Ursula Isbel
Nach all diesen Jahren
Roman
FISCHER E-Books
Ursula Isbel wurde 1942 in München geboren. Schrieb zuerst Kindergeschichten für den Rundfunk. Mit siebenundzwanzig Jahren veröffentlichte sie ihren ersten Roman. Nach einigen Jahren als Lektorin in einem Münchner Verlag lebt sie seit 1972 als freie Schriftstellerin und Übersetzerin in München. Der Roman »Nach all diesen Jahren« entstand während einer längeren Irlandreise.
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Covergestaltung: buxdesign, München
Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.
Erschienen bei Fischer Digital
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2015
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Impressum der Reprint Vorlage
ISBN dieser E-Book-Ausgabe: 978-3-10-560500-4
Unter dem gleichen Titel erschien früher ein Roman von Joy Packer, der mit diesem Buch in keinem Zusammenhang steht.
Vor allem anderen werde ich jenen Spätnachmittag im Frühling nie vergessen, an dem ich Warrens Doppelgänger traf.
Etwas von der Hilflosigkeit dieser Minuten überfällt mich heute noch, wenn ich daran zurückdenke; ein Zucken in den Knien, wie man es von Alpträumen her kennt: Man versucht verzweifelt zu laufen und scheint sich doch nur im Zeitlupentempo zu bewegen. So ging es mir inmitten der Menschenmenge, einer Ansammlung von Leuten mit grauen Gesichtern während der Stoßzeit in den Straßen einer Großstadt. Wie eine Büffelherde stolperten wir gemeinsam den Bürgersteig entlang, folgsam und apathisch.
Vielleicht war es seine Größe, die zuerst meinen Blick fesselte. Ja, er war ungewöhnlich groß, von derselben Statur wie Warren. Schon seine breiten Schultern überragten die Menge. Die Sonne, die schwach zwischen den staubigen Häuserblöcken hing, fing sich plötzlich in seinem glatten schwarzen Haar und ließ es metallisch aufglänzen.
Ich hielt den Atem an. Etwas zuckte in meinem Herzen auf, eine Erinnerung, die fast schon vergessen war. Das gleiche schwarze Haar, der gleiche wohlgeformte Hinterkopf, die gleiche unnachahmliche Haltung des Nackens.
Verwirrung entstand, als ich unvermittelt stehenblieb und jenem Mann nachstarrte. Dann kam wieder Leben in mich. Ich preßte meine Tasche an mich und begann mir zwischen den Passanten einen Weg zu bahnen. Ein schreckliches Gefühl der Ohnmacht peinigte mich; in diesen Minuten kam es mir vor, als sei es das einzige Ziel meines Lebens, ihn zu erreichen. Doch während er sich immer weiter von mir entfernte, schien ich nicht von der Stelle zu kommen.
Natürlich erreichte ich ihn nicht. Plötzlich war ich festgekeilt. Als ich mich endlich wieder befreit hatte, sah ich ihn nicht mehr.
Eine Stunde später saß ich im Hofgarten, trank eine Tasse Kaffee und versuchte, mein Gleichgewicht wiederzugewinnen. Die flüchtige Erregung, die Erinnerung an eine längst vergangene Zeit hatten mich aus der gewohnten Bahn geworfen. Ich hatte nicht eingekauft, wie ich es sonst am Freitagabend regelmäßig tat. Ich war nicht weitergegangen – weder zum Supermarkt noch zum Bus.
Hier war es überraschend ruhig und friedlich. Die dicken alten Mauern schirmten den Garten zur Straße hin ab; so drang der Verkehrslärm nur gedämpft zu mir herüber. Unter den Arkaden war es schattig, zwei Frauen schlenderten dort Arm in Arm. Der Brunnen plätscherte, und vor dem kleinen Pavillon blühte es verschwenderisch.
Ich saß ganz allein zwischen weißgestrichenen Tischen und Stühlen und hatte Muße, mir den Vorfall mit etwas kühlerem Kopf zu überlegen. Es war wohl besser, daß ich ihn nicht erreicht hatte. Angenommen, ich hätte es geschafft, mich bis zu ihm durchzudrängen? Vielleicht hätte ich ihn am Arm gepackt, er hätte mir sein Gesicht zugewandt – das Gesicht eines Fremden, ja, wie konnte es anders sein? Nach allem, was geschehen war, nach all diesen Jahren, war die Hoffnung, Warren wiederzusehen, völlig unsinnig.
Oder wäre mir jetzt leichter zumute gewesen, wenn ich mich davon überzeugt hätte, daß jener Mann ein Unbekannter war? Wäre es mir dann weniger schwergefallen, in mein normales Leben zurückzufinden? Ich wußte es nicht. Ich spürte nur, daß diese Begegnung irgendwo in meinem Innern eine Wunde wieder aufgerissen hatte, die längst vernarbt war. Oder vielleicht war sie auch nie wirklich verheilt, vielleicht hatte ich sie nur krampfhaft zugedeckt, zu schnell versucht, alles zu vergessen? Nun tat es plötzlich wieder weh – es war ein dumpfer Schmerz, in den sich Hoffnungslosigkeit mischte.
Während ich zum Pavillon hinüberstarrte, merkte ich, wie mir die Tränen kamen. Was für ein Unsinn, hier zu sitzen und noch einmal über alles nachzugrübeln, was längst vergangen und verloren war! Ich mußte vernünftig sein, einkaufen, nach Hause fahren. Rasch wischte ich mir mit dem Handrücken über die Augen, legte Geld auf den Tisch und versteckte mich hinter meiner Sonnenbrille, denn erwachsene Menschen weinen nicht in einer Großstadt.
Es war später als sonst, als ich die Tür zu meinem Appartement aufschloß. Ich öffnete das Fenster und blieb ein paar Minuten unbeweglich davor stehen. Hinter der Kastanie im Hof färbte sich der Himmel schon grau. Ein rosiger Schimmer am Horizont verhieß gutes Wochenendwetter. Zwischen den kahlen Mauern spielten Kinder mit ihrem Ball, von nebenan kam der Geruch nach Sauerkraut. In der Wohnung über mir spielte das Radio in voller Lautstärke. Ich wandte mich ab, knipste die Stehlampe an und zog die Vorhänge vor. Dann setzte ich in der kleinen Küche das Teewasser auf den Elektroherd.
Irgendwie lief an diesem Abend alles falsch. Ich kam mir vor wie eine automatische Puppe, deren Schaltsystem gestört ist. Ich ließ Badewasser in die Wanne laufen, setzte mich in einen Sessel und starrte so lange vor mich hin, bis das warnende Rauschen aus dem Badezimmer mich in die Wirklichkeit zurückrief. Ich kam gerade noch rechtzeitig dazu, um eine Überschwemmung zu verhindern. Als ich in die Wanne stieg, merkte ich, daß das Wasser fast kalt war.
Der Teetopf war schon nicht mehr zu gebrauchen, als ich frierend aus dem Bad tappte. Das Wasser war verdampft, der Boden des Topfes glühte und stank abscheulich. Nein, es hatte keinen Sinn, noch irgend etwas zu tun. Es war am besten, wenn ich mir ein Buch nahm, mich in eine Ecke setzte und mich bis zum Zubettgehen nicht mehr von der Stelle bewegte.
Welches seltsame Gesetz ist es, das bewirkt, daß man an manche Menschen, Begebenheiten oder Begriffe plötzlich mehrmals an einem Tag von ganz verschiedenen Seiten erinnert wird? So erging es mir mit Warren. Ich hatte nur mehr selten und flüchtig an ihn gedacht – doch von dem Augenblick an, da mir sein Doppelgänger über den Weg lief, sollte er mir nicht mehr aus dem Sinn kommen. Als ich zum Bücherregal ging und nach einem Kriminalroman griff, zog ich zufällig ein zweites Buch mit heraus, ungewöhnlich hoch im Format und in bedrucktes Leinen gebunden.
Erst nachdem ich den Stoff mit den violetten und braunen Stiefmütterchen einige Sekunden lang verständnislos angesehen hatte, begriff ich, was ich in der Hand hielt. Es war Mutters Poesiealbum. Eine verdrückte, schmutzige Kordel, die einst weiß gewesen sein mochte, baumelte vom Rücken des Albums herab.
Wieder hatte die Vergangenheit mich eingeholt. Ich wußte plötzlich wieder, daß ein wichtiges Ereignis mit diesem Poesiealbum im Zusammenhang stand.
Das Buch schlug sich fast von selbst auf. Zwischen den Seiten lag ein kleines Bündel von Briefen, liebevoll mit einem plattgedrückten blauen Samtband verschnürt. Ich beachtete den in sorgfältiger Jungmädchenschrift geschriebenen Spruch mit den gemalten Rosenranken auf der rechten Seite des Albums nicht. Die Schrift auf dem Briefumschlag, der zuoberst auf dem Bündel lag – ich erkannte sie sofort wieder.
Mit ungeschickten Fingern löste ich das Band. Es krümmte sich, auseinandergeknotet, sofort wieder in die Form einer Schleife zurück. Ich nahm den Brief in die Hand. Man sah den etwas verwischten Poststempel noch: Dublin 8. VI. 61.
Ein wunderliches Gefühl überkam mich, als ich den Umschlag öffnete und die engbeschriebene Seite daraus hervorholte. Mir war, als müsse dieses Blatt irgendein Geheimnis, eine Neuigkeit enthalten. Doch ich hatte Warrens Briefe an Mutter ja alle schon einmal, mehrmals, gelesen – damals, nachdem es geschehen war. Keiner von ihnen enthielt auch nur den geringsten Aufschluß über Warrens Ende.
Ja, das war sein erster Brief; er hatte ihn am Tag seiner Ankunft in Irland geschrieben: »Liebe Mutter, heute mittag bin ich mit dem Schiff in Dun Laoghaire angekommen. Ein Student der Verbindung, ein gewisser Percy Bedlington, holte mich mit seinem Wagen ab und brachte mich nach Dublin, wo ich sehr herzlich aufgenommen wurde. Du kannst Dir nicht vorstellen, wie freundlich die Iren zu Fremden sind!« Dann folgte eine kurze Beschreibung von Dublin und ›Barry’s Hotel‹, in dem Warren sich eingemietet hatte.
Ich dachte daran, wie wir ihn am Tag vorher zum Bahnhof gebracht hatten und ihn zum Abschied umarmten. Er hatte sich lachend aus dem Fenster seines Abteils gebeugt und uns zugewinkt – mit einem karierten Taschentuch. Ja, das wußte ich noch genau, es war kariert gewesen. Lange hatte ich es flattern sehen. Seltsam, welche unwichtigen Dinge man im Gedächtnis behält!
Der zweite und dritte Brief; sie enthielten ebenfalls nichts von Bedeutung. Im Gegenteil, die Briefe schienen in zunehmendem Maß oberflächlicher zu werden. Es war fast, als bemühte er sich, möglichst wenig Persönliches zu schreiben – als wollte er verhindern, daß Mutter etwas zwischen den Zeilen las.
Ich schaute auf das Datum: der 28. Juli. Geschrieben in einem Ort, der Beenoskee hieß, offensichtlich in aller Eile: ›… wir machen gleich eine Küstenfahrt den sogenannten ›Ring of Kerry‹ entlang. Nachdem es Percy gelungen ist, zwei Landrover aufzutreiben, haben wir uns entschlossen, unsere Rundreise durch Irland fortzusetzen und vorläufig nicht nach Dublin zurückzukehren. Mit den beiden Kübelwagen können wir ziemlich sicher sein, daß wir nicht auf einer der holprigen oder manchmal halb unter Wasser stehenden Straßen steckenbleiben.
Gestern sind wir auf den Beennamman gestiegen. Man hat von dort oben einen atemberaubenden Blick auf den Atlantik. Wellenbrecher donnern gegen die Küste; zu unseren Füßen war alles in dunstigen Sprühregen getaucht. Ich mußte an einen Satz aus einem Buch denken, das ich als Junge gelesen habe: ›Die wilde Gewalt einer großen See, die gegen eine Landzunge kracht, ist unvorstellbar und unglaublich, bis man sie mit eigenen Augen gesehen hat.‹ So ähnlich hieß es, glaube ich. Wer immer es auch geschrieben hat, er hatte recht. Ich wurde ganz taub vom unaufhörlichen Donnern und Brausen der Wogen – wenn man sein Leben lang nur auf dem Festland gewohnt hat, bekommt man bei einem derartigen Anblick unwillkürlich weiche Knie.
Grüße das Kätzchen von mir. Sie wird ja bald nach Hause kommen oder vielleicht schon bei Euch sein. Ich habe vorgestern von Tralee aus einen Brief an sie abgeschickt. Wenn sie erwachsen ist, muß sie sich Irland unbedingt einmal ansehen; sie würde in dieses Land passen, finde ich – schon allein wegen ihrer Vorliebe für alte Märchen und Sagen. Hier gibt es Geschichtenerzähler, Shanachies werden sie genannt, die manchmal fünf Nächte hindurch ein »seansgíalta«, ein einziges langes Märchen, erzählen! Viele Grüße auch an Vater und herzlichen Dank für den Scheck (er war dringend nötig, ich saß schon sehr auf dem trockenen!). Sobald ich etwas Zeit habe, werde ich wieder schreiben. Immer – Euer Warren.‹
Immer … Ich ließ das Blatt sinken und sah vor mich hin. So hatte Warren also den Ozean empfunden: schön, aber bedrohlich. Doch nicht bedrohlich genug, um die Gefahr zu erkennen, die eine Fahrt im Sturm auf einer ungesicherten Küstenstraße bedeutet. Und während ich an Warren dachte, sah ich wieder die Szene des Spätnachmittags vor mir – die Menschen auf der Straße und einen breitschultrigen Mann mit tiefschwarzem Haar und wohlgeformtem Hinterkopf, der sie alle überragte.
Damals, als Warren nach Irland fuhr und schließlich als tot gemeldet wurde, war ich noch sehr jung und hatte gerade meine Ferien zu Hause verbracht. Zwei Tage, nachdem ich das Internat verließ, war dieser letzte Brief gekommen, dann nichts mehr – keine Zeile. Tagelang warteten wir immer angstvoller, immer dringender auf eine Nachricht von Warren.
Schließlich traf das Telegramm seines Freundes Percy Bedlington ein. Warren war, zusammen mit drei jungen Iren, bei einem Sturm auf der Dingle-Halbinsel mit dem Landrover an der Küste entlanggefahren und verschwunden – nur das wußte man mit Bestimmtheit. Man hatte ihre Spur eine kurze Strecke weit verfolgen können. Ein Teil der Straße, die am sogenannten Slea Head dicht an der Küste entlangführte, war ins Meer gestürzt.
Ich hatte plötzlich den Wunsch, mir wieder einmal ein Foto von Warren anzusehen, um endlich das Bild des Fremden zu vergessen, das mich nicht losließ. So legte ich die Briefe beiseite, ging zur Kommode hinüber und kramte in der untersten Schublade zwischen alten Impfscheinen, Schulzeugnissen und Backrezepten das Fotoalbum hervor. Gleich die erste Fotografie, die mir in die Hände fiel, stammte aus Irland: Vor dem Portal eines efeuüberwucherten Hauses stand Warren neben einem blonden jungen Mann, der aussah wie ein Cherubin – Percy Bedlington.
Ich sah hinunter auf Warrens Gesicht und hatte ihn plötzlich wieder ganz deutlich vor Augen: sehr groß, breitschultrig und geschmeidig, mit einem festen Kinn, Lachfältchen um die blauen Augen, das widerspenstige Haar aus der Stirn gekämmt. Einen Moment lang war es mir, als sehe er mich an, als sei er im Begriff, den Mund aufzutun und ›Kätzchen‹ zu mir zu sagen.
Vater war damals nach Irland gefahren, aber sehr bald wieder zurückgekehrt. Er hatte nichts erfahren; nichts, was wir nicht schon längst aus den dürftigen Berichten gewußt hätten. Percy Bedlington selbst führte ihn zum Unfallort, zum Slea Head, wo das Unglück vermutlich geschehen war. Vater hatte auch mit der zuständigen Polizei gesprochen. Doch niemand kannte die näheren Umstände. Vom Landrover und seinen Insassen fehlte jede Spur.
Und das war das Seltsame an der Sache, dachte ich wieder, wie schon so oft. Weshalb hatte man nicht einmal mehr den Wagen oder wenigstens Teile von ihm gefunden? Er hätte im seichten Wasser zurückbleiben oder im Ufersand feststecken müssen.
Aber ich hatte ja nie einen richtigen Sturm am Atlantik miterlebt. Vielleicht waren der Wind und das Wasser von einer solchen Gewalt, daß sie selbst einen großen Wagen weit in die See hinaustragen konnten; vielleicht hatten ihn die Wellen, die ja bei Stürmen mehr als mannshoch sein können, ins offene Meer geschleudert. Vielleicht hatten die Geröllmassen der einstürzenden Straße das Fahrzeug unter sich begraben.
Der Gedanke an den Wagen, der von der Uferstraße hinabstürzte und ins Wasser sank, hochgehoben und vom Gewicht der Steinmassen wieder niedergedrückt wurde, die Vorstellung, daß Warren und seine Freunde – schon tot oder noch lebendig – in diesem Fahrzeug saßen, ließ mich frösteln.
Meine Mutter fiel mir ein, wie sie am Fenster saß und leise sagte: »Am schlimmsten von allem ist die Ungewißheit, Catherine. Ich wünschte, er hätte irgendwo ein Grab auf einem Friedhof, zu dem ich gehen könnte …«
Plötzlich merkte ich, wie lange ich schon auf dem harten Boden kniete. Ich legte das Fotoalbum in die Kommode zurück, schloß die Schublade, stemmte mich hoch, mühsam wie eine alte Frau. Was konnte ich tun, um endlich wieder aus diesem bösen Traum zu erwachen? Warum mußte ich wieder über Warrens Schicksal nachgrübeln? Ich kannte die Antwort – meine Mutter hatte sie mir ja damals gegeben: Man braucht Gewißheit, um etwas hinnehmen und ertragen zu können. Zum erstenmal dachte ich auch an die Verwandten und Freunde der drei jungen Iren, die mit Warren umgekommen waren. Ob sie noch an ihre Söhne, Brüder oder Liebsten dachten? In Irland nahm man es vielleicht gelassener hin, daß das Meer Leben vernichtete, ohne eine Spur zu hinterlassen.
Ich konnte nicht schlafen; jene Ereignisse, die doch längst vergangen waren, kamen zurück und zwangen meine Gedanken wieder in die alte schmerzliche Bahn. Die Briefe – warum hatte ich sie gelesen? Warrens Briefe an Mutter … Doch er hatte auch an mich geschrieben. Ich richtete mich im Bett auf und starrte in die Dunkelheit. Es war ein ganzes Bündel von Briefen gewesen, nun sah ich es deutlich vor mir. Sie mußten auf dem Dachboden unseres Hauses in Hohenwied liegen, denn ich hatte sie damals vom Internat mitgebracht und sorgfältig aufbewahrt.
Morgen war Samstag. Ich mußte hinausfahren und sie mir holen.
Ich war jahrelang nicht mehr hier gewesen. Das alte Gehölz, in meiner Kinderzeit von Brombeerhecken durchwachsen, die uns die Fesseln zerkratzten, war nicht länger ein idealer Platz für kindliche Spiele. Zwischen den Stämmen der Tannen hatte man breite Kieswege angelegt. Und am Waldrand, wo früher Stachelbeerbüsche wild wucherten, hatte man leuchtend grüne Bänke aufgestellt. Über den Bach führte nicht mehr der schwankende Steg aus Holz, sondern eine Betonbrücke, auf der die Schritte seltsam hallten. Hier hatte Warren manchmal mit einer selbstgebastelten Angel gefischt. Das war natürlich verboten gewesen, aber er hatte sowieso nie etwas gefangen. Und der Dorfpolizist war ein gutmütiger Mann gewesen, der selbst zwei halbwüchsige Söhne hatte.
Dort waren wir barfuß über die Wiesen gelaufen; im Herbst hatte mir Warren gezeigt, wie man Drachen steigen läßt. Ich lächelte in mich hinein, als ich an den bunten Vogel mit dem Schwanz aus Seidenpapierschleifen dachte, den Warren selbst gebaut und mir zum Geburtstag geschenkt hatte. Er war wunderschön gewesen – nur konnte er leider nicht fliegen.
Schon von weitem sah man das Haus. Mit seinen lächerlichen Türmchen, Erkern und Zinnen wirkte es noch immer wie eine trutzige Bilderbuchburg. Diesmal klopfte mein Herz bei seinem Anblick nicht schneller, wie früher, wenn ich zu Beginn der Ferien vom Internat heimgekommen war. Ich dachte nur daran, wie zugig und kalt das alte Gemäuer im Winter war und fragte mich, ob die beiden alten Leute, die es jetzt bewohnten, sich überhaupt noch bewegen konnten vor Rheuma, Hexenschuß oder Gicht.
Sie schienen von zäherem Schlag zu sein, als ich geglaubt hatte. Frau Wieland öffnete mir das Haustor; eine zarte kleine Gestalt im ewig gleichen grauen Kleid.
»Guten Tag, Frau Wieland«, sagte ich und spähte über ihre Schulter ins Halbdunkel der Halle. Grabesluft schlug mir entgegen. An den Wänden schlängelten sich noch immer die vertrauten Seerosenornamente.
»Ach, Fräulein Isny!« Sie schlug entzückt die Hände zusammen. »Sie waren schon so lange nicht mehr hier! Erst gestern hat mein Mann gesagt –«
Mit trippelnden Schritten ging sie voraus durch die gepflasterte Halle und über die gefährlich gebohnerte Treppe nach oben. Ich mußte Herrn Wieland begrüßen, einen reizenden alten Herrn, der schwerhörig war, so lange ich ihn kannte. Er saß wie stets in seinem Ohrenbackensessel am Fenster; es kam mir vor, als hätte er sich seit meinem letzten Besuch von dort nicht weggerührt. Er stand auf, als er mich eintreten sah, und verbeugte sich mit altväterischer Höflichkeit. »Oh, Fräulein Isny, wie schön, daß Sie wieder einmal vorbeikommen. Wie geht es Ihnen? Sind Sie vielleicht schon verheiratet?«
Ich unterdrückte ein Lächeln. Ewig dieselbe Frage.
»Nein, Herr Wieland. Der Richtige ist noch immer nicht aufgetaucht.«
Er legte die Hand hinter die Ohrmuschel. »Was ist wichtig?«
»Sie meint, der Richtige ist noch nicht gekommen«, brüllte Frau Wieland.
Ich gab mir Mühe, ernst zu bleiben.
»Frag Fräulein Isny, ob sie eine Tasse Kaffee mit uns trinkt, Emmeline!« mahnte Herr Wieland.
Sie blinzelte ängstlich. »O ja, das wollte ich gerade tun. Sie trinken doch mit uns Kaffee, Fräulein Isny? Ich habe heute vormittag frische Rohrnudeln gebacken!«
Ich mochte keine Rohrnudeln, aber ich brachte es auch nicht fertig, die erwartungsvoll strahlende alte Dame zu enttäuschen. »Gern«, sagte ich. »Inzwischen kann ich wohl auf den Dachboden gehen? Ich möchte nach alten Briefen suchen, die dort oben noch irgendwo herumliegen müssen.«
Das Loch in der Wand des Treppenaufganges, direkt in einem Seerosenblatt, wo Warren eines Sommertages mit dem Luftgewehr heimlich Schießübungen gemacht hatte, war noch immer da. Ich ging daran vorbei und sah aus einem der Fenster in den verwilderten Garten hinunter. Der Flieder blühte so üppig wie in jedem Frühling. Wie eine duftende Wolke breitete er sich vor dem Haus aus. Ich hörte wie früher die Vögel in den Zweigen singen. Um diese Jahreszeit hatten uns morgens die Amseln aus dem Schlaf geweckt.
Ich schloß die eiserne Tür auf, verhielt einen Augenblick auf der Schwelle und atmete wieder den Geruch von Staub, trockenem Gebälk und Kampfer ein. Hier hatte ich oft ganze Nachmittage zwischen dem Speicherkram verbracht und gelesen, wenn es draußen regnete.
Mildes Dämmerlicht hing zwischen den schrägen Stützstreben und Dachbalken. Ich schob das Milchglasfenster ein Stück nach außen, holte einen wackligen Schemel, wischte den Staub notdürftig mit dem Taschentuch ab und setzte mich.
Wo sollte ich zu suchen anfangen? Mein Blick schweifte vom kurzen Mahagonibett mit der geschwungenen Rücklehne, in dem ich noch einen heftigen Anfall von Ziegenpeter auskuriert hatte, ehe es mir endgültig zu klein geworden war, zum verschnörkelten Sessel aus der Gründerzeit hinüber. Dort stand Mutters Korbstuhl, darauf der kuriose Regulator, der immer schief an der Wand hängen mußte, wenn er richtig gehen sollte. Es waren so viele Kisten und alte Reisekörbe mit Spielsachen, sorgfältig zusammengelegten Wäschestücken, Mutters Kleidern, Vaters Pullovern und Stößen von Büchern, die ich nicht hatte mitnehmen können.
Ich versuchte mich zu erinnern. Nein, die Briefe lagen wohl nicht in einem der Koffer. Viel eher schon in der Truhe, bei meinen Schulbüchern. Ich kletterte über zwei verbeulte Reisetaschen, stieß mir den Knöchel am eisernen Gestell der Nähmaschine und öffnete endlich den gewölbten Truhendeckel.
Mein alter Teddybär lag obenauf. Es hatte nur mehr ein starres Glasauge; sein rechter Arm, aus dem bereits der Werg hervorsah, war nach hinten verdreht. Ich erlöste ihn von seiner Verrenkung und legte ihn sanft beiseite. Hier, zwischen den blauen Heften, steckte auch die runde Spieldose aus Blech. Ich konnte nicht widerstehen und drehte an der Kurbel. Eine Weile knackte es gefährlich im Inneren der Dose; dann erklang zitternd das Lied vom Kuckuck, der aus dem Wald ruft.
Wie schnell die Kindheit vergeht! – Mutters Stickrahmen, an dem eine Schraube fehlte, ein zerkratztes Französischlehrbuch, darunter Warrens Schießscheibe, durchlöchert wie ein Sieb. Doch keine Spur von seinen Briefen.
Vielleicht waren sie drüben in der Ecke, wo Vaters Angelzeug lehnte, in einer Schublade meines ehemaligen Schreibschrankes. Der Aufsatz hatte eine Tür, die sich zur Hälfte herausdrehen ließ. Langsam erinnerte ich mich wieder.
Und wirklich, dort fand ich, sorgsam gebündelt, Warrens Briefe aus Irland. Ich holte sie vorsichtig mit beiden Händen aus dem Hohlraum, der einem kleinen Schrein ähnelte, blies den Staub von der Schreibtischplatte und legte die Briefe darauf. Dann nahm ich den Umschlag, der obenauf lag, zog die engbeschriebene Seite daraus hervor und trug sie zum Dachfenster.
Warren beschrieb die südirische Stadt Arklow, wo er und seine Freunde bei den Eltern eines Reisegefährten, Patrick Seery, Station gemacht hatten. Es war schon so lange her, seit ich diese Zeilen zum letztenmal gelesen hatte, daß ich den Text nur langsam wiedererkannte.
Vor allem der letzte Satz des Briefes kam mir fremd vor, als hätte ich ihn nie gelesen, als sei er neu dazugeschrieben worden. Und doch, es war Warrens Handschrift: Ich wollte, Du wärst schon ein paar Jahre älter, Kätzchen, dann hätte ich Dich mit nach Irland genommen.
Ich weiß nicht, wovon ich so früh erwachte. Vielleicht weckten mich die fremdartigen Laute, die durch das geöffnete Fenster drangen.
Ich setzte mich im Bett auf und öffnete die Augen. Das erste, was ich sah, war eine verblüffend unruhige Tapete mit einem Muster aus langstieligen Rosen, ein alter, dunkelbrauner Schrank und ein kleines Waschbecken mit fleckigem Spiegel. Wo um Himmelswillen war ich?
Als ich die Beine aus dem Bett schwang, wußte ich es plötzlich wieder. Ich tappte zum Fenster, das zur Hälfte geöffnet war, und sah vor mir die Dächer und Kamine Dublins in der Morgendämmerung aufragen. Jene Kuppel dort hinten mußte der Gerichtshof ›Four Courts‹ sein, am Fluß Liffey. Und die vielen hellen Punkte, die darüber schreiend ihre Kreise zogen, schienen Möwen zu sein.
Ich hatte nur sehr wenig Zeit gehabt, mich auf diese Reise vorzubereiten – eigentlich nur eine Woche. Irgendwie war mir, als hätte nicht ich selbst den Entschluß gefaßt, nach Irland zu fahren. Auf eine verborgene, unerklärliche Weise hatte Warren mich dazu gebracht. Ich wollte, Du wärst schon ein paar Jahre älter, dann hätte ich Dich mit mir nach Irland genommen.
›Barry’s Hotel‹… Ich hätte mir eine bessere Unterkunft aussuchen können, aber ich hatte es mir in den Kopf gesetzt, genau da zu wohnen, wo Warren vor zehn Jahren abgestiegen war.
Eine Stunde später trat ich durch die Schwingtür, die zur Denmark-Street führte. Auf dem steinernen Vorplatz blieb ich stehen und atmete den fremden Geruch Dublins ein. Schon gestern, am späten Abend, als ich aus dem Taxi stieg, war mir jener herbe Duft aufgefallen, der die Stadt erfüllte. Ich konnte noch nicht wissen, daß dies der Geruch des Torffeuers war, das hier noch in vielen alten Kaminen brannte.
Ich schaute auf meinen Stadtplan. Ein paar hundert Meter rechts mußte die Denmark Street in die Hauptstraße Dublins münden, die breite O’Connell-Street. An diesem frühen Sonntagmorgen schien die Stadt noch wie ausgestorben zu sein. Ich hatte das Gefühl, als klapperten meine Schritte ungebührlich laut auf dem Straßenpflaster. Die Morgensonne spiegelte sich in den blanken Fenstern der Backsteinhäuser. Fassaden von anglo-irischer Pracht, steinerne Treppenaufgänge mit geschnitzten Mahagonitüren, blitzende Türklopfer in Form von Löwenköpfen, schmiedeeiserne Balkongitter, fächerförmige Fenster über den Portalen. Ein Pferdefuhrwerk, mit Säcken beladen, rasselte an mir vorbei; zwei Nonnen kamen um die Ecke gebogen und strebten auf eine neugotische Kirche zu.
Ich hatte Warrens Briefe sorgfältig nach Datum und Ort gebündelt, und so fand ich gleich im ersten Umschlag die Stelle, die ich suchte. Um Nelsons Pillar herrscht hier ziemliche Uneinigkeit, schrieb er. Immerhin war Nelson ein englischer Admiral. Viele Dubliner diskutieren darüber, daß er nicht auf die Hauptstraße ihrer Stadt gehört. Wahrscheinlich erinnert er die Leute zu sehr an die Zeit der britischen Herrschaft. Du kannst Dir kaum vorstellen, Kätzchen, was für ein Groll hier noch heute gegen die Engländer herrscht – eigentlich kein Wunder nach all dem, was sie den Iren jahrhundertelang angetan haben. Solange Nord- und Südirland getrennt sind, wird es auch immer wieder Unruhen geben. Es existieren hier sogar noch geheime Widerstandsbewegungen …
Als Warren diese breite Straße entlanggegangen war, hatte Nelsons Pillar noch gestanden, und im Norden Irlands gab es noch kaum Unruhen. Inzwischen hatten ein paar Hitzköpfe das Denkmal des britischen Helden feinsäuberlich gesprengt. Ich steckte den Brief zurück in meine Tasche. Als ich den Kopf wieder hob, sah ich, wie vor mir ein alter Mann mit grauem Bart und abgerissener Kleidung eben einen wackeligen Kinderwagen über den Randstein hinaufschob. Das hochrädrige, altmodische Gefährt war voll beladen mit gebündelten Zeitungen, die, schmutzig und zerfetzt, über den Rand des Wagens hinausquollen.
Ich war so überrascht, als er mich ansprach, daß ich beinahe meine Tasche fallenließ. »Hübsches Mädchen«, sagte er freundlich und bedachte mich mit dem Blick eines Preisrichters auf einer Schönheitskonkurrenz.
Unwillkürlich lächelte ich zurück. »Danke!«
Er nickte ein paarmal mit dem Kopf. »Sehen Sie die Wolken dort? Es wird bald regnen.«
Ich sah zum Himmel und merkte, daß die tiefhängenden schwarzen Wolken wirklich verdächtig nach Regen aussahen.
»Ja, tatsächlich«, sagte ich, »der Wind ist auch ziemlich kühl hier.«
Während ich mich anschickte, an ihm vorbei hinunter auf die Straße zu gehen, wurde ich plötzlich am Arm gepackt.
»Passen Sie auf, Kind, passen Sie auf«, murmelte er warnend.
»Sie meinen, ich soll auf den Verkehr achten?« Ich lächelte, denn weit und breit war kein Auto zu sehen. »Ich bin Großstädte gewöhnt.«
Der alte Mann schüttelte ungeduldig den Kopf. »Die Engländer«, sagte er, ließ meinen Arm los und hob einen ziemlich schmutzigen Zeigefinger. »Die Engländer bringen viel Unheil. Trauen Sie keinem von ihnen!«
Er verbeugte sich galant und wandte sich ab. Verblüfft sah ich ihm nach, wie er seinen Karren vor sich herschob und mit krummem Rücken um eine Hausecke verschwand. Sprach aus seinen Worten nur der alte Haß des Iren gegen die Engländer? Wieder sah ich seine eisblauen Augen vor mir und dachte unwillkürlich an das, was ich über die Druiden gelesen hatte – weise Männer im keltischen Irland, die Dichter, Priester und Zauberer zugleich gewesen waren und weissagen konnten. Ich lächelte. Das sah mir ähnlich, hinter dem erstbesten Iren im zerlumpten Anzug mit einem Kinderwagen voll alter Zeitungen sofort einen Nachfahren der sagenumwobenen Druiden zu vermuten. Ein liebenswerter, komischer alter Kauz, beherrscht von unversöhnlichem Groll gegen die einstigen Unterdrücker seines Volkes – weiter nichts.
Vor der bronzenen Statue des ehrwürdigen Father Mathew, Anführer der Temperenzler-Bewegung, der mahnend und mild zugleich auf mich herabsah, fiel mir ein, daß ich gegen zehn Uhr beim Autoverleih sein mußte. Das Reisebüro in München hatte schon alle Formalitäten für mich erledigt. Ich brauchte nur noch den Wagen abzuholen.
Auf Father Mathews Schulter ließ sich eine Möwe nieder, legte den Kopf schief und kreischte mißtönend. »Ich trinke ja gar nicht«, murmelte ich. Ein junger Geistlicher, der gerade mit flatternden Rockschößen an mir vorüberradelte, warf mir einen erstaunten Blick zu.
Das imponierende Gebäude zu meiner Rechten mußte das Hauptpostamt sein, das den irischen Rebellen beim Osteraufstand als Hauptquartier diente, in Brand gesteckt und nach 1916 wieder aufgebaut wurde. In meinem Reiseführer stand, daß man die beiden Anführer des Aufstandes und vierzehn weitere Männer hingerichtet hatte – doch sie waren nicht umsonst gestorben, wie so viele andere vor ihnen: Einige Jahre später war Irland frei. Auch Warren hatte mir in seinem ersten Brief von jenen Männern erzählt, von John MacDermot, der als letzter hingerichtet wurde und vor dem Aufstand prophezeite: ›Wir werden uns nur eine Woche in Dublin behaupten können, aber wir werden Irland befreien.‹
Ich ging weiter, vorbei an zwei anderen Denkmälern, zur O’Connell-Brücke. An die Brüstung gelehnt, sah ich auf das schmutzige Wasser nieder, das träge auf die Brücke zukroch und an beiden Seiten nackte, von schwarzem Schlamm bedeckte Uferstreifen freiließ. Früher mußte der Fluß mehr Wasser mitgeführt haben, da man die Uferbefestigung so hoch gebaut hatte; jetzt berührte er nicht einmal den Fuß der Kaimauer. Die Möwen wateten im Schlick zwischen verbeulten Kochtöpfen, ausgedienten Kinderwagen und Autoreifen. Ihre mißtönenden Schreie übertönten den beginnenden Verkehrslärm auf der O’Connell-Street.
Wo war der Absatz, in dem Warren über den Fluß schrieb? Hier: Die Liffey (wohlgemerkt: die, nicht der – sie ist ein weiblicher Fluß, ein ziemlich ungepflegtes altes Weib übrigens!) ist eine schwarze Brühe, bevölkert von großen Möwen. Ich habe sie nur mit sehr wenig Wasser gesehen, gesäumt von alten Kinderwagen in Mengen, die auf dem breiten Rand liegen, von dem sich der Fluß zurückgezogen hat. Der einzig richtige und traditionelle Abladeplatz für unbrauchbare Kinderwagen scheint hier die Liffey zu sein.
Übrigens soll die O’Connell-Brücke kurioserweise mehr breit als lang sein. Ich habe dort jeden Abend ziemlich viele zerlumpte Kinder gesehen, die wohl kein Zuhause hatten.
Ich ließ das Blatt sinken und sah mich unwillkürlich um, doch kein Kind war auf der Brücke zu sehen. Nur ein junges Mädchen mit langen, glatten Haaren und sehr kurzem Kleid kam eilig auf mich zu. Der Wind drückte ein Stück Zeitungspapier gegen eine der steinernen Säulen der Brüstung. Ich fragte nach dem Weg zur Lower Kevin Street, und das Mädchen brachte mich zur nächsten Bushaltestelle.
Es war kühl und windig an jener Ecke. Aus einer der Seitenstraßen kam wieder der herbe Duft der Torffeuer. Ab und zu trug eine Windbö den moosigen, schlickigen Geruch des Flusses herüber. Droben, am grauen Himmel, ballten sich die Wolken immer bedrohlicher.
Ich war froh, als der Bus endlich kam. Ein sehr junger, verwirrend gutaussehender Fahrer nannte mir den Fahrpreis, und ich kramte unsicher in meinem Portemonnaie, denn ich wußte mit irischem Geld noch nicht recht Bescheid. Ohne Murren wechselte er meine Fünfpfundnote, versprach strahlend, mich abzusetzen, und startete den Bus so heftig, daß ich sehr plötzlich auf dem vordersten Sitz Platz nahm.
Eine ältere Frau nickte mir aufmunternd zu. Ihr rundes braunes Hütchen, das vor zwanzig Jahren modern gewesen sein mochte und etwas schief auf ihren stark gekrausten Haaren saß, nickte mit. Im rückwärtigen Teil des Busses standen zwei junge Männer und unterhielten sich leise. Sonst gab es keine Fahrgäste. Wohin mochten diese Leute am Sonntagvormittag fahren? Ich fühlte mich unangenehm an mein eigenes Ziel, den Autoverleih, erinnert. Während der Fahrer mit halsbrecherischem Manöver einem streunenden Hund auswich, betete ich heimlich zum heiligen Christophorus, mir bei dieser ersten Fahrt in einem fremden Wagen beizustehen.
Ich hatte vergessen, daß Sankt Christophorus ja seit kurzum kein Heiliger mehr war. Er war also nicht mehr verpflichtet, mir zu helfen, und ließ mich deshalb auch gründlich im Stich. Ich bekomme noch heute heiße Ohren, wenn ich an jene Szene vor der Phoenix-Garage denke. Glücklicherweise wußte ich nicht, was mir bevorstand, sonst wäre ich wohl gar nicht erst aus dem Bus gestiegen.
›Phoenix Car Service‹ – ein poetischer Name! Wie man mir versprochen hatte, war die Garage auch an Sonn- und Feiertagen geöffnet. Ein Flügel des großen Tores aus grünen Holzbrettern versperrte den Bürgersteig. Langsam betrat ich die geräumige Halle und sah mich zwischen den Wagen um.
Ein breitschultriger Mann im grünen Overall kam mit dem Kopf unter einer Kühlerhaube hervor, als er den Klang meiner Absätze auf dem Betonboden hörte.
»Guten Tag, Miß«, sagte er höflich. »Kann ich Ihnen helfen?«
Ich holte die Quittung des Reisebüros aus der Tasche und zeigte sie ihm. »Ich glaube, Sie haben einen Wagen für mich reserviert«, erklärte ich. »Man hat mir gesagt, ich könnte ihn heute hier abholen.«
Er sah kurz auf den Zettel in meiner Hand. »Natürlich. Das Auto steht dort drüben. – Mike!!«
In Richtung seines ausgestreckten Zeigefingers bemerkte ich nur ein einziges Fahrzeug, einen kleinen roten Austin älterer Bauart. Ein halbwüchsiger Junge mit Wagenschmiere im Gesicht und widerspenstigem rötlichem Haarschopf tauchte neben uns auf.
»Mike, die Dame bekommt den roten Austin. Hol schnell die Papiere!«
Mike flitzte davon, und der Mann im grünen Overall wandte sich wieder mir zu. »Ein zuverlässiger kleiner Wagen«, äußerte er. »Und die Scheibenwischer funktionieren, was hier bei uns sehr wichtig ist.« Er zwinkerte mir zu. »Sie haben sogar ein Autoradio. Sehen Sie her.« Er lächelte, öffnete die Wagentür, setzte sich hinter das Steuerrad und drehte an einem Knopf. Ein Blasorchester spielte einen Marsch. Ich schrie: »Vielen Dank, aber könnten Sie mir vielleicht zeigen, wie der Wagen funktioniert? Mit einem solchen Modell bin ich nämlich noch nie gefahren!«
»Selbstverständlich. Es ist kinderleicht. Setzen Sie sich bitte neben mich, Miß.«
Wirklich, es sah alles ganz einfach aus; nur die Knüppelschaltung flößte mir ein wenig Angst ein. Schließlich konnte ich nichts dafür, daß der Wagen, mit dem ich meinen Führerschein gemacht hatte, ein weniger sportliches Fahrzeug mit automatischer Schaltung gewesen war.
Während ich noch versuchte, aus den Erklärungen des Garagenwarts klug zu werden, kam Mike mit den Unterlagen zurück. Ich unterschrieb eine Art Übergabeerklärung, legte sämtliche Papiere in das Handschuhfach und sah plötzlich hinter der Wagenwaschanlage eine dritte Gestalt auftauchen. Der Mann steckte ebenfalls in einem grünen Overall, war auffallend breitschultrig und braunäugig.
»Vielen Dank«, sagte ich noch einmal. »Nur diese Knüppelschaltung –«
Der Neuankömmling beugte sich über den Wagenschlag zu mir herab und lächelte strahlend. »Keine Schwierigkeit, Madam. Passen Sie auf, ich zeige es Ihnen. – Pat, geh zur Seite!« Er ging um den Austin herum, verdrängte seinen Kollegen vom Platz hinter dem Steuer und demonstrierte mir geduldig die Knüppelschaltung.
Schließlich nickte ich, obwohl ich es noch immer nicht ganz begriffen hatte. Diese Männer mußten mich nachgerade für beschränkt halten.
Der braunäugige Garagenwart sagte: »Ich fahre Sie gleich auf die Straße. Haben Sie alle Papiere?«
Ich nickte. »Ja, danke. Wahrscheinlich würde ich auch kaum ohne Schwierigkeiten zwischen all den Autos hier durchkommen.«
Er lachte, brauste geschickt in Schlangenlinien durch die schmale Gasse zwischen den abgestellten Wagen und fuhr so schnell auf die Straße, daß ein Passant entsetzt zur Seite sprang.
»So. Viel Vergnügen, Madam. Gute Reise! Der Ersatzreifen ist im Kofferraum. Aber natürlich wünsche ich Ihnen keine Reifenpanne!«
Seine weißen Zähne blitzten; er drückte von außen die Wagentüre zu. Ich kletterte auf den Platz hinter dem Steuerrad und bemerkte nicht ohne Unbehagen, daß ›Pat‹ und ›Mike‹ sich inzwischen zu ihrem Kollegen gesellt hatten und abwartend am Garagentor standen, um meinem Start zuzusehen.
Mit grimmiger Entschlossenheit klemmte ich die Unterlippe zwischen die Zähne und repetierte im Geist, was mein Fahrlehrer mir vor fünf Jahren eingetrichtert hatte. Erst der Zündschlüssel. Kupplung. Es ging tatsächlich. Dann drückte ich auf das Gaspedal – in meiner Aufregung wohl etwas zu stark, denn der Wagen machte plötzlich einen heftigen Satz, der lebhaft an die Bewegung eines bockenden Esels erinnerte.
Natürlich, ich hatte mich gleich zu Anfang blamiert. Wenn bloß die Zuschauer nicht gewesen wären! Ich warf einen verstohlenen Blick durch die Scheibe. Mike, der rothaarige Bursche, grinste ungeniert von einem Ohr zum anderen. Die beiden Männer in den grünen Overalls waren schon höflicher. Sie verbissen sich zwar das Lachen, aber ich sah, wie es in ihren Gesichtern arbeitete. Nun, sie sollten merken, daß ich auch anders konnte!
Ich fuhr ein kurzes Stück; zwar holperte der Wagen immer noch etwas, aber es ging. Dann, als ich schalten wollte, erwischte ich versehentlich den rechten Fenstergriff.
»Verdammt nochmal!« murmelte ich inbrünstig.
In meiner Verwirrung tat ich das Dümmste, was ich tun konnte: Ich nahm den Fuß vom Gaspedal. Mitten auf der Lower Kevin Street, etwa fünfundzwanzig Meter von der Garage entfernt, starb mir der Wagen.
Es war wie verhext. Ich fühlte, wie mir das Blut ins Gesicht stieg. Schweißtropfen sammelten sich auf meiner Stirn; ich überlegte ernstlich, ob ich vielleicht einfach aussteigen, davonlaufen und dieses kleine Biest stehenlassen sollte? Dabei wagte ich nicht, mich umzusehen. Ein untrügliches Gefühl sagte mir, daß sie noch immer dort standen, am grünen Garagentor, und sich vor Lachen bogen. Wenn sie nur nicht herkamen, um mir noch einmal gute Ratschläge zu geben. Das hätte ich am allerwenigsten ertragen!
Wieder drehte ich den Zündschlüssel und verwünschte meine Naivität. Wie hatte ich mir jemals einbilden können, daß ich es schaffen würde, einfach einzusteigen und in einem fremden Wagen durch Irland zu fahren? Schließlich war ich nach meinem Führerschein nur dreimal hinter dem Steuer gesessen!
Aber nun fuhr er wieder, zu meiner eigenen Überraschung. Glücklicherweise gabelte sich vor mir die Straße: Ich konnte geradeaus weiterfahren oder nach rechts abbiegen. Natürlich zögerte ich keinen Augenblick, sondern erfaßte mit einem Seufzer der Erleichterung geistesgegenwärtig die gottgesandte Gelegenheit, von der Bildfläche zu verschwinden. In kühnem Fahrmanöver bog ich rechts ab und verdankte es wohl nur der auffallenden Farbe des Austins, daß der hinter mir kommende Wagen noch rechtzeitig bremste.
Sicher bin ich noch heute, nach so langer Zeit, die klassische Witzfigur im ›Phoenix Car Service‹.
Als ich außer Sichtweite war, konnte ich endlich wieder aufatmen. Ich nahm die erstbeste Chance wahr, den Austin am Straßenrand zu parken und mich etwas zu erholen. Erst nach etwa zehn Minuten, als ich zu zittern aufgehört hatte, startete ich wieder. Und diesmal ging es überraschend gut, wenn man von meinem ständigen Kampf mit der Knüppelschaltung absah. Immerhin, ich fuhr. Sehr langsam und mit leise klappernden Zähnen kreuzte ich durch die Randgebiete Dublins, ohne auf Richtungsanzeiger oder Straßennamen zu achten.
Einen Vorteil hatte meine mangelnde Fahrpraxis: Der Linksverkehr bereitete mir keine Schwierigkeiten – ganz einfach deshalb, weil ich noch nicht Zeit dazu gehabt hatte, mich in Deutschland an den Rechtsverkehr zu gewöhnen.
Vom Turm einer Kirche, an der ich vorüberfuhr, erklang eine Melodie aus hellen und dunklen Glockentönen. Die Glocken läuteten nicht, wie in Deutschland, es war ein richtiges Glockenspiel. Die tiefste Glocke, merkte ich schließlich, schlug die Stunde – es war Mittag. Endlich wagte ich es, den Blick ein paarmal kurz von der Straße zu wenden und Ausschau nach einer Telefonzelle zu halten. Vorläufig sah ich nichts als schmalbrüstige Häuser und verschnörkelte Beschriftungen über dunklen Schaufenstern. Und Trödlergegeschäfte, vollgestopft bis unter die Decke.
Das war mein Stichwort; an einem Trödlerladen kann ich einfach nicht achtlos vorübergehen. Ich parkte den Austin sehr vorsichtig und zu meiner eigenen Verwunderung auch recht geschickt am Straßenrand. Über einen Mangel an Parkplätzen konnte man sich hier jedenfalls nicht beklagen! Dann klemmte ich meine beiden Reiseführer und den Stadtplan unter den Arm und versperrte die Wagentür unter einigen Schwierigkeiten. Als ich den Bürgersteig betrat, war ich grenzenlos erleichtert, wieder auf meinen eigenen Füßen zu stehen.