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Impressum

Geschrieben zwischen Juni und September 1932 in Berlin-Schöneberg auf Russisch unter dem Titel «Ottschajanije» (Verzweiflung). Erstveröffentlichung 1934 in Fortsetzungen in der Pariser Zeitschrift «Sowremennyje sapiski» und als Buch 1936 bei dem russischen Emigrantenverlag Petropolis, Berlin. 1937 übersetzte Nabokov den Roman ins Englische unter dem Titel «Despair» für den Verlag John Long, London.

In einer vom Autor überarbeiteten Übersetzung erschien die endgültige Fassung 1966 bei G.P. Putnam’s Sons in New York.

Die deutsche Übersetzung von Klaus Birkenhauer erschien 1972 im Rowohlt Verlag, Reinbek, und wurde 1997 in Band 3 der Gesammelten Werke übernommen.

 

Der Text folgt: Vladimir Nabokov, Gesammelte Werke, Band 3, Frühe Romane, herausgegeben von Dieter E. Zimmer.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, August 2017

Copyright © 1972, 1997, 2017 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

«Despair» Copyright © 1965, 1966 by Vladimir Nabokov

Veröffentlicht im Einvernehmen mit The Estate of Vladimir Nabokov

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ISBN Printausgabe 978-3-499-22906-4 (3. Auflage 2017)

ISBN E-Book 978-3-644-40347-5

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-40347-5

Fußnoten

*

Gemeint ist die 1966 im Verlag G.P. Putnam’s Sons, New York, erschienene Ausgabe, der die deutsche Übersetzung auf Wunsch des Autors folgt. K.B.

*

Einen kommunistischen Kritiker (J.-P. Sartre), der 1939 der französischen Übersetzung von Verzweiflung einen bemerkenswert törichten Artikel widmete, hinderte das nicht zu behaupten, «sowohl der Verfasser als auch die Hauptfigur sind Opfer des Krieges und der Emigration».

Anmerkungen

Kapitel 1

1

Es dürfte sich um die Handschuhe des Dandys Lord Henry aus Oscar Wildes Das Bildnis des Dorian Gray (1890, Kapitel 8) handeln, dessen dekadente Sprüche Dorian zum Wüstling und Mörder machen. Einmal bemerkt er: «Jedes Verbrechen ist vulgär, so wie jede Vulgarität ein Verbrechen ist … Das Verbrechen ist allein eine Sache der niederen Stände. Ich mache es ihnen nicht im Geringsten zum Vorwurf. Ich glaube, für sie ist das Verbrechen, was für unsereinen die Kunst ist, einfach eine Methode, sich außergewöhnliche Empfindungen zu verschaffen» (Kapitel 19). Aus dieser Richtung könnte Hermann die Idee bezogen haben, sein Verbrechen als Kunstwerk zu betrachten.

Kapitel 2

1

Lloyd George (1863–1945) war von 1916 bis 1922 britischer Premierminister und maßgeblich an der Neuordnung Europas nach dem Ersten Weltkrieg beteiligt. Die russischen Emigranten verübelten ihm, dass er der Zarenfamilie Asyl verweigert und zu wenig gegen die Bolschewisten unternommen hätte.

2

Die französischen Truppen wurden im April 1919 aus Odessa abgezogen und überließen Stadt den Bolschewisten.

3

Der ungewöhnliche Name Ardalion wird in der russischen Literatur zuweilen mit Geisteskranken in Verbindung gebracht, z.B. mit General Ardalion Iswolgin in Dostojewkijs Idiot (1869) und mit dem verrückten Peredonow in Fjodor Sologubs Kleinem Dämon (1905). Laut Dolinin will Hermann Karlowitsch mit diesem Namen davon ablenken, dass er selber hier der Geisteskranke ist.

4

Laut Dolinin paraphrasiert Ardalion hier Pascal: «Je klüger ein Mensch ist, desto mehr Eigentümliches findet er in allem, was ihn umgibt. Für den Mittelmäßigen sehen alle Gesichter gleich aus» (Blaise Pascal: Pensées, 1657–1670).

5

Anspielung auf die Schlusszeilen des Puschkin-Gedichts Der Dichter und der Pöbel (1828). In der Übersetzung von Martin Remané lauten sie: «Mit Alltagskram sollt sich abgeben,/Mit Neid und Streit der Kunst Prophet?/Nein, über diese Welt erheben/Soll sich sein Lied wie ein Gebet» (Alexander Puschkin: Gedichte, Berlin: Aufbau, 1968, S. 303–304).

Kapitel 3

1

Dolinin zufolge Anspielung auf Andrej Belyjs Roman Kotik Letajew (1922), in dem ein Kapitel «In der Zwischenzeit …» heißt und mit «In der Zwischenzeit …» beginnt.

2

Dolinin zufolge verweist der Satz über «die rosige Scheußlichkeit meines Gesicht» auf die rachsüchtigen Porträts in Oscar Wildes Das Bildnis des Dorian Gray.

3

Gemeint ist das Bild Die Toteninsel, Dritte Version (1883) des Schweizer Malers Arnold Böcklin (1827–1901).

Kapitel 4

1

Hier und im Folgenden zitiert der Protagonist aus einem titellosen, an seine Frau gerichteten Gedicht von Alexander Puschkin aus dem Jahr 1834. In der Prosaübersetzung von Rudolf Pollach lautet es: «Es ist Zeit, meine Freundin, es ist Zeit! Das Herz bittet um Ruhe – /die Tage fliegen einer nach dem andern dahin, jede Stunde trägt/ein Teilchen des Daseins fort, und wir beide/gedenken gemeinsam zu leben – und unversehens werden wir sterben./Auf der Erde gibt es kein Glück, aber es gibt Ruhe und Freiheit./Lange schon träumt mir ein beneidenswertes Los –/lange schon plante ich, ein müder Sklave, die Flucht/in eine ferne Heimstatt des Schaffens und der reinen Wonnen» (Alexander Puschkin: Gedichte Russisch/Deutsch, Stuttgart: Reclam, 1998, S. 121).

2

Raffaels Sixtinische Madonna (1512/13) in der Gemäldegalerie Alter Meister in Dresden.

3

Laut Dolinin eine Anspielung auf Gogols Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen, wo der Wahnsinnige meint, das menschliche Hirn würde vom Kaspischen Meer hergeweht.

Kapitel 5

1

Hermann verdreht einen Gedanken von Pascal: «Zwei sich ähnliche Personen sind nicht komisch, wenn sie einzeln auftreten, aber lachen über ihre Ähnlichkeit, wenn sie zusammen sind» (Blaise Pascal, Pensées, 1557–1570).

2

In seiner Novelle Frühlingswogen (1872) schrieb Iwan Turgenjew: «Derartige Gefühle lassen sich mit Worten nur ungenügend wiedergeben; sie sind tiefer und stärker und unbestimmter als jedes Wort. Allein die Musik könnte einen Eindruck von ihnen vermitteln.»

3

Der Name Wiabranow ist zusammengesetzt aus den Namen zweier Opernsängerinnen, die Turgenjew verehrte: seiner Geliebten Pauline Viardot (1821–1910) und ihrer Schwester Maria Malibran (1808–1836).

4

Die Bemerkung steht in Jonathan Swifts Gedanken über verschiedene Gegenstände (1706): «Eine Abschrift von Gedichten, die im Bücherschrank aufbewahrt und nur ein paar Freunden gezeigt wird, ist wie eine heißbegehrte und bewunderte Jungfrau; aber gedruckt und veröffentlicht ist sie wie eine gemeine Hure, die jeder für eine halbe Krone kaufen kann.»

5

Hier äußert sich eine Romanfigur abfällig über ihren Autor.

6

Das ovale Kaninchen ist ein Scherz. Mit ‹oval›, das wörtlich ‹eiförmig› heißt, soll hier die Fruchtbarkeit des Kaninchens angedeutet werden.

7

Laut Dolinin parodierende Anspielung auf ein Tschechow-Thema: der Zerstörung des Familien-Nests und der Hoffnung der neuen Generation in Der Kirschgarten: «Wir errichten einen neuen Garten, noch schöner als der alte …»

8

Im russ. Original steht podnogotnaja, wörtlich ‹Wahrheit von unter dem Fingernagel›, Bedeutung ‹Wahrheit bis ins Allerkleinste›. Nabokov hat es in seiner englischen Neufassung des Romans mit der akademisch klingenden Neuprägung subungularity wiedergegeben. Dostojewskij hat podnogotnaja mehrmals benutzt, vor allem in Schuld und Sühne, z.B. in dem Satz in Teil 2, Kapitel 7: «‹Hat Sametow dir alles erzählt?› ‹Alles, und das ist gut so. Ich habe jetzt alles do podnogotnuju (bis ins kleinste Detail) verstanden.» Der Ausdruck stammt tatsächlich aus der Folterkammer.

Kapitel 5

9

Tatsächlich heißt russ. dengi nicht ‹Kupfer›, sondern ‹Silbergeld›.

10

Nach Lukas 17,19 sagt Christus zu einem geheilten Kranken «Steh auf und geh».

11

Die Szene im Gasthaus spielt an auf eine Episode in Dostojewskijs Erzählung Der Doppelgänger (1846, Kapitel 7–8), in der eine Figur ihren Doppelgänger einlädt, bei ihm zu übernachten, «unter dem Obdach eines Freundes», und morgens bemerkt, dass der Doppelgänger spurlos verschwunden ist.

Kapitel 6

1

Zitat aus Hamlets Monolog «Sein oder nicht sein»: «Sterben schlafen,/Schlafen, womöglich träumen – ja, da ist der Haken:/Denn welche Träume uns im Todesschlafe kommen mögen/… das ist der Gesichtspunkt,/Der’s Elend derart langen Lebens macht» (III.1).

2

Ein kurzes Prosagedicht von Iwan Turgenjew aus dem Jahr 1879, in dem sechsmal die Zeile «Wie schön, wie frisch waren die Rosen …» zitiert wird.

3

Möglicherweise denkt Hermann an eine Geschichte wie Wildes Lord Arthur Saviles Verbrechen (1887), in der ein Chiromant einem Lord für ein reichliches Honorar weissagt, er werde zum Mörder werden, woraufhin dieser drei Morde plant und ins Werk setzt, die jedoch alle scheitern – um am Schluss zu erfahren, dass der Chiromant ein Betrüger war. Dass auch ein scheinbar rationaler Zweckmord dem Täter nichts bringen und nur auf einem dementen Irrtum beruhen könnte, wäre eine Moral, die Hermann missfallen haben dürfte.

4

Ardalion zitiert aus dem Gedicht Hausierer (1861) von Nikolaj Alexejewitsch Nekrassow. Richtig lautet die Stelle: «Es ist kalt, Wanderer, es ist kalt … Ich bin hungrig, Wanderer, hungrig.»

Kapitel 7

1

Möglicherweise eine Anspielung auf Thomas de Quincys On Murder Considereed as one of the Fine Arts (1827).

2

Hermann macht sich über Puschkins Italien-Bild lustig, wie es etwa in dessen Mignon-Paraphrase zum Ausdruck kommt: «Wer kennt das Land, in dem der Himmel leuchtet/In unsagbarem Blau,/Wo des Meeres warme Wellen/Leise um die Ruinen plätschern;/Wo der ewige Lorbeer und Zypressen in der frischen Luft sprießen …»

3

Hermann Karlowitsch ist sein Vor- und Vatersname – den Nachnamen verrät er kein einziges Mal.

Kapitel 8

1

Der bosnische Serbe Gavrilo Princip erschoss am 28. Juni 1914 in Sarajewo den österreichisch-ungarischen Thronfolger Franz Ferdinand und dessen Frau und löste damit indirekt den Ersten Weltkrieg aus.

2

Lat. dixi: sagte ich.

3

An Conan Doyles Kurzgeschichte The Problem of Thor Bridge (Das Rätsel der Thor-Brücke, 1922), deren Heldin Selbstmord verübt, diesen aber wie Mord aussehen lässt.

Kapitel 9

1

Dolinin zufolge eine Anspielung auf André Gide und seinen Roman Die Verliese des Vatikans (1914).

2

Leopoldo Fregoli (1867–1936), weltbekannter italienischer Verwandlungskünstler. Seine Spezialität war der quick change, der schnelle Kleiderwechsel.

3

Eine derartige Geschichte von Maupassant scheint es nicht zu geben. Dolinin zufolge könnte Hermann die Erzählung Première Neige (Der erste Schnee, 1883) meinen, deren tuberkulosekranke, lebensmüde Heldin barfuß auf die Straße geht und sich den Oberkörper mit Schnee einreibt.

4

Die Männer benutzen alte deutsche Spielkarten, die Hermann offenbar unbekannt sind. Herz = Herz, Grün = Pik, Eicheln = Kreuz, Schellen (die Hermann für «Bienenkörbe» hält) = Karo.

5

Dolinin zufolge eine Anspielung auf eine Figur aus den Brüdern Karamasow von Fjodor Dostojewskij, den Lakaien und Mörder Smerdjakow. Im Kapitel Smerdjakow mit der Gitarre (Teil 2, Buch 5, Kapitel 2) singt er einer Frau ein Couplet vor und spielt dazu Gitarre.

Kapitel 10

1

Der Satz ist ein Zitat aus Schuld und Sühne (bzw. Verbrechen und Strafe, 1866) von Fjodor Dostojewskij, und zwar aus Abschnitt 33 (bzw. Teil 6, Kapitel 2). Dort erklärt der Detektiv bzw. Untersuchungsrichter Porfirij Petrowitsch dem Mörder Raskolnikow, dass er ihm schon länger verdächtig war, insbesondere nach der Lektüre eines verräterischen Artikels, den Raskolnikow veröffentlicht hatte. Hermanns Titelverballhornung crimen et circenses (nach Juvenals panem et circenses) bedeutet ‹Verbrechen und Zirkusspiele›. Hermann merkt nicht, dass Porfirij Petrowitsch an dieser Stelle einen Satz aus dem Schlussteil der Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen von Nikolaj Gogol paraphrasiert: «Dort türmt sich der Himmel vor mir, ein Sternlein glitzert in der Ferne … durch den Nebel tönt klangvoll eine Saite.»

2

Hermann meint Puschkins Gedicht Hat das Leben dich betrogen (1825) mit der Schlusszeile «Was vergangen ist, wird dir lieb werden».

Kapitel 10

3

Frz. pour la bonne bouche: als letzten wohlschmeckenden Happen.

4

Laut Alexander Dolinin ist mit «Pignan» die Gemeinde Pignan bei Montpellier im Département Hérault gemeint. Das kann nicht sein: Pignan ist zu klein, hat keinen Bahnanschluss, keine Auswahl aktueller internationaler Zeitungen und liegt auch nicht nahe der spanischen Grenze. Eher ist Pignan ein Deckname für das über zwanzigmal so große Perpignan in den Ostpyrenäen, das alle Voraussetzungen erfüllt.

5

Der Ort, an den sich Hermann aus (Per)pignan flüchtet, dürfte dem ähnlich sein, in dem Nabokov von Februar bis April 1929 Schmetterlinge zu jagen versuchte (aber es war zu kalt und viel zu windig) und den er als einzigen in jener Gegend näher kannte, nämlich Le Boulou am Fuß der Ostpyrenäen. Der Fujiyama-ähnliche Berg, den man von dort aus sieht, ist der 2785 m hohe Canigou.

6

Der Pariser Serienmörder Henri Désiré Landru (geb. 1869), der während des Ersten Weltkriegs mindestens zehn Frauen ermordete und 1922 mit der Guillotine hingerichtet wurde.

7

Frz. Calmez vousce qui revient au même, d’ailleurs: Beruhigen Sie sich … was übrigens auf das Gleiche hinauskommt.

8

Laut Dolinin eine Anspielung auf eine Szene in Dostojewskijs Schuld und Sühne, in der Raskolnikow seine Aufregung überspielt, indem er so tut, als falle es ihm schwer, «nicht vor Lachen zu bersten».

9

Hermann bezieht sich wahrscheinlich auf den Fall Alberding, der Anfang 1928 durch die deutsche Presse ging und über den Jürgen Thorwald in seinem Buch Das Jahrhundert der Detektive (Zürich: Droemer, 1964ff.) berichtet hat. Der Fuldaer Kaufmann Heinrich Alberding hatte, ebenfalls zum Zwecke des Versicherungsbetrugs, in einem Wald bei Saalfeld einen (niemals identifizierten) Unbekannten durch Kopfschuss getötet und ihn so hergerichtet, dass die Polizei dessen Leiche für seine eigene halten sollte. Unter anderem hatte er ihm die Füße abgehackt. Alberding wurde gefasst, verurteilt und hingerichtet.

Kapitel 11

1

Lat. Quod erat demonstrandum: Was zu beweisen war.

2

Frz. de rigueur: unerlässlich, ein Muss.

Vorwort des Autors zur englischsprachigen Ausgabe (1965)

1

Die Exemplare, die heute gelegentlich im Antiquariat auftauchen, kosten zwischen 1000 und 19000 Dollar.

Nachwort des Herausgebers

1

Sowremennyje sapiski, Paris, Nr. 54, Februar 1934, Seite 108–161; Nr. 55, Mai 1934, Seite 70–116; Nr. 56, Oktober 1934, Seite 5–70.

Wenn ich meines schriftstellerischen Vermögens und meiner erstaunlichen Fähigkeit, Vorstellungen mit höchster Anmut und Lebendigkeit auszudrücken, nicht völlig sicher wäre … So etwa wollte ich eigentlich meine Geschichte beginnen. Weiter hätte ich die Aufmerksamkeit des Lesers auf die Tatsache gelenkt, dass ich ohne dieses Vermögen, diese Fähigkeit und so weiter nicht nur davon abgesehen hätte, gewisse noch nicht lange zurückliegende Ereignisse zu schildern, sondern dann gar nichts zu schildern gewesen wäre, denn, geneigter Leser, es hätte sich ja überhaupt nichts ereignet. Närrisch vielleicht, aber zumindest klar. Allein die Gabe, die Schliche des Lebens zu durchschauen, eine angeborene Bereitschaft, meine Schöpferkräfte unablässig zu erproben, konnten mich instand setzen … An diesem Punkt wollte ich den Sünder wider die Gesetze, die so viel Aufhebens machen um ein bisschen vergossenes Blut, mit einem Dichter oder Schauspieler vergleichen. Aber wie mein armer linkshändiger Freund zu sagen pflegte: Das philosophische Spekulieren ist eine Erfindung der Reichen. Nieder damit.

Es mag so aussehen, als wüsste ich nicht, wie ich beginnen soll. Ein komischer Anblick, dieser ältere Herr, der mit wabbelnden Hamsterbacken vorbeigekeucht

Mein Vater war ein russischsprachiger Deutscher aus Reval, wo er eine berühmte landwirtschaftliche Hochschule besuchte. Meine Mutter, eine reinblütige Russin, entstammte einem alten Fürstengeschlecht. An heißen Sommertagen ruhte sie gewöhnlich in ihrem Schaukelstuhl, eine leidende Dame in lila Seide, fächerte sich Kühlung zu, knabberte Schokolade; alle Rouleaus waren herabgelassen, und der Wind von einem frisch gemähten Feld blähte sie wie purpurne Segel.

Während des Krieges wurde ich als deutscher Staatsbürger interniert … ein ziemliches Pech, wenn man bedenkt, dass ich gerade erst die Universität von St. Petersburg bezogen hatte. Von Ende 1914 bis Mitte 1919 las ich genau eintausendundachtzehn Bücher … habe sie gezählt. Auf dem Weg nach Deutschland blieb ich drei Monate in Moskau hängen und heiratete dort. Seit 1920 lebte ich in Berlin. Am 9. Mai 1930, ich war gerade fünfunddreißig Jahre alt …

Eine kleine Abschweifung: die Sache mit meiner Mutter – das war eine bewusste Lüge. In Wirklichkeit

Also, wie ich gerade sagte: Am 9. Mai 1930 befand ich mich auf einer Geschäftsreise in Prag. Ich war in der Schokoladenbranche. Schokolade ist eine gute Sache. Manche jungen Dämchen mögen nur Zartbitter … verwöhnte kleine Zierpuppen. (Ich weiß nicht recht, weshalb ich in diesem Ton schreibe.)

Meine Hände zittern, ich möchte kreischen oder irgendetwas mit einem Knall zerschmettern … Diese Stimmung dürfte der ungestörten Entfaltung einer ruhig fließenden Geschichte kaum förderlich sein. Mein Herz sticht, scheußliches Gefühl. Ruhig jetzt, nicht den Kopf verlieren. Sonst komme ich nicht voran. Ganz ruhig. Schokolade wird, wie jeder weiß … (Der Leser möge sich hier eine Beschreibung ihrer Fabrikation vorstellen.) Unser Warenzeichen auf der Verpackung zeigte eine Dame in Lila, mit einem Fächer. Wir drängten gerade eine ausländische Firma, die vor dem Bankrott stand, ihre Produktion mit der unsrigen zusammenzulegen, um gemeinsam die Tschechoslowakei zu versorgen, und aus diesem Grunde war ich in Prag. Am Morgen des 9. Mai verließ ich mein Hotel und fuhr mit einem Taxi nach … Stumpfsinnige Arbeit, all dies wiederzuerzählen. Langweilt mich zu Tode. Aber wie heftig ich auch danach verlange, schnell zum springenden Punkt vorzudringen – ein paar einführende

Ich glaube, ich sollte den Leser wissen lassen, dass gerade eine lange Pause verstrichen ist. Die Sonne hatte Zeit unterzugehen, und auf ihrem Weg hinab färbte sie die Wolken über dem Pyrenäenberg, der mich so an den Fujiyama erinnert, blutrot. Ich saß in seltsamer Erschöpfung da, horchte auf das Brausen und Krachen des Windes, kritzelte Nasen auf den Rand des Blattes, sank in einen unruhigen Schlummer und schreckte dann plötzlich hoch, am ganzen Körper zitternd. Und wieder wallte in mir jenes stechende Gefühl auf, jenes unerträgliche Beben … und mein Wille lag schlaff darnieder in einer leeren Welt … Es kostete mich große Anstrengung, das Licht einzuschalten und eine neue Feder in den Halter zu stecken. Die alte war abgewetzt und verbogen und sieht jetzt aus wie der Schnabel eines Raubvogels. Nein, dies sind keine Schöpferqualen … sondern etwas ganz anderes.

Also, wie ich gerade sagte: Der Mann war nicht da, in einer Stunde sollte er zurück sein. Da ich nichts Besseres zu tun hatte, machte ich einen kleinen Spaziergang. Es war ein flotter, frischer, blauscheckiger Tag; der Wind, ein entfernter Verwandter des hiesigen, strich flügelschlagend durch die schmalen Straßen; von Zeit zu Zeit ließ eine Wolke die Sonne verschwinden und wieder auftauchen, wie ein Zauberkünstler die Münze in seiner Hand. Die Parkanlage, wo Invaliden in

Nachdem ich an Kasernengebäuden vorbeigekommen war, vor denen ein Soldat einen Schimmel bewegte, ging ich auf weicher, klebriger Erde; Löwenzahn zitterte im Wind, und ein Schuh mit einem Loch briet unter einem Zaun in der Sonne. Etwas weiter strebte eine Anhöhe stolz und steil zum Himmel auf. Beschloss, sie zu erklimmen. Das stolze Streben erwies sich als Täuschung. Zwischen verkümmerten Buchen und Holunderbüschen führte ein Zickzackweg, in den man Stufen geschlagen hatte, immer höher. Zunächst hoffte ich, gleich nach der nächsten Wendung des Weges zu einem Plätzchen von wilder und wundersamer Schönheit zu gelangen, aber es kam und kam nicht. Diese eintönige Vegetation konnte mich nicht befriedigen. Die Büsche wuchsen in unregelmäßigen Abständen aus einem kahlen Boden, der von Papierfetzen, Lumpen und zerdrückten Blechdosen übersät war. Man konnte die Stufen des Pfades nicht verlassen, denn er grub sich sehr tief in den Hang hinein, und beiderseits drängten Baumwurzeln und die Gerippe von faulendem Moos aus seinen Erdwänden, wie die

Ich stützte die Ellbogen auf das knorrige Holzgeländer, schaute hinab und erblickte, weit unter mir und in einen leichten Dunstschleier gehüllt, Prag; flimmernde Dächer, rauchende Kamine, die Kasernengebäude, an denen ich gerade vorbeigekommen war, und einen winzigen Schimmel.

In der Absicht, auf einem anderen Weg hinabzusteigen, schlug ich die Straße ein, die ich hinter den Hütten entdeckte. Das einzig Schöne in dieser Landschaft war die Kuppel eines Gasometers auf einem Hügel: Gesund und rund vor blauem Himmel, sah er aus wie ein riesiger Fußball. Ich verließ die Straße und machte mich abermals ans Klettern, diesmal einen dünn mit Gras bewachsenen Hang hinauf. Trostloses Ödland. Das Rattern eines Lastwagens drang von der Straße herauf, ein Handkarren kam in entgegengesetzter Richtung vorbei, dann ein Radfahrer, dann, scheußlich regenbogenfarben, der Lieferwagen einer Anstreicherfirma. Im Spektrum dieser Halunken lag das grüne Band unmittelbar neben dem roten.

Eine Zeitlang blieb ich stehen und blickte den Hang hinunter auf die Straße; dann wandte ich mich ab, ging weiter, entdeckte einen kaum sichtbaren Pfad, der zwischen zwei kahlen Buckeln hindurchführte, und kurze Zeit später sah ich mich nach einem Rastplatz um. In

«Unsinn», sagte ich mir. «Er schläft. Er schläft ganz einfach. Kein Grund, ihn zu stören.» Doch nichtsdestoweniger trat ich näher und schnellte mit der Spitze meines eleganten Schuhs die Mütze von seinem Gesicht.

Einen Tusch bitte! Oder besser noch: jenen Trommelwirbel, der ein atemraubendes Akrobatenkunststück begleitet. Unglaublich! Ich zweifelte an der Wirklichkeit dessen, was ich vor mir sah, ich zweifelte an meinem gesunden Verstand, fühlte mich übel und matt – ehrlich, ich musste mich hinsetzen, so sehr zitterten mir die Knie.

Nun, wenn jemand anders an meiner Stelle gewesen wäre und hätte dasselbe gesehen wie ich, er wäre vielleicht in schallendes Gelächter ausgebrochen. Ich dagegen war zu benommen von dem hier mitschwingenden Geheimnis. Während ich hinschaute, schien alles in mir seinen Halt zu verlieren und zehn Stockwerke tief hinabzustürzen. Ich starrte auf ein Wunder. Seine Vollkommenheit, ohne jeglichen Grund oder Zweck, erfüllte mich mit sonderbarer Ehrfurcht.

An diesem Punkt, da ich beim Wesentlichen angekommen bin und der Feuerbrand dieser Neugier

Ein kluger Lette, mit dem ich 1919 in Moskau Umgang pflegte, sagte mir einmal, jene Wolken der Düsternis, die gelegentlich ohne jeden Grund über mich kämen, seien ein sicheres Vorzeichen, dass ich einmal im Irrenhaus enden würde. Er übertrieb natürlich; im Laufe dieses letzten Jahres habe ich sie gründlich auf

Mit scharfem Schnüffeln holte er Luft; Wellen des Lebens kräuselten über sein Gesicht – das Wunder wurde dadurch leicht beschädigt, aber es war noch da. Dann schlug er die Augen auf, blinzelte misstrauisch zu mir herüber, setzte sich und begann unter endlosem Gähnen – davon konnte er gar nicht genug kriegen –

Er war in meinem Alter, schlank, schmutzig, mit einem Dreitagebart; ein schmaler Streifen rosa Fleischs schimmerte zwischen der unteren Kante seines Kragens (weich, mit zwei ausgeweiteten Schlitzen für den fehlenden Kragenknopf) und dem Kragenbund seines Hemdes hervor. Sein dünn gestrickter Schlips hing schief, und an der Hemdbrust war kein einziger Knopf. Ein paar bleiche Veilchen welkten im Knopfloch seiner Jacke; eines hatte sich gelöst und hing mit dem Kopf nach unten. Neben ihm lag ein schäbiger Rucksack; die offen stehende Klappe enthüllte eine Salzbrezel und den größeren Teil einer Wurst – mit dem üblichen Beigeschmack von unpassender Lust und brutaler Amputation. Ich saß da und musterte den Strolch voll Staunen; er wirkte so, als habe er jene ungeschickte Verkleidung für einen altmodischen Lumpenball angelegt.

«Ich würde gern eine rauchen», sagte er auf Tschechisch. Seine Stimme klang unerwartet tief, ja sogar würdig, und er spreizte zwei Finger und machte die Geste des Zigarettehaltens. Ich schob ihm mein großes Etui hin; meine Blicke ließen keinen Augenblick von seinem Gesicht ab. Er beugte sich ein wenig näher, stützte sich dabei mit der Hand auf den Boden, und ich nutzte die Gelegenheit, sein Ohr und die eingefallenen Schläfen genau zu betrachten.

«Deutsche Zigaretten», sagte er lächelnd – und entblößte sein Zahnfleisch. Dieses enttäuschte mich, aber glücklicherweise verschwand sein Lächeln sofort

«Sind Sie Deutscher?», fragte er in dieser Sprache, während seine Finger die Zigarette drehten und pressten. Ich bejahte und ließ mein Feuerzeug unter seiner Nase aufschnappen. Gierig hielt er seine Hände dachartig über die zitternde Flamme. Blauschwarze, spatenförmige Fingernägel.

«Ich bin auch Deutscher», sagte er nach den ersten Zügen. «Das heißt, mein Vater war Deutscher, aber meine Mutter war Tschechin, aus Pilsen.»

Ich wartete immer noch auf einen Ausbruch der Überraschung bei ihm, ein großes Gelächter etwa, doch er blieb gleichmütig. Da erst ging mir auf, was er für ein Dummkopf war.

«Hab geschlafen wie ein Ratz», sagte er in einfältigem Behagen vor sich hin und spuckte herzhaft aus.

«Arbeitslos?», fragte ich.

Trauervoll nickte er mehrere Male und spuckte wieder aus. Ich staune immer aufs neue darüber, wie viel Speichel einfache Leute offenbar besitzen.

«Ich bin besser zu Fuß als meine Stiefel», sagte er und blickte auf seine Schuhe. Sie waren in der Tat in einem traurigen Zustand.

Er rollte sich langsam auf den Bauch, und während er den fernen Gasometer betrachtete und eine Lerche, die aus einer Furche aufwärtsschoss, fuhr er nachdenklich fort:

«Das war eine gute Stellung, die ich voriges Jahr in Sachsen hatte, nicht weit von der Grenze. Gartenarbeit. Es gibt nichts Besseres auf der Welt! Danach

Nun lassen Sie uns einen Blick von der Seite riskieren, aber nur beiläufig, ohne physiognomische Absichten; bitte nicht zu dicht, meine Herren, sonst kriegen Sie womöglich den Schock Ihres Lebens. Oder vielleicht auch nicht. Denn ach! – nach allem, was sich zugetragen hat, weiß ich jetzt, wie parteiisch und trügerisch das menschliche Auge ist. Aber wie dem auch sei, hier das Bild: Zwei Männer lagern auf einem Fleckchen kränklichen Grases; der eine, elegant gekleidet, klatscht einen gelben Handschuh auf sein Knie; der andere, ein Landstreicher mit leerem Blick, liegt der Länge nach da und macht seinem Groll auf das Leben Luft. Knisterndes Rascheln des benachbarten Dornbusches. Ziehende Wolken. Ein windiger Maitag mit kleinen Schaudern, wie sie das Fell eines Pferdes überlaufen. Das Rattern eines Lastwagens von der Straße. Das zarte Schlagen einer Lerche in den Lüften.

Der Landstreicher war in Schweigen verfallen; dann sprach er wieder, hielt inne, um auszuspucken. Sprach über dies und das. Immer weiter. Seufzte traurig. Lag flach auf dem Bauch, winkelte die Beine an, bis die Fersen sein Gesäß berührten, und streckte sie wieder aus.

«Jetzt schauen Sie mal her, Sie!», platzte ich heraus. «Merken Sie eigentlich gar nichts?»

«Wie meinen Sie?», fragte er, und ein misstrauisches Stirnrunzeln verfinsterte sein Gesicht.

Ich sagte: «Sie sind wohl blind.»

Etwa zehn Sekunden blickten wir einander unverwandt in die Augen. Langsam hob ich den rechten Arm, aber sein linker ging nicht mit in die Höhe, wie ich es beinahe erwartet hatte. Ich kniff das linke Auge zu, aber seine Augen blieben beide offen. Ich streckte die Zunge heraus. Er brummte nochmals:

«Was ist denn? Was ist denn?»

Ich zog einen Taschenspiegel hervor. Während er noch danach griff, betatschte er sein Gesicht und blickte dann auf seine Handfläche, fand aber dort weder Blut noch Vogeldreck. Er betrachtete sich in dem himmelblauen Glas. Gab es mir mit einem Achselzucken zurück.

«Sie Narr!», rief ich. «Sehen Sie nicht, dass wir beide … Sehen Sie Narr nicht, dass wir … Jetzt hören Sie mal zu …: Schauen Sie mich ganz genau an …»

Ich zog seinen Kopf neben den meinen, sodass unsere Schläfen einander berührten; im Spiegel tanzten zwei Augenpaare und verschwammen.

Als er sprach, war sein Ton herablassend:

«Ein Reicher sieht nie ganz so aus wie ein Armer, aber ich glaub wohl, Sie wissen das besser. Da fällt mir ein, einmal, da hab ich zwei Zwillinge gesehen, auf einem Jahrmarkt, im August 26 – oder war es im September? Lassen Sie mich überlegen. Nein. Im August. Also das war wirklich eine Ähnlichkeit! Kein Mensch konnte die beiden auseinanderhalten. Hundert Mark

Seine Augen huschten über das taubengraue Tuch meines Anzugs, glitten den Ärmel hinunter, stolperten und hielten bei der goldenen Uhr an meinem Handgelenk inne.

«Könnten Sie mir nicht irgendwelche Arbeit verschaffen?», fragte er und hielt den Kopf schief.

Anmerkung: Er war es, nicht ich, der in unserer Ähnlichkeit als Erster das freimaurerische Band erkannte; und da die Ähnlichkeit selber von mir festgestellt worden war, befand ich mich ihm gegenüber – nach seiner unterbewussten Berechnung – in einem subtilen Abhängigkeitsverhältnis, so als sei ich die Nachahmung und er das Vorbild. Natürlich hört man immer lieber von sich sagen: «Er sieht dir ähnlich» statt umgekehrt. Indem er mich um Hilfe bat, erkundete dieser kleinkarierte Schurke schon den Boden, auf den zukünftige Forderungen fallen würden. In der verborgensten Tiefe seines verwirrten Gehirns lauerte vielleicht die Erwägung, ich müsse ihm dankbar dafür sein, dass er mir – durch die bloße Tatsache seiner Existenz – großzügig vergönnte, so auszusehen wie er. Mich berührte unsere Ähnlichkeit wie eine Laune der Natur, die ans Wunderbare grenzte. Ihn dagegen interessierte vor allem mein Wunsch, überhaupt eine

«Ich fürchte, im Augenblick kann ich nicht sehr viel für Sie tun», antwortete ich kalt. «Aber geben Sie mir Ihre Adresse.»

Ich zog mein Notizbuch heraus und einen silbernen Drehbleistift.

Er lächelte bedauernd: «Hat keinen Zweck, zu erzählen, ich wohne in einer Villa. Besser im Heuschober schlafen als auf dem Moos im Wald; aber besser im Moos als auf einer harten Bank.»

«Trotzdem wüsste ich gern, wo ich Sie erreichen kann.»

Er dachte darüber nach und sagte dann: «Diesen Herbst bin ich sicher im selben Dorf, wo ich voriges Jahr gearbeitet habe. Sie können mir einen Brief ans Postamt dort schicken. Es ist nicht weit von Tarnitz. Geben Sie her, ich schreib’s Ihnen auf.»

Er hieß Felix, wie sich herausstellte, «der Glückliche». Sein Zuname, geneigter Leser, geht Sie nichts an. Seine ungelenke Schrift schien bei jeder Schleife zu knirschen. Er schrieb mit der linken Hand. Es war an der Zeit aufzubrechen. Ich legte zehn Kronen in seine Mütze. Mit herablassendem Grinsen bot er mir

Dann kehrte ich, fast im Laufschritt, denselben Weg zurück, den ich gekommen war. Als ich noch einmal über die Schulter blickte, sah ich seine dunkle schlanke Gestalt zwischen den Büschen. Er lag auf dem Rücken, die Knie hoch übereinandergeschlagen, die Arme unter dem Kopf verschränkt.

Plötzlich fühlte ich mich schlapp, schwindlig, todmüde wie nach einer langen und ekelerregenden Orgie. Der Grund für diese widerlich-süße Nachglut war, dass er kaltblütig den Geistesabwesenden gespielt und meinen silbernen Drehbleistift eingesteckt hatte. Eine Prozession silberner Drehbleistifte marschierte einen endlosen Tunnel der Verderbtheit hinab. Während ich weiter den Straßenrand entlangging, schloss ich hin und wieder die Augen, bis ich fast in den Graben stolperte. Später dann, im Büro, im Laufe einer geschäftlichen Besprechung, verzehrte ich mich förmlich danach, meinem Gesprächspartner zu erzählen: «Mir ist da eben eine komische Sache passiert! Man möchte es kaum für möglich halten …» Aber ich sagte kein Wort und schuf so einen Präzedenzfall für Verschwiegenheit.

Als ich schließlich in mein Hotelzimmer zurückkam, entdeckte ich, dass dort, inmitten quecksilbriger Schatten und umrahmt von gekräuselter Bronze, Felix auf mich wartete. Feierlich und mit bleicher Miene

Etwas Ländlichkeit war mir in die Nase geraten. Ich putzte sie und setzte mich, während ich weiter den Spiegel befragte, auf die Bettkante. Ich erinnere mich, dass die kleinen Zeichen bewusster Existenz – etwa der Staub in meiner Nase, der schwarze Schmutz zwischen Absatz und Gelenk des einen Schuhs, mein Hunger und jetzt gerade der grobe braune Geschmack eines mit Zitrone beträufelten großen, flachen Kalbskoteletts vom Bratrost – auf seltsame Weise meine Aufmerksamkeit gefangen nahmen, so als wäre ich auf der Suche nach Beweisen und entdeckte sie (und bezweifelte sie immer noch ein bisschen), dass ich ich war und dass dieses Ich (ein zweitklassiger Geschäftsmann mit Phantasie) wirklich in einem Hotel wohnte, aß, über Geschäftsangelegenheiten nachdachte und nichts gemein hatte mit einem bestimmten Landstreicher, der sich im Augenblick unter einem Busch rekelte. Und dann wieder ließ die Erregung über dieses Wunder mein Herz einen Schlag aussetzen. Dieser Mann zeigte mir, besonders im Schlaf, wenn seine Gesichtszüge erstarrten, mein eigenes Gesicht, meine Maske, das makellos reine Bild meines Leichnams – ich benutze den letzteren Begriff nur, weil ich mit größter Klarheit ausdrücken möchte – was ausdrücken? Dies: dass wir identische Gesichtszüge besaßen und dass diese Ähnlichkeit im Zustand der absoluten Ruhe überraschend

Und dann, so dachte ich: Brachte nicht ich selbst, der ich mein eigenes Gesicht kannte und liebte, bessere Voraussetzungen mit, meinen Doppelgänger zu bemerken, als andere? Denn nicht jeder beobachtet so sorgsam; und es geschieht häufig, dass jemand auf die erstaunliche Ähnlichkeit zweier Menschen hinweist, die einander zwar kennen, aber von ihrer eigenen Ähnlichkeit nichts ahnen (und sie entschieden abstreiten, sobald man die Rede darauf bringt). Gleichviel, ich hatte niemals zuvor für möglich gehalten, dass es eine so vollkommene Ähnlichkeit geben könne wie zwischen Felix und mir. Ich habe Brüder getroffen, die einander ähnlich sahen, Zwillinge. Im Kino habe ich einen Mann gesehen, der seinem Doppelgänger begegnete; oder, besser gesagt, einen Schauspieler, der zwei Rollen spielte, wobei, wie in unserem Fall, der Unterschied der gesellschaftlichen Stellung auf naive Weise hervorgehoben wurde, indem er sich in der einen Rolle als Verbrecher davonstahl und in der anderen als gesetzter Bourgeois im Auto fuhr – als ob ein Paar identischer Landstreicher oder identischer feiner Herren weniger Spaß gemacht hätte! Ja, ich habe das alles gesehen, aber die Ähnlichkeit von Zwillingsbrüdern wird, wie ein grammatischer Reim, durch den

In unserem Fall jedoch handelte es sich weder um eineiige Zwillinge (die das für einen gedachte Blut teilen) noch um den Kniff eines Theaterhexenmeisters.

Wie sehne ich mich danach, Sie zu überzeugen! Und ich werde, ich werde Sie überzeugen! Ihr Schurken, ich werde euch alle zum Glauben zwingen … obwohl ich fürchte, dass Wörter, aufgrund ihrer besonderen Natur, allein nicht imstande sind, eine derartige Ähnlichkeit anschaulich zu vermitteln: Die beiden Gesichter müssten Seite an Seite abgebildet werden, in echten Farben, nicht in Worten; dann und nur dann würde der Zuschauer sehen, worum es mir geht. Es ist der Lieblingstraum eines Schriftstellers, den Leser in einen Zuschauer zu verwandeln; aber wird dies je erreicht? Die blassen Organismen literarischer Helden nähren sich unter Aufsicht des Autors vom Herzblut des Lesers und schwellen nach und nach davon an; sodass die Genialität eines Schriftstellers darin bestünde, dass er sie mit der Fähigkeit ausstattet, sich an diese – nicht sehr appetitliche – Speise zu gewöhnen und dabei zu blühen und zu gedeihen, mitunter jahrhundertelang. Doch im gegenwärtigen Augenblick brauche ich nicht literarische Methoden, sondern die ganz gewöhnliche, grobschlächtige Deutlichkeit der Malerei.

Schauen Sie, dies ist meine Nase; groß, vom

Ich lächle selbstgefällig, allerdings. Dass ich die Hauptsache bewiesen habe, weiß ich genau. Das läuft ja fabelhaft. Jetzt sehen Sie uns alle beide, lieber Leser. Zwei, aber mit einem einzigen Gesicht. Sie brauchen jedoch nicht zu glauben, dass ich mich möglicher Schnitzer und Druckfehler im Buch der Natur schäme. Schauen Sie genauer hin: Ich besitze große gelbliche Zähne; seine sind weißer und stehen dichter beieinander, aber was bedeutet das schon? Auf meiner Stirn tritt eine Ader hervor wie ein schlecht gezeichnetes großes M; doch wenn ich schlafe, ist meine Stirn so glatt wie die meines Doppelgängers. Und was die Ohren angeht … Die Windungen seiner Ohrmuscheln sind im Vergleich zu meinen nur ganz leicht verändert: hier dichter zusammengedrängt, dort etwas abgeflacht.

Dies war ungefähr alles, was ich an unterscheidenden Merkmalen bei jener ersten Begegnung feststellte. Im Verlauf der folgenden Nacht prüfte mein rationales Gedächtnis unablässig diese winzigen Makel; mit dem irrationalen Gedächtnis meiner Sinne erblickte ich dagegen nach wie vor und trotz allem mich, mein eigenes Selbst in der schäbigen Verkleidung eines Landstreichers, das Gesicht regungslos, Kinn und Wangen von Bartstoppeln umschattet, wie es einem Toten über Nacht widerfährt.