Mit dir falle ich

Inka Lindberg

Mit dir falle ich

FISCHER E-Books

Inhalt

Über Inka Lindberg

Inka Lindberg, Jahrgang 1993, hat Anglistik und Vergleichende Literaturwissenschaften studiert und arbeitet heute als Moderatorin und Web-Video-Produzentin in Köln. Auf ihrem YouTube-Kanal spricht die Autorin unter dem Namen »einfach inka« über Liebe, Sex und Dating und nimmt somit die Rolle der virtuellen besten Freundin für mehr als 180.000 Menschen ein.

 

Weitere Informationen zum Kinder- und Jugendbuchprogramm der S. Fischer Verlage finden Sie unter www.fischerverlage.de

Über dieses Buch

Robyn weiß genau, was sie will – beim Dating und im Leben. Nach ihrem Maschinenbaustudium wird sie die Karriereleiter erklimmen und sich nie wieder Sorgen um Geld machen müssen. Von diesem Plan wird sie sich durch nichts und niemanden abbringen lassen. Erst recht nicht durch Finn, ihren unverschämt gutaussehenden Kommilitonen, der sein Bad-Boy-Image mehr als verdient hat – und der ganz offensichtlich auf sie steht. Aber kann eine Beziehung mit dem reichen Schönling wirklich gutgehen?

Impressum

Originalausgabe

Erschienen bei FISCHER E-Books

Frankfurt am Main, April 2021

 

© 2021 Fischer Kinder- und Jugendbuch Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main

 

Copyright der Gedichte (alphabetische Reihenfolge):

a.k. (@theloversdeath) (Seite 176), Melanie Budde (Seite 410), Silja Fröhling (Seite 213), Hannah Gottmann (Seite 217), Anna Lindner (Seite 395), Simone Lubello (Seite 19), Nele Machholz (Seiten 51, 130), Anouk Maier (Seite 289), Lara Marko (Seiten 185, 389), Vanessa Menge (Seite 197), Janna Schmidt (Seiten 104, 268), Ruth Franziska Supka (Seite 158), Julia Verstraelen (Seite 122), Jacqueline Wagner (Seiten 343, 365, 382), Natascha Zahner (Seite 400)

 

Lektorat: Anika Beer und Jacqueline Wagner

 

Covergestaltung: Alexander Kopainski

unter Verwendung von Motiven von Shutterstock

 

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

ISBN 978-3-7336-0403-5

Wenn du traumatisierende Erfahrungen mit emotionalem Missbrauch oder sexualisierten Übergriffen gemacht hast, können einige Passagen in diesem Buch triggernd wirken. Wenn es dir damit nicht gut geht, sprich mit einer Person deines Vertrauens. Auch hier kannst du Hilfe finden: www.hilfetelefon.de

»Das macht dann 19,20 €.« Abwartend fixierte die Kellnerin des kleinen Cafés erst mein Date, dann mich. Als weder Tim noch ich nach dem Portemonnaie griffen, rutschte mir das Herz in die Hose. Erwartete er etwa, dass ich bezahlte? Nein, das wäre doch komisch. Oder? Tim gehörte mit seinen karierten Hemden und gestriegelten straßenköterblonden Haaren eigentlich eher der alten Schule an, hielt einem die Tür auf und machte Komplimente für die neuen Schuhe, und das hier war unser erstes Date.

Er hatte mich wochenlang genervt, ob wir nicht mal miteinander ausgehen wollten. Eigentlich hielt ich mich von BWL-Schnöseln wie ihm fern, aber irgendwie hatte er es geschafft, mich mit seiner zuvorkommenden Art und den süßen Grübchen zu umgarnen. Nachdem die gefühlt Dutzend Tinder-Dates, die ich in der letzten Zeit gehabt hatte, allesamt eine Katastrophe gewesen waren, hatte ich mich nach ein wenig Stabilität gesehnt. Plötzlich schien die Aussicht darauf, einen rationalen Karriere-Typen zu daten, gar nicht mehr so schlimm. Vor allem, da die letzten Wochen wirklich hart gewesen waren und ich nun dringend ein Erfolgserlebnis brauchte.

Der Secondhandladen, in dem ich noch bis vor einem Monat gearbeitet hatte, war pleitegegangen, und ich hatte meinen Job verloren. Na, vielen Dank für nichts. Der Aushilfsjob war mir gegen Ende ohnehin mächtig gegen den Strich gegangen. Die

Ich blinzelte, versuchte krampfhaft, einen gelassenen Gesichtsausdruck zu wahren, als ich nun doch zögernd nach meiner mit Nieten dekorierten Gürteltasche griff, um wenigstens so zu tun, als würde ich nach meiner Geldbörse kramen.

Es war nicht so, dass ich der Überzeugung war, dass ein wahrer Gentleman die Rechnung übernahm. Oder dass ich mich gerne einladen ließ. Ganz und gar nicht. Im Gegenteil, mir wäre in diesem Moment nichts lieber gewesen, als für uns beide zu zahlen oder wenigstens in der Lage zu sein, die Rechnung zwischen uns beiden aufzuteilen. Gleichbehandlung der Geschlechter und nieder mit den Stereotypen, dies, das.

Nur leider war das unmöglich, da sich auf meinem Girokonto nur noch 4,80 € befanden, also exakt 20 Cent zu wenig, um Geld abheben zu können. Aber selbst wenn man diesen Kleinbetrag abheben könnte, wäre das natürlich zu wenig, um die Rechnung auch nur annähernd zu bezahlen. Ich hatte mir in einem Anfall von Leichtsinn ein gebrauchtes Fahrrad gekauft. In dem

Doch davon, dass ich pleite war, wusste Tim natürlich nichts. Warum hätte ich ihm das auch sagen sollen? Bis eben war ich der festen Überzeugung gewesen, dass sein Stolz es niemals zuließe, mich die Rechnung selbst bezahlen zu lassen.

Mist. Nervös knabberte ich an meiner Unterlippe, wühlte alibimäßig in meiner Tasche herum und registrierte aus dem Augenwinkel, wie Tim endlich ein Portemonnaie aus seiner Hosentasche zog und die verwirrt dreinblickende Kellnerin anlächelte. »Ich würde gerne für uns beide mit Karte zahlen.«

Ein Stein fiel mir vom Herzen. Ach was, ein ganzes Gebirge fiel von mir ab. Ich bedachte Tim mit einem Lächeln, von dem ich mir erhoffte, dass es mich kokett, schüchtern und gleichzeitig reizend wirken ließ. All das war ich normalerweise ganz und gar nicht, aber das musste er ja nicht unbedingt wissen.

Die Bedienung sah Tim bedauernd an. »Kartenzahlung geht hier leider nicht. Aber es gibt einen Geldautomaten, der ist nur eine Straße weiter.«

Noch während sie sprach, zog sich mein Date bereits seine Jeansjacke an und machte Anstalten zu gehen. »Alles klar. Ich bin gleich wieder da, Robyn.« Er drückte mir einen Kuss auf die Wange, lächelte der Kellnerin noch einmal freundlich zu und verschwand durch die bimmelnde Glastür.

Uff, das war knapp. Alle Anspannung wich von mir, und ich sackte ein wenig in mich zusammen. Gierig atmete ich ein. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass ich die Luft angehalten hatte.

Ich ließ meinen Blick durch das Café wandern. Es war eins dieser neumodischen Dinger, deren Charme daraus bestand, zusammengewürfelte Möbel als stylish auszugeben. Am Tresen stand ein Schild, auf dem dick und fett deklariert wurde, dass es hier kein Wi-Fi gäbe und man gefälligst miteinander reden sollte. Wie unfassbar kontrovers! Ein leises Schnauben entwich mir.

Das Café war gut gefüllt, nur ein einziger Tisch war noch frei. Außer mir saßen in dem kleinen Laden noch eine gackernde Mädelsgruppe, ein zeitungslesender Herr mittleren Alters und zwei Pärchen.

Am hinteren Pärchen blieb ich hängen. Mit dem Rücken zu mir saß eine Blondine, die anscheinend in ein wahnsinnig aufregendes Thema vertieft war. Sie gestikulierte lebhaft mit ihren Händen, wobei ihre korallfarbenen Acrylnägel aufblitzten. Das jedoch schien den Typen, der ihr gegenübersaß, vollkommen kalt zu lassen. Absolut ausdruckslos und träge geisterte sein Blick durch das Café. Es war offensichtlich, dass seine Aufmerksamkeit überall war, nur nicht bei seinem wild gestikulierenden Date.

Schließlich sahen wir einander in die Augen. Mein Magen

Ich schaute ihn provokativ an. Angriff war schon immer die beste Verteidigung. Auf keinen Fall durfte er mir ansehen, wie unangenehm es mir war, dass er mich beim Starren erwischt hatte. Seine dunklen Augen blieben kalt, die tiefsitzenden, buschigen Brauen schienen sich noch weiter zu senken. Fasziniert beobachtete ich, wie er sich eine Locke, die ihm zu weit ins Gesicht hing, aus dem Gesicht pustete, bevor sich sein Blick langsam von mir löste und er sich wieder der Blondine widmete.

Warum wurde der Begriff »Resting Bitch Face« eigentlich fast nur im Zusammenhang mit Frauen benutzt? Dieser Typ hatte definitiv eins. Entweder sein Date war furchtbar oder er ein Misanthrop.

Ich war gerade dabei zu überlegen, ob ich ihn irgendwoher kannte oder ihn zumindest schon einmal flüchtig gesehen hatte, als sich die Bedienung in mein Gesichtsfeld schob. Ups, die hatte ich bei unserem kurzen Wer-zuerst-wegguckt-hat-verloren-Duell fast vergessen. Hitze stieg mir ins Gesicht. Tim war immer noch nicht wieder zurück. Wie lange war er schon weg? Fünf Minuten? Zehn? Ich hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Vielleicht war er unterwegs von Aliens entführt worden.

»Es kann nicht mehr lange dauern, er muss jeden Moment zurück sein«, erklärte ich und setzte mein lieblichstes Lächeln auf. Die Frau nickte nur und räumte demonstrativ den Tisch bis auf

Unruhe machte sich in mir breit, und ich kramte mein Handy aus der Gürteltasche, um mich abzulenken. 16:12 Uhr. Ein absurder Gedanke kam mir in den Sinn. Was, wenn Tim gar nicht gegangen war, um Geld abzuheben? Was, wenn er mich einfach mit der Rechnung sitzengelassen hatte? Eigentlich konnte ich mir das bei ihm nicht vorstellen. Zugegeben, unser Date hatte mich jetzt nicht von den Socken gehauen. Aber es war auch nicht zum Davonlaufen gewesen, oder? Ich hatte weder über Traumata aus meiner Kindheit geredet noch über meine Exfreunde gelästert. Alles in allem war das Date einfach sehr nett gewesen.

Andererseits: Nett war der kleine Bruder von scheiße. Ich seufzte. Was hatte es nur auf sich, dass ich scheinbar bodenständige Typen so unfassbar langweilig fand? Tim hatte nichts falsch gemacht. Im Gegenteil, er hatte sich sehr viel Mühe gegeben, ein besonders prachtvolles Exemplar seiner Karo-Hemden angezogen und mich mit einem Strauß gelber Tulpen begrüßt. Wann hatte ich zuvor das letzte Mal Blumen geschenkt bekommen? Ich wusste es nicht. Auch unser Gespräch war durchweg »nett« gewesen. Wir unterhielten uns über die Uni, sein Hobby, das Gärtnern, und über Bücher, die wir gut fanden.

Aber vielleicht hatte Tim das anders wahrgenommen als ich und mich deswegen auf einer Rechnung sitzengelassen, die ich nicht bezahlen konnte. Ich runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. Nein, eigentlich unmöglich. Das hätte ich doch sicher gemerkt. Außerdem hatte ER mich ja schließlich wochenlang wegen eines Dates bearbeitet. ER wollte doch unbedingt mit mir ausgehen. Nüchtern betrachtet war ein Treffen mit mir, Robyn

Erneut schielte ich auf mein Handy. 16:15 Uhr. Ich setzte mich aufrechter hin und strich imaginäre Krümel vom Tisch. Vielleicht stand eine riesige Schlange vor dem Geldautomaten. So war das doch manchmal. Also gab es keinen Grund zur Sorge.

Ich wischte das Benachrichtigungsfeld meines Handys nach unten und sah, dass ich zwei ungelesene Nachrichten hatte. Beide waren von Mia, meiner besten Freundin. Eventuell war sie auch meine einzige Freundin, aber wer nahm das schon so genau. Fremden gegenüber war ich meist sehr skeptisch eingestellt. Außerdem: Wer brauchte mehr als eine Freundin? So viel Zeit hatte doch niemand!

Wir kannten uns seit dem Kindergarten und waren seit dem Tag unzertrennlich, an dem sie einem Jungen, der sich über meine uncoolen Klamotten lustig gemacht hatte, mit der Plastikschaufel auf den Kopf gehauen hatte. Seither war sie wie ein Parasit, der einfach nicht lockerließ, egal, wie sehr ich mich von der Außenwelt abschottete.

Wie läuft dein Date? 16:08 Uhr

 

OMG, Niklas hat mein neues Insta-Bild geliked! 16:10 Uhr

Der Anflug eines Lächelns umspielte meine Lippen. Mia und ich hätten nicht gegensätzlicher sein können. Mit ihren strahlend blauen Augen, den von Natur aus hellblonden Haaren und Beinen, die verboten lang waren, zog sie die Männer an wie

Sag Niklas, er kann sich in deine Warteliste eintragen. Bei mir läuft’s gar nicht gut. Tim ist verschwunden und hat mich mit der Rechnung sitzengelassen. 16:17

Mia ignorierte meine Stichelei bezüglich der Warteliste und antwortete prompt.

Waaaas? Was hast du gemacht? 16:18

Ich schnaubte.

Soll ich dich retten kommen? 16:20

Ich zögerte. Es war inzwischen zwanzig nach vier. Allmählich war ich mir ziemlich sicher, dass mein Date mich wirklich sitzengelassen hatte. Um diese Wartezeit zu rechtfertigen, musste die halbe Stadt vor ihm in der Schlange anstehen.

Nee, lass mal. Melde mich später. 16:21

Mia hatte mir in der Vergangenheit schon öfter Geld »geliehen«, als mir lieb war. Nur in den seltensten Fällen war ich wirklich in der Lage gewesen, ihr das Geld zurückzuzahlen. Meiner Freundin machte das nichts aus, im Gegenteil, sie bestand regelmäßig darauf, mich zu Dingen einzuladen, da »Daddy das ja eh bezahlte«, aber eigentlich passte mir so was gar nicht in den Kram. Ich stand nicht gerne in der Schuld anderer.

Ich schaute mich im Café um. Soweit ich mitbekommen hatte, war die Bedienung heute allein. Mehr Servicekräfte brauchte es auch nicht, der Laden war winzig. Sie war gerade dabei, die Abrechnung der Blondine und des Lockenkopfs zu machen, und kehrte mir den Rücken zu.

Das Flattern in meinem Bauch verstärkte sich immer mehr, und meine Handflächen wurden feucht. Was würde passieren, wenn ich ihr gestand, dass ich die Rechnung nicht bezahlen konnte? Musste sie dann die Polizei rufen? Einen Eintrag im

Meine Finger vergruben sich in meiner Gürteltasche. Ich atmete tief ein und aus und versuchte, mich zu beruhigen, dann fasste ich einen Entschluss. Ich packte mein Handy, stopfte es in die Tasche und warf mir meine Lederjacke über.

Jetzt oder nie. Ein letztes Mal huschte mein Blick zur Kellnerin, die gerade das Portemonnaie einpackte und sich bei dem Pärchen bedankte.

Ruckartig sprang ich auf und hastete auf den Ausgang zu. Ich rempelte aus Versehen den Stuhl eines Gasts an, drehte mich jedoch nicht um und sah nur mein Ziel vor Augen. Nur noch wenige Schritte, dann hätte ich es geschafft.

Ich streckte die Hand nach der Türklinke aus. Hinter mir hörte ich die Bedienung rufen. Egal. Einfach schnell weg hier. Meine Fingerspitzen berührten gerade die Klinke, als die Tür bereits aufgerissen wurde. Vor mir stand eine Gruppe von fünf Studierenden, die das Café betreten wollten und damit den Ausgang blockierten. Ich erstarrte. Hier war kein schnelles Durchkommen.

Hinter mir machte sich eine empörte Stimme bemerkbar. »Entschuldigung? Was soll das denn werden?«

Langsam drehte ich mich wieder um und starrte in die wutentbrannten Augen der Kellnerin. Es war zwecklos. Meine Flucht war gescheitert.

»Ich … ich wollte auf Toilette gehen. Was denken Sie denn? Darf man das jetzt nicht mehr?«, presste ich hervor und blieb bei meiner Strategie. Dabei war es ganz offensichtlich, dass das nur ein billiger Vorwand war. Ich stand vor dem Ausgang, und das WC befand sich am anderen Ende des Raumes. Fuck.

»Ach, ist das so! Geht man neuerdings mit Jacke und Tasche aufs Klo?« Die Frau verschränkte die Arme vor der Brust.

Ich spürte, wie mir langsam schlecht wurde. Meine Kehle wurde eng, aber jetzt Unsicherheit zu zeigen, wäre mein sicherer Untergang. Ich reckte das Kinn. »Also ich schon! Es war ja niemand da, der darauf aufpassen würde. Wer sagt mir denn, dass ich nicht beklaut werde, wenn ich hier einfach alles unbeaufsichtigt liegen lasse?«, fauchte ich genauso giftig wie mein Gegenüber.

»Gut, dann können Sie ja jetzt zahlen!«

Ich hielt dem stechenden Blick der Bedienung stand und gab mir alle Mühe, meine Panik zu verbergen. Scheiße, scheiße, scheiße. Das flaue Gefühl in meinem Magen verwandelte sich in einen waschechten Knoten. Zu allem Überfluss spürte ich, wie sich verräterische Tränen in meine Augen stahlen. Das durfte einfach nicht wahr sein.

Nicht weinen, nicht weinen, nicht weinen, wiederholte ich wie ein stilles Mantra immer wieder in meinem Kopf. Nur Schwächlinge weinten. Ich konnte spüren, dass die Blicke des ganzen Cafés immer noch auf uns lasteten, als folgten die Gäste gebannt einem Schauspiel im Theater.

Ein Räuspern durchbrach die angespannte Stille. »Ich übernehme das.« Eine tiefe, ruhige Stimme erklang hinter der

In diesem Moment war ich mir nicht sicher, wer irritierter dreinschaute: ich, die verärgerte Bedienung oder das Date des Lockenkopfs. Warum tat er das? Er kannte mich doch gar nicht! Hielt er sich für das männliche Gegenstück zu Mutter Teresa? Den heiligen Samariter?

Die Bedienung musterte den Schein einige Sekunden lang, bevor sie schließlich danach griff. Die Aussicht auf mehr als 30 € Trinkgeld schien sie wohl milde zu stimmen. »Na, da hast du noch mal Glück gehabt! An deiner Stelle würde ich mich hier so schnell nicht mehr sehen lassen!«, schnauzte sie mich an, bevor sie sich den wartenden Gästen in der Tür zuwandte und sie zum Tisch führte.

Der mürrische Gesichtsausdruck des Typen verzog sich bei meinem Anblick zu einem verschmitzten Grinsen. Erstaunlich. Irgendwie hatte ich nicht damit gerechnet, dass er so freundlich, fast schon spitzbübisch aussehen konnte.

»Gern geschehen«, sagte er, als er sich an mir vorbeischieben wollte. Im letzten Moment hielt er jedoch inne. Er war mir nun ganz nahe, und sein unverschämtes Lächeln zog sich noch mehr in die Breite. »Oh, eins noch«, raunte er mir zu. »Mund zu, es zieht.« So viel zum Thema freundlich. Dann griff er nach der Hand der Blondine, die mich im Vorbeigehen mit ihren Blicken erdolchte, und drängte sich durch die Tür.

Was zur Hölle war das denn gewesen? Hastig schloss ich den Mund und schluckte. Was für ein arroganter Schnösel!

Wie vertraut man

in einer Welt,

in der doppelt

so viele Gesichter

wie Menschen leben?

Ich klemmte mir den Tesaroller zwischen die Knie und klebte den frisch ausgedruckten Zettel an das schwarze Brett. Fast hätte ich ihn zwischen den Seiten meines vollgekritzelten Collegeblocks nicht mehr wiedergefunden. In dem Block befanden sich keine wichtigen Unterlagen. Diese hatte ich alle bereits fein säuberlich in die passenden Ordner abgeheftet. Stattdessen zierten eine Seite nach der anderen kleine Gedichte oder Gedankenfürze, wie ich sie gerne nannte. Bei allem, was mit der Uni zu tun hatte, herrschte Ordnung. In meinem Kopf gab es davon jedoch oft zu wenig, was jeder Hobby-Psychologe anhand meiner zu Papier gebrachten Gedanken hätte erkennen können.

Zufrieden betrachtete ich den Zettel, auf dem ich Nachhilfe anbot, bevor ich mir meinen überfüllten Secondhand-Lederrucksack über die Schulter warf und Richtung Mensa lief. Gestern hatte ich beschlossen, dass es so nicht weitergehen konnte. Zwar war das Geld vom BAG endlich auf meinem Konto angekommen, doch spätestens seit der peinlichen Nummer im Café war mir schmerzhaft klargeworden, dass ich nie wieder so

Ich hatte mich also bei diversen Geschäften als studentische Aushilfe beworben und soeben eine Ausschreibung ans schwarze Brett geklemmt, die mir hoffentlich schnell aus meiner Misere helfen würde. Schließlich gab es doch immer irgendwelche Erstis, die der Überzeugung waren, eines Tages das große Geld mit Maschinenbau zu verdienen, obwohl sie keinen Funken von der Materie verstanden. Bis es bei ihnen so weit wäre, würde ich eben selbst das große Geld mit ihnen machen.

Wenn ich eins konnte, dann war es pauken. In der Schule hatte es regelmäßig dumme Kommentare gegeben, wie unfair es wäre, dass manchen die Begabung für Naturwissenschaften einfach in den Schoß fiele. Zugegeben, die komplexen Zusammenhänge waren für mich recht schnell zu verstehen. Aber Tatsache war auch, dass ich dafür jeden Tag nach der Schule etliche Stunden am Schreibtisch verbracht hatte. Mir waren die guten Noten nicht einfach so in den Schoß gefallen. Es rechnete nur niemand damit, dass jemand wie ich sich wirklich Mühe in Sachen Bildung gab. Aber ich war nie zur Schule gegangen, um Spaß zu haben. Spätestens seit der sechsten Klasse war mir bewusst, wie wichtig meine Bildung für eine Zukunft war, die mich weit, weit weg aus meiner Heimatstadt und meiner dysfunktionalen Familie brachte. Ich musste ungefähr dreizehn gewesen sein, als ich verstand, dass man einen guten Job brauchte, um auch wirklich alle Rechnungen bezahlen zu können. Und für einen guten Job brauchte man einen guten Abschluss.

Ja, mit meinen zerschlissenen Klamotten, den tätowierten Armen und den langen, ungebändigten braunen Haaren, die an

 

Es war 13 Uhr, also genau die Zeit, in der die halbe Uni essen wollte. Als ich die Mensa betrat, reichte die Schlange für die Essensausgabe bereits bis um die Ecke. Relativ weit hinten konnte ich Mia erkennen, die wild auf ihrem Handy herumtippte.

»Hey.« Ich stupste meine Freundin mit dem Ellenbogen. »Wer hat dir denn diese unverschämt gute Laune verpasst? Schreibst du immer noch mit Nico?«

»Niklas!«, lachte Mia. »Er heißt Niklas!« Theatralisch verdrehte sie ihre blauen Augen und lächelte mich schelmisch an. »Robyn, ich glaube, dieses Mal ist es wirklich ernst! So verliebt habe ich mich noch nie gefühlt! Wirklich!«

Ich grinste. »Ach! Ist das so? Und was ist mit Kevin? Ich dachte, er wäre der Richtige?«

Mia presste die Lippen aufeinander. Es war offensichtlich, dass sie sich ein Lachen verkniff und sich bemühte, ein beleidigtes Gesicht aufzusetzen. »Du meinst wohl Levin.« Sie seufzte. »Ach, ich weiß auch nicht. Levin hat mich einfach nicht … gefühlt!«

»Alles klar. Dann kommt Levin also auf die lange Liste der armen Männerherzen, die du gebrochen hast«, neckte ich meine beste Freundin, während wir uns Richtung Kasse bewegten.

»Du siehst das vollkommen falsch. Ihr alle seht das falsch. Ich breche gar keine Männerherzen, ich bin einfach so! Ich kann ja auch nichts dafür, wenn die ganze Menschheit völlig normale Gespräche mit Flirten verwechselt.« Mia schob sich eine Strähne hinters Ohr und setzte eine betont unschuldige Miene auf.

»Jetzt rück endlich mit der Sprache raus. Was ist überhaupt passiert?«, fragte ich sie, als wir uns mit unseren Tabletts an einen freien Tisch setzten.

»Also.« Ich konnte förmlich spüren, wie sehr Mia sich freute, mir endlich alle Einzelheiten über ihre neueste Männergeschichte zu erzählen. »Ich habe ein Selfie gepostet, und Niklas hat es geliked!« Aufgeregt spießte Mia so viele Salatblätter mit ihrer Gabel auf, wie sie nur konnte. »Dann bin ich auf sein Profil gegangen und habe sein neustes Foto geliked.« Sie hielt einen Moment inne und grinste mich an, als hätte sie mir gerade etwas furchtbar Unanständiges gestanden. »Ich glaube, er hat darauf gewartet, weil es nicht lange gedauert hat, bis er noch ein Foto von mir geliked hat!« Sie schob sich die volle Gabel in den Mund. »Auf jeden Fall ging das dann eine Weile hin und her, bis er in meine DMs geslidet ist.«

»Bis er was?« Ich verstand gar nichts mehr. Abgesehen davon, dass der Salat in ihrem Mund eindeutig die Artikulation

»Na, er hat mir eine private Nachricht auf Instagram geschickt! Wirklich, in welchem Jahrhundert bist du eigentlich steckengeblieben?« Sie sah mich fast vorwurfsvoll an, fummelte an ihrem Handy rum und las dann vom Display: »›Du musst wirklich aufhören, deine Haare so zu tragen.‹ Und ich so: ›Hä? Warum? Was ist daran falsch?‹ Und er so: ›Ich weiß nicht, wie lange ich mich sonst noch zusammenreißen kann, wenn ich jeden Mittwoch deinen umwerfenden Hals im Proseminar sehe.‹«

Mir fiel auf, dass sich Mia auch heute die blonden, langen Haare hochgesteckt hatte, wodurch ihr Nacken entblößt war. Ein Schelm, der da Böses dachte! »Hat er nicht geschrieben?«

»Doch!« Mia strahlte mich an. »Er hat mich sogar nach einem Date gefragt. Ich wusste gar nicht, dass er mich gut findet! Stille Wasser sind eben doch tief.«

Meiner Meinung nach war dieser Niklas alles andere als ein stilles Wasser, aber diese Bemerkung verkniff ich mir. Ich wollte ihr nicht die Freude verderben und wusste außerdem, dass er zu 99,99 % keine Gefahr darstellte, da sie spätestens in zwei Monaten einen neuen Typ am Start haben würde. Ob er ein guter Kerl war oder nicht, spielte also keine große Rolle. Er würde gar nicht die Zeit bekommen, meine Freundin ernsthaft zu verletzen.

Mia schmatzte eine Weile zufrieden, bis sie auf einmal innehielt. »Du hast mir noch gar nicht erzählt, was genau mit Tim passiert ist! Hast du noch mal von ihm gehört?«

»Sir Lancelot ist ein Hamster, und ich glaube nicht, dass die als soziale Kontakte zählen. Wusstest du, dass Babys sterben, wenn sie in den ersten Wochen ohne die Zuneigung einer Bezugsperson aufwachsen? Hab ich in Sozi gelernt!«

»Zum Glück bin ich kein Neugeborenes«, murrte ich. »Und Sir Lancelot ist der menschlichste Hamster, den ich je gesehen habe. Er ist quasi … mein Freund! Wir kuscheln jeden Abend und gucken Filme zusammen. Wenn das nicht boyfriend material ist …« Selbstverständlich wusste ich, dass ein Hamster keinen menschlichen Kontakt ersetzen konnte. Aber dieses kleine Wesen war wirklich mein treuer Begleiter.

Mia schnalzte mit der Zunge. »Du willst doch nicht ernsthaft aufgeben, nur weil so ein dahergelaufener BWL-Justus dich versetzt hat!«

Natürlich traf sie mit ihren Worten genau den Teil in mir, der

»Weißt du was!«, motzte ich. »Ab jetzt lebe ich abstinent. Wofür gibt es denn Sexspielzeug? So gut kann das eh kein Mann.« Demonstrativ schob ich meinen Teller von mir weg und imitierte mit dem Zeigefinger die rabiaten Bewegungen eines Mannes auf der Suche nach der Klitoris.

Mia brach in schallendes Gelächter aus, was uns einige neugierige Blicke vom Nachbartisch einbrachte. Hastig trat ich meiner Freundin gegen das Schienbein, als ich erkannte, wer dort saß.

»Aua! Bist du verrückt! Das hat voll –«

»Pscht!«, unterbrach ich meine Freundin eilig und begutachtete meinen Teller, als ob ich noch nie zuvor in meinem Leben Kartoffelgratin gesehen hätte. »Nicht hingucken. Auf 13 Uhr sitzt der Fußfetischist.«

»Was?« Mia drehte sich erst in die eine und dann in die andere Richtung. »Ach da!«, rief sie aus und winkte dem Nachbartisch fröhlich zu. Dort saß ein Typ, den ich nicht kannte, und Manuel, der mit seinen langen hellbraunen Haaren ein wenig an Jesus erinnerte. Er sah einige Momente zwischen Mia und mir hin und her, dann drehte er sich ohne den Gruß zu erwidern wieder um und widmete sich seiner Suppe.

»Ich weiß gar nicht, was du hast. Also in meiner Gegenwart hat Manuel noch nie mit seinen Füßen gespielt. Der ist echt korrekt!«

Der Gedanke an meine letzte Begegnung mit Manuel verstärkte den Wunsch in mir, ein abstinentes Leben zu führen. Mia hatte ein Blind Date zwischen mir und dem Typen

Wobei die Barfußsache an sich auch nicht der Weltuntergang gewesen wäre. Letztendlich sollte jeder tun und lassen, was er wollte. Kritisch wurde es jedoch, als er mitten im Restaurant anfing, seine Füße zu massieren. Bei den Blicken, die er mir dabei zugeworfen hatte, hätte man meinen können, dass er stattdessen etwas anderes massierte. So oder so: Mein Appetit war damit vergangen. Ich hatte das Restaurant ohne Zögern verlassen und war nach Hause geflohen, um mit Wasser angerührten Haferbrei zu essen. In keinem Leben würde ich mich freiwillig sexuell belästigen lassen, nur weil mein Date dachte, es sei okay, wenn er mich zum Essen einlud.

»Warum gehst du dann nicht mit ihm auf ein Date?«, zischte ich Mia an.

Sie ließ die Gabel sinken und zog die Augenbrauen hoch. »Puh. Gute Frage. Ich glaube, ich mag Füße nicht so gerne.«

»No shit, Sherlock! Ich auch nicht!«

»Hmm.« Mia sah mich nachdenklich an. »Das kann ich verstehen. Vielleicht hat Niklas ja einen Freund, der single ist, den –«

»Auf gar keinen Fall!«, schnitt ich ihr das Wort ab. »Ich habe erst mal genug von deinen Kuppelversuchen.«

Mia musterte mich noch einen Moment lang mit ihren riesigen Augen. Sie faltete ihre Serviette, dann kicherte sie leicht beschämt. »Ja, na gut, okay. Ich kann es dir nicht übelnehmen.«

Jetzt musste auch ich schmunzeln. »Ich weiß gar nicht, warum

»Wieso?« Sie schob die Unterlippe vor. »Die Dates mit Marcel zum Beispiel waren doch total super!«

»Ja, total. Bis zum dritten Treffen, als er mir gestanden hat, dass er eigentlich nur an dich rankommen wollte.«

»Quatsch, du übertreibst.« Mias Kopf lief hochrot an. Tatsächlich hatte ich es dem Kerl nicht mal übelnehmen können, dass er mich nur benutzt hatte, um an meine Freundin ranzukommen. Er war so unfassbar in sie verschossen, dass er mich als letzten Ausweg gesehen hatte.

»Okay, und was ist mit Andi?«, stichelte ich weiter. »Der wollte mich beim ersten Date seiner Mutter vorstellen! Seiner Mutter!«

Mias kläglicher Versuch, ernst zu bleiben, missglückte. Laut prustend schlug sie mit der Hand auf den Tisch. Eine Studentin ein paar Sitzplätze weiter zuckte zusammen, und ich spürte erneut die Blicke von Manuel und seinem Barfuß-Freund. Doch ich war viel zu sehr damit beschäftigt, nicht selbst hysterisch loszulachen, als dass es mich in diesem Moment gekümmert hätte.

»Vielleicht solltest du wirklich meine Date-Vorschläge in Zukunft ablehnen.«

Heute war ein guter Tag. Ich war mir sicher: Heute musste das Glück auf meiner Seite sein, denn ich gab meine erste Nachhilfestunde. Und das bedeutete, dass ich irgendeinem Trottel eine Stunde lang erklären durfte, wie man Flächenträgheitsmomente berechnete. Pro Nachhilfestunde bekam ich 17 €, und von 17 € konnte man sich sehr viel kaufen. Für das Geld konnte ich etwa sechs Mal in der Mensa essen, auf ein Konzert gehen oder im Discounter einkaufen.

Zufrieden ging ich auf eine Gruppe von Tischen zu, an denen bereits einige Studierende saßen, sich unterhielten oder arbeiteten. Finn, der Typ, der meine Hilfe benötigte, war wohl im zweiten Semester und bei der ersten Prüfung in »Technische Mechanik 2« durchgefallen. Dieses Mal wollte er unbedingt bestehen und hatte mir auf meinen Aushang am Schwarzen Brett hin eine Nachricht auf WhatsApp gesendet.

Es war 9:55 Uhr, um 10 Uhr waren wir verabredet. Ich setzte mich schon mal an einen der noch freien Tische und zog die Arbeitsblätter, die ich vorbereitet hatte, aus meinem Lederrucksack, um sie noch ein letztes Mal durchzugehen. Nichts war peinlicher, als die Antworten selbst nicht zu wissen, wenn man anderen etwas beibringen sollte. Nach dem kurzen Scan blickte ich wieder auf und fuhr mir durch die wirren Haare. Vielleicht war er ja schon da. Ich rief auf meinem Handy unseren

10 Uhr war mittlerweile durch. Langsam wurde ich ungeduldig.

Wo bist du? 10:03

Gleich da. 10:03

Mir sollte es eigentlich egal sein. Wenn der Typ zu spät kam, war das sein Problem, nicht meins. Um Punkt 11 Uhr wäre ich hier weg, es sei denn, er zahlte gleich für zwei Nachhilfestunden. Ich seufzte, stützte mein Kinn auf meiner Hand ab und beobachtete die vorbeihastenden Kommilitonen. Mein neuer Schüler hatte auf jeden Fall eine interessante Definition von »gleich«. Wo blieb der Kerl nur? Ich malte mir gerade detailliert aus, was ich wohl zu Mittag essen könnte, als mein Handy vibrierte.

Bin da, wo bist du? 10:11

Mit dem Handy in der Hand stand ich auf und sah mich um. Ein paar Meter weiter stand ein großer Typ mit dem Rücken zu mir. Er trug eine Lederjacke, verwaschene Jeans und diese merkwürdigen, spitz zulaufenden Schuhe, die ich immer mit britischen Businessmännern in Verbindung brachte. War er das? Von hinten sah er zumindest nicht wie ein Autofanatiker aus. Aber

Hinter dir. 10:12

Eine Sekunde später schaute der Typ auf sein Handy, dann drehte er sich um.

Das war der Moment, in dem die Welt für den Bruchteil einer Sekunde stillstand. Das Herz rutschte mir in die Hose, und vor Scham wurde mir ganz heiß. Das durfte einfach nicht wahr sein. Wollte mich das Universum für irgendetwas bestrafen? Entgeistert starrte ich den Kerl an und betrachtete ihn ganz genau, um mir sicher zu sein. Doch es gab keinen Zweifel: Mir gegenüber stand der Lockenkopf mit dem Resting Bitch Face aus dem Café letztens. Der Typ, der meine Rechnung bezahlt hatte. Der Typ, der sich mit dem dreisten Kommentar verabschiedet hatte, dass ich doch bitte den Mund schließen sollte. Der Typ, dem ich theoretisch 50 € schuldete, weil er der Meinung gewesen war, mit Trinkgeld um sich schmeißen zu müssen. Ich schluckte.

Sofort korrigierte ich meinen Gesichtsausdruck. Er durfte mir auf keinen Fall ansehen, dass mir die Situation unangenehm war. Ich zwang mich, ihm ein aufmunterndes Lächeln zuzuwerfen. Letztendlich hatte ich zwei Möglichkeiten. Option A bestand darin abzuhauen, mein Studium abzubrechen und in ein fernes Land auszuwandern. Da das leider eine Nummer zu abwegig war, musste ich mich auf Option B einlassen: Ich stellte mich der Situation und tat so, als würde ich ihn nicht kennen. Ganz einfach.

Doch mein Nachhilfeschüler machte keine Anstalten, mein

Ich kann dich nicht sehen. 10:13

War der Junge dumm? Oder wollte er mich auf die Schippe nehmen? War das seine Art von Rache, weil ich nicht gebührend auf seine Rettungsaktion im Café reagiert hatte, oder war ihm das alles selbst peinlich, und dies war seine Art, sich aus der Situation retten zu wollen?

Ich schluckte und befeuchtete meine Lippen. Egal. 17 € waren 17 €. Wobei ich ihm streng genommen 50 € für die Caférechnung schuldete, aber ganz ehrlich, darum hatte ihn niemand gebeten. Außerdem: Welcher annähernd normale Mensch gab über 30 € Trinkgeld, und das auch noch bei einer Rechnungssumme, die weit darunter lag? Entweder der heilige Samariter schiss Geld, oder er hatte das unersättliche Bedürfnis, mit seinem Reichtum anzugeben. Ich gab mir einen Ruck und bewegte mich auf den Typen zu, den ich für meinen Nachhilfeschüler hielt. Dieser starrte immer noch mit zusammengezogenen Brauen auf sein Handy.

»Finn?«, fragte ich. Langsam löste sich sein Blick vom Smartphone und wanderte zu mir. Ich musste leicht nach oben schauen, um in seine dunklen Augen sehen zu können. Eine kleine, steile Falte hatte sich auf seiner Stirn gebildet, und eine der dunklen Locken hing ihm zu weit ins Gesicht. Es war

»Ja? Und du bist?«

Einen Moment lang zögerte ich. Entweder dieser Mann hatte einen bedenkenswert niedrigen IQ, und das mit der Nachhilfe würde schwieriger werden, als ich gedacht hatte, oder er hatte sich seine Nachhilfelehrerin anders vorgestellt. Langsam wurde ich grantig. Er war doch derjenige, der Nachhilfe brauchte, nicht ich!

»Robyn«, sagte ich. »Wir hatten uns hier verabredet? Zum Lernen?«

Mit gerunzelter Stirn sah mein Gegenüber von mir zu seinem Handy und wieder zurück. »Aber … Du bist eine Frau.«

Oje. Vielleicht war er wirklich dumm. Wie hatte er es an diese Uni geschafft? »Herzlichen Glückwunsch. Deine Augen funktionieren!«, patzte ich ihn an. Das Lächeln, das ich mir anfangs noch aufgezwungen hatte, war längst verschwunden.

»Aber Robyn ist ein Männername.«

Ein tiefer Seufzer entwich meiner Brust. Wie oft hatte ich diese Diskussion schon führen müssen? Es war ja nicht so, dass ich mir meinen Namen selbst ausgesucht hatte. Die Idee dafür stammte von meinem tollen irischen Vater, bevor er sich ein halbes Jahr nach meiner Geburt aus dem Staub gemacht und meine Mutter mit einem Baby sitzengelassen hatte.

»Und jetzt? Lässt du dir von einer Frau keine Nachhilfe geben?«

»Kannst du das denn überhaupt?« Er begutachtete mich kritisch.

Das war der Moment, in dem Erkenntnis Finn erleuchtete. »Moment mal! Du bist die Kleine, die letztens die Zeche prellen wollte!«

Fuck. Eine erneute Hitzewelle durchzuckte meinen Körper. Ich hätte einfach gehen sollen, als ich noch die Möglichkeit gehabt hatte. 17 € hin oder her. »Also klein bin ich bestimmt nicht. Aber wenn dein Verständnis für Zahlen genauso furchtbar ist wie deine Einschätzung bezüglich meiner Körpergröße, dann weiß ich, warum du Nachhilfe brauchst.« Ich klimperte übertrieben mit den Wimpern und setzte ein zauberhaftes Lächeln auf.

Finn lachte kurz auf und schüttelte den Kopf. »An was für eine charmante Prinzessin bin ich denn da geraten?« Er musterte mich intensiv und machte einen Schritt auf mich zu, wodurch ich den Kopf noch weiter anheben musste, um ihm in die Augen sehen zu können. »Eigentlich schuldest du mir drei Mal Nachhilfe umsonst. Immerhin habe ich deine Rechnung bezahlt.«

Ich schluckte und überschlug die Beträge hastig im Kopf. »2,94 Mal Nachhilfe, wenn überhaupt!« Kurz überlegte ich, ob ich ihm noch an den Kopf werfen sollte, dass ihn niemand darum gebeten hatte, Mutter Teresa zu spielen, doch das verkniff ich mir im letzten Moment. »Also, was ist? Brauchst du jetzt Nachhilfe? Oder stellt mein Name ein unüberwindbares Hindernis für dich dar?«

Einen kurzen Moment zögerte Finn wirklich und sah mich

»Bist du dir sicher, dass du angekotzt werden willst, weil du ein ekelhaftes Schwein bist?« Diesem Mann hatten eindeutig zu viele Frauen mitgeteilt, was für ein toller Hecht er doch sei. Dabei war absolut gar nichts an ihm besonders. Außer vielleicht seine Körpergröße, aber ansonsten war an ihm kein Funken Außergewöhnlichkeit. Stinknormale braune Augen, stinknormale Lippen und ein stinknormales unverschämtes Grinsen, was danach verlangte, ihm aus dem Gesicht gewischt zu werden.

»Merkwürdiger Kink, aber hey: Für dich würde ich mich drauf einlassen, Baby!« Finn machte Anstalten, sich nach vorne zu beugen, um eine Haarsträhne aus meinem Gesicht zu streichen, doch ich schlug seine Hand weg. Sollte mich jemals wieder jemand fragen, weshalb ich single sei, würde ich genau diesen Moment zitieren. Es gab eindeutig keine Hoffnung mehr für die männliche Spezies.

In mir brodelte die Wut. Ich trat ganz nah an ihn heran. »Fahr zur Hölle!«, flüsterte ich ihm ins Ohr. Dann ging ich einen Schritt zurück und beobachtete mit Genugtuung, wie es in

Ich konnte noch hören, wie Finn mir hinterherrief, doch ich streckte im Laufen nur beide Mittelfinger in die Höhe. Ein bisschen leid tat es mir um die 17 €, die ich wirklich gut hätte gebrauchen können, doch ich würde schon einen anderen Weg finden, um an etwas Geld zu kommen.

Mit einem lauten Knall schmiss ich die Tür hinter mir zu, ließ meinen Lederrucksack an Ort und Stelle fallen und pellte mich aus meinen Klamotten, bis ich nur noch in T-Shirt-Kleid und Unterwäsche dastand. Auf meiner grauen linken Socke stand in schwarzen Lettern »Monday«, die rechte war hellrosa. Vor langer Zeit musste sie mal weiß gewesen sein, doch die Angewohnheit, mein ganzes Hab und Gut im Waschsalon auf einmal zu waschen, schonte zwar meinen Geldbeutel, nicht jedoch meine armen Socken.

Ich seufzte. Eines Tages würde ich eine eigene Waschmaschine besitzen und nicht nervös im Salon herumlungern müssen, bis die Wäsche fertig war, aus Angst, dass jemand meine Secondhandklamotten klaute, sollte ich den Raum auch nur für wenige Minuten verlassen. Köln-Ehrenfeld war ein hartes Pflaster, zumindest, was Wäschediebe anging.

Abwesend tastete ich nach meinem Plattenspieler und legte Appetite for Destruction