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Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Oktober 2018

Copyright © 2018 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Die Originalausgabe erschien 2001 im Bloomsbury Verlag, Berlin.

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Umschlaggestaltung Anzinger und Rasp, München

Umschlagabbildung Unitedt Archives/De Agostini/Süddeutsche Zeitung Photo

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ISBN Printausgabe 978-3-499-27469-5 (1. Auflage 2018)

ISBN E-Book 978-3-644-40443-4

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-40443-4

Ich sehe Zimmer vor mir, große helle Zimmer, kleine dunkle, dunkle große, kleine helle, schmale dämmrige, niedrige freundliche, alte hohe, neue quadratische Zimmer, lauter Zimmer, in denen ich gewesen bin, Zimmer, die ich erfunden habe, fotografierte Zimmer, und die Zimmer, die ich bewohnen werde.

Überall ist es das Licht, das meine Zimmer unvergeßlich macht; ich bin ein großer Künstler und öffne dem Licht in den Mauern die richtigen Schleusen, durch die es einfließen kann, um den Raum je nach meinem Willen ganz zu füllen, oder nur ein wenig schimmernd zu erhellen, oder ihn mit gelben Flecken zu sprenkeln.

Meine Phantasie beim Ersinnen von Kunstgriffen, das Licht zu lenken, hat kein Ende.

Ich habe zum Beispiel Zimmer, die von allen Himmelsrichtungen ihr Licht empfangen, ringsum von Fenstern umgebene Turmzimmer etwa: Da liefern sich die Lichter eine Schlacht, sie stürzen aufeinander, sie

Es gibt bei mir aber auch die entgegengesetzte Art von Zimmern: sie empfängt ihr Licht aus einer einzigen Quelle, einem Fenster nämlich, das sich zu einer bestimmten Himmelsrichtung öffnet; da hat alles einen Charakter, der ganz von der Eigentümlichkeit des gerade für diese Himmelsrichtung bezeichnenden Lichts regiert wird. Im weißen Nordlicht sehen meine Hunde und Katzen wie Standbilder ihrer selbst aus. Das graue Ostlicht macht meine Rosen zu Friedhofsblumen. Das Südlicht blendet mich. Ich sperre es aus mit Fensterläden und Jalousien, aber es dringt durch die Ritzen und hackt meinen Teppich in kleine goldene Stücke. Das Westlicht färbt meine Wangen rot, wenn ich am späten Nachmittag einer Dame ein Geständnis mache. Da haben Sie die Hauptlichter.

Ahnen Sie die Varietäten, die sich bei gemischten Himmelsrichtungen, mehreren Fenstern in verschiedenen Richtungen, Fenstern in entgegengesetzten Richtungen ergeben?

In manche meiner Zimmer fällt nie ein Sonnenstrahl.

Sind hinter ihren immer geschlossenen Vorhängen wirklich Fenster verborgen? Fast meint man, sich diesen Gedanken verbieten zu müssen: Die Existenz von Fenstern käme einer Revolution für die Verhältnisse in diesen Zimmern gleich. Die feierliche Harmonie ihrer sich kreuzenden Schlagschatten würde von jedem anderen Licht, als dem der sorgfältig plazierten gläsernen Lampen zerstört;

In der Nacht beginnen sich meine Zimmer wieder zu gleichen und nur die, die feine Nerven haben, können auch in der Dunkelheit noch ahnen, wie hoch die Zimmerdecke über ihnen schwebt und ob ihr Atem sich in Wandverkleidungen fängt oder ob er auf eine nackte Mauer schlägt. Ich kenne aber das Erschrecken, das uns erfaßt, wenn wir allein in einem dunklen Zimmer zu sein glauben und auf einmal die schleppenden unbeirrbaren Atemzüge eines in ihm schlafenden Menschen vernehmen. Das Zimmer, dessen Eigenheiten nicht wahrzunehmen sind, gewinnt plötzlich durch den träumenden Schläfer ein Herz und fängt an zu leben – ein gesichtsloses Leben, wie in den ersten Tagen der Erde oder in unseren Kinderängsten, die uns die nie gesehenen Ungeheuer aus den Höhlen vor Augen stellten.

Meine Zimmer sind meine Haut. Ich habe tausend Häute und fürchte manchmal, daß ich noch niemals in einem Zimmer gewesen bin.

In einem Zimmer vielleicht, das im 3. Stock eines alten Mietshauses liegt.

Man öffnet seine Türe, tritt ein und sieht sich um. Dabei stellt man fest, daß die Türe am Rand des Zimmers liegt, in seiner äußersten Peripherie, sie versucht, so wenig da zu sein, wie nur möglich, man hat sie dort hingesetzt, damit sie möglichst wenig Platz wegnimmt, jetzt steht

Hat der Schläfer nie die Empfindung, der Teppich verdecke eine Tür, die in andere Räume führt? Wenn ein Windstoß den Teppich trifft, und er schwankt und bebt, dann kann man schon bei Tageslicht den Raum ahnen, den der Teppich wie eine Portiere verbirgt. Wahrscheinlich ist es sehr unaufgeräumt dort, Matratzenlager, leere Flaschen, eine ausgestopfte Schildkröte, Fotografien von nackten Menschen ohne Kopf, Zerrspiegel und altmodische Prothesen: Die Kammer, in der die Requisiten für die Träume aufbewahrt werden; sie sind vom Bett, in dem der Schläfer, von Heiligenbildern umgeben, ruht, mühelos zu erreichen, wenn der Teppich zur Seite gleitet und die notwendigen Gegenstände sich aufmachen, um sich zu formieren und eine Welt zu möblieren, der nur für wenige Sekunden Leben gewährt ist und die doch auch in der hellsten Sonne die Gedanken in der Erinnerung an sie verschleiern kann.

Jetzt ist es Morgen in meinem Zimmer, allerdings so

Nachdem die Nacht sich zerstreut hat und die Vögel wie aus einer Kehle zwischen den Blättern sitzend zu zwitschern anheben, erhellt das erste Tageslicht ein Zimmer, das verwüstet und unwirklich daliegt. Der mit rotem blassen Samt bezogene Schreibtischsessel steht mit dem Rücken zum Schreibtisch, auf dem zwischen mannigfachen Papieren, einer Uhr, allerlei Püppchen aus Bronze und Porzellan ein Brotkorb mit einem vertrockneten Stück Weißbrot steht. Auf dem Boden liegen Krümel und zerknäulte Servietten; die grünen Gläser spiegeln die Strahlen der Morgensonne in ihrem Bodensatz aus langsam verdunstendem Weißwein. Über einen Sessel ist eine Hose geworfen, ein Hemd hängt herunter, vor dem Bett, in dem ein Mensch schläft, stehen seine gestickten Pantoffeln. Obwohl nicht viele Dinge von ihrer angestammten Stelle gerückt sind, ist ein Chaos entstanden. Armer Schläfer! Du wirst bald erwachen, mit schwirrendem Kopf, du wirst von frischer Morgenkühle beleuchtet, die Reste deines Festes betrachten; wie die Krümel wirst du deine witzigen Bemerkungen zusammenkehren, die Antworten darauf weggießen wie den schalen Wein, die Situationen aufsammeln und falten wie die Servietten. Dein Badewasser wird gurgeln, dein Zimmer wird nicht mehr so trostlos aussehen, wenn du nicht mehr darin bist, tröste dich und fasse dich, geh’ in das Tauchbad – du wirst den Irritationen solcher Abende auch in Zukunft nicht entgehen können, aber die Morgende sind kürzer als die Abende und es ist schon spät.

«Ich weiß nicht, wie man in diesem Zimmer eine einzige Zeile schreiben kann», sagte der Dichter. «Ganz abgesehen davon, daß das alles hier nicht mein Geschmack ist. Ich liebe weiße leere Zimmer mit drei Möbeln, am besten kein Bild. Wenn ich arbeiten soll, dann brauche ich sozusagen optische Ruhe, meine Bilder entwickeln sich erst, wenn sie von keinen anderen Bildern bedroht werden. Wenn ich dieses Stilleben mit seinen gefährlichen dunklen Rosen, seinem Kristall, seinem sämigen, öligen Holz betrachten muß, verstummt meine Phantasie. Bilder verwahrt man mit dem Gesicht zur Wand. Wenn man eines betrachten will, hebt man es hoch und dreht es um. Ein Bild an der Wand ist wie ein ständig auf einen einredender Mensch, der keine Entgegnung zuläßt. Was heißt ‹ein

«Alles, was ich hier sehe, hat eine Bedeutung für mich», sagte die Frau. «Ich bin oft in diesem Zimmer gewesen, es war anfangs leerer als jetzt, dann sind immer mehr Sachen dazugekommen, jede ist für mich eine Erinnerung an irgend etwas. Jetzt hat das Zimmer so viel Schwere, daß ich mir manchmal vorstelle, daß ich ihn selbst gar nicht mehr sehen brauche – die Gegenwart ist so unerhört arm; alles, was sie hat, ist, daß sie eben da ist. Wie anders in seinem Zimmer, da habe ich ihn, wie er früher war, wie er später war, wie er heute ist, und, weil ich ihn kenne und schon ahne, was er verändern wird, wo ihm noch etwas fehlt oder wo ihn etwas stört, wie er morgen sein wird. Ich habe nie darüber nachgedacht, ob dies ein schönes Zimmer ist. Wenn ich aufgefordert würde, bestimmte Gegenstände aus ihm zu beschreiben, dann würde ich wohl scheitern, obwohl ich doch weiß, daß ich alles vor Augen habe: Farben, Formen, Gerüche, aber eben als Akkord und nicht im Detail, wie ich mich gewöhnt habe, ihn zu betrachten.»

Wenn das Zimmer frisch geputzt und noch nicht wieder in Benutzung genommen worden ist, sieht es aus wie ein Indiz: Die Stühle bezeugen, daß jemand einmal auf ihnen gesessen hat, das Sofa beweist, daß einmal einer auf ihm gelegen hat, der Schreibtisch belegt, daß einmal einer etwas auf ihm geschrieben hat. Es ist der Zustand des Zimmers, der sich für eine Polizeifotografie eignete. Daß der, der hier gesessen, gelegen, geschrieben hat, schuldig war,

Wieviel Uhr ist es jetzt? Ich feiere die Niemandszeit. Mein Zimmer liegt auf einem Schiff, ich treibe in ihm über das grüne Meer, dessen tausend kleine Wellen in mein Fenster sehen. Die Passagiere sind eine kleine italienische Blumenverkäuferin, ein kleiner Merkur mit Flügelschuhen, zwei rote Putten mit leichten Anzeichen der Seekrankheit, ein kleiner Soldat mit dem goldenen N zu Füßen, ein Löwe, der Heilige Johannes der Täufer als Knabe, ein kleiner Fischer, der Papst, ich selbst mit einem Lorbeerkranz gekrönt, als Ölbild, diverse Stilleben, eine Geige. Ich glaube, daß es keine gute Geige ist, und sage zu jedem, der mich nach dem Wert des Instruments fragt, in unbestimmtem Ton: «Das ist eine französische Geige.»

Wenn ich meine Koffer packe, wird alles, was nicht in die Koffer hinein soll, überflüssig. Es ist nicht mehr

Ich werde also nicht untergehen, weil ich einmal unter einer roten Decke geschlafen habe, gegen die Kälte von einem Teppich geschützt, gegen den schlechten Schlaf von den violetten Schleifen des schwarzen Kruzifixes. Das hat mich sehr erfrischt, ebenso der schwarze Kaffee am Morgen, auch der Weißwein am Mittag, aus grünen Gläsern genossen.

Am Schreibtisch war es immer schön, ich habe die gelben Papiere mit Zeichen bedeckt, viel Material verbraucht und mir im Winter den Sommer, im Sommer den Winter vorgestellt.

Wer niemals ein Zimmer bewohnt hat, wird mein Glück schwerlich ermessen können. Nicht jedes Zimmer verschafft einem solche Erlebnisse; man muß suchen und darf nicht mit dem ersten Besten zufrieden sein. Ich habe

Dieses Zimmer im dritten Stock eines alten Mietshauses liegt auf der Spitze des Eiffelturms. Es zittert sanft, wenn sich die großen Fahrstühle in Bewegung setzen; im Sommer höre ich die Stimmen der Besucher auf den unteren Terrassen, aber im Winter, wenn die Bäume ihr Laub verlieren, habe ich einen wundervollen Blick.

In der «Goldenen Traube» wird ein guter einfacher Wein ausgeschenkt, aber nicht jedem, der davon haben will. Neben den Tischen, auf denen die großen gefüllten Karaffen stehen, gibt es die, auf denen sich nur die Aschenbecher füllen und die Menschen, die an ihnen sitzen, vom Kellner so wenig beachtet werden wie die Katzen. So lagern sie sich denn auch zwischen die fröhlichen gesprächigen Weintrinker, sie betrachten sie ebenso kalt und schamlos, als ob sie wirklich Katzen wären. Vor allem aber beschäftigen sie sich mit sich selbst. Sie untersuchen den Zustand ihrer Kleider und den Inhalt ihrer Taschen und wenn sie sprechen, dann wünschen sie von niemandem eine Antwort. Wie die Katzen gehören auch sie dem weiblichen Geschlecht an, und sie genießen das Privileg der Weiblichkeit, sich beständig zu schmücken und zu putzen. In ihrem verwahrlosten Haar stecken glitzernde Kämme, es fällt mädchenhaft auf ihre Schultern und umrahmt ein Gesicht, dessen Lippen zwar keine Zähne mehr verbergen,

Die «Goldene Traube» ist gut besucht, wenn die

Wer soweit wie sie gekommen ist, muß sehen, daß er mit seinen Empörungen allein fertig wird, und es gibt auch in ihren Leben solche Empörungen, in der Gegenwart und in der Erinnerung. Die Welt ist voller Geschmacklosigkeiten, die muß man nicht suchen, und es ist unbillig, wenn man von Menschen, deren ganzes Leben ein Beispiel vollendeter stoischer Ruhe gibt, verlangt, daß sie auch im kleinen immer auf sich halten, und auf die Klage verzichten, die doch nicht mehr Erleichterung verschafft, als ein warmes Bad dem zu Tode Betrübten.

Wenn also der Eimer ihrer Fassungskraft überläuft, weil das Leben einen Tropfen von Häßlichkeit und Meskinität zuviel in ihn gegossen hat, dann öffnen sie ihren Mund und sprechen – ohne auf die fröhlichen