Tobias Elsäßer
Zwischenlandung
FISCHER E-Books
Tobias Elsäßer, geboren 1973, arbeitet als freier Journalist, Autor und Gesangslehrer. Darüber hinaus leitet er Schreibwerkstätten und Songwriter-Workshops für Jugendliche und schreibt Drehbücher. Seine Kinder- und Jugendbücher wurden bereits mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Außerdem ist Tobias Elsäßer Gewinner des Kranichsteiner Literaturstipendiums 2010. Er lebt in der Nähe von Stuttgart.
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Erschienen bei FISCHER E-Books
© Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2015
Covergestaltung: init Kommunikationsdesign, Bad Oeynhausen
Coverabbildung: Plainpicture / Johann Caspersen
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-7336-0054-9
Außer vielleicht als Musiker mit fettem Plattendeal und allen Freiheiten.
Die im Wachen träumen, haben Kenntnis
von tausend Dingen, die jenen verborgen bleiben,
die nur im Schlaf träumen.
Alfred Otto Wolfgang Schulze
Für Frederic und Katrin.
Freunde sind die besten Lotsen
in einer chaotischen Welt.
Ein Taucher. Ein Golfball. Ein Mädchen. Und die große Chance.
In wenigen Minuten würde ich sterben, halb sterben, aber das wusste ich nicht. Niemand weiß, wann er stirbt, wenn er nicht selbst die Finger im Spiel hat oder in die Mündung einer Pistole blickt. Deshalb kletterte ich gut gelaunt vom Traktor, versicherte Bauer Johannson, unsere Angelegenheit weiterhin vertraulich zu behandeln, und schleppte mein Zeug hinunter zum See.
Ein warmer Ostwind blies mir ins Gesicht, eine Schar Enten setzte zur Notlandung an. Die Wasseroberfläche explodierte unter den kurzen harten Schlägen ihrer Flossen. Ein Schwan auf Nahrungssuche taumelte kopfüber in der Seemitte. Aufgeschreckt durch den Lärm, kippte er nach oben und gab den Ankömmlingen zu verstehen, dass sie soeben fremdes Territorium betreten hatten.
»Respekt!«, schien er zu schnattern. »Respekt!«
In der Natur gibt es nur Freund oder Feind, kein Dazwischen. Niemand muss sich verstellen, niemand muss ein anderer sein als er selbst.
Samstags bei Sonnenschein ist viel los auf dem Golfplatz, das machte meinen Job nicht ganz ungefährlich. Aber ich wollte mein Taschengeld in Sicherheit bringen, bevor es vom angekündigten Unwetter in die Kanalisation gespült wurde. Lustlos schlüpfte ich in meinen stinkenden Neoprenanzug. Außentemperatur achtundzwanzig Komma neun Grad, Luftfeuchtigkeit fünfundachtzig Prozent. Willkommen in den Tropen.
Konstantin oder Konsi, wie wir ihn nannten, hatte angekündigt, zur End-of-Summer-Party am Abend etwas »Besonderes« mitzubringen. »Besonderes« hieß, besonders teuer, exklusiv, nicht für jedermann, und das gefiel mir. In einer Ortschaft mit achthundertneununddreißig Einwohnern, drei Kneipen und diversen gut getarnten Freaks waren Feste und Partys die einzige Möglichkeit, seinen Geist unverdächtig in alle Richtungen zu öffnen.
Um exakt 15.31 Uhr ging ich unter Wasser. Die Fische hatten sich im löchrigen Schatten der Trauerweide versammelt. Vielleicht tauschten sie den letzten Tratsch aus. Angeln war hier verboten. Folglich würden sie eines natürlichen Todes sterben. Ich wollte mir den Schilfgürtel am östlichen Rand vornehmen. Dort war das Wasser nicht allzu tief, angenehm temperiert, und ich konnte fürs Erste mit Schnorchel tauchen.
Innerhalb weniger Minuten hatte ich acht Golfbälle beisammen. Wenn das so weiterging, würde ich unseren Rekord brechen. Und das alleine. Ich brauchte den größeren Köcher, also tauchte ich auf und schwamm zurück zum Steg auf der gegenüberliegenden Seite. Oben, an Loch achtzehn, sah ich zwei Gestalten. Ich setzte die beschlagene Taucherbrille ab, nahm meine Ray-Ban-Sonnenbrille aus dem Rucksack und musste lächeln, als ich durch die verspiegelten Gläser blickte. Auf dem Hügel stand Mira. Die langen roten Locken züngelten im Wind wie lodernde Flammen. Sie würde nie verstehen, wie schön sie war. Sie war die Sehenswürdigkeit in einem Dorf ohne Sehenswürdigkeiten. Aber das war ihr egal, und gerade das machte sie noch attraktiver.
Ihre Stimme wurde gedämpft herübergetragen. Sie gab dem Spieler Tipps. Nach Golfbällen zu tauchen war ein außergewöhnlicher Nebenjob. Miras Geldquelle war ähnlich ungewöhnlich. Sie arbeitete als Caddy für Leute mit richtig viel Kohle. Ein aussterbender Beruf. Caddys, die Sklaven der Reichen, müssen den Platz und seine Eigenheiten kennen, das passende Eisen reichen und die entsprechenden Tipps geben. Groß, schlank und schön zu sein wie Mira war nicht von Nachteil, wollte man ein gutes Trinkgeld einstreichen. Für mich wäre der Job nichts gewesen. Ich hasste es zu buckeln, nur weil jemand Geld hat.
Jedenfalls stand Mira da, aufrecht, die Fahne von Loch 18 in der Hand wie eine mittelalterliche Freiheitskämpferin, eine Jeanne d’Arc, die ihre Macht noch nicht kannte. Sie schien mich nicht zu bemerken oder sie ignorierte mich, weil sie mich für einen hirnlosen Idioten hielt, der außer Mädchen, Partys und Geld nicht viel im Kopf hatte.
Ich wandte den Blick wieder ab, begutachtete die Beute in meinem Köcher und zuckte zusammen. Manche Menschen glauben an Zufälle, andere an Schicksal. Bis zu dem Tag wusste ich nicht, zu welcher Seite ich gehörte. Doch als ich den silbernen Ring zwischen den Fingern drehte, mit Spucke vom Schmutz befreite und die Initialen las, war mir klar, dass es keine Zufälle gab. Alles war vorbestimmt. Jeder Moment, jedes Lächeln, jeder Gedanke. Ich hielt den Atem an, wollte mich beherrschen, ruhig bleiben, aber mein ganzer Körper fing an zu zittern. Das hier war ein Märchen für einen Menschen, der nicht an Märchen glaubte. Das hier war eine, nein, meine dritte Chance, ein Wink des Schicksals, es noch ein letztes Mal zu versuchen. Der große Tag war gekommen.
Ich schaute zu Mira.
Ich schaute auf den Ring.
Ich wusste, dass es kein Zurück mehr gab.
Entweder das hier war der Auftakt zur kitschigsten Liebesgeschichte seit Titanic oder der traurige Schlusspunkt nach mehreren Jahren im Trainingscamp für unglücklich Verliebte. In Gedanken hörte ich einen Countdown.
Drei.
Zwei.
Eins.
Noch vor der Null nahm ich all meinen Mut zusammen, hielt den Ring in die Luft, ließ die Flossen an meinen Füßen und watschelte über den Steg zurück zum Ufer, was mit Sicherheit richtig dämlich aussah. Es war ein Wunder, dass ich nicht stolperte. Hinter dem Ufer, getrennt durch einen schmalen Grünstreifen, breitete sich der Sandbunker aus. Ich winkte Mira zu und hielt den Ring in die Luft, was sie aus der Entfernung unmöglich erkennen konnte. Mir ging so vieles durch den Kopf. Erinnerungen zogen im Schnelldurchlauf an mir vorüber. Ich surfte auf meiner Timeline vor und zurück.
Ja, verdammt!
Das hier war meine dritte Chance.
Ein Wink des Schicksals.
Die große Prüfung.
Mira ignorierte mich. Das hatte ich erwartet, also brüllte ich ihren Kosenamen quer über das Grün. »Mimi!«, rief ich wie früher, als wir noch jeden Tag zusammen verbracht hatten. »Hab ’ne Überraschung für dich.«
Sie reagierte nicht – zumindest nicht so, wie ich es mir erhofft hatte. Sie zeigte mir den Vogel und schüttelte energisch den Kopf. Mein Auftritt war ihr peinlich. Schließlich war das hier das Finale ihres übergewichtigen Kunden. So kurz vor dem Ziel wäre es dumm gewesen, sich ein ordentliches Trinkgeld zu verscherzen. Sie dachte, ich würde mal wieder den Clown spielen. Ich kannte sie gut genug – und meine beschissene Rolle ebenso, in der ich mich verfahren hatte. Mira konnte ja nicht ahnen, welchen Schatz ich da in meiner Hand hielt.
Es war windstill. Nur das Dauerfeuer der Driving-Range-Abschläge hinter dem Tannenwäldchen war zu hören. Die Zeit dehnte sich in die Unendlichkeit.
Plötzlich spürte ich einen stechenden Schmerz an meinem rechten Knöchel, oder war es ein Stich, vielleicht auch ein Biss? Schließlich gab es ja Schlangen. Vor allem Ringelnattern. Eine harmlose Spezies, wie mir mein Vater, der Naturexperte, versichert hatte. Jedenfalls zog mir der Schmerz das Bein weg. Ich kippte in den Sand. Jetzt sah ich garantiert aus wie ein paniertes Schnitzel – und mein Knöchel brannte höllisch.
Ich wischte meine Brille frei und lächelte: Mira kam vom Berg der Unerreichbarkeit heruntergeschritten. Sie wusste wirklich nicht, wie elegant, wie schön sie war. Es war ihr egal. Sie machte sich nichts aus Äußerlichkeiten und war dennoch immer perfekt angezogen. Sie war immun gegen flüchtige Trends, iPhones und Tablets und den ganzen anderen Kram, und dennoch oder gerade deshalb wurde sie bewundert und nicht geächtet. Sie hatte das Zeug zur Anführerin, das hatte sie schon als Kind bewiesen.
Ich blieb liegen, den Ring eingeschlossen in meiner Faust. Das Herz kurz vor der Explosion. Sie stand jetzt über mir. Das Haar leuchtend rot in der Sonne. Das Gesicht in kitschig vollendeter Schönheit und so unerreichbar wie der Himmel selbst.
»Was ist los mit dir?«, fragte sie. »Musst du immer so ’ne Show abziehen?«
»Ich …«, krächzte ich. Plötzlich war meine Stimme weg. Das passierte nur bei Mira oder in Mathe, wenn ich von Dr. Rothfuß an der Tafel gedemütigt wurde.
Sie war wütend. Die Sommersprossen in ihrem blassen Gesicht, ein neu entdecktes Sternbild. Ich fotografierte den Anblick, während der Neoprenanzug auf meiner Haut zu kochen anfing und ich darunter verbrannte.
»Warum brüllst du rum wie ein Irrer?«, fragte sie.
»Ich …«, setzte ich erneut an, während sich die Gedanken in meinem Kopf zu einer meterhohen Welle auftürmten, die mich komplett lähmte. Es war, als würde ich versuchen, die ganzen letzten Jahre in einen einzigen Satz zu packen.
Reiß dich verdammt nochmal zusammen! Sag ihr, was du gefunden hast. Sag ihr, dass du ein Date willst. Und gib ihr verdammt nochmal den Ring!
Es ging nicht. Da war eine Schranke, eine unüberwindbare Grenze. Da waren die Bilder ihrer unterbelichteten Exfreunde. Da war ihr Kopfschütteln, wenn ich auf dem Schulhof den Entertainer spielte. Da waren das Stechen in der Brust und der freie Fall, wie damals nach unserem ersten und einzigen Kuss, der mich komplett aus meiner Umlaufbahn geschossen hatte.
Der Ring! Gib ihr verdammt nochmal den Ring, und hör endlich auf mit dem Gesülze!
Ich fing mich wieder. Kam wieder in die Spur.
Ich war ein mittelmäßiger Schauspieler. Ich war Durchschnitt und sie über alle Maßen perfekt. Ich dachte an die Reise, an meinen großen Traum, und überlegte, ob ich meine Chancen erhöhen würde, wenn ich ihr den Ring erst nach dem Abi gab. Ich hatte den Etappensieg in der Tasche und setzte auf volles Risiko.
Ich war ein Vollidiot!
Ich räusperte mich.
»Bist du heut Abend auch auf der Party?«, fragte ich.
»Von Helena?« Mira schaute mich entgeistert an. »Wie kommst du denn darauf?«
»Schade«, sagte ich, obwohl das klar gewesen war. Mira und Helena. Feuer und Wasser.
»Und deshalb hast du so rumgeschrien? Um mich das zu fragen? Ist das dein Ernst?« Sie schüttelte ungläubig den Kopf. »Was ist bloß los mit dir, verdammt! Kannst du nicht ein Mal normal sein?«
»Warte«, sagte ich. »Bitte, bitte geh nicht.« Ich änderte meinen Plan. Jetzt oder nie hieß der neue. »Ich hab tatsächlich was für dich.«
Sie zögerte, glaubte mir nicht. Ich streckte ihr die leere Hand entgegen, die Hand mit dem Ring behielt ich hinter dem Rücken, wie ein Kellner beim Einschenken. »Kannst du mir kurz aufhelfen?« Ich spürte, wie der Knöchel unter dem Anzug dicker wurde. Mira hob skeptisch die Brauen.
»Mich hat was in den Knöchel gestochen«, stöhnte ich.
»Ist jetzt aber nicht der nächste blöde Witz, oder? Darauf hab ich echt keinen Bock.«
»Nein«, jammerte ich. »Im Ernst. Es brennt.«
Sie streckte mir die Hand entgegen und schmunzelte leicht.
Ein Windstoß raschelte durch die Blätter der Trauerweide. Aus dem Tannenwäldchen wurde das Knacken von Ästen herübergetragen, die Entenschar setzte zum Weiterflug an und der Schwan plusterte sein Gefieder auf. Das Letzte, was ich sah, waren Miras Fingerspitzen. Ich spürte eine winzige Berührung, einen Stromstoß. Dann prallte etwas Hartes gegen meinen Kopf, kullerte über den Steg und landete im Wasser. Ein Golfball der Marke Slazenger. Gut erhalten. Zwei Euro. Ein Volltreffer!
Ein Tauchgang. Eine Leiche. Und das Atmen unter Wasser.
Ich war wieder unter Wasser. Mir war schummrig, aber Sternchen sah ich keine mehr. Der Schmerz am Knöchel war verschwunden. Kurz blitzte das Bild eines silbernen Rings vor mir auf. Dann das Gesicht von Mira und ihre Stimme weit entfernt, wie sie meinen Namen rief. Ich ließ mich davon nicht aus dem Konzept bringen und sank hinab in die Schwerelosigkeit, die sich warm, weich und grenzenlos anfühlte. Der Ball, der mich getroffen hatte, musste irgendwo da unten sein, und ich würde ihn finden. Ich musste ihn finden. Leider war das hier kein seichter Tümpel, kein künstliches Hindernis, wie auf anderen Golfplätzen; das hier war ein richtiger kleiner See. Elf Meter an der tiefsten Stelle. Gespeist von einem Bachlauf, der dafür sorgte, dass es unter der Oberfläche von Lebewesen nur so wimmelte. Mein Herz pumpte in zuverlässiger Langsamkeit. Den Ball, den Volltreffer, wollte ich als Andenken behalten.
Mathis hatte immer Witze gemacht, wie es sich anfühlte, von einem Golfball am Kopf getroffen zu werden. Jetzt konnte ich ihm die frohe Botschaft überbringen, dass man zwar Sternchen sieht, ein kurzes Schwarzbild, ein silbernes Flimmern, aber von Schmerz keine Spur. Vielleicht bekam ich eine Beule, aber das war mir diese einzigartige Erfahrung allemal wert. Wer konnte schon von sich behaupten, von einem Golfball am Kopf getroffen worden zu sein. Eine schöne Geschichte. Der perfekte Einstieg für die Party heute Abend.
Unterhalb von vier Metern war die Sicht selbst bei strahlendem Sonnenschein ziemlich mau. Der südliche Uferrand mit der Betonmauer fiel steil ab, deshalb musste ich ganz runter. An die schlechten Sichtverhältnisse gewöhnt man sich, an die Kälte nicht. Der erste Moment, wenn sich der Neoprenanzug mit Wasser vollsaugt, ist jedes Mal ein Schock. Vor allem an heißen Sommertagen wie diesem. Das ist wie ein Stromstoß. Man ist sofort wach. Selbst wenn man die Nacht davor gefeiert hat.
Beim Tauchen nach Golfbällen muss man sich auf seine Hände verlassen und auf sein Gespür. Das steht in keinem schlauen Buch und auch nicht auf Google. Mit einer Lampe konnte man nichts ausrichten. Hier unten gab es einfach zu viele Schwebeteilchen, die den Lichtschein reflektierten wie Schneetreiben das Fernlicht.
Das Wasser wurde wärmer. Der Neoprenanzug begann auf der Haut zu kribbeln. Stärker als sonst. Eine seltsame Hitze kroch bis hinauf zu meinem Gesicht. Ich hatte das Gefühl, in einem Strom aus lauwarmer Pisse zu baden. Mein Gleichgewichtssinn spielte verrückt. Oben und unten, links und rechts. Sollte ich wieder auftauchen? Ohne den Ball. Ohne die Beute?
Jetzt musste ich auch noch schwitzen. Unter Wasser. Schweißperlen quollen aus meiner Stirn und kitzelten wie Kohlensäure auf meiner Haut. Vielleicht wurde ich krank. So fing das immer an. Aber die Party wollte ich auf keinen Fall verpassen. Darauf hatte ich mich die ganzen letzten Wochen gefreut.
Helenas Eltern hatten richtig viel Kohle und eine Villa, wie man sie von Filmstars kennt. Mit einem Pool und einem riesigen Fernseher neben der Poolbar. Auf dem Land heizte man mit so einem Protzbau die Gerüchteküche an. Die Wahrheit blieb hinter den Erwartungen zurück: Ihr Vater handelte mit edlen Stoffen, war extrem locker und hatte einen grandiosen Sinn für Humor. Manche Familien sind wie Filme, man möchte von ihnen adoptiert werden.
Ich überlegte, was ich kurz vor dem Einschlag gemacht hatte? Daran konnte ich mich ums Verrecken nicht erinnern. War wohl doch nicht ganz so harmlos. Mir fehlten ein, zwei Minuten. Und was hatte Mira damit zu tun? Warum spukte sie mir plötzlich durch den Kopf? Sie würde bestimmt nicht zur Party kommen. Sie war so verdammt vernünftig, so erwachsen geworden. Langweilig trifft es besser. Aber dennoch war ich fasziniert von ihr, und das würde nie aufhören. Bisher hatte ich noch kein Mädchen kennengelernt, das ihr das Wasser reichen konnte.
Ich sah ihre schlanken Finger, ihr Gesicht, ein freches Grinsen. Die Sommersprossen, leuchtend braun. Eintrag ins Logbuch: Hier war etwas faul.
»Immer noch ein Clown«, hörte ich nun sogar ihre Stimme, ganz nah an meinem rechten Ohr. Ich bildete mir ein, ihren warmen Atem zu spüren. Verrückt. Das war total verrückt. Dann ohne Vorwarnung ein aufgebrachter Schrei, die Rückkehr in tiefste Dunkelheit und ein paar Sekunden Stille. Schließlich kehrte das vertraute Klicken der Kieselsteine zurück und wurde lauter. Boulekugeln auf Asphalt, so hörte sich das an. Spielte irgendein Idiot an der Schleuse rum? Ich konnte mir darauf keinen Reim machen, aber ich blieb ruhig. Mathis, mein großer spießiger Bruder, hatte mir beigebracht, wie man im Blindflug nach Golfbällen taucht, ohne in Panik zu geraten, wenn der Arm im Gitter eines Einkaufswagens steckenbleibt oder ein wütender Schwan durch die Wasseroberfläche Hallo sagen will. Wer zappelt, verliert, lautete unsere goldene Regel. Bei Missachtung verlor man die Orientierung und hatte gute Chancen, als Beifang, mit ausgeploppten Augen und dämlicher Visage, nach oben gezogen zu werden. Wasserleichen sehen richtig scheiße aus, kann ich euch sagen. Stellt euch das Widerlichste vor, was ihr je gesehen habt und multipliziert es mit zehn. Der Tag schafft es mühelos unter meine persönliche Top 5 der schlimmsten Ereignisse.
»Sei froh, dass es kein Kind war«, sagte mein Bruder nach dem Vorfall. Bis vor einem halben Jahr waren wir immer zu zweit unter Wasser gewesen. Das war unser gemeinsames Ding. Mathis und ich. Buddys eben, Tauchpartner, die aufeinander zählen konnten. Doch seit dem letzten Streit ließ sich mein Bruder nicht mehr auf dem Golfplatz blicken.
»Werde endlich erwachsen!« Dieser Satz war der Anfang vom Ende gewesen. Er klingelte auch jetzt wieder in meinen Ohren. Ich sollte ihn mir übers Bett hängen. Als Mahnung, genau das Gegenteil zu tun. Es lebe die Freiheit! Unser Dorf war zu klein. Ständig wurde man beobachtet und beurteilt – und dann die vielen Gerüchte … Damit könnte man ganze Bücher füllen. Sobald ich mit einer neuen Freundin aus der Stadt aufkreuzte, ging das Getuschel los. Die alten Männer waren neidisch, weil der Zug für sie abgefahren war, und die Jüngeren, weil sie nicht wussten, wie man ohne aufgemotzte Karre mit Doppelauspuff bei solchen Frauen landen konnte. Sie kapierten nicht, dass alles nur eine Frage des Stils war. Stil ist die ultimative Formel, um Mädchen zu beeindrucken. Man darf es natürlich nicht übertreiben, sonst kommt man altmodisch rüber. Aber mit dem richtigen Maß an Anstand und Optik kann man selbst als Durchschnittstyp bei jeder Frau landen. Okay, das stimmt nicht ganz. Mira ließ sich nicht blenden. Mira war die Einzige, die mich durchschaute, als wäre ich nackt. Und wenn man es ernst meint, dann ist man nackt.
Als ich Mathis erzählte, an einer ernsten Sache dran zu sein, und ihm ein paar dürre Hinweise vor die Füße warf, um wen es sich handelte, rastete er aus. »Warum willst du das tun? Brauchst du noch mehr Striche auf deiner Liste? Wird das jetzt zu deinem Hobby? Mädchen flachlegen und ihnen dann einen Arschtritt verpassen?«
»Die Mädels gehen doch genauso ab wie wir«, sagte ich. »Die wollen Spaß. Aber das will ich ja gar nicht mehr. Darauf will ich doch hinaus. Ich will sesshaft werden.«
Wie mich Mathis jetzt anschaute, hielt ich es für das Beste, mein Vorhaben für mich zu behalten.
»Du weißt doch gar nicht, wie sich richtige Liebe anfühlt!«, schleuderte er mir entgegen. Ich hasste es, wenn er sich so allwissend aufführte. Wahrscheinlich glauben alle großen Brüder, ihre jüngeren Geschwister erziehen zu müssen. Aber damit war es ein für alle Mal vorbei. Ich hatte seine Bevormundung satt.
»Du weißt also genau, was Liebe ist?«, sagte ich herausfordernd. »Wahre, einzigartige Liebe? Kein Kompromiss-Scheiß? Kein ›Wir können’s ja mal versuchen‹-Schwachsinn?«
»Ich – liebe – Hannah! Wenn du darauf hinauswillst.«
»Komm mal wieder runter. Das hab ich nie bezweifelt.«
Sein Blick, eine Mischung aus Wut, nein, Hass und Verständnislosigkeit. »Ich weiß nur eines«, kam es bissig aus seinem Mund. »So wie du dich aufführst, wirst du nie herausfinden, was richtige Liebe ist. Du tust mir echt leid. Kein Mädchen hat es verdient, von dir verarscht zu werden, nur weil du nicht weißt, was du willst, und dich wie ein kleines Kind aufführst, das zu viel Spielzeug hat.«
Beim letzten Satz war die Wut aus seiner Stimme gewichen, dafür klang Enttäuschung durch. Enttäuschung ist schlimmer als Wut. Enttäuschung heißt, dass man die Erwartungen des anderen nicht erfüllt.
Als mein Bruder nachbohrte, um wen es sich handelte, machte ich einen Rückzieher.
»Wozu willst du das wissen, ist doch sowieso nicht ernst?«, sagte ich ironisch.
Er schüttelte den Kopf. Offensichtlich wurmte ihn mein plötzlicher Vertrauensentzug. »Wieso musst du immer Ärger machen?«, sagte er mit zusammengebissenen Zähnen, als hätte er die Antwort in meinen Gedanken gelesen.
Ich schwieg.
Mathis kickte gegen den Eimer mit den Bällen und stapfte fluchend davon. Danach trennten sich unsere Wege. Keine Diskussion. Keine weitere Erklärung. Kein Handschlag der Versöhnung wie sonst. Nur sein Tauchanzug an meiner Zimmertür. Das war’s.
Deshalb befand ich mich nun alleine im Dunkeln.
Irgendwo.
Es war still.
Das Wasser war still. Ich mochte Stille nicht. Ich streckte meine Hände nach vorne. Zentimeter für Zentimeter. Weit hinein in dieses Nichts, das mich umgab wie schwarze Tinte und die Zähigkeit von Hafergrütze aufwies, die ich auf den Tod verabscheute. Etwas Scharfes kratzte über meine Fingerkuppen. Ein leichtes Brennen auf der Haut. Ich unterdrückte den Impuls, loszuschreien. Das Bild einer gemeingefährlichen Schnappschildkröte vor Augen, zuckte ich zurück und verharrte in der Bewegung. Das Brennen verschwand. Nur Einbildung. Wo war der verdammte Golfball? Woher kam dieses laute Brummen? Ich spürte ein Stechen an meinem Arm. Ein Hitzeschwall schoss durch meinen Körper wie glühende Lava. Dann Kälte, ein lähmendes Kribbeln in Armen und Beinen, als würden Gasbläschen durch meine Adern rauschen, weil ich zu schnell auftauchte. Hatte sich der Vulkankrater geöffnet? War ich zu weit runtergetaucht? Aber das war unmöglich. Beruhig dich, sagte ich mir und war glücklich darüber, den Sound des Atemreglers zu hören. Meine Sauerstoffflasche war ganz voll gewesen, als ich sie am Nachmittag aus dem Schuppen geholt hatte. Was das anbetraf, war ich so gewissenhaft wie mein Bruder. Ich fragte mich nur, wann ich die Flasche aufgezogen hatte? Noch etwas, woran ich mich nicht erinnern konnte. Ausradiert, gelöscht.
Das Geräusch des Reglers wurde lauter. Ich hatte das Gefühl, dass meine Lunge mit Gewalt gedehnt wurde. Aber ohne den Golfball würde ich nicht auftauchen. So viel Ehrgeiz hatte ich dann doch. Er musste hier irgendwo sein. Im Schlamm oder neben der kaputten Beinprothese. Seltsam, dachte ich, als ich mit den Fingerspitzen den Untergrund abtastete. Er fühlte sich an, als sei er aus Stoff. Irgendwas stimmte hier nicht, und ich kam nicht dahinter. Weiterdenken war unmöglich. In meinem Kopf baute sich ein gewaltiger Druck auf. Schwindel. Stechender Schmerz. Pochen. Dann ein Knistern und Knacken, als würde mein Schädel in einem Schraubstock stecken, den irgendein blöder Idiot mit voller Kraft zudrehte. Doch damit nicht genug. Ein neues Geräusch folgte. Es mischte sich leise, als würde jemand an einem unsichtbaren Regler drehen, unter den holprigen Beat meines Herzens. Ich versuchte, mich darauf zu konzentrieren, konnte es aber unmöglich zwischen dem Knirschen und Reiben orten. Es kam von überall und nirgends. Bewegte sich im Panorama mal nach links und dann wieder nach rechts und blieb unvermittelt stehen. Und während es dastand, halb rechts, etwa auf ein Uhr, wischte eine unsichtbare Hand meine Gedanken aus meinem Oberstübchen, bis von all den Fragen, die um mein Bewusstsein kreisten, nur noch eine einzige übrig blieb:
Wer bin ich?
Ein Schatten. Ein Splitter. Und ein Schluckauf im Universum.