Andrew Lane
Young Sherlock Holmes 3
Eiskalter Tod
Aus dem Englischen von Christian Dreller
Fischer e-books
Andrew Lane ist der Autor von mehr als zwanzig Büchern, unter anderem Romanen zu bekannten TV-Serien wie ›Doctor Who‹ und ›Torchwood‹. Einige davon hat er unter Pseudonym veröffentlicht. Andrew Lane lebt mit seiner Frau, seinem Sohn und einer riesigen Sammlung von Sherlock-Holmes-Büchern in Dorset.
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Umschlagabbildung: bürosüd°, München
Deutsche Erstausgabe
Erschienen bei FISCHER FJB
Die englische Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel ›Young Sherlock Holmes – Black Ice‹ bei Macmillan Children’s Books, London, England
Copyright © Andrew Lane 2011
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2013
Lektorat: Lana Schmitz
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-402518-6
Die auf der Wasseroberfläche funkelnden Sonnenstrahlen sandten grell blitzende Lichtdolche in Sherlocks Augen. Unablässig vor sich hinblinzelnd, versuchte er, die Lider halb geschlossen zu halten, um die blendende Helligkeit, so gut es ging, auf ein erträgliches Maß zu reduzieren.
Sanft wiegte sich das winzige Ruderboot in der Mitte des Sees, der ringsherum in jäh ansteigendes, mit vereinzelten Bäumen und Büschen bewachsenes Grasland eingebettet war. Fast wirkte es so, als würde sich das Gewässer inmitten einer grünen Schüssel befinden, über die sich ein Deckel aus wolkenlosem blauen Himmel spannte.
Das Gesicht nach achtern gewandt, saß Sherlock im Bug des Bootes, Amyus Crowe hingegen hatte am Heck Platz genommen. Das Gewicht des großen Amerikaners sorgte dafür, dass das Boot an seinem Ende tief ins Wasser gesunken war, während sich Sherlocks Seite leicht erhob. Crowe hielt eine Angelrute über den Bootsrand. Eine dünne Schnur verband die Rutenspitze mit einem kleinen Federbüschel, das auf der Wasseroberfläche trieb: ein Köder, der für einen hungrigen Fisch wie eine Fliege aussehen mochte.
Zwischen ihnen befand sich ein leerer Weidenkorb auf dem Boden des Bootes.
»Warum haben Sie eigentlich nur eine Angel mitgebracht?«, fragte Sherlock missmutig.
»Weil das hier kein Angelausflug werden soll«, erwiderte Crowe mit heiterer Stimme, ohne den Blick von dem dahintreibenden Köder abzuwenden. »So sehr es vielleicht auch danach aussehen mag. Nein, dies ist eine Lektion in praktischer Lebenskunde.«
»Hätte ich mir ja denken können«, brummte Sherlock.
»Die zugegebenermaßen auch dazu dient, Virginia und mir heute ein Abendessen zu verschaffen«, räumte Crowe ein. »Schließlich versuche ich nach Möglichkeit immer, es so zu deichseln, dass ich mit dem, was ich tue, mehrere Ziele gleichzeitig erreiche.«
»Dann sitze ich hier also einfach nur rum?«, sagte Sherlock. »Und sehe zu, wie Sie sich Ihr Abendessen angeln?«
»So ungefähr«, antwortete Crowe schmunzelnd.
»Und wird das lange dauern?«
»Nun ja, hängt ganz davon ab.«
»Von was?«
»Davon, ob ich ein guter Angler bin oder nicht.«
»Und was macht Sie zu einem guten Angler?«, fragte Sherlock, der sich die Frage einfach nicht verkneifen konnte, obwohl ihm vollkommen klar war, dass er Crowe damit in die Hände spielte.
Statt zu antworten, betätigte dieser den knöchernen Kurbelgriff der Messingangelrolle und holte fachmännisch die Schnur ein. Der gefiederte Köder schoss mit einem Satz aus dem Wasser und schwebte scheinbar schwerelos einen kurzen Moment in der Luft. Glitzernde Wassertropfen perlten von ihm herab und trafen auf die Oberfläche des Sees. Mit einem Ruck riss Crowe die Angelrute zurück. Die Schnur flog über seinen Kopf hinweg, und der Köder sauste in einer schemenhaften Bewegung davon. Gleich darauf ließ er die Rute jedoch schon wieder nach vorne schnellen, und der Köder beschrieb vor dem Hintergrund des tiefblauen Himmels eine achtförmige Figur, während er über Crowes Kopf hinwegflog und mit einem leisen Platschen an einer anderen Stelle des Sees wieder ins Wasser plumpste. Lächelnd beobachtete Crowe, wie der Köder sanft dahintrieb.
»Jeder gute Angler weiß«, begann Crowe, »dass Fische sich je nach Temperatur und Jahreszeit unterschiedlich verhalten. Ganz früh morgens im Frühling zum Beispiel beißen sie überhaupt nicht. Da die Sonne dann noch tief steht und die schräg einfallenden Strahlen zum großen Teil von der Wasseroberfläche reflektiert werden, ist das Wasser kalt und erwärmt sich kaum. Das macht die Fische träge. Ihr Blut ist nämlich ebenfalls kalt und fließt langsam, weil ihre Bluttemperatur von der Umgebung beeinflusst wird. Warte aber bis zum späten Morgen oder Mittag, und die Sache sieht allmählich anders aus. Dann werden die Fische nämlich hin und wieder anbeißen. Denn die senkrecht aufs Wasser scheinende Sonne erwärmt nun die oberen Wasserschichten, wodurch auch die Fische lebhafter werden. Natürlich versetzt der Wind das wärmere Oberflächenwasser sowie die über dem Wasser fliegenden Beutetiere wie Mücken und Fliegen in ständige Bewegung. Als Angler musst du diesen Bewegungen folgen. Dort, wo das Wasser noch kalt ist oder es kein Futter gibt, macht das Angeln keinen Sinn. Aber alle diese Faktoren können sich je nach Jahreszeit ändern.«
»Soll ich mir Notizen machen?«, fragte Sherlock.
»Du hast doch einen Kopf auf den Schultern – gebrauche ihn und präge dir die Fakten ein«, schnaubte Crowe und fuhr fort. »Im Winter zum Beispiel, wenn das Wasser noch kälter und an der Oberfläche vielleicht sogar gefroren ist, bewegen sich die Fische kaum von der Stelle. Sie leben dann zum großen Teil von den Reserven, die sie sich im Herbst angefressen haben. Der Winter ist also keine gute Zeit zum Angeln. Also, was hast du bis jetzt gelernt?«
»Na schön.« Rasch ging Sherlock im Kopf noch einmal die Fakten durch. »Im Frühling versprechen der späte Morgen oder der Nachmittag am meisten Erfolg. Und im Winter ist man besser dran, wenn man gleich auf den Markt geht und beim Fischhändler kauft.«
Crowe lachte. »Eine gute Zusammenfassung der Fakten. Aber denk daran, was sich hinter den Fakten verbirgt. Wie lautet die Regel, die die Fakten erklärt?«
Sherlock dachte einen Augenblick nach. »Das Wesentliche ist die Wassertemperatur«, sagte er schließlich. »Und die hängt davon ab, wie warm die Sonne scheint und ob die Sonnenstrahlen direkt von oben oder in schrägem Winkel aufs Wasser fallen. Man muss sich also klarmachen, wo die Sonne steht, herausfinden, an welcher Stelle mit wärmeren Wasserschichten zu rechnen ist, und schon weiß man, wo sich der Fisch befindet.«
»Ziemlich richtig.«
Der Köder ruckte leicht. Crowe beugte sich vor und starrte mit seinen verwaschenen blauen Augen unverwandt auf die Stelle.
»Jede Fischart bevorzugt eine andere Temperatur«, fuhr er leise fort. »Ein guter Angler wird sein Wissen um die bevorzugte Wassertemperatur des Fisches mit seinen Kenntnissen über die Jahres- und Tageszeit sowie die Strömungsverhältnisse kombinieren, um zu eruieren, welche Fischart sich zu einer bestimmten Jahreszeit in einem bestimmten Gewässerbereich aufhält.«
»Das ist alles äußerst interessant«, wandte Sherlock vorsichtig ein. »Aber ich werde das Angeln wohl kaum zu meinem neuen Hobby machen. Wie es aussieht, besteht das Ganze aus jeder Menge Warterei, dass etwas passiert. Wenn ich schon so lange Zeit herumsitzen muss, würde ich lieber ein gutes Buch als eine Angelrute in Händen halten.«
»Der Punkt, auf den ich in meiner eigenen ländlich-schlichten Art eigentlich hinaus will«, erwiderte Crowe geduldig, »ist, dass du in einer strukturierten Weise vorgehen musst, wenn du etwas fangen willst. Du musst die Gewohnheiten deiner Beute kennen und wissen, wie diese sich je nach den örtlichen Gegebenheiten ändern. Die Lektion lässt sich ebenso gut auf Menschen wie auf Fische anwenden. Menschen haben je nach Tageszeit bestimmte Vorlieben, bevorzugte Aufenthaltsorte, und diese Vorlieben können, zum Beispiel wenn die Sonne scheint, anders aussehen, als wenn es regnet oder wenn die Zielperson hungrig statt satt ist. Du musst dein Zielobjekt genau kennenlernen, um vorherzusagen, wo es sich höchstwahrscheinlich aufhalten wird. Dann kannst du einen Köder einsetzen – wie ich zum Beispiel einen aus dieser schönen Sammlung von Köderfedern hier –, irgendetwas eben, dem deine Beute einfach nicht widerstehen kann.«
»Lektion verstanden«, sagte Sherlock. »Können wir jetzt zurück?«
»Noch nicht. Ich habe immer noch kein Abendessen.« Nach irgendetwas Ausschau haltend, glitt Crowes Blick über die Oberfläche des Sees. »Sobald du einmal die Gewohnheiten deiner Beute kennst, musst du auf Zeichen ihrer Anwesenheit achten. Sie wird nicht so einfach mir nichts dir nichts plötzlich vor deiner Nase auftauchen. Nein, sie hält sich versteckt, ist auf der Hut, und du musst nach den subtilen Spuren Ausschau halten, die dir verraten, dass sie in der Nähe ist.« Seine Augen verharrten an einer etwa vier Meter vom Boot entfernten Stelle auf der Wasseroberfläche.
»Sieh zum Beispiel einmal dort hinüber«, fuhr er fort und wies mit einem Nicken auf die Stelle. »Was siehst du?«
Sherlock starrte. »Wasser?«
»Was noch?«
Er kniff die Augen zum Schutz vor dem blendenden Sonnenlicht zusammen und versuchte dahinterzukommen, was Crowe wohl gemeint haben könnte. Einen Moment schien es so, als würde sich eine winzige Stelle an der Wasseroberfläche ganz leicht nach unten senken. Wenn auch nur einen ganz kurzen Augenblick, bevor alles wieder normal aussah.
Und sobald er wusste, wonach er Ausschau halten musste, entdeckte Sherlock auf einmal mehrere solcher Stellen – weitere jähe und kurze Momente, während deren sich die Oberfläche des Sees leicht einzudellen schien.
»Was ist das?«
»Das passiert, wenn die Fische – in diesem Fall eine Forelle – mit dem Maul nach oben knapp unterhalb der Wasseroberfläche lauern und warten, dass Insektenlarven vorbeitreiben. Sobald sie eine entdecken, saugen sie Wasser ins Maul und mit ihm die Larve. Alles, was man auf der Oberfläche sehen kann, ist diese kleine Delle, während das Wasser eingesogen und die Larve herabgezogen wird. Und das, mein Freund, verrät uns, wo sich die Forelle befindet.«
Mit einem kurzen Ruck riss er an der Angelrute, und der von der Schnur gezogene Köder trieb über die Oberfläche des Sees. Schließlich durchquerte er die Zone, in der die Forelle die Larven eingesogen hatte. Einen Moment lang passierte gar nichts. Dann jedoch verschwand der Köder plötzlich mit einem Ruck unter der Wasseroberfläche. Crowe riss heftig an der Angel und kurbelte, so schnell er konnte, an der Angelrolle, um die Schnur einzuholen. Gleich darauf schoss eine Kaskade silbern glitzernder Wassertropfen aus der Oberfläche empor, in deren Mitte sich ein Fisch wand. Im Maul des braun gesprenkelten Tieres hatte sich der Haken verfangen, der inmitten des Federköders verborgen gewesen war. Mit einer gekonnten kurzen Bewegung ließ Crowe die Angelrute nach oben schnippen, woraufhin der Fisch förmlich ins Boot hineinflog. Verzweifelt zappelte er auf den Bootsplanken herum.
Die Angel immer noch mit einer Hand haltend, damit sie nicht ins Wasser fiel, langte Crowe mit der anderen hinter sich und holte einen Holzknüppel unter seiner Sitzbank hervor. Ein kurzer Hieb und der Fisch rührte sich nicht mehr.
»Also, was haben wir heute alles behandelt?«, fragte er mit heiterer Stimme, als er den Haken aus dem Maul der Forelle löste. »Kenne die Gewohnheiten deiner Beute, die Köder, auf die sie am besten anspricht, sowie die bestimmten Anzeichen, die auf ihre Nähe hindeuten. Wenn du all das beachtest, stehen die Chancen für eine erfolgreiche Jagd optimal.«
»Aber wann, bitteschön, soll ich denn jemals Jagd auf etwas oder jemanden machen?«, wandte Sherlock ein, der das Wesentliche der Lektion begriff, aber sich nicht recht sicher war, was er damit anfangen sollte. »Ich weiß, dass Sie früher in Amerika einmal Kopfgeldjäger waren. Aber ich bezweifle doch sehr, dass ich jemals diese Laufbahn einschlagen werde. Wahrscheinlicher ist es, dass ich irgendwann mal als Banker oder so etwas ende.« Bereits in dem Augenblick, als er die Worte aussprach, spürte er, wie ihm schwer ums Herz wurde. Das Letzte auf der Welt, das er sich wünschte, war eine langweilige Schreibtischarbeit. Doch er hatte auch keine Ahnung, was es sonst noch für ihn geben mochte.
»Oh, das Leben ist voller Dinge, auf die man womöglich Jagd machen möchte«, sagte Crowe, während er den Fisch in den Weidenkorb warf und anschließend wieder den Deckel darauf platzierte. »Möglicherweise möchtest du Investoren für eine gewinnbringende Geschäftsidee aquirieren, die du ausgetüftelt hast. Irgendwann spielst du eventuell einmal mit dem Gedanken, dir eine Frau zu suchen. Oder du musst einen Kerl aufspüren, der dir Geld schuldet. Es gibt alle möglichen Gründe, jemandem nachzustellen. Die wesentlichen Prinzipien bleiben jedoch immer gleich.«
Crowe musterte Sherlock unter seinen buschigen Augenbrauen hervor und fügte hinzu: »Und wenn es in deinem Leben weiter so zugeht wie in den letzten Monaten, ist nicht auszuschließen, dass du es gelegentlich wieder mit Mördern und anderen Kriminellen zu tun bekommst.« Er griff erneut zur Angelrute und ließ den Köder in einer Achter-Figur über seinen Kopf wirbeln und ins Wasser plumpsen. »Und letztendlich gibt es schließlich ja immer noch Rehwild, Wildschweine und Fische.«
Mit diesen Worten machte er es sich wieder mit halb geschlossenen Augen auf der Sitzbank bequem und widmete sich in der nächsten halben Stunde dem Angeln, während Sherlock einfach nur zusah.
Nachdem zwei weitere Fische gefangen, ins Jenseits befördert und in den Weidenkorb verfrachtet worden waren, legte Amyus Crowe die Angel im Bugraum des Bootes ab und streckte sich. »Zeit heimzukehren, denke ich«, verkündete er. »Es sei denn, du möchtest es selbst einmal probieren?«
»Was sollte ich mit einem Fisch anfangen?«, fragte Sherlock. »Meine Tante und mein Onkel haben eine Köchin. Außerdem werden Frühstück, Mittag- und Abendessen einfach serviert, ohne dass ich mir über irgendetwas den Kopf zerbrechen muss.«
»Jemand muss schließlich die Tiere fangen, die im Kochtopf landen«, entgegnete Crowe. »Und eines Tages wirst du womöglich doch in die Verlegenheit kommen, dir Gedanken darüber zu machen, wo die nächste Mahlzeit herkommt.« Er lächelte. »Oder vielleicht möchtest du ja die reizende Mrs Eglantine mit einer schönen fetten Forelle zum Abendessen überraschen.«
»Klar, oder ich könnte ihr das Ding unter die Bettdecke stecken«, murmelte Sherlock. »Wie wär’s?«
»Verlockender Gedanke!«, lachte Crowe. »Aber nein, lieber nicht.«
Crowe packte die Riemen und ruderte das Boot zum Ufer zurück, wo er es an einem in den Grund gerammten Pfahl vertäute. Dann machten sie sich auf den Rückweg.
Ihr Weg führte sie den steilen Hang der Senke hinauf, in dem sich der See befand. Crowe, der den Weidenkorb trug, drückte aufs Tempo, und trotz seines gewaltigen Körpers erzeugte er überraschend wenig Geräusche, während sie sich fortbewegten. Sherlock, mittlerweile sowohl müde als auch leicht gelangweilt, folgte ihm.
Dann erreichten sie die Spitze des Hanges. Hinter ihnen fiel das Gelände steil ab, während es sich vor ihnen flach erstreckte. Crowe blieb stehen, damit Sherlock zu ihm aufschließen konnte.
»Noch ein Punkt zum Merken«, begrüßte er ihn und wies dabei auf die blaue Oberfläche des Sees. »Solltest du einmal auf der Jagd sein, komm nicht in die Versuchung, an einer Stelle wie dieser hier stehen zu bleiben. Weder um die Aussicht zu genießen noch um dir einen besseren Überblick über die Umgebung zu verschaffen. Stell dir nur vor, wie deutlich sich hier auf dem Grat unsere Silhouetten für die Tiere im Wald abzeichnen. Wir sind meilenweit zu sehen.«
Bevor Sherlock irgendetwas erwidern konnte, setzte Crowe sich wieder in Bewegung und drang in das Dickicht vor ihnen ein. Sherlock wunderte sich, woher Crowe ohne Kompass wusste, welchen Weg er einzuschlagen hatte. Er war schon kurz davor zu fragen, doch dann beschloss er, es selbst herauszufinden. Alles, was Crowe zur Orientierung zur Verfügung stand, war die Umgebung. Die Sonne ging im Osten auf und im Westen unter. Aber das war nun zur Mittagszeit, während der sie direkt über ihren Köpfen stand, keine große Hilfe. Oder etwa doch? Eine Sekunde des Nachdenkens ließ ihn erkennen, dass sich die Sonne tatsächlich nur in Äquatorgegenden mittags direkt über einem befand. In einem Land der nördlichen Hemisphäre, wie zum Beispiel England, lag der nächstliegende Punkt am Äquator in direkter südlicher Richtung. Folglich läge die Sonne zur Mittagszeit südlich der Stelle, die sich direkt über ihren Köpfen befand. So stellte Crowe es vermutlich an.
»Und außerdem neigt Moos dazu, auf der nördlichen Seite von Baumstämmen besser zu wachsen«, rief Crowe ihm über die Schulter zu. »Dort ist es schattiger und feuchter.«
»Wie machen Sie das?«, rief Sherlock.
»Was?«
»Das auszusprechen, was die Leute denken, und sie genau im richtigen Augenblick zu unterbrechen?«
»Ach, das«, lachte Crowe. »Das ist ein Trick, den ich dir ein andermal erkläre.«
Sie marschierten weiter durch den Wald, und Sherlock verlor allmählich das Zeitgefühl. Dann aber blieb Crowe plötzlich stehen. Er ging in die Hocke und setzte seinen Korb ab.
»Was schließt du daraus?«, fragte er nur.
Sherlock hockte sich neben ihn. Im weichen Boden unter einem Baum entdeckte er einen Hufabdruck, klein und herzförmig.
»Hier ist ein Reh entlanggekommen?«, probierte er sein Glück und versuchte mittels dessen, was er sah, auf das Tier zu schließen, das vor kurzem hier gewesen war.
»In der Tat, aber in welche Richtung ist es gegangen? Und wie alt war es?«
Sherlock begutachtete den Abdruck genauer. Doch trotz aller Mühe wollte es ihm nicht recht gelingen, sich die exakte Form eines Rehhufes auszumalen.
»Dort entlang?«, riet er und deutete in die Richtung des abgerundeten Teils der Hufspur.
»In die andere Richtung«, korrigierte Crowe ihn. »Du denkst wahrscheinlich an einen Pferdehuf, bei dem der runde Bereich nach vorne zeigt. Der spitze Teil eines Rehhufes weist jedoch immer in die Richtung, in die das Tier sich bewegt. Und dies hier ist ein ziemlich junges Reh. Das erkennst du an den schmalen, ovalen Konturen, die hinter den Hufabdrücken im Boden zu erkennen sind. Die stammen von den Afterklauen.«
Er blickte sich um. »Sieh dort hinüber«, sagte er und wies mit einem Kopfnicken zur Seite. »Kannst du den geraden Pfad erkennen, der sich durch das Gebüsch und das Gras zieht?«
Sherlock blickte zu der Stelle. Tatsächlich! Crowe hatte recht – da war ein Pfad, kaum wahrnehmbar und nur dadurch zu erkennen, dass die Zweige und Gräser etwas zur Seite gedrückt waren. Seiner Schätzung nach war er nicht viel breiter als zehn Zentimeter.
»Auf der Nahrungssuche bewegt sich Rehwild den ganzen Tag lang zwischen Schlafplatz und der bevorzugten Wasserstelle hin und her«, erklärte Crowe, der immer noch in der Hocke saß. »Sobald sie einmal eine sichere Route gefunden haben, benutzen sie diese so lange, bis sie von irgendetwas gestört werden. Was sagt dir das?«
»Dass Beutetiere dazu neigen, an denselben Gewohnheiten festzuhalten, es sei denn, sie werden dabei gestört?«, erwiderte Sherlock vorsichtig.
»Ganz richtig. Denke immer daran. Wenn du auf der Suche nach einem Mann bist, der einen Drink zu schätzen weiß, sieh dich in den Tavernen um. Bist du hinter jemandem her, der dem Wettspiel verfallen ist, versuch’s auf den Pferderennbahnen. Sie alle jedoch müssen dabei irgendwie von A nach B kommen. Sprich also mit Kutschern und Fahrkartenkontrolleuren und schau, ob sie sich an deinen Mann erinnern.«
Er richtete sich auf, nahm wieder den Korb an sich und setzte seinen Weg zwischen den Bäumen und Büschen fort. Während Sherlock ihm folgte, blickte er sich um. Nun, da Crowe aufgezeigt hatte, worauf zu achten war, konnte er verschiedene Spuren auf dem Boden ausmachen: Manche stammten von Rehwild in unterschiedlicher Größe, einige hingegen gehörten offensichtlich zu anderen Tieren wie vielleicht Wildschweinen oder Dachsen und Füchsen. Auch konnte er nun Pfade durch das Unterholz an Stellen ausmachen, wo Buschwerk und Gräser durch die Körper der Tiere beiseitegeschoben worden waren. Zuvor Unsichtbares war plötzlich klar zu erkennen, und in der gleichen Szenerie wie zuvor registrierten seine Augen nun auf einmal viel mehr.
Sie brauchten noch eine halbe Stunde, bis sie schließlich die Tore von Holmes Manor erreichten.
»Ich werde mich hier von dir verabschieden«, sagte Crowe. »Lass uns morgen weitermachen. Es gibt noch einiges über das Spurenlesen und die Jagd zu lernen.«
»Wollen Sie nicht kurz mit reinkommen?«, fragte Sherlock. »Ich könnte die Köchin bitten, uns eine Kanne Tee zu machen, und eines der Mädchen könnte die Fische für Sie ausnehmen.«
»Sehr nett von dir«, knurrte Crowe. »Das Angebot nehme ich gerne an.«
Zusammen näherten sie sich auf dem kiesbedeckten Zufahrtsweg der beeindruckenden Fassade von Holmes Manor. Dieses Mal ging Sherlock voran.
Ohne anzuklopfen, drückte er die Eingangstür auf.
»Mrs Eglantine!«, rief er kühn.
Eine schwarze Gestalt löste sich aus den dunklen Schatten am Fuß der großen Freitreppe und kam wie ein Geist auf sie zugeglitten.
»Junger Master Holmes«, antwortete ihm die Hauswirtschafterin mit ihrer spröden Stimme, die an trockenes Herbstlaub erinnerte. »Sie scheinen dieses Haus eher als Hotel denn als Residenz Ihrer Familie zu betrachten.«
»Und Sie scheinen alles eher so zu betrachten, als wären Sie keine Bedienstete, sondern ein Mitglied der Familie«, konterte Sherlock mit kalter Stimme, aber klopfendem Herzen. »Mr Crowe wird den Nachmittagstee mit mir einnehmen. Bitte treffen Sie die entsprechenden Vorkehrungen.« Er stand da und wartete, unsicher, ob sie seine Anordnungen befolgen oder ihn mit einem scharfen Wort abkanzeln würde. Er hatte das Gefühl, dass sie sich selbst auch nicht so sicher war. Aber einen Augenblick später wandte sie sich um und steuerte wortlos auf den Küchentrakt zu.
Plötzlich überkam ihn das unwiderstehliche Verlangen, die Dinge noch ein wenig auf die Spitze zu treiben und die Frau zu piesacken, die während des letzten Jahres so viel dazu beigetragen hatte, ihm das Leben schwerzumachen.
»Oh«, fügte er hinzu und wies mit einer Geste auf den Weidenkorb zu Amyus Crowes Füßen. »Mr Crowe hat ein paar Fische gefangen. Seien Sie doch so gut und veranlassen Sie, dass man sie ausnimmt und filetiert.«
Mrs Eglantine drehte sich mit einem Gesichtsausdruck um, der frische Milch zum Gerinnen hätte bringen können. Ihre Lippen kräuselten sich, während sie sich, offensichtlich unter größter Willensanstrengung, die Antwort verkniff, die ihr eigentlich auf der Zunge lag. »Natürlich«, brachte sie schließlich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Ich werde jemanden nach dem Korb schicken. Vielleicht wären Sie dann so gut, ihn hier zu lassen und sich in den Empfangsraum zu begeben.«
Dann schien sie wieder mit den Schatten zu verschmelzen.
»Du solltest diese Frau im Auge behalten«, sagte Amyus Crowe leise. »Wenn sie dich ansieht, liegt etwas Gewalttätiges in ihrem Blick.«
»Ich kann nicht verstehen, warum meine Tante und mein Onkel ihre Anwesenheit tolerieren«, erwiderte Sherlock. »Man kann sie ja nicht einmal als besonders gute Hauswirtschafterin bezeichnen. Die anderen Bediensteten haben so große Angst vor ihr, dass sie kaum in der Lage sind, ihre Aufgaben ordentlich zu erledigen. Die Spülerinnen zum Beispiel haben in ihrer Anwesenheit so zittrige Hände, dass sie dauernd Geschirr fallen lassen.«
»In der Angelegenheit könnten ein paar Nachforschungen nicht schaden«, sinnierte Crowe. »Wenn sie, wie du sagst, keine besonders gute Hauswirtschafterin ist, muss es einen anderen zwingenden Grund geben, warum sie trotz ihres sauertöpfischen Charakters bleiben darf. Vielleicht stehen deine Tante und dein Onkel irgendwie in ihrer Schuld, und dies ist die Art, sie abzubezahlen. Oder möglicherweise ist sie in irgendetwas eingeweiht, das deine Familie lieber geheim halten will, und sie sichert sich mit einer schönen kleinen Erpressung eine gemütliche Stellung.«
»Ich denke, Mycroft weiß es«, sagte Sherlock. Er musste an den Brief denken, den sein Bruder ihm geschickt hatte – letzten Sommer, als er das erste Mal nach Holmes Manor gekommen war. »Ich glaube, er wollte mich mal vor ihr warnen.«
»Dein Bruder weiß eine Menge Dinge«, antwortete Crowe lächelnd.
»Sie haben ihn früher einmal unterrichtet, nicht wahr?«, fragte Sherlock.
Crowe nickte.
»Haben Sie ihn auch mit zum Angeln genommen?«
Ein Lachanfall brachte Crowes normalerweise beherrschte Gesichtszüge förmlich zum Entgleisen.
»Nur einmal«, gab er dann zwischen einzelnen Kicherattacken zu. »Dein Bruder und die freie Natur sind nicht gerade per Du. Das war das erste und letzte Mal, dass ich jemanden beim Versuch erlebt habe, einen Fisch zu fangen, indem man ihn in sein ureigenstes Element verfolgt.«
»Er ist ins Wasser gehechtet, um einen Fisch zu fangen?«, fragte Sherlock und versuchte, sich die Szene vorzustellen.
»Er ist reingefallen. Beim Versuch, die Angelschnur einzuholen. Während ich ihn herauszog, schwor er, nie wieder den trockenen Boden zu verlassen, und wenn es sich dabei um eine gepflasterte Straße handelt, umso besser.« Er hielt inne. »Aber wenn du ihn fragen würdest, könnte er dir trotzdem die Futter- und Lebensgewohnheiten sämtlicher europäischer Fischarten herunterbeten. Er mag von physischen Anstrengungen vielleicht nicht erbaut sein, aber sein Verstand ist so scharf wie eine Rasierklinge.«
Sherlock lachte. »Lassen Sie uns in den Empfangsraum gehen«, sagte er dann. »Der Tee wird bald auf dem Weg sein.«
Der Empfangsraum grenzte gleich an die große Eingangshalle und lag an der Frontseite des Gebäudes. Sherlock warf sich in einen bequemen Sessel, während Crowe es sich auf einem Sofa gemütlich machte, das groß genug war, seinen gewaltigen Körper aufzunehmen. Es ächzte unter seinem Gewicht. Sherlocks Schätzung nach war Amyus Crowe vermutlich ebenso schwer wie Mycroft, nur dass es sich in Crowes Fall um reine Knochen und Muskeln handelte.
Ein sanftes Klopfen an der Tür kündigte ein Dienstmädchen an, das gleich darauf mit einem silbernen Tablett hereinkam. Darauf befanden sich eine Kanne mit Tee, zwei Tassen samt Untertassen, ein kleines Milchkännchen und ein Teller mit Keksen. Entweder war Mrs Eglantine ungewöhnlich generös gewesen oder eine der Bediensteten hatte eigenständig entschieden, dass sich der Gast willkommen fühlen sollte.
Doch auf dem Tablett lag auch noch ein schmaler weißer Umschlag.
»Ein Brief für Sie, Sir«, sagte das Dienstmädchen, ohne Sherlock anzusehen, während sie das Tablett auf einem Tisch absetzte. »Wünschen Sie sonst noch etwas?«
»Nein, vielen Dank.«
Als sie den Raum verließ, langte Sherlock hastig nach dem Umschlag. Er bekam nicht häufig Post in Holmes Manor, und wenn doch, so war sie meistens von …
»Mycroft!«
»Ist das eine Tatsache oder eine Schlussfolgerung?«, fragte Crowe.
Mit einer wedelnden Handbewegung präsentierte Sherlock ihm den Umschlag. »Ich erkenne die Handschrift, und der Poststempel stammt aus Westminster, wo sich sein Büro, seine Wohnung und sein Club befinden.«
Er riss den Umschlag auf, indem er die Lasche vom Wachssiegel löste.
»Sehen Sie!«, sagte er und hielt den Briefbogen in die Höhe. »Der wurde auf dem Briefpapier des Diogenes Clubs geschrieben.«
»Wirf noch mal einen Blick auf den Poststempel«, murmelte Crowe. »Welche Zeit ist da angegeben?«
»Fünfzehn Uhr dreißig, gestern Nachmittag«, erwiderte Sherlock verdutzt. »Wieso?«
Crowe musterte Sherlock mit ruhigem Blick. »Mitten am Nachmittag an einem Wochentag? Und er ist in seinem Club und schreibt Briefe, statt in seinem Büro zu sitzen. Ist das nicht ein etwas ungewöhnliches Verhalten für deinen Bruder?«
Sherlock dachte einen Augenblick lang nach. »Er hat mir mal erzählt, dass er zum Mittagessen häufig in seinen Club hinübergeht«, sagte er nach einer Weile. »Er muss den Brief während der Mittagszeit geschrieben und den Clubdiener beauftragt haben, das Schreiben für ihn zum Briefkasten zu bringen. Die Post wird dort wahrscheinlich am frühen Nachmittag eingesammelt worden und gegen drei Uhr in der Verteilerstelle angelangt sein. Eine halbe Stunde später ist er dann abgestempelt worden. Das alles klingt nicht gerade sehr verdächtig, oder?«
Crowe lächelte. »Nicht im Mindesten. Ich wollte auch eher darauf hinaus, dass sich aus einem einfachen Brief viele Fakten ableiten lassen. Hätte es sich zum Beispiel nicht um einen Westminster-Poststempel, sondern etwa einen aus Salisbury gehandelt, wäre das Ganze recht ungewöhnlich gewesen und hätte weitere Fragen aufgeworfen. Müssten wir davon ausgehen, dass dein Bruder tagsüber niemals seinen Schreibtisch verlässt – nicht einmal zum Mittagessen, was unwahrscheinlich ist, wie ich zugeben muss –, und das Schreiben wäre dennoch auf dem Clubbriefpapier verfasst worden, wäre dies ebenfalls ungewöhnlich. In diesem Fall könntest du vermuten, dass dein Bruder seine Stellung verloren hat. Oder dass ihn etwas so elementar beunruhigt hat, dass er nicht zur Arbeit erschienen oder früher gegangen ist.«
»Oder dass er vielleicht einfach nur Briefpapier aus dem Club mitgenommen hat, um es dann in seinem Büro zu benutzen«, stellte Sherlock klar.
Crowe musterte ihn stirnrunzelnd. »Vermutlich gibt es immer eine alternative Erklärung«, knurrte er schließlich leicht verlegen.
Sherlock begann, den Brief rasch zu überfliegen. Mit jedem Wort wuchs seine Erregung, bis er schließlich meinte, fast vor Fieber zu glühen.
Mein lieber Sherlock,
ich schreibe Dir in aller Eile, da ich gerade einen Steak-und-Kidney-Pudding erwarte und ich diesem die gebührende Aufmerksamkeit widmen möchte, bevor ich wieder ins Büro zurückkehre.
Ich hoffe, es geht Dir gut und die Narben von Deinen letzten Abenteuern sind mittlerweile verheilt. Auch hoffe ich, dass es unserer Tante und unserem Onkel gutgeht und dass sich unsere Mrs Eglantine nicht als allzu unangenehm erweist.
Es wird Dich sicherlich freuen zu hören, dass nun alle Vorkehrungen zu meiner Zufriedenheit getroffen sind, um die Fortsetzung Deiner Schulbildung in Holmes Manor zu erlauben.
Die Nachricht, dass Du niemals mehr zur Deepdene-Schule zurückmusst, wird für Dich vermutlich nicht allzu schockierend sein.
Amyus Crowe wird Dich weiterhin in den eher praktischen und sportlichen Aspekten des Lebens unterrichten, während sich Onkel Sherrinford bereit erklärt hat, die Verantwortung für Deine religiöse und literarische Bildung zu übernehmen. Bliebe nur noch die Mathematik, worüber ich noch nachdenken werde. Sobald ich diesbezüglich zu einer Entscheidung gekommen bin, werde ich es Dich wissen lassen. Das Ziel besteht natürlich darin, Dich innerhalb einer Zeitspanne von ein paar Jahren auf die Universität vorzubereiten.
Zu gegebener Zeit können wir dann besprechen, ob Du eher eine Vorliebe für Oxford oder Cambridge hast.
Heute Morgen ist übrigens ein Brief von Vater eingetroffen. Er muss ihn aufgegeben haben, als er in Indien angekommen ist, da er darin alles beschreibt, was er auf der Reise erlebt hat. Ich bin sicher, dass Du den Brief lieber selbst lesen möchtest, als alles von mir erzählt zu bekommen, und deshalb lade ich Dich ein, morgen mit mir zu Mittag zu essen (natürlich in meinem Club).
Bitte richte Mr Crowe aus, dass auch er eingeladen ist: Es gibt da ein paar Details bezüglich Deines Unterrichts, die ich mit ihm besprechen möchte. Der 9-Uhr-30-Zug von Farnham bringt euch so rechtzeitig nach Waterloo Station, dass wir uns um Punkt zwölf Uhr treffen können.
Ich freue mich schon darauf, Dich morgen zu sehen und alles über die Ereignisse zu hören, die Dir widerfahren sind, seitdem wir uns das letzte Mal gesehen haben.
Dein Dich liebender Bruder
Mycroft
»Und? Was Interessantes?«, fragte Crowe.
»Wir fahren nach London«, erwiderte Sherlock nur und grinste.
Als Sherlock am gleichen Nachmittag nach Farnham ritt, fiel leichter Regen. Der beharrliche Niederschlag sammelte sich in Pfützen auf der Straße und rann ihm den Nacken hinab, egal, wie sehr er auch den Kragen hochsteckte und enger knöpfte. Er saß auf dem Pferd, das er aus der Obhut von Baron Maupertuis »befreit« hatte – das Pferd, für das er immer noch einen Namen finden musste. Falls er das denn überhaupt jemals tun würde.
Er konnte einfach nicht verstehen, warum die Menschen ihren Tieren Namen geben mussten. Ob sie nun einen Namen hatten, eine Zahl oder gar nichts: Den Tieren war es egal. Außerdem implizierte ein Name ein gewisses Maß von Persönlichkeit und Gleichheit, das es eigentlich nicht geben sollte. Tiere waren nun einmal Tiere und Menschen Menschen.
Während sie sich der Ortschaft näherten und die Hufe seines Pferdes nur so durch die Pfützen platschten, ertappte Sherlock sich dabei, wie er über den seltsamen Unterschied zwischen Haus- und anderen Tieren nachdachte. Wenn es in Ordnung war, ein Rind in Form eines Beefsteaks zu verspeisen, warum konnte man dann nicht auch Katzen oder Pferde essen? Es schien keinerlei logischen Grund dafür zu geben, warum man das nicht sollte – soweit er wusste, war Pferdefleisch schließlich nicht giftig oder so was. Andererseits, wenn schon Katzen und Hunde von der Speisekarte gestrichen waren, warum waren dann nicht auch Kaninchen davor sicher, im Eintopf zu landen? Das ergab nicht den geringsten Sinn. Irgendjemand hatte eine willkürliche Linie durch das Tierreich gezogen und gesagt: »Also gut, die hier könnt ihr nach Herzenslust verspeisen, aber die da drüben werden spazieren geführt, gestreichelt, umsorgt und beerdigt, wenn sie tot sind.«
Während sich das Wasser allmählich seinen Weg durch jede Ritze seiner Kleidung bahnte, fragte er sich, ob in anderen Ländern wohl dieselben unlogischen Regeln galten. Gab es irgendwo auf der Welt Länder, deren Bewohner Pferde und Hunde aßen, aber vielleicht Kühe als heilig betrachteten? Wenn dem so war, deutete dies darauf hin, dass die ganze Sache bloß subjektiver, ja wenn nicht sogar rein willkürlicher Natur war. Würde sich jedoch herausstellen, dass in allen Ländern die gleichen Unterscheidungen existierten, sorgte vielleicht etwas in der menschlichen Natur dafür, dass Kühe als Nahrung und Pferde als Freunde betrachtet wurden.
Gedankenverloren tätschelte er den Hals seines Pferdes. Könnte er es jemals essen? Könnte er sich über ein saftiges Steak hermachen, im Wissen, dass er nur ein paar Stunden zuvor auf dem Rücken des Tieres gesessen hatte, von dem es stammte? Streng logisch betrachtet, konnte er nicht erkennen, was dagegen sprach. Aber tatsächlich empfand er bei der Vorstellung ein gewisses Unbehagen. Vielleicht wenn er am Verhungern wäre. Vielleicht wenn sie zu zweit in einen Blizzard gerieten und die einzige Chance zu überleben darin bestünde, das Pferd zu essen. Das würde Sinn ergeben.
Während das Pferd durch die ersten Ausläufer von Farnham trottete, machte sich ein verstörender Gedanke in ihm breit. Wenn er – jedenfalls im Prinzip – bereit war, sein Pferd zu essen, warum dann nicht auch seine Freunde? Wenn er und Matty zum Beispiel in einen Blizzard geraten würden …
Allein schon der Gedanke bereitete ihm Übelkeit, und rasch verdrängte er ihn. Doch ein unterschwelliger Zweifel blieb. Hinsichtlich Intelligenz und allgemeiner Entwicklungsstufe gab es, logisch betrachtet, beispielsweise zwischen Insekten und Menschen, eine fließende Skala. Fische und Frösche waren wohl näher an den Insekten dran, Hunde und Katzen jedoch am Menschen.
War es nicht das, was Mister Charles Darwin jüngst in seinem Buch Von der Entstehung der Arten dargelegt hatte? Ein Buch, über das sich sein Onkel Sherrinford vor ein paar Wochen beim Abendessen so entrüstet hatte? Nach Darwin waren Menschen lediglich eine andere Tierart und hatten nichts Spezielles, Gottgegebenes an sich. Wenn man jedoch die Religion aus der Diskussion ausklammerte, wenn man akzeptierte, dass Menschen nur Tiere waren, die Werkzeuge herstellen und sprechen konnten, warum durfte man dann nicht Menschen ebenso wie Kühe als Nahrung benutzen?
Zu viele Fragen, bei denen die Logik nicht im Geringsten weiterzuhelfen schien. Die Logik sagte ihm, dass, wenn dieses in Ordnung wäre, jenes ebenfalls richtig sein müsste. Aber instinktiv wusste er, dass es da einen Unterschied gab. Es existierten Grenzen. Das Problem war nur, dass er nicht wusste, woher diese Grenzen kamen oder wie man sie einer vernünftigen analytischen Betrachtung unterziehen konnte.
Und alles nur, weil er seinem Pferd keinen Namen gegeben hatte.
»Ich glaube, ich werde dich Philadelphia nennen«, murmelte er und tätschelte erneut den Hals des Tieres.
Er lächelte. Was Namen anbelangte, so waren sie häufig mit ziemlich hoher Bedeutung verbunden. Virginia, Amyus Crowes Tochter, hatte ihr Pferd Sandia schließlich nach einer Gebirgskette in Amerika benannt, warum also sollte er dann nicht sein Pferd nach einer amerikanischen Stadt benennen? Der Zug, in den es Virginia, Matty und ihn vor einigen Monaten verschlagen hatte, nachdem Matty von den Agenten Duke Balthassars entführt worden war, gehörte zur Philadelphia Line. Und der Name würde ihn immer daran erinnern, was sie zusammen durchgemacht hatten. Außerdem lautete die Kurzform von Philadelphia Philly, und das gleich klingende Wort »Filly« war ein anderer Name für ein junges Stutenfohlen. Somit war es auch als eine Art Wortspiel zu verstehen. Das Ganze funktionierte also, von welcher Seite man auch immer es betrachtete.
»Philadelphia also«, sagte er. Das Pferd gab einen wiehernden Laut von sich, als hätte es alles verstanden und würde zustimmen. Was natürlich wirklich nur in Sherlocks Einbildung so war.
Mittlerweile hatten sie das Zentrum von Farnham erreicht. Sherlock band sein Pferd – band Philadelphia – unweit des Getreidemarktes an und schlenderte auf der Suche nach Matty unter den Ziegelsteinkolonnaden dahin. Mittlerweile kannte er Mattys Gewohnheiten und wusste, wo er ihn zu jeder Tages- und Nachtzeit finden konnte. Der elternlose Junge schien in so etwas wie eine Alltagsroutine verfallen zu sein. Anstatt auf seinem Kanalboot weiterzuziehen, um nach neuen Chancen in anderen Städten Ausschau zu halten, hatte er sich in Farnham niedergelassen, zumindest für eine Weile. Insgeheim hoffte Sherlock, dass er der Grund dafür war – beziehungsweise ihre Freundschaft. Er mochte Matty, und er würde ihn vermissen, wenn – oder falls – er fortging.
Matty saß am Fluss, anscheinend ohne etwas Besonderes zu beobachten. Sherlock allerdings wusste, dass er auf einen bestimmten Frachtkahn wartete. Dieser kam von der Küste und brachte regelmäßig Kisten mit Fisch nach Farnham, der auf zerstoßenem Eis gekühlt wurde. Matty hatte spitz bekommen, dass hin und wieder einmal eine Kiste runterfiel und kaputtging. Und dass sich aus den Trümmern dann ein oder zwei Fische stibitzen ließen, ehe ihn jemand daran hindern konnte. Sherlock fragte sich manchmal, ob Matty den Ladearbeitern nicht gelegentlich absichtlich in die Quere kam, damit ihnen die Kisten entglitten und zu Boden fielen. Aber er fragte niemals nach. Es gab eben Dinge auf der Welt, die man besser nicht wusste.
»Hi«, begrüßte Matty ihn. »Hab mich schon gefragt, ob du noch mal auftauchst.«
»Ich fahre morgen nach London«, erwiderte Sherlock. Eigentlich hatte er vorgehabt, zuerst so etwas wie Konversation zu machen, zum Beispiel Matty zu fragen, wo er in letzter Zeit überall gewesen war und was er so gemacht hatte. Aber er konnte einfach nicht anders. Und Konversation war nicht gerade seine Stärke. »Ich muss zum Bahnhof und Fahrkarten besorgen.«
»Viel Glück dabei«, brummte Matty.
»Wie wär’s, wenn du mitkommst?«, bot Sherlock, in die Defensive geraten, an, obwohl er nicht sicher war, ob sich Mycrofts Einladung tatsächlich so weit erstreckte.
»Zum Bahnhof? Danke, hab ich schon gesehen.«
»Nach London!«, erwiderte Sherlock leicht genervt.
»Nach Mief-City bringen mich keine zehn Pferde mehr.« Matty schüttelte den Kopf. »Und außerdem erinner ich mich noch gut daran, was das letzte Mal passiert ist. Nachdem du und Ginny von diesem Kerl, diesem Baron Maupertuis, entführt worden seid, musste ich mit ihrem Vater die ganze Zeit allein verbringen. Mann, und da hat er doch tatsächlich versucht, mir das Lesen beizubringen!« Vor Entrüstung schwoll seine Stimme an. »Ich hab ihm gesagt, dass ich gar nicht lesen will. Aber er hat ununterbrochen mit ,ABC – Das tut doch gar nicht weh’ und lauter so Sprüchen auf mich eingeredet. Und dann mussten wir mit dem Boot nach Frankreich, um euch zu suchen, und da hat er einfach weitergemacht. Wollte gar nicht aufhören.«
»Ich denke, er unterrichtet eben gerne«, sagte Sherlock. »Und du warst das einzige Publikum.«
»Meinetwegen, aber den Fehler mache ich nicht noch mal.«
»Hast du Virginia gesehen?«, fragte Sherlock.
»Schon einige Tage nicht mehr.«
»Sollen wir sie suchen gehen?«
Die Augen immer noch auf den Kanal gerichtet, schüttelte Matty den Kopf. »Ne, ich will lieber was essen.«
»Ich könnte dir eine Schweinefleischpastete kaufen«, bot Sherlock an.
Einen Augenblick lang sah es so aus, als geriete Matty in Versuchung. Doch dann schüttelte er erneut den Kopf. »Du wirst nicht immer da sein«, sagte er. »Ich darf mich nicht darauf verlassen, dass mir ein anderer was zu essen besorgt. Ich muss das selbst schaffen. Also darf ich meine Talente nicht einrosten lassen. Nicht, wenn ich sichergehen will, jeder Zeit unbemerkt einen Blumenkohl oder einen Schinken organisieren zu können.«
»Aber es ist doch in Ordnung«, erwiderte Sherlock leise. »Es geht ja nicht um Mitleid, sondern Freundschaft.«
»Fühlt sich aber wie Mitleid an«, nuschelte Matty. »Und Mitleid akzeptier ich nicht. Niemals.«
Sherlock nickte. »Ich verstehe.« Er schaute sich um. »Ich werde jetzt mal zum Bahnhof rübergehen. Sehen wir uns nachher?«
»Hängt ganz davon ab, wann mein Mittagessen auftaucht«, erwiderte Matty finster.
Ohne richtig wahrzunehmen, wohin er sich eigentlich begab, zog Sherlock davon. Irgendwie verspürte er eine Unruhe in sich. Am liebsten hätte er sich sofort auf den Weg nach London gemacht. Aber er wusste, dass das bis zum nächsten Tag warten musste. Mycroft hatte sich in der Beziehung sehr bestimmt ausgedrückt.
Also schlenderte er eine Weile die High Street entlang und schob sich durch diverse Ansammlungen von Einheimischen, die entweder etwas kaufen oder verkaufen wollten oder einfach nur müßig auf ein Schwätzchen stehen geblieben waren. Er kam an Tavernen vorbei, in denen es hoch herging, obwohl es erst früher Nachmittag war, an Bäckereien, deren Schaufenster mit Backwerk überquollen, sowie an unterschiedlichsten Läden, in denen Obst und Gemüse, Werkzeuge, Saatgut oder erlesene und weniger erlesene Textilien feilgeboten wurden.
»Sherlock!«, hörte er plötzlich eine Stimme.
Überrascht wandte er sich um. Einen Moment lang erkannte er den großen schlanken Mann mit dem langen schwarzen Haar nicht, der ihn von der anderen Straßenseite aus anlächelte. Oder genauer gesagt, er wusste, dass er ihn kannte, er war sich nur nicht sicher, woher. Er musterte die Kleidung und die Hände des Mannes nach Zeichen, die auf seinen Beruf hindeuteten, so wie es Amyus Crowe ihm beigebracht hatte. Doch abgesehen von der abgewetzten linken Schulterpartie seiner geflickten Cordjacke und einzelnen, orangefarbenen Staubflecken unter seinen Fingernägeln waren keine Hinweise zu entdecken.
Obwohl …
»Mister Stone!«, rief er in dem Augenblick, als in seinem Gehirn die gesuchte Information aufblitzte. Den Spuren auf seiner Kleidung nach zu schließen, handelte es sich bei dem Mann um einen vom Glück verlassenen Violinisten.
Rufus Stones Lächeln wurde noch breiter und ließ den Goldzahn erkennen, an den sich Sherlock von ihrer gemeinsamen Fahrt über den Atlantik her erinnerte. Während der Reise, die sie erst nach New York und wenig später wieder zurück nach England geführt hatte, hatte Stone ihm zum Zeitvertreib das Violinenspiel beigebracht.
»Wie oft muss ich es dir denn noch sagen?«, rief Stone, als er sich daran machte, die Straße zu überqueren und dabei in permanentem Zick-Zack-Kurs vorbeiratternden Lastkarren und Pferdeäpfelhaufen auswich, die deren Zugtiere hinterlassen hatten. »Nur Arbeitgeber nennen mich Mister Stone. Und von dieser Spezies gab’s in den letzten Monaten weniger als ein Huhn Zähne im Schnabel hat.«
»Wie ist es Ihnen ergangen, seit sich unsere Wege in Southampton getrennt haben?« Sherlock versuchte, einen etwaigen mäkeligen Ton aus seiner Stimme herauszuhalten, es wie eine ganz normale Frage klingen zu lassen. Aber er war davon ausgegangen, dass Stone sich nach ihrer Ankunft in England eigentlich nach Farnham hatte begeben wollen, um sich dort als Geigenlehrer niederzulassen.
Stone verzog das Gesicht. »Tja, da muss ich wohl ein Geständnis machen. Ich war schon bereit, meinen Lebensmittelpunkt in diese Weltgegend hier zu verlegen. Doch dann wurde ich abgelenkt und bin stattdessen für ein paar Wochen nach Salisbury gegangen. Nur so viel sei gesagt, dass es da eine gewisse Schauspielerin und eine freie Stelle im Orchester des dortigen Theaters gab. Und somit die Chance, den ganzen Abend lang zu ihrem hübschen Gesicht emporzuschauen, während ich spielte und sie sich oben auf der Bühne das Herz aus dem Leib agierte.«
»Was ist dann passiert?«, fragte Sherlock.
»Selbiges Herz hat sie dann hübsch verpackt natürlich dem Hauptdarsteller geschenkt«, erwiderte Stone und verzog erneut das Gesicht. »So wie sie es eigentlich immer machen, getragen von den bewundernden Blicken ihrer Verehrer im Orchestergraben. Später habe ich herausgefunden, dass wir alle nur wegen ihr da waren. Und dass wir für das Privileg, dort zu sein, weniger als die Standardgage erhalten haben.« Er gab einen theatralischen Seufzer von sich. »Na schön. Wir leben und wir lernen. Also, was meinst du, hat dieser Teil von Hampshire noch Bedarf für einen guten Violinlehrer?«
»Ich denke schon«, antwortete Sherlock. »Es gibt eine Menge guter Schulen in der Gegend und ziemlich viele wohlhabende Familien.«
»Und was ist mit dir?«, fragte Stone. »Hast du mit dem Violinenunterricht weitergemacht?«
»Ich habe mich bisher lediglich nach einer günstigen Violine umgeschaut«, gestand Sherlock. »Apropos – wo ist eigentlich Ihre?«