Voyeur

Cover

und Mom und Dad

Vorwort

Die Idee für Voyeur basiert auf einem Traum, und ich wünschte, die Geschichten für meine folgenden Romane wären mir genauso mühelos eingefallen. Obwohl ich mich nur an einen Teil des Traumes erinnern konnte, ließ er mich nicht los. Während ich am folgenden Tag auf dem Baugerüst arbeitete, grübelte ich ständig darüber nach, und als ich abends in meine Dachwohnung zurückkehrte, nahm ich einen Notizblock und begann zu schreiben.

So entstand die unheilige Allianz von Donald Ramsey, dem Schöngeist und Kunsthändler, und dem amoralischen, hedonistischen Zeppo. Ich schrieb Voyeur mit der Hand und in der kürzesten Zeit, die ich jemals für einen Roman benötigte. Es war mein zweiter Versuch, ein Buch zu schreiben – der erste war auf ganzer Linie gescheitert. Aus dieser neuen Idee – einer Studie sexueller Obsession, die sowohl verstören

Für das Buch einen Verleger zu finden dauerte länger, als es zu schreiben. Nachdem es alle wichtigen Verlagshäuser in Großbritannien abgelehnt hatten, machte ich mir über meine Zukunft eine Zeitlang ernsthafte Sorgen. Doch dann begann ich als freier Journalist zu arbeiten, und als ich eines Tages spät nach Hause kam und ein Interview mit einem Hundefänger hinter mir hatte, wartete eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter auf mich. Sie stammte vom Verleger von Allison & Busby, einem kleinen, unabhängigen Verlag, der Voyeur in einem Stapel der unaufgefordert bei ihm eingegangenen Manuskripte entdeckt hatte. Er hatte es nicht nur gelesen, was für die meisten unverlangt eingesandten Romane schon eine Seltenheit ist, er wollte es sogar kaufen.

Und so wurde ich ein publizierter Autor.

Voyeur war ein bescheidener Erfolg. Das Buch wurde in mehrere Sprachen übersetzt und sollte einige Male verfilmt werden, wozu es jedoch nie kam. Mehr noch als Obsession und Flammenbrut unterscheidet es sich von der David-Hunter-Reihe. Auch wenn ich zögern würde, es als einen «erotischen Thriller» zu bezeichnen, könnte der explizite sexuelle Inhalt manche Leser erschrecken.

Doch genau wie die detaillierten forensischen Beschreibungen in den Thrillern um David Hunter ist dieser Aspekt

In diesem Sinne überlasse ich Sie nun Donald Ramsey …

 

Simon Beckett, September 2009

Kapitel 1

Glücklicherweise kannte ich jemanden, der dafür wesentlich besser qualifiziert war.

Zeppo erinnerte sich nicht an mich, als ich ihn anrief, was mich nicht besonders überraschte. Wir hatten uns erst zweimal gesehen, und ich bin kein Mensch, der einen bleibenden Eindruck hinterlässt. Zeppo dagegen ist das komplette Gegenteil.

Es war trübe in London und nieselte, als ich die Galerie schloss und zu dem Restaurant im West End fuhr, wo wir uns verabredet hatten. Zeppo war unpünktlich; ich hatte den Kellner schon zweimal weggeschickt, ehe er schließlich kam. Ich winkte ihm, und als er herüberschlenderte, schien er sich der Blicke der anderen Gäste nicht bewusst zu sein. Allerdings ging er ein bisschen zu langsam und bedächtig, um sie gar nicht zu bemerken.

Er begrüßte mich einigermaßen freundlich, entschuldigte

«Du siehst braun gebrannt aus», sagte ich. «Warst du weg?»

«Ich bin gerade aus Italien zurückgekommen.» Sein Blick schweifte beim Sprechen durch den Raum. Er checkt sein Publikum, dachte ich.

«Arbeit oder Vergnügen?»

«Ein bisschen von beidem. Ich war wegen Aufnahmen dort, aber ich habe nebenbei ein bisschen Zeit zum Skifahren gefunden.» Er grinste. «Man muss das Beste draus machen, oder?»

«Dann läuft das Modeln also gut?»

«Für die Miete reicht’s. Und es ist besser, als zu arbeiten. Was macht das Kunstgeschäft?»

«Ach, hektisch wie immer.»

Der Kellner erschien und reichte ihm eine Speisekarte. Ich bestellte einen Wein, den ich für teuer genug hielt, um ihn zu beeindrucken. «Na schön. Du sagtest, du hättest ein Geschäftsangebot», sagte Zeppo, sobald der Kellner weg war.

Ich hatte gehofft, es würde etwas länger dauern, ehe wir zum Thema kamen. «Warum sprechen wir nicht beim Essen darüber? Es besteht keine Eile, oder?»

Er zuckte mit den Achseln. «Ich bin nur neugierig, um was es geht, das ist alles.»

Ich schlug meine Speisekarte auf. «Wollen wir nicht wenigstens erst bestellen?»

«Mir wäre es lieber, du sagst es mir gleich, wenn du nichts dagegen hast. Nimmt die Spannung weg.» Er schenkte mir

«Wie du willst.» Ich korrigierte die Position meines Bestecks ein wenig. «Die Sache ist die, dass ich … äh, deine Dienste in Anspruch nehmen möchte.» Bei seinem Gesichtsausdruck wurde mir klar, dass er die falschen Schlüsse zog. «Es betrifft eine Frau», fügte ich schnell hinzu.

«Eine Frau?» Meine Verlegenheit schien ihn zu amüsieren.

«Ja.» Ich spürte ein Kratzen im Hals und hustete. «Meine Assistentin. In der Galerie. Es ist, äh … also, es ist eine ziemlich heikle Situation.» Ich räusperte mich erneut und war mir Zeppos leicht herablassenden Lächelns bewusst. Die Sache war schwer zu erklären. Ich kam gleich auf den Punkt.

«Ich möchte, dass du sie verführst.»

Ich weiß nicht, was er erwartet hatte, das jedenfalls nicht. Sein Lächeln verblasste. «Was?»

«Ich möchte, dass du sie verführst.» Ich spürte, wie mein Gesicht glühte. Dabei hatte ich nach allem, was ich über Zeppo wusste, keinen Grund, verlegen zu sein.

Er wollte gerade etwas sagen, als der Kellner kam. Ich probierte den Wein und erklärte ihn für akzeptabel, ohne ihn zu schmecken. Zeppo wartete, bis der Kellner verschwand, und beugte sich dann vor.

«Soll das ein Witz sein? Hat dich jemand auf mich angesetzt?»

«Aber nein.» Ich schüttelte vehement den Kopf, um ihn zu überzeugen. «Nein, ich meine es ernst.»

Er starrte mich an. «Verstehe ich dich richtig? Das ist das ‹Geschäftsangebot›, von dem du gesprochen hast? Du willst mich engagieren, um mit jemandem zu schlafen?»

«Mein Gott!»

«Ich bin bereit, gut dafür zu bezahlen.»

«Wie gut?» Ich sagte es ihm. Er sah überrascht aus. «Du willst so viel Geld ausgeben, nur damit ich mit dieser Frau ins Bett gehe?» Ich nickte. «Wieso?»

Ich versuchte ein Achselzucken. «Sagen wir einfach, ich lehne ihren gegenwärtigen Freund ab.»

«Das ist alles?»

«Äh … ja.»

Er lachte überrascht auf. «Ich glaube es nicht. Wir kennen uns kaum, und du bittest mich seelenruhig, mit einer Frau zu schlafen, nur weil dir ihr Freund nicht passt?»

«Mir ist klar, dass es eine ungewöhnliche Bitte ist. Deshalb biete ich ja eine so hohe Summe.»

«Das ist doch …» Er schüttelte schweigend den Kopf. «Warum interessiert es dich überhaupt, mit wem sie zusammen ist?»

Ich versuchte, gleichgültig zu klingen. «Anna ist eine schöne und intelligente junge Frau. Sie hat etwas Besseres verdient.»

Er schnaubte. «Ach, hör auf. Du machst das doch nicht aus reiner Herzensgüte. Was steckt wirklich dahinter?»

Ich zögerte und spürte, wie ich wieder errötete. «Ich finde Anna … sehr attraktiv. Aber mir ist klar, dass sich eine junge Frau wie sie kaum für einen Mann mittleren Alters wie mich interessieren wird. Ich akzeptiere das. Was ich nicht akzeptiere, ist, dass sie sich für jemanden vergeudet, der sie nicht verdient. Das kann ich nicht hinnehmen.»

«Nicht so sehr wie der Gedanke, dass sie mit ihm zusammen ist.» Da seine Miene noch immer skeptisch war, fügte ich hinzu: «Das mit dir soll ja nur eine Zwischenlösung sein. Und die würde zum Bruch zwischen den beiden führen. Das ist die Hauptsache.»

Das entsprach zwar nicht ganz der Wahrheit, aber es war ein Motiv, das Zeppo leicht glauben konnte. Er schien es hinzunehmen. «Du hast es echt auf den armen Kerl abgesehen, oder? Was hast du denn gegen ihn?»

«Es ist nichts Persönliches. Er ist einfach nicht die Sorte Mensch, die meiner Meinung nach geeignet für Anna ist, das ist alles.»

«Wieso? Was stimmt denn nicht mit ihm?»

«Er ist …» Ich suchte nach einer Erklärung. «Gewöhnlich.»

«Inwiefern? Gesellschaftlich? Intellektuell? Oder was?»

Ich faltete meine Serviette. «Äußerlich.»

Ein verständnisvoller Blick bemächtigte sich Zeppos Miene. «Und wenn sie schon nicht mit dir, sondern mit einem anderen zusammen ist, möchtest du wenigstens, dass es ein gutaussehender Typ ist. Ist das der Grund?»

«Ganz so hätte ich es nicht ausgedrückt, aber ja.»

Er lächelte steif. Ich trank einen Schluck Wein und war überrascht, dass mein Glas fast leer war. Ich füllte es nach. «Und wie eng ist die Beziehung zu ihrem Freund?», fragte Zeppo.

«Sehr eng, befürchte ich. Sie kennen sich noch nicht lange.

Er zuckte mit den Achseln. «Keine Ahnung. Um das zu wissen, müsste ich die beiden erst mal kennenlernen, oder?» Er schaute mich an. «Und noch habe ich nicht zugestimmt.»

«Nein, natürlich nicht», sagte ich schnell.

Er schwenkte sein Weinglas. «Aber warum fragst du ausgerechnet mich? Wir haben erst ein paarmal auf Partys miteinander gesprochen. Wie kommst du darauf, dass ich interessiert sein könnte?» Seine Stimme hatte einen misstrauischen Unterton. Aber darauf war ich vorbereitet.

«Du arbeitest als Dressman. Du lebst von deinem Aussehen. Und hier geht es im Grunde um etwas Ähnliches. Außerdem warst du der Einzige, der mir eingefallen ist. Ich kenne nicht viele Menschen, die für so etwas geeignet sind. Ich bin nur ein Kunsthändler. Ich bewege mich nicht in solchen Kreisen.»

Es gab noch einen anderen Grund. Aber den behielt ich für mich. Vorerst.

Er beobachtete, wie der Wein in seinem Glas einen Strudel bildete. «Und wenn ich nein sage?»

«Dann muss ich wohl einen anderen finden.» Ich hoffte, dass ich unbekümmert klang. «Ich habe dir gesagt, was ich zu zahlen bereit bin. Und der Job ist ja nicht gerade grauenvoll. Es wird bestimmt nicht besonders schwer sein, jemand anderen dafür zu finden. Aber es wäre einfacher, wenn du es tun würdest.»

Zeppo nahm das kommentarlos hin. Ich versuchte, seine

«Ist es so eilig?»

«Nein», log ich. «Aber wenn du kein Interesse hast, muss ich mich nach einem anderen umsehen. Je schneller ich weiß, wo wir stehen, desto besser.»

Er betrachtete wieder sein Glas. Als ich den in der Nähe lauernden Kellner bemerkte, winkte ich ihn weg. «Wo sind die Toiletten?», fragte Zeppo mit einem Mal.

«Äh … ich glaube, durch die Tür dort hinten.»

Er schob seinen Stuhl zurück und ging davon. Ich nahm die Speisekarte und las sie mechanisch, ohne ein einziges Wort zu erkennen. Ich legte sie wieder hin und nahm einen Schluck Wein. Zeppo schien eine Ewigkeit weg zu sein. Als er wieder durch die Tür kam, war ich froh. Dieses Mal sah er sich unverblümt um, als er das Restaurant durchquerte.

«Wie alt ist die Kleine überhaupt?», fragte er, sobald er sich hingesetzt hatte. «Anna, richtig?»

«Ja, Anna. Sie ist Anfang zwanzig.»

«Und du sagst, sie sieht gut aus.»

«O ja. Sehr gut. Jedenfalls meiner Meinung nach.»

Zeppo nickte. Seine rechte Hand lag auf dem Tisch, die Finger trommelten einen unregelmäßigen Rhythmus. Er wirkte ein wenig verändert, entschlossener als zuvor. Aber ich versuchte, mir nicht zu große Hoffnungen zu machen.

«Und du bezahlst in bar?»

«Bar, Scheck, wie du willst.»

Er verfiel wieder in Schweigen und trommelte weiter unruhig mit den Fingern. Ich wartete. Plötzlich grinste er.

«Okay. Warum nicht?»

«Darum ging es doch, oder?»

Ich hoffte, dass man mir nicht ansah, wie erleichtert ich war. «Gut», sagte ich und atmete langsam aus. Ich lächelte ihn an. «Noch etwas Wein?»

*

Anna arbeitete seit fast vier Monaten in der Galerie. In den ersten drei hatte ich sie kaum wahrgenommen. Ich hatte sie angestellt, nachdem ihre Vorgängerin, deren Namen ich vergessen habe, blöd genug gewesen war, sich ausgerechnet von einem Bus überfahren zu lassen. Anna war einfach eine weitere Assistentin gewesen, die letzte in einer langen Reihe junger Frauen, die ich über die Jahre als Aushilfe engagiert hatte. Solange sie pünktlich und einigermaßen kompetent waren, interessierte ich mich nicht weiter für sie. Die Tatsache, dass Anna attraktiv war, war Zufall und hatte keine Bedeutung.

Sex war mir schon immer ziemlich gleichgültig gewesen. Selbst als junger Mann hatte ich kein großes Interesse an dem Thema gehabt, und das bisschen Neugier, das ich hatte, wurde erst mit Mitte zwanzig befriedigt, als ich mich dazu verleiten ließ, die Dienste einer Prostituierten in Anspruch zu nehmen. Die Erfahrung war unangenehm, und ich verspürte keinerlei Bedürfnis, sie zu wiederholen. Stattdessen verdrängte ich den Vorfall und konzentrierte mich auf ein würdevolleres Ventil für meine Energien: Kunst.

Eine Zeitlang wollte ich selbst Künstler werden. Leider schien mein Talent jedoch eher darin zu bestehen, Kunstwerke

Mein Interesse an erotischer Kunst entfaltete sich allerdings erst mit dem Erwerb meines ersten Artefaktes. Es handelte sich um eine französische Schnupftabaksdose aus dem achtzehnten Jahrhundert, deren Wert sich nicht offenbart, bevor man sie öffnet. Auf der Innenseite des Deckels befindet sich das Bild einer jungen Frau, die kokett ihre Röcke hebt, um zu zeigen, dass sie darunter nichts trägt. Ich war sofort verzaubert. Ich musste die Dose haben und war gekränkt, als sich der Besitzer, ein älterer Mann, den ich wegen einer anderen Angelegenheit aufgesucht hatte, beharrlich weigerte, sie zu verkaufen. Erst als er starb, konnte ich seine Witwe davon überzeugen, dass ihr Ehemann eine Vereinbarung mit mir getroffen hatte, und so die Dose für mein ursprüngliches Angebot erwerben.

Die Schnupftabaksdose wurde das erste Stück meiner speziellen Privatsammlung. Natürlich war mir bewusst, welche Ironie darin steckte, von Erotika fasziniert zu sein, während der eigentliche Vollzug keinen Reiz auf mich ausübt. Doch dieses und auch die folgenden Kunstwerke schienen eine Feinheit und eine Anmut zu besitzen, welche dem körperlichen Akt völlig fehlen. Sie erfüllten mich auf eine Weise, wie es der bloße Geschlechtsverkehr nie getan hatte.

Anna hatte die Galerie schließen sollen, da ich auf dem Weg zu einer Auktion war. Die Veranstaltung war nur für geladene Gäste, und ich war schon fast dort, als mir einfiel, dass ich meine Einladung im Büro vergessen hatte. Verärgert fuhr ich zurück, um sie zu holen.

Ich rechnete damit, die Galerie leer vorzufinden. Es war nach Geschäftsschluss, als ich zurückkehrte, sodass ich annahm, dass Anna bereits nach Hause gegangen war. Ich parkte in der Gasse auf der Rückseite und schloss auf. Im Gebäude war alles dunkel. Zwei Treppen führen hinauf ins Büro, eine von der Galerie im vorderen Bereich, die andere vom hinteren Lagerraum. Am Fuße der letzteren schaltete ich das Licht an. Die Birne flackerte und ging dann aus. Wütend stieg ich die Stufen im Dunkeln hinauf, und erst als ich schon fast oben war, fiel mir auf, dass im Büro Licht brannte.

Meine spontane Reaktion war, zurück zum Wagen zu gehen und die Polizei zu rufen. Im Falle eines Einbruchs wollte ich nicht dazwischengeraten. Doch die Angst, mich durch einen falschen Alarm lächerlich zu machen, hielt mich davon ab. Ich zögerte. Dann, überrascht von meinem Mut, stieg ich die Treppe bis zum Ende hoch.

Die Bürotür war ein Stückchen geöffnet. Durch den Spalt

Ich entspannte mich. Erleichtert und etwas verärgert machte ich einen weiteren Schritt nach vorn, um mich bemerkbar zu machen, blieb dann aber stehen.

Durch den Türspalt konnte ich jetzt den großen Spiegel mit dem vergoldeten Rahmen sehen, der an der gegenüberliegenden Wand hängt. Darin erkannte ich den Teil des Büros, der hinter der Tür versteckt lag. Das Bücherregal, meinen Schreibtisch, die Tischlampe, die einen goldenen Schimmer ins Zimmer warf. Und Anna.

Abgesehen von einem weißen BH und einem weißen Slip, war sie nackt. Sie hatte ihr Gewicht auf ein Bein verlagert und das andere leicht angewinkelt, während sie mit beiden Händen auf ihren Rücken griff. Für einen Augenblick rührte sie sich nicht. Im Rahmen des Spiegels an der leeren Wand wirkte die Szene so vollkommen wie ein Gemälde. Als der BH dann geöffnet war, bewegten sich ihre Brüste plötzlich nach vorn. Anna schob ihre Schultern vor und streifte ihn ab. Während der BH außerhalb meines Sichtfeldes zu Boden fiel, klemmte sie ihre Daumen unter den Bund des Slips und schob ihn hinunter. Als sie sich nach vorn beugte, schaukelten ihre Brüste, und das dunkle Haar fiel ihr auf die Schulter. Dann drehte sie sich zum Spiegel um. Und zu mir.

Instinktiv schreckte ich zurück. Doch der Flur war dunkel: Ich war unsichtbar. Vorsichtig bewegte ich mich wieder nach vorn. Jetzt war Annas Spiegelbild genau in meine Richtung gewandt. Sie fuhr sich mit den Händen durchs Haar und

Dann drehte sie sich um und bückte sich nach etwas auf dem Boden, sodass ich ihren vorgebeugten Rücken sehen konnte. Dort, wo das Licht ihn traf, schimmerte er, während ihre Wirbelsäule sich als dunkle Furche abzeichnete. Sie bückte sich tiefer, Hände und Schulter tauchten hinab, bis ihr Hintern beinahe herzförmig wurde. Zwischen ihren Oberschenkeln bildete sich eine kleine, dunkle Raute. Nachdem sie sich wieder aufgerichtet hatte, streifte sie sich einen neuen, dieses Mal schwarzen Slip über und nahm eine Strumpfhose. Sie zog sie über die Beine und den Bauch bis zum Nabel, sodass der untere Teil ihres Körpers ganz schwarz und der obere noch nackt und weiß war.

Als sie sich plötzlich vom Spiegel entfernte, konnte ich sie nicht mehr sehen. Panik kam in mir auf. Doch fast augenblicklich kehrte ihr Spiegelbild zurück, ein schwarzes Kleid in den Händen. Mit Bedauern beobachtete ich, wie ihr Körper darin verschwand, und erhaschte einen letzten Blick auf ihre Brüste, die sie behutsam ins Oberteil schob. Dann machte sie das Kleid auf dem Rücken zu und war wieder verhüllt.

Ich blieb im Flur stehen und konnte mich nicht damit abfinden, dass es vorbei war. Erst als Anna Lippenstift auftrug, wurde mir bewusst, wo ich war und was ich tat. Ich schlich von der Tür weg und ging zitternd und schwindlig die Treppe hinab. Unten lehnte ich mich gegen die kühle Wand

«Anna? Sind Sie das?», rief ich.

«Mr. Ramsey?» Aus dem Büro waren hektische Geräusche zu hören. Dann kam Anna an die Tür. Sie sah verlegen aus. «Entschuldigen Sie, ich habe mich gerade umgezogen. Ich habe Sie nicht zurückerwartet.»

«Schon in Ordnung. Tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt habe. Ich habe ein paar Papiere vergessen.» Ich konnte mich nicht mehr genau erinnern, warum ich eigentlich zurückgefahren war.

«Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, dass ich das Büro als Umkleideraum benutze.»

«Überhaupt nicht.» Ich folgte ihr hinein. Nichts erinnerte mehr an die Szene, deren Zeuge ich geworden war. Das Deckenlicht war an und warf ein grelles Licht ins Zimmer. Ich versuchte, nicht zum Spiegel zu schauen. «Wollen Sie fein ausgehen?»

«Ich treffe mich mit meinem Freund zum Essen, danach wollen wir ins Theater. Es wird ein Stück von Alan Ayckbourn gespielt.»

«Aha.» Ich konnte nicht anders, als an den Körper unter dem Kleid zu denken. Der jetzt von einem dünnen Stoff verhüllt war. Mir fiel ein, dass sie einen BH ausgezogen, aber keinen neuen angezogen hatte. Ich fragte mich, ob sie nur zur Arbeit einen trug. In meiner Anwesenheit. Der Gedanke verwirrte mich. «Na, dann hoffe ich, dass Sie sich amüsieren.»

«Mögen Sie Ayckbourn?», fragte ich.

«Keine Ahnung. Ich habe bisher noch nichts von ihm gesehen. Aber Marty – das ist mein Freund – hält ihn für genial.» Sie grinste. «Eigentlich traurig. Da muss mich erst ein Amerikaner dazu bringen, ein Stück eines englischen Autors zu sehen.»

«Ihr Freund ist Amerikaner?» Plötzlich wurde mir klar, wie wenig ich von ihr wusste. Bisher hatte es mich nicht interessiert.

«Er ist aus New York. Na ja, eigentlich aus Boston. Er ist hier an der Uni.» Sie rückte ihre Umhängetasche zurecht, ein Zeichen dafür, dass sie sich verabschieden wollte. Doch ich konnte sie noch nicht gehen lassen.

«Tatsächlich? Welches Fach?»

«Humanethologie. Er schreibt an seiner Doktorarbeit.»

«Wie kommt es, dass er sich für London entschieden hat? Das ist doch ganz schön weit weg für ihn, oder?»

«Also, ich glaube, ein wichtiger Grund war, dass er England kennenlernen wollte. Aber er sagt, dass der Fachbereich hier ziemlich gut ist.»

Sie schaute auf ihre Uhr. Mir war klar, dass ich sie aufhielt,

«Fast ein Jahr.» Ein zufriedenes Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus.

«Sie scheinen ihn sehr zu mögen.» Sie errötete. «Entschuldigen Sie, ich sollte nicht so neugierig sein.»

«Schon in Ordnung. Sie sind nicht neugierig.»

Ich wusste nicht mehr, was ich sagen sollte. Eine Weile standen wir beide unsicher schweigend da.

«Tja, dann gehe ich mal», sagte Anna. «Oder brauchen Sie mich noch?»

«Nein, nein, ich glaube nicht.» Ich wollte nicht, dass sie geht, mir fiel aber auch keine Ausrede ein, um sie dazubehalten. Ich machte ihr Platz und bemerkte entsetzt, dass ich eine Erektion hatte. Nervös trat ich hinter den Schreibtisch. Zum Glück hatte ich noch meinen Mantel an.

«Dann bis morgen. Tschüs.» Anna verließ den Raum, und ich hörte sie nach unten gehen. Einen Moment später fiel die Tür ins Schloss.

Ich rührte mich nicht. Ich war völlig verwirrt. Ich schaute hinüber zum Spiegel. Jetzt sah man darin nur das Büro und mich: grauhaarig, mittleren Alters und unattraktiv. Ich schaltete das Deckenlicht aus, sodass der Raum wie zuvor nur von der Schreibtischlampe erleuchtet wurde. Dann stellte ich einen Stuhl so hin, dass mein Blick ungefähr dem entsprach, den ich zuvor von draußen hatte, und starrte auf den Spiegel. Es war nichts zu sehen, doch mit ein wenig Konzentration konnte ich mir Anna darin vorstellen. Ich schloss die Augen. Das Bild blieb bestehen. Noch einmal sah ich ihre Brüste vor

Kapitel 2

Doch es war eine harmlose Besessenheit. Ich kannte meine Grenzen und hatte keinerlei Ambitionen, sie zu meiner Geliebten zu machen. Ein solcher Gedanke lag so weit außerhalb meines Erfahrungsbereiches, dass er praktisch unvorstellbar war. Das Beste, was ich jemals zu erhoffen wagte, war, ihr Freund zu werden, und zu diesem Zweck bemühte ich mich darum, die Zurückhaltung aufzubrechen, die zwischen uns bestanden hatte. Es war erstaunlich einfach. Das Schwerste daran war, mein plötzliches Interesse nicht zu offensichtlich erscheinen zu lassen. Ich hätte sie stundenlang beobachten

Während sie in meiner Gegenwart entspannter wurde, erfuhr ich mehr über ihr Privatleben. Und besonders über Marty, ihren Freund. Ihre Gefühle für ihn lagen auf der Hand, und je mehr ich erfuhr, desto neidischer wurde ich auf diesen mir unbekannten Mann. Und neugieriger. Ich versuchte mir vorzustellen, wie er aussah, und machte mir im Geiste ein Bild von ihm: groß, dunkelhaarig und gutaussehend. Ein männliches Ebenbild von Anna. Allein die Tatsache, dass er Amerikaner war, trübte dieses Bild, aber das war wahrscheinlich nur meinen Vorurteilen zuzuschreiben. Der Mensch, den Anna liebte, musste etwas Besonderes sein. Ich war mir sicher, dass sie sich nicht mit weniger zufriedengeben würde.

Dann bot sich die Gelegenheit, ihn kennenzulernen. Eines Nachmittags kam Anna zu mir. «Haben Sie heute Abend schon etwas vor?», fragte sie.

Ich versuchte, meine plötzliche Aufregung zu verbergen. «Nein, eigentlich nicht. Weshalb?»

«Bestimmt nicht. Worum geht es denn?»

«Eine Freundin von mir ist Künstlerin, und heute Abend ist ihre erste Ausstellung. Ich habe mich gefragt, ob Sie nicht vielleicht vorbeischauen könnten, wenn Sie nichts anderes vorhaben? Sie ist echt nervös, deshalb wäre es gut, wenn möglichst viele Leute kommen. Und da Sie ja ziemlich einflussreich sind, würde sie sich bestimmt freuen, wenn Sie da wären.»

Ich zitterte vor Freude. «Es wäre mir ein Vergnügen.»

«Es wäre wirklich kein Problem? Ich weiß, dass es sehr spontan ist.»

«Nein, wirklich, ich komme gern.»

Anna strahlte mich an. «Danke, das ist großartig! Marty hat gleich gesagt, dass Sie nichts dagegen haben würden.» Ich war mir nicht sicher, ob mir die Bedeutung dessen gefiel oder nicht. Dann kam mir ein anderer Gedanke. «Wird Marty heute Abend auch mitkommen?»

«Ja. Wir werden so gegen acht Uhr da sein. Aber Sie müssen nicht so früh kommen.»

Ich versicherte ihr, dass es nicht zu früh für mich wäre, und versuchte, aufmerksam ihrer Wegbeschreibung zum Ausstellungsort zu folgen. Aber ich konnte mich nicht konzentrieren. Ich würde Annas Freund kennenlernen. Ihren Liebhaber.

Mit einem Mal war ich von großer Unruhe erfüllt.

*

Sofort wurde mir von einem spindeldürren jungen Mann in einem weiten Pullover ein Glas Wein in die Hand gedrückt. Der Wein stammte offensichtlich aus einem billigen Tetrapack, doch ich nahm ihn dankbar an und sah mich nach Anna um. Sie war nirgends zu sehen. Ich schaute auf meine Uhr. Es war noch nicht ganz acht, und während sich in mir Enttäuschung mit Erleichterung vermischte, wandte ich meine Aufmerksamkeit der Ausstellung zu.

Die Schmierereien waren noch amateurhafter, als ich befürchtet hatte. Selbst auf hohem Niveau habe ich nichts für abstrakte Kunst übrig, und davon waren diese Machwerke meilenweit entfernt. Ich erkannte einen Kritiker in der Menge, und der Blick, den er mir zuwarf, bestätigte meine Meinung. Die meisten Gäste schienen hauptsächlich an dem gratis ausgeschenkten Wein interessiert zu sein, was ich ihnen nicht verübeln konnte. Ich überlegte gerade, ob ich mir noch ein zweites Glas genehmigen sollte, als ich hinter mir Annas Stimme hörte.

«Hallo. Sind Sie schon lange hier?»

Überrascht und aufgeregt drehte ich mich um. «Nein, nein. Ich bin gerade gekommen.»

Mir war zwar aufgefallen, dass jemand direkt hinter ihr stand, aber nur am Rande. Er war meiner Vorstellung von Marty so unähnlich, dass ich ihm keine Beachtung geschenkt hatte. Als er nun einen Schritt vortrat und seine Hand ausstreckte, war ich derart geschockt, dass ich kaum reagieren konnte.

Der große, gutaussehende Marty meiner Phantasie existierte nicht. Die Kreatur, die Anna mir vorstellte, war klein, schmächtig und gnomenhaft. Die Kleidung schlotterte um seine dürre Gestalt, eine Hornbrille ließ die Augen in dem schmalen Gesicht überproportional groß erscheinen. Sein Haar war ungekämmt und straßenköterblond, was das Bild eines stubenhockenden Schuljungen vervollständigte.

Während ich ihm die Hand gab, rang ich mir ein Lächeln ab. «Freut mich, Sie kennenzulernen. Ich habe schon viel von Ihnen gehört.»

«Gutes oder Schlechtes?» Sein amerikanischer Akzent war relativ dezent. Aber seine Nationalität war mittlerweile das geringste Übel.

Ich erholte mich von meinem anfänglichen Schock. «Oh, keine Sorge. Nur Gutes natürlich.»

«Ich habe ihm nur von deinen guten Seiten erzählt», sagte Anna. Die beiden lächelten sich an.

Ich hatte das Gefühl, einen zu brauchen. «Wenn es keine Umstände macht.» Ich biss die Zähne zusammen. «Und sagen Sie doch Donald zu mir.»

Marty nahm Annas Mantel und verschwand in der Menge. Er stach in keiner Weise daraus hervor.

«Und, was denken Sie?», fragte Anna. Ich schaute sie verwirrt an.

«Entschuldigung?»

«Die Ausstellung. Hatten Sie schon Gelegenheit, sich die Bilder anzuschauen?»

Für einen Moment hatte ich gedacht, sie wollte meine Meinung über ihren Freund hören. «Alle habe ich noch nicht gesehen», antwortete ich ausweichend.

«Ach, da ist ja Teresa», sagte Anna und schaute an mir vorbei. «Sie ist die Künstlerin. Ich gehe schnell zu ihr und begrüße sie. Soll ich Sie vorstellen?»

Mir fiel kaum etwas ein, was ich weniger wollte. Aber so blieb ich immerhin in Annas Nähe. «Ja, gerne.»

Teresa war ein dünne, angespannte Frau, die vollständig in Schwarz gekleidet war. Ihr Augen-Make-up war beinahe so beängstigend wie ihre Kunst. Um Annas willen gab ich mir alle Mühe, ermutigend zu klingen, ohne mich festzulegen. Wenige Augenblicke später gesellte sich Marty zu uns. Dann erreichte der Abend seinen Tiefpunkt, denn die Künstlerin bestand darauf, uns persönlich durch die Ausstellung zu führen, und erläuterte ihre Absichten und Methoden in zermürbenden Einzelheiten. Doch da mittlerweile ein starker

Schließlich zog sie auf der Suche nach anderen Opfern von dannen. Ich stand mit Anna und Marty vor einer riesigen Leinwand, die aussah, als hätte ein Kind seinen Pudding verschmiert.

«Ich glaube, Teresa ist ziemlich nervös», sagte Anna nach einem Moment. «Sie ist sonst nicht so aufdringlich.»

«Ich nehme an, so eine erste Ausstellung zehrt an den Nerven», sagte ich, um Anna zu beruhigen.

Marty betrachtete das Gemälde. «Es zehrt schon an den Nerven, wenn man sich das anguckt.»

«Marty!» Anna versuchte, ihn streng anzuschauen.

Er zuckte entschuldigend mit den Achseln. «Tut mir leid, aber warum soll ich drum herumreden? Ich sage es nur ungern, aber meiner Meinung nach sind die Sachen einfach nicht gut.» Mit einer Hand schob er seine Brille zurück. «Was meinen Sie, Donald?»

Mir gefiel es nicht, in Verlegenheit gebracht zu werden. «Nun ja, mein Geschmack ist es jedenfalls nicht. Ich habe nie viel für abstrakte Kunst übriggehabt.»

«Aber würden Sie sagen, dass die Bilder gut gemacht sind?», fragte Anna. «Auch wenn sie Ihnen nicht gefallen, finden Sie, dass … äh, Talent dahintersteckt?»

Ich bemühte mich, diplomatisch zu sein. «Tja, sie sind offenbar mit großer Hingabe gemalt worden. Außerdem ist es erst ihre erste Ausstellung. Aber …» Ich scheute mich vor direkter Kritik.

Ich seufzte. «Nein, eigentlich nicht. Aber das ist natürlich nur meine Meinung.»

«Ich weiß, dass Teresa eine alte Freundin ist und du ihre Gefühle nicht verletzen willst», sagte Marty, «aber du musst zugeben, dass das hier ein Fehler ist. Sie hätte dabei bleiben sollen, in Covent Garden Porträts zu malen. Dadurch wäre zwar kein Kritiker auf sie aufmerksam geworden, aber sie hätte wenigstens etwas verdient. Mit diesen Sachen verschwendet sie ihre Zeit.»

Anna schaute auf das Bild vor ihr und nickte widerstrebend. «Arme Teresa. Sie hat alles, was sie hat, in diese Arbeiten gesteckt.»

«Das spricht nicht gerade für Teresa», brummte Marty. Anna knuffte ihn leicht und wandte sich mit einem reuevollen Lächeln an mich.

«Tut mir leid, dass ich Sie hierhergebeten habe, Donald. Mir war nicht klar, wie schlecht die Sachen sind.»

Es klang immer noch komisch, wenn sie meinen Vornamen benutzte. «Sie müssen sich nicht entschuldigen. Abgesehen von den Kunstwerken hat es mir gefallen.»

Marty schaute auf seine Uhr. «Okay, wir haben unsere Pflicht getan. Aber länger müssen wir nicht bleiben, oder?»

Bei dem Gedanken, dass die beiden aufbrachen, fühlte ich mich plötzlich leer. Mir fiel ein, dass ich noch nichts gegessen hatte, und ich überlegte, ob ich es wagen sollte, sie in ein Restaurant einzuladen. Doch während ich noch den Mut sammelte, um sie zu fragen, war die Gelegenheit vertan.

«Sie haben doch nichts dagegen, wenn wir gehen, oder?»,

Ich lächelte. «Nein, natürlich nicht.»

Während Anna sich von der Künstlerin verabschiedete und Marty ihre Mäntel holte, wartete ich an der Tür. Diese paar Minuten allein reichten aus, um meine Depression in einen dumpfen Schmerz zu verwandeln. Wir gingen zusammen nach draußen. Jetzt konnte uns nichts mehr davon abhalten, getrennte Wege zu gehen. Ich in mein einsames Haus und die beiden zu ihrem unbekannten Ziel. Und schließlich ins Bett.

«Kann ich Sie ein Stück mitnehmen?», fragte ich.

Anna schüttelte den Kopf. «Nein danke, das ist nicht nötig.»

«Es wäre kein Problem. Heute Abend ist es zu kalt, um zu Fuß zu gehen.»

«Nein, ehrlich, es ist okay.» Sie wandte sich an Marty. «Wir haben noch gar nicht entschieden, wohin wir gehen wollen, oder?»

«Nein. Wir müssen noch ausdiskutieren, ob wir zum Italiener oder zum Chinesen gehen. Aber trotzdem danke.» Er streckte lächelnd seine Hand aus, die in einem Handschuh steckte. «War nett, Sie kennenzulernen.»

Ich schüttelte sie. Sie verabschiedeten sich und gingen davon. Als ich ihnen hinterherschaute, fiel mir auf, dass seine schmächtige Gestalt nicht größer war als ihre. Er umarmte sie, und ich spürte ein bitteres, bleiernes Gefühl im Magen. Der Gedanke, dass sie sich einer solch erbärmlichen Kreatur hingab, war unerträglich. Nun traf mich die volle Wucht meiner Enttäuschung. Als ich nach Hause fuhr, stellte ich mir die

Ich tröstete mich mit dem Gedanken, dass ich ihr immerhin nähergekommen war als jemals zuvor. Jetzt, wo das Eis gebrochen war und ich sie in Gesellschaft erlebt hatte, konnte ich auf etwas aufbauen. Das war nicht viel, aber es war alles, was ich hatte. Ich würde mich damit zufriedengeben müssen.

Erst als mir selbst dieser schwache Trost genommen werden sollte, fühlte ich mich zum Handeln gezwungen.

*

Ich fand es zufällig heraus. Es war kurz nach der Ausstellung. Ich war oben im Büro und Anna unten in der Galerie. Ich hatte nicht gewusst, dass sie gerade telefoniert, bis ich den Hörer des Büroanschlusses abnahm.

Es war nicht meine Absicht gewesen, sie zu belauschen. Doch es war verlockend, ihr zuhören zu können, ohne dass sie es wusste. Und nachdem ich gezögert hatte, blieb mir keine andere Wahl mehr. Als ich den Hörer abgenommen hatte, hatte sie das Klicken nicht bemerkt; wenn sie aber hörte, wie ich wieder auflegte, würde sie wissen, dass ich am anderen Ende gewesen war. Ich musste also zuhören.

«Solange du dir sicher bist, ist ja alles in Ordnung», sagte die Person am anderen Ende, eine junge Frau. «Aber hast du dir schon mal überlegt, was passiert, wenn es nicht funktioniert? Ich weiß, dass du das nicht hören willst, aber so lange kennt ihr beide euch noch nicht, oder?»

«Ach, fang nicht damit an, Debbie. Das habe ich schon alles von meinen Eltern gehört. Du kennst doch meine Mutter.»

«Ja, aber in diesem Fall kann ich sie verstehen. Ich meine, ich mag Marty wirklich, aber es ist trotzdem ein unglaubliches Risiko, oder?»

«Das ist mir klar, aber ich muss es in Kauf nehmen. Es ist ja nicht so, dass ich es auf die leichte Schulter nehme. Manchmal habe ich Angst, wenn ich daran denke, aber ich kann doch nicht einfach hierbleiben und ihn allein gehen lassen, oder?»

«Könntest du nicht später nachkommen?»

«Und was bringt das? Wenn ich schon gehe, dann kann ich auch gleich mit ihm gehen. Sollen wir erst so lange getrennt sein, bis ich mir sicher bin, das Richtige zu tun? Es gibt nur eine Möglichkeit, es herauszufinden, oder?»

Die andere Frau seufzte. «Ich weiß. Und ich würde wahrscheinlich genau das Gleiche tun, wenn ich du wäre. Ich bin einfach nur neidisch, dass nicht ich nach Amerika entführt werde.»

Das Zimmer begann sich zu drehen. Ich versuchte mir zu

«Hast du schon mit deinem Chef gesprochen?», fragte die Frau.

Annas Stimme wurde leiser. «Nein, noch nicht. Es soll ja erst in ein paar Monaten losgehen, da habe ich noch genug Zeit, um es ihm zu sagen. Wir werden so viel Geld brauchen, wie wir kriegen können, bis ich dort drüben einen Job finde, und ich will nicht, dass er mich rausschmeißt. Ich glaube kaum, dass er sauer wäre, aber ich will es nicht riskieren.»

Ich schloss die Augen. Ich wünschte, ich hätte den Hörer nicht abgenommen. Anna wollte weg. Wollte mit diesem erbärmlichen Gnom von einem Mann nach Amerika. Nicht genug, dass er sie nicht verdient hatte, jetzt wollte er sie mir auch noch wegnehmen. Und sie traute sich nicht einmal, es mir zu sagen. Den Rest des Gespräches nahm ich kaum noch wahr. Ich war gerade noch geistesgegenwärtig genug, um den Hörer aufzulegen, als es endete.

Während ich dasaß und versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen, kam bereits ein Verlustgefühl in mir auf. Und eine anschwellende Wut. Das war alles Martys Schuld. Anna würde mit ihm nach Amerika gehen, und ich würde sie nie wiedersehen. Ich konnte nichts tun, um sie davon abzuhalten: So ein erbärmliches Exemplar Marty auch war, ich war ein noch erbärmlicherer Rivale.

Es war im Grunde das erste Mal, dass ich mich als solchen sah. Doch jetzt war mit klar, dass wir genau das waren: Rivalen. Während sich diese Tatsache in meinem Kopf festsetzte, überlegte ich bereits, welche Vorteile ich ihm gegenüber

Die Frage lautete allerdings, was ich tatsächlich tun konnte. Der gesunde Menschenverstand sagte mir, dass ich allein sehr wenig würde ausrichten können. In diesem Moment kam ich auf die Idee, Hilfe von außen in Anspruch zu nehmen.

Zwei Tage später rief ich Zeppo an.