenkrad.
»Wie sieht’s aus?«, fragt er.
Und dann stehe ich am Steuer, Rufus fährt den Regler hoch, wir schießen den Kanal hinab, der Fahrtwind drückt mir die Ohren nach hinten, und, ganz ehrlich, besser als das kann höchstens noch Sex mit Elsa sein. Und vielleicht nicht einmal der.
Als wir uns auf den Rückweg machen und wieder in die schmale Verbindungsröhre eintauchen, durch die wir vorhin in den Hauptsammelkanal gelangt sind, erwartet uns am anderen Ende eine gespannte Schnur, die mir nur deshalb nicht den Kopf abrasiert, weil sie sich vorher in der Reling verhakt. Das Boot stemmt sich störrisch gegen die Leine, und das mulmige Gefühl in meinem Bauch ist noch dabei, sich in meinem Körper auszubreiten, da tauchen an den Seiten zwei Rattenfratzen auf. Ich bin mir nicht sicher, könnte aber wetten, dass es die sind, die sich vorhin um den Cheeseburger gestritten haben. Auf jeden Fall gehören sie nicht zu den Wendehälsen, die unter dem Zoo leben. Sieht aus, als hätten wir uns zu weit auf fremdes Territorium vorgewagt. Hochmut kommt vor dem Fall, wie mein Bruder gerne sagt.
Rufus dreht den Regler herunter und legt einen Hebel um. Sofort beginnt das Boot, sich rückwärts zu bewegen. Wir tuckern durch die Röhre, doch bevor wir den rettenden Kanal erreicht haben, erkenne ich, dass auch dort eine Leine gespannt ist. Und unsere Freunde, die Ratten, kommen auch schon um die Ecke. Im Halbdunkel blicke ich vom einen Ende der Röhre zum anderen: vier Ratten von vorne, vier von hinten. Und wir stecken mit unserem Boot in einer sehr schmalen Röhre fest.
»Irgendeine Idee, was wir jetzt machen sollen?«, flüstere ich, während die Ratten langsam das Boot einkreisen.
»Warten«, erwidert Rufus. Auch seine Knie zittern, aber seine Stimme ist erstaunlich fest.
»Worauf? Dass sie uns fressen?«
»Das Wort ›Krise‹«, sagt mein Bruder und haut sich eine Klaue aufs Ohr, »setzt sich im Chinesischen aus zwei Schriftzeichen zusammen. Das eine bedeutet ›Gefahr‹, das andere ›Gelegenheit‹.«
»Du meinst«, flüstere ich, »wir laufen Gefahr zu sterben, und die Ratten bekommen die Gelegenheit, uns zu fressen?«
Kaum haben die Ratten uns umstellt, taucht an einem Ende des Tunnels eine weitere auf. Eine fette Ratte. Eine sehr fette, hinkende Ratte. Il Capo. Der Chef. Während er mit seinem asymmetrischen Watschelgang auf uns zuwackelt, erkenne ich ein halbzerfetztes Ohr, eine Augenklappe und ein schlecht verwachsenes Hinterbein. Das war’s, denke ich. Es war eine tolle Fahrt. Ich hab eine Menge erleben dürfen, so insgesamt – also für ein Erdmännchen, das im Zoo geboren und aufgewachsen ist. Alles in allem sollte ich zufrieden sein, schätze ich, in der Savanne hätte es mich vielleicht schon viel früher erwischt. Ich werde sterben mit dem Gefühl des Fahrtwindes in den Barthaaren und dem Gedanken an Elsa. Danke für alles.
Der Capo baut sich neben dem Boot auf, blinzelt mich aus einem eitrigen Auge an und hebt eine Vorderpfote: »Jo, man. Peace«, sagt er, und es ist klar, dass nach meinem Hochmut von vorhin jetzt der Fall kommt.
Ich lehne mich gegen die Reling. Von außen betrachtet, sieht das möglicherweise ganz lässig aus. In Wahrheit aber bin ich ein Boxer, der bereits vor dem Kampf in den Seilen hängt. »Jo«, höre ich mich sagen. Im Angesicht des Todes. Jo. Wenn es nicht so traurig wäre …
Dann höre ich auch Rufus etwas sagen. »Was soll’n das werden?«
Wahrscheinlich hab ich ihn zeitlebens unterschätzt.
Der Capo lässt ein heiseres Krächzen hören, das möglicherweise in seinem letzten Leben ein Lachen war. Die anderen Ratten nicken folgsam mit den Köpfen. »Ihr seid lustig, Jungs.« Pause. »Miami, wir kommen …« Pause. »Wirklich lustig …«
Rufus’ Krallen zittern so sehr, dass seine Klaue nicht einmal mehr das Lenkrad umfassen kann. Die andere tastet derweil am Trafokasten herum.
»Irgendwie mag ich euch«, röchelt der Capo, und ich frage mich, ob das bedeutet, dass er uns mit Messer und Gabel vom Teller essen wird. »Also … Ihr könnt gehen.« Pause. »Boot bleibt hier, versteht sich.«
»Klingt fair«, stottere ich und will mich in Bewegung setzen, habe allerdings die Rechnung ohne meine Knie gemacht und klatsche erst einmal der Länge nach auf die Heckplattform. Als ich mich aufrappele, sehe ich, dass Rufus sich keinen Millimeter bewegt hat. »Hast du nicht gehört«, zische ich, »der lässt uns laufen. Komm schon …«
Im nächsten Moment stellt sich heraus, dass ich meinen Bruder nicht zeitlebens unter-, sondern überschätzt habe. »Unter keinen Umständen«, raunt er dem Capo zu. Ein knappes Kilogramm Fleisch gewordener Größenwahn.
Der Capo tritt einen Schritt zurück und blickt uns ungläubig an. »Wie war das?«
Rufus deutet mit seiner zittrigen Pfote auf den Bootsrumpf: »Hast du nicht gelesen, was da steht?«
Die Ratte schwillt an: »Seh ich aus wie ein Mensch?«
»Da steht …«, setzt mein Bruder an, doch dem Capo geht die Geduld aus.
»Was da steht, interessiert mich nicht«, schneidet er Rufus das Wort ab. »Und jetzt macht, dass ihr da runterkommt!«
»Tut mir leid«, erwidert mein Bruder.
Ich überlege, ob man als Erdmännchen wohl eine Chance hat, wiedergeboren zu werden, und wenn ja, ob ich dann doch noch die Savanne sehen werde oder ob ich vielleicht auch als Chinchilla wiedergeboren werden könnte, und Elsa würde mich erkennen, meine wahre Seele, der Gleichklang unserer Herzen …
Weiter komme ich nicht, denn in diesem Moment sagt der Capo: »War nett mit euch, Jungs.«
Er rückt sich die Augenklappe zurecht und gibt den beiden Ratten, die sich am Heck postiert haben, ein Zeichen. Im selben Augenblick scheint Rufus’ Klaue auf der Rückseite des Trafos etwas ertastet zu haben.
»Reling loslassen«, schnalzt er mir zu.
Die beiden Ratten haben sich unterdessen zu einer Art lebender Rampe formiert, eine dritte Ratte nimmt Anlauf, springt der ersten auf den Rücken, der zweiten, spreizt die Vorderbeine, stößt ein grässliches Fauchen aus, fliegt mit aufgerissenem Maul auf das Boot zu, bekommt die Reling zu fassen … verdreht die Augen, bis nur noch das Weiß zu sehen ist, lässt ein finales Keuchen hören und klatscht ins Wasser. Während sie Bauch nach oben an ihm vorbeitreibt, legt der Capo schwerfällig den Kopf schief. Ich zittere am ganzen Körper und habe nur noch einen Gedanken: Auf keinen Fall die Reling anfassen!
Rufus zittert ebenfalls, dennoch gelingt es ihm, sich zu voller Größe aufzurichten: »Auf dem Rumpf steht: ›Betreten verboten!‹, Klammer auf, ›außer Erdmännchen‹, Klammer zu.« Er haut sich die Klaue aufs Ohr und beginnt zu dozieren: »›Survival of the fittest‹ – hat Charles Darwin bereits im neunzehnten Jahrhundert erkannt. Übersetzt ins einundzwanzigste Jahrhundert heißt das: Wer lesen kann, ist klar im Vorteil.« Er stößt einen Seufzer aus. »Wieso glaubt mir das nur keiner?« Während mir noch das vor Entsetzen geweitete Maul offen steht, nuschelt er: »Die Stromstärke ist entscheidend. Vierzehn Amperestunden sind nichts für Anfänger.« Dann wendet er sich wieder an die Ratten: »Noch jemand einen Versuch? Sind noch Lose in der Trommel!«
Der Capo richtet in Zeitlupe seine Augenklappe auf uns. Pause. »Man sieht sich immer zweimal.«
»Zweimal mit einem Auge«, überlegt Rufus. »Ist das dann bei dir wie einmal mit zwei Augen?«
»Du …«, stottere ich. »Du hast …«
»Wenn ich sage, das Boot ist safe«, flüstert Rufus, »dann ist das Boot safe«.
Wahrscheinlich, denke ich, hab ich ihn doch zeitlebens unterschätzt.
Rufus weiß, wo wir sind. Sagt er. Allerdings dauert der Rückweg inzwischen gefühlt bereits doppelt so lange wie der Hinweg. Zwar haben wir unbeschadet die Begegnung mit den Ratten überstanden, doch das relaxte Gefühl von vorhin will sich nicht wieder einstellen, elektrische Reling hin oder her. Im Schleichtempo zockeln wir durch Kanäle, die ich garantiert noch nie gesehen habe, schweigend, immer auf der Hut vor einem plötzlichen Angriff.
Schließlich gelangen wir doch noch an eine Stelle, die auch mir bekannt vorkommt. Vor uns teilt sich der Kanal, und von dem linken Bogen hängt eine defekte Neonröhre herab. Unter der sind wir bereits auf dem Hinweg hindurchgefahren. Erleichtert dreht Rufus am Regler, das Heck taucht sportlich ins Wasser ein, mein Bruder visiert die Röhre an, das Boot neigt sich elegant auf die Seite und im nächsten Moment … heult der Motor auf, das Boot wird nach hinten gerissen, und Rufus und ich werden gegen die Windschutzscheibe geschleudert.
Panisch schnellen wir in die Höhe und blicken uns um: Ratten, unter Garantie. Rufus dreht den Regler herunter und tastet unwillkürlich nach dem Schalter auf der Traforückseite. Stille.
»Unter der Bank ist eine LED-Leuchte«, haucht er.
Ich klappe die Sitzfläche hoch, taste in der Bank herum, finde eine Fahrradleuchte an einem Klettband und schalte sie ein. Mit dem Lichtkegel suche ich die Bordsteine ab und wage mich in den vor uns liegenden Tunnel hinein. Noch immer ist kein Laut zu hören. Nichts. Keine Ratte, kein Geräusch, kein gespanntes Seil. Mir wird klar, dass wir nicht gegen ein Seil gefahren, sondern aufgelaufen sind.
Mit Adrenalin statt Blut in den Adern beuge ich mich über das Heck, leuchte ins Wasser und versuche, in der grünlichen Brühe etwas zu erkennen. Einer der beiden Außenborder scheint frei zu sein, der andere allerdings ist blockiert, und zwar weil – widerwillig tauche ich meine Klaue in die Kloake – sich die Schraube in einer Kordel verfangen hat. Als ich daran ziehe, zeigt sich, dass die Kordel zu einer wahrscheinlich blauen Jacke gehört, deren Saum sich wie ein Fisch kurz an der Oberfläche zeigt, ehe er wieder abtaucht. Uff. Mein Puls beginnt, sich zu beruhigen.
Dann jedoch bemerke ich, dass ein anderer Teil dieser Jacke bereits die ganze Zeit neben dem Heck durch das Wasser schimmert: das Endstück eines Ärmels. Und aus diesem Ärmel ragt … Ich bringe die Leuchte so nah heran wie möglich: Jepp. Das ist eine menschliche Hand. Kein Zweifel. Und der Rest des dazugehörigen Menschen steckt wahrscheinlich noch drin, in der Jacke, und da drüben, das scheinen tatsächlich Haare zu sein, ein dunkel behaarter Hinterkopf.
Wir sind auf eine Leiche aufgelaufen.
»Glaubst du, er ist tot?«, fragt Rufus, nachdem ich ihm meine Entdeckung gezeigt habe.
Mein Bruder wird mir wohl immer ein Rätsel bleiben. Er kann schreiben, lesen, Boote reparieren und DJ-Apps auf sein Smartphone laden, aber wenn er in der Kanalisation einem kopfunter treibenden Menschen begegnet, überlegt er ernsthaft, ob der wohl möglicherweise tot sein könnte.
»Der übt bestimmt nur, wie lange er die Luft anhalten kann«, entgegne ich.
»Hier unten?«
»Rufus!«
»Hm?«
Ich sehe ihn an: »Natürlich ist er tot!«
»Ach so, klar.« Ich sehe seine Krallen zucken.
»Und hau dir jetzt nicht wieder die Klaue aufs Ohr!«
»Ist klar.« Natürlich macht er es doch. Am Ende sind Erdmännchen eben nur Tiere: Reflexe unterdrücken is nich. »Und was machen wir jetzt?«, fragt er.
»Nichts«, sage ich. Ist ein Test.
»Okay«, gibt er zur Antwort.
»Rufus!«
»Hier.«
»Natürlich machen wir nicht nichts. Das hier ist eine menschliche Leiche. Und wir sind Detektive. Also ist das hier ein Fall. Und wir machen als Nächstes was?«
Am Ende setzt Rufus’ Gehirn doch wieder ein: »Ich hab den Beeper an Bord. Meinst du, wir sollten Phil anpiepsen?«
»Das hielte ich für eine großartige Idee, Rufus.«
Rufus und ich sitzen auf dem großen Hügel unseres Geheges, warten auf Phil und lassen unseren Gedanken freien Lauf. Also, wir sitzen nicht ganz oben – der höchste Punkt ist dem Clanchef und seinem Weibchen vorbehalten –, aber direkt unterhalb des ersten Vorsprungs. Von den anderen Clanmitgliedern verteilt sich ein halbes Dutzend auf die strategisch wichtigen Positionen innerhalb des Geheges und hält Wache. Oder sie tun so. Im Falle von Andi beispielsweise, der eigentlich den Grenzzaun zu den Fenneks im Auge behalten soll, genügt mir ein flüchtiger Seitenblick, und ich weiß: Alles, was der im Auge hat, ist der zugegeben ausnehmend adrett gestreifte Hintern von Natalie, die sich vorne auf der Wiese in einem herbstlichen Sonnenflecken räkelt, seit Stunden ihre Krallen putzt und ihrem Bruder aus dem dritten Wurf im Minutentakt verstohlene Blicke zuwirft.
Womit klar sein dürfte, worüber Rufus so nachdenkt: Natalie. Seine Verlobte. Quasi. Seit ihrer Entführung und der darauffolgenden Befreiungsaktion sind sie offiziell ein Paar. Was Natalie nicht davon abhält, mit praktisch allen geschlechtsreifen Männchen im Clan rumzumachen. Außer mit Rufus. Ich kann den Groll praktisch spüren, der von ihm aufsteigt, diese nagende Eifersucht. Wie heißer Wasserdampf. Doch was soll ich sagen? Mir geht es auch nicht viel besser. Sofern die Zoobesucher mir nicht die Sicht verstellen, habe ich von unserem Platz aus freie Sicht auf Elsas Gehege.
Elsa.
Elsa.
Elsa.
Es heißt, schon das Fell ihrer Mutter sei so flauschig gewesen, dass der russische Präsident sich aus ihr eine Mütze habe nähen lassen. Für seine Geliebte. Und dass er seine Geliebte am liebsten begattet, wenn sie nichts trägt als diese Mütze. Elsas Vater dagegen soll im Moskauer Chinchilla-Ballett getanzt haben. Was für eine schaurig-sinnliche Genkombination! Ich habe inzwischen herausgefunden, dass Elsa selbst, bevor sie in den Zoo kam, mit ihrer älteren Halbschwester als Jazzsängerin unterwegs war. Was hätte ich darum gegeben, eins von ihren Konzerten zu erleben! Alleine ihre rauchige Stimme zu hören, wie sie mit mir spricht, ist so, als würde mir jemand von hinten in die Kniekehlen treten.
Seit Stunden – so lange warten Rufus und ich bereits darauf, dass Phil erscheint – versuche ich, Elsas Blick einzufangen, in die unergründliche Tiefe ihrer schwarzglänzenden Augen einzutauchen. Und wenn es nur für einen kurzen Moment wäre. Doch leider ist nicht nur ihr Körper makellos, sondern auch die Konsequenz, mit der sie mich nicht zur Kenntnis nimmt. Manchmal schaffe ich es, mir einzureden, dass das ein gutes Zeichen ist: Wer sich so sehr bemüht, sein Gegenüber zu ignorieren, der muss doch tiefer gehende Gefühle für ihn empfinden. Ist nur Wunschdenken, schon klar, aber anders wäre es einfach nicht auszuhalten.
Vorübergehend lenkt Rufus meine Aufmerksamkeit von meinen Problemen auf seine: »Alles reduziert sich schließlich auf die Begierde und die Abwesenheit von Begierde«, seufzt er gedankenverloren und versucht vergeblich, seinen Blick von Natalie abzuwenden.
Glücklicherweise wird er, bevor er an seinem Selbstmitleid ersticken kann, von einem schwarzen Gegenstand am Kopf getroffen.
Kommt vor – dass wir von Zoobesuchern beworfen werden. Am beliebtesten sind Kronkorken, Feuerzeuge und das ungeliebte Obst aus den Brotbüchsen der Schüler. Diesmal jedoch ist es kein Feuerzeug, auch wenn es im ersten Moment so aussieht. Es ist – Rufus hält inne, als er es aufhebt – Phils Beeper.
Den Beeper in der Klaue und zu perplex, um etwas zu sagen, blickt Rufus zum Zaun hinüber. Und tatsächlich: Da steht er. Phil. Der wahrscheinlich einzige Mensch, der Erdmännisch versteht. Warum, das hat bislang nicht einmal Rufus herausfinden können.
»Tu das nie wieder«, raunt er.
Ganz ehrlich: Ich wundere mich selbst darüber, wie sehr es mich freut, ihn zu sehen. Rufus und ich stehen auf und schlendern unauffällig zu ihm hinunter.
»Du kommst vier Stunden zu spät«, stellt mein Bruder fest.
Phil übergeht seine Bemerkung: »An dem Tag, an dem ich mich von einem Erdmännchen anpiepsen lasse, sitze ich im Rollstuhl und esse durch einen Strohhalm, klar?«
Rufus würde gerne etwas erwidern, doch er merkt, dass jetzt Ball flach halten angesagt ist.
Ich versuche, die Situation etwas aufzulockern: »Hey, Partner, wie läuft’s?« Das ist es, was wir sind, seit wir letzten Sommer gemeinsam einen ziemlich krassen Fall im Zoo aufgeklärt haben: Partner. Phil und ich.
»Wie es so läuft? Ich komme zurecht, würde ich sagen – solange ich nicht von einem Erdmännchen angepiepst werde.«
Relativ angespannt, der Gute, wie es scheint. Dabei dachte ich in letzter Zeit, dass er sich ganz gut gefangen hätte.
»Ist okay, Mann«, sage ich und warte, bis ein Touristenpärchen in Regenkombi vorbeigeschlendert ist. »Kommt nicht wieder vor. Es war nur, weil …« Ich will ihn ein bisschen auf die Folter spannen. »Also …«
»Also?«
»Wir haben eine Information, die dich interessieren könnte.«