Sergej Lebedew
Das perfekte Gift
Roman
Roman
Aus dem Russischen von Franziska Zwerg
FISCHER E-Books
Sergej Lebedew arbeitete nach dem Studium der Geologie als Journalist. Gegenstand seiner Romane sind für den 1981 Geborenen die russische Vergangenheit, insbesondere die Stalin-Zeit mit ihren Folgen für das moderne Russland. Bei S. FISCHER sind bislang seine Romane »Der Himmel auf ihren Schultern« (2013), »Menschen im August« (2015) und »Kronos' Kinder« (2018) erschienen. Sergej Lebedew lebt zurzeit in Berlin.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Sergej Lebedew besticht durch fesselnde Spannungselemente: Giftanschläge auf russische Agenten, chemische Kriegswaffen, Stalins Schatten, Westdeutschland und der Kalte Krieg. ›Das perfekte Gift‹ ist ein packender Roman über Wespenstiche, an denen Geheimagenten sterben, und die Jagd nach einem todbringenden Chemiker. Ein schillerndes Jahrhundert russischer Geschichte mit all ihren Abgründen.
»Lebedew durchschaut, was die meisten sowjetischen und postsowjetischen Schriftsteller nicht sehen wollten.« Vladimir Sorokin
Die Originalausgabe erschien 2020
unter dem Titel Дебютант bei Corpus, Moskau
Deutsche Erstausgabe
Erschienen bei FISCHER E-Books
© 2019 by Sergey Lebedev
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2021 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: Andreas Heilmann und Gundula Hissmann, Hamburg
Coverabbildung: Justin Reznick / Getty Images
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-491339-1
HOMUNCULUS
(in der Phiole zu Wagner).
Nun Väterchen! wie steht’s? es war kein Scherz!
Komm, drücke mich recht zärtlich an dein Herz!
Doch nicht zu fest, damit das Glas nicht springe.
Das ist die Eigenschaft der Dinge:
Natürlichem genügt das Weltall kaum,
Was künstlich ist, verlangt geschloss’nen Raum.
(Zu Mephistopheles.)
Du aber Schalk, Herr Vetter, bist du hier?
Im rechten Augenblick, ich danke dir.
Ein gut Geschick führt dich zu uns herein;
Dieweil ich bin, muß ich auch thätig seyn.
Ich möchte mich sogleich zur Arbeit schürzen,
Du bist gewandt die Wege mir zu kürzen.
Goethe, Faust
An seine stillen, anhaltenden Beschwerden hatte sich Wyrin als Begleiterscheinung des nahenden Alters längst gewöhnt. Im Sommer jedoch spürte er die lästigen Körperqualen um vieles deutlicher als zu anderen Jahreszeiten. Gegen Ende August, um den Jahrestag seiner Flucht, reiften und gediehen sie, folterten Gelenke, Blutgefäße und Augen – und milderten sich leicht im Frühherbst, wenn die Hitze nachließ und das Barometer zur Ruhe kam.
›Vielleicht ist es die Wirkung des in absentia verhängten Todesurteils?‹, spottete er für sich, den Wermutgeschmack des aufgeschobenen Todes auf den Lippen.
›Oder mein Körper rächt sich an mir?‹, dachte er. ›Wegen des neuen Gesichts, gemacht von einem Schönheitschirurgen? Wegen der mit Laser entfernten Erinnerungsnarben und Muttermale? Er kennt sie alle noch und will sich pünktlich zum Jahrestag der Flucht rächen?‹
Von den Kontaktlinsen, die seine Augenfarbe veränderten, bekam er ständig Bindehautentzündung. Die Füße summten von den Schuheinlagen, die ihn größer aussehen ließen. Sein Haar war vom ständigen Färben spröde und dünn geworden. Ein anderer zu sein war tägliche harte Arbeit, und er konnte sich einfach nicht daran gewöhnen.
Formal existierte dieser Mann der Vergangenheit nicht mehr, war nun ein anderer. Ein Wechselbalg, eine Wandelgestalt. Mit einer Biographie, die Meister der Lüge und Verwandlung für ihn erdacht hatten.
Eine andere Sprache. Andere Gewohnheiten. Sogar die Träume waren andere. Ein anderes Bewusstsein, das das frühere gleichsam überwucherte.
Diese übergestülpte Identität fügte sich zu seiner wirklichen nur als Prothese; kaum konnte Wyrin sie als natürlichen Teil seiner selbst empfinden.
Auch wenn sein Körper mit dem Skalpell neu entworfen worden war, blieb die Erinnerung – in allen Fibern der Gedärme, der Leber, der Nieren, wo sich die Schlacken des Lebens kristallisieren und absetzen. Sein Körper wehrte sich gegen die neue Gestalt, den neuen Namen, das neue Leben. Er wehrte sich, obwohl es für Wyrin keinen Weg zurück in die Vergangenheit gab und nicht geben konnte; sein Todesurteil hatte einer banalen, metaphorischen Sentenz zur Rechtswirkung verholfen.
Und so unterdrückte er den Widerstand seines verfallenden Körpers nicht länger, der dieses unechte, aufgezwungene Mysterium der zweiten Geburt leugnete, sondern lernte, ihn zu schätzen und mitfühlend zu beobachten. Mein Leib, mein Leib, nur du bist mir geblieben – sagte er sich manchmal mit seltsamer, jugendlicher Zärtlichkeit. Sein Körper war für ihn tatsächlich der einzige materielle Beweis, früher ein anderer gewesen zu sein.
Es gab indes noch einen weiteren Beweis, zu dem er allerdings keinen Zugang hatte. Ein papiernes Gespenst. Das Reserve-Duplikat eines Lebensbeweises. Ein archiviertes »Ich«, das gewöhnliche Menschen nicht haben.
Seine Offizierskaderakte. Die Essenz dessen, wer er gewesen war. Noch kein Überläufer. Noch kein Verräter.
Ein hellblauer Kartonordner. 225 × 330 × 25 Millimeter.
Prüfkarte. Fragebogen. Lebenslauf. Rekrutierungsbericht der Dienststelle. Unterschrift über Geheimhaltung. Ergebnisse der Sonderüberprüfung. Ausdauertest: Geländelauf über drei Kilometer. Beurteilungen: Papier, Papier, Papier.
Er ahnte, dass nach seiner Flucht eine Anordnung mit dem Vermerk »Streng geheim« erlassen worden war, mit den zwei bezeichnenden Nullen der Geheimhaltungsstufe: »Betrifft Maßnahmen aufgrund des Verrats von A.W. Wyrin«. Früher hatte er solche Anordnungen im Sekretariat vorgelesen bekommen – über andere. Alle identisch, wie mit Pauspapier geschrieben. »Ideologische Entartung. Moralischer Verfall. Notwendige Maßnahmen zur Eindämmung der Folgen des Verrats.« Variabel waren nur die Namen der Delinquenten gewesen, all der Kaderleiter, Schulungsgruppenleiter, Abteilungsleiter, die nicht die nötige Wachsamkeit gezeigt, einen potentiellen Abtrünnigen nicht rechtzeitig entlarvt hatten.
Er jedoch fand, dass alle Rügen in seinem Fall grundlos waren. Er hatte dem System treuer gedient als andere. Und er war mehr als andere erschrocken, als der Zerfall des Landes einsetzte und es schien, dass nach ihm auch das System zerbräche.
Inzwischen waren fast drei Jahrzehnte vergangen, und Wyrin redete sich ein, die von ihm preisgegebenen Informationen und Agenten hätten längst jede Bedeutung verloren. Die Agenten wären sowieso aufgeflogen, sagte er sich, irgendwer hätte sie sowieso verraten, wenn nicht ich, dann ein anderer. Wie Geld, das kurz vor seiner Entwertung steht, habe ich sie nur rechtzeitig vermarktet; wer hätte ein, zwei Jahre später noch Verwendung für derartige Informationen gehabt? Wen hätten Agenten in antisowjetischen Emigrantenkreisen, in den Reihen der kommunistischen Parteien Europas noch interessiert? Wenn doch die UdSSR selbst schon untergegangen war?
Rational betrachtet, wähnte sich Wyrin in relativer Sicherheit. Seine Kaderakte jedoch, die noch dort, in seiner Heimat, jenseits der für ihn unüberschreitbaren Grenze lag, war wie eine Voodoo-Puppe, in die ein Hexenmeister jederzeit seine tödlichen Nadeln stechen konnte.
Deswegen verspürte Wyrin manchmal eine unbegründete Furcht und inspizierte Hände, Bauch, Hals und Gesicht: Ob es irgendwo einen Hautausschlag oder ein Papillom gab, jene seltsamen Anzeichen, die die sibyllinische Natur den Menschen manchmal schickt. In solchen Momenten fühlte er vage eine schicksalhafte Verbindung zwischen Leib und Papier, als ob das im Archiv lagernde Dokument fühlen und mehr wissen könnte, als darin geschrieben stand, dass es über die einförmige Natur einer Furie verfügte, die nur suchen und Rache nehmen kann.
Papier will Blut, flüsterte er dann und erinnerte sich, wie man ihm früher gewichtige Pappordner ausgehändigt hatte: Vorgänge operativer Überwachung, Fälle operativer Ermittlung. Damals war er noch der Jäger gewesen, nicht der Gejagte. Er hatte sich mit denen befasst, die in den Westen ausgewiesen worden, geflohen oder ausgereist waren. Nach ihrem Weggang waren die Akten zur Verwahrung im Archiv geblieben und konnten, falls nötig, »raufgeholt« werden – das war im Dienst die Formulierung dafür gewesen, »aus dem Archiv raufholen«.
Aus dem Keller. Aus der Tiefe. Vom Grund.
Die Akten enthielten alles. Tausende von Seiten. Abschriften von abgehörten Telefongesprächen. Geheimdienstmitteilungen. Berichte der operativen Personenkontrolle. »Ein Verlassen der Wohnung oder der Besuch von geheimdienstlich erfassten Personen konnte während der ersten Tageshälfte nicht festgestellt werden. Um 16.35 Uhr fuhr in den Innenhof des Wohnhauses des Objekts ein Fahrzeug der Marke …« »Um 10.05 Uhr verließ das Objekt das Haus und begab sich zur Bäckerei, wo es ein Weißbrot erwarb …«
Blasse Buchstaben – das Farbband der Schreibmaschine war abgenutzt – spiegelten die Ohnmacht, die Blutleere derer, die unter Beobachtung standen. Er erinnerte sich an Tausende solcher Zeilen. Ihre Alltäglichkeit hatte damals wie ein Aphrodisiakum auf ihn gewirkt, als sichtbare Verkörperung der behördlichen Macht und der Nichtigkeit der Feinde im Inneren – Insekten, Würmer, Gekreuch unter der Lupe.
Jetzt – ein Leben später, in einem freien Land – kam es ihm so vor, als hätte er damals einen paranoiden Roman ohne Autor gelesen, den Text aller Texte, geschrieben von einer irren, staatlichen Gedächtnismaschine. Ein Roman mit dem Anspruch, das Leben weitestmöglich zu erfassen und eine polizeiliche Kopie davon zu erstellen.
Aber der Staat ist immer ein Zyklop, sein Sehvermögen monokular und eingeschränkt. Er erkennt nur die Wasserzeichen von Loyalität und Illoyalität. Die Spiegelungen von Verdachtsmomenten, die in zufälligen Ereignissen eine vermeintliche Verkörperung finden. Deswegen war eine solche Akte kein Duplikat des Lebens, dachte er, sondern dessen abgenabelter, dunkler Doppelgänger, hervorgebracht von Denunziationen, abgelauschten Worten, erspähten Szenen; sie war die Quelle einer geheimen, unheilvollen Macht, die die schützenden Schleier des Alltags herunterriss.
Auch er hatte solche Doppelgänger geschaffen, um mit ihrer Hilfe Jagd auf Menschen zu machen.
Jetzt aber machten sie Jagd auf ihn.
Wyrin konnte es nicht beweisen, sicher wusste er gar nichts. Er witterte es nur – mit dem sechsten Sinn des Opfers. Nicht einmal innerhalb ihrer Behörde wurden Geheimnisse ausgetauscht. Er konnte nur vermuten, dass es eine weitere, heimliche Anordnung gab, dass es sie geben könnte, als Schatten der anderen mit Sondernummer: »Betrifft Maßnahmen aufgrund des Verrats von …« Die Anordnung kam einem Urteil gleich. Denn in den Neunzigern hatte Wyrin der Polizei Angaben gemacht, als diese die Geschäftsbeziehungen seiner ehemaligen Kollegen, Scheinunternehmen, Geldwäsche und illegale Ausfuhr von Bargeld untersuchten. Damals schien das harmlos. Jetzt nicht.
Psychologen hatten ihn gewarnt, er könne den irrationalen Drang verspüren, die Botschaft anzurufen, sich zu ergeben. Oder ein sinnloses Risiko eingehen, die Regeln der Konspiration aus Dummheit missachten und damit unbewusst seine Enttarnung provozieren.
Nie jedoch hatte er etwas in dieser Art gefühlt.
Aber Wyrin erzählte den Psychologen auch nicht, dass er eine abergläubische Furcht vor etwas anderem hegte: einem dummen Vorkommnis, irgendeinem unbedeutenden, irrlichternden Zufall, einer tödlichen, widersinnigen Bagatelle, so wie vor einem Monat, als er einen amtlichen Brief erhielt, er sei als Schöffe ausgewählt worden.
Lotterie, ein Zufallstreffer: Das Computerprogramm hatte ihn unter den dreihunderttausend Einwohnern der Stadt ausgewählt. Man hätte sogar sagen können, das sei ein gutes Zeichen: eine Bestätigung, dass seine falschmünzerisch geprägte Identität keine Fragen bei uneingeweihten Bürokraten aufwarf, sondern gleichberechtigt mit allen übrigen in Umlauf war und kotiert wurde.
Er jedoch merkte auf. Als hätte er eine abtastende Berührung, einen unguten Blick verspürt. Immerhin hatte man ihm zugesichert, sein neuer Name werde nicht in offiziellen Verzeichnissen oder Listen auftauchen. Er musste seinen Verbindungsoffizier anrufen. Der entschuldigte sich und versprach, man werde seinen Namen löschen; angeblich hätten die Gerichte ihr Programm erneuert und die Datenbanken abgeglichen, so sei es zu diesem Patzer gekommen.
Wyrin bestand auf einer gewöhnlichen, legalen Lösung, wollte sich auf gesundheitliche Gründe berufen. Keine elektronischen Spuren hinterlassen, die indirekt auf den Sonderstatus von Herrn Michalski hinweisen könnten. Der Verbindungsoffizier lächelte nur höflich.
Sein Vorgänger hatte noch den Kalten Krieg erlebt. Die Mauer. Kürzlich war er in den Ruhestand gegangen. Der neue war erst Anfang dreißig. Als Wyrin floh, ging er noch in den Kindergarten. Wahrscheinlich kam ihm sein Schutzbefohlener wie unnötiger Müll vor, wie Gerümpel alter Leute, das auf dem Dachboden herumliegt.
Der meint, ich sei verrückt vor Langeweile, dachte Wyrin.
Sein erster Impuls war – wegziehen. Aber sogleich überlegte er es sich anders: Sollte er tatsächlich unter Beobachtung stehen, könnte ihn eine überstürzte Abreise verraten. Deswegen hielt sich Wyrin einen Monat lang strikt an den regelmäßigen Tagesablauf eines ungeselligen, alleinstehenden Rentners.
Und schon verschwand das bedrückende Gefühl der Besorgnis; nur die vertrauten, entbehrlichen Wehwehchen waren ihm geblieben.
Der August war da. An ihren Ständen auf dem Stadtmarkt verkauften Bauern morgens ihre burgunderrot schimmernden, vom goldenen Gesumm der Wespen umschwirrten Spätkirschen, eine wichtige Zutat einer Tortenspezialität der Region.
Die Kirschen waren fast überreif. Nirgendwo hatte er solche gesehen, sie waren die Goliaths unter den Kirschen, verstießen geradezu gegen alle Gesetze der Proportionalität, zeigten eine riesenhafte Deformität. Wyrin kaufte sich einen Beutel dieser untadelig süßen Kirschen, konnte sie aber nicht aufessen: zu viel geschmackloser Geschmack, lebloses Fruchtfleisch, es war, als würde man die reglosen Lippen eines Narkotisierten küssen.
Er wollte seine ausgedehnte Lieblingsroute entlangspazieren, um sich für die langen Wochen der Absonderung zu belohnen. Vom Fluss, der die Stadt teilte und nach dem Regen reißend und schlammig war, von dessen närrischen Wassern, die sich auffliegend mal zu Schaum, mal zur dumpf tönenden Welle verdichteten, ging Wyrin zu den Hügeln hinauf, in den Wald, der sogar an einem sonnigen Sommermittag dunkel war.
Er lief die Straße vom zentralen Platz hinauf, vorbei an dem bei Touristen beliebten Palais, wo aus einer Luke eine seltsame Figur über den Bürgersteig ragte: ein schnurrbärtiger Janitschar mit angemalter Weste, einem Schwert in der rechten und einem Schild in der linken Hand, eine Erinnerung an die grausame türkische Belagerung, die vergangene Bedrohung aus dem Osten.
Wyrin sah die Stadt schon längst nicht mehr wie ein Tourist. Ihn erheiterten weder die tanzenden Figuren der Kirchenuhr noch die steile Drahtseilbahn oder die Tunnel im Schlossberg. Den einsamen Janitscharen mit zwei voneinander abgewandten Monden auf seinem Schild, die aussahen wie umgedrehte Klammerzeichen, diesen Gott eines gefährlichen Zeitabschnitts, einer unguten Stunde, nahm Wyrin hingegen durchaus ernst. Er meinte, wenn ein Mörder seine Seele holen käme, würde ihn der Janitschar warnen, ihm ein Zeichen geben.
Vor dem Haus mit dem Janitscharen drängten sich Touristen. Flüchtig hörte er Worte seiner Muttersprache – nach seiner Einsiedlerphase klangen sie so unerwartet und durchdringend, als läge in ihnen, die so alltäglich klangen, eine geheime zweite Bedeutung, von der nicht einmal die Sprechenden wussten. Wyrin wechselte gemächlich die Straßenseite und betrachtete, ohne den Kopf zu drehen, das Spiegelbild im Fenster: nichts Besonderes, nur eine sonntägliche Führung.
Das Villenviertel. Der botanische Garten am Stadtrand. Die Scheiben der Gewächshäuser waren von innen so stark beschlagen, als verströmte darin eine fremde, tropische Vegetation mit dem raubtierhaften Gebaren von Reptilien und Insekten ihren heißen Atem und ätzenden Schweiß, sammelte alle Kräfte für einen Ausbruch.
Wyrin kam auf eine unbefestigte Straße, die im Zickzack aus dem Tal einen Hang hinaufführte.
Der Wald war märchenhaft groß. Er wuchs an den gedunsenen Hängen eines Gebirgskamms aus Kalkstein, der jäh in einem schemenhaften Dickicht abbrach, einem grünen Moder aus Farn und Moos. Darin verschwammen die Entfernungen, eine Straße schlängelte sich steil hinauf, die Sonne kam mal von rechts, mal von links. Aber wenn man schon meinte, vom Weg abgekommen zu sein, ertönte in der Ferne hallend und klar die Kirchenglocke; und eigentlich war es wegen des gedehnten Nachhalls des Glockenkupfers, der ihn zu rufen, zu ermutigen, seine Befürchtungen zu zerstreuen schien, warum Wyrin diesen Weg zwischen den mächtigen Tannen so liebte: All das erinnerte ihn an die Wälder seiner Kindheit.
Er schritt voran und fühlte, wie sein Körper von wohliger Erschöpfung erfüllt wurde. Wyrin kannte hier jede Wurzel, jede Kuhle auf dem Weg. Schon freute er sich auf die mit Ebereschen gesäumte Weide, die gleich links auftauchen würde – wahrscheinlich hatten die Beeren schon Farbe angenommen … Das Gehen ermüdete und ermunterte ihn gleichermaßen, seine vor kurzem gehegten Befürchtungen erschienen ihm jetzt absurd; anscheinend bin ich nun wirklich alt, dachte er, und unnötig argwöhnisch.
In der letzten Kurve zeigte sich schon die Basilika. Sie stand auf einer Anhöhe, die das Obertal teilte. Die von zwei Glockentürmen umrahmte gelbe Fassade setzte die vertikale Linie des Steilfelsens fort. In ihren Ausmaßen übertraf die Basilika die Stadtkirche bei weitem. Dennoch war sie hier an einem Bergpass, einem alten Pilgerweg errichtet worden, um mit ihren majestätischen Gewölben auf die Bedeutung einer vor langer Zeit inmitten der stummen Abgeschiedenheit dieser Felsen erfahrenen Offenbarung und Glaubensfindung zu verweisen.
An der Rückseite der Basilika lag im Schatten von Kastanienbäumen ein Restaurant mit wohlschmeckender Küche. Die Kellner hier kannten ihn schon – oder gaben vor, ihn zu erkennen –, sprachen ihn zwar nicht an, aber lächelten zurückhaltend und respektvoll. Hier fühlte er sich voll und ganz als Herr Michalski; und das prickelnde Gefühl der Verschmelzung von wahrer und erfundener Identität nahm er dann wie ein seltenes Geschenk mit auf den Nachhauseweg in der talabwärts fahrenden Straßenbahn.
Heute war die Terrasse des Restaurants gut besucht: Sommer, Wochenende. Nur ein Tisch am Rand war frei, hinter einem Baum mit üppiger Krone, neben Sandkasten und Schaukel. Sicher würden lebhafte Kinder vorbeirennen und Lärm machen … Wyrin zog es vor, inmitten von bedachtsam speisenden Menschen zu sitzen, hinter Fremden, im Dunstkreis ruhiger Gespräche, dem Klappern von Messern und Gabeln, wo er kaum belauscht, fotografiert oder angepeilt werden konnte.
Wyrin betrachtete die Umsitzenden: Wollte da vielleicht jemand gehen? Nein, alle saßen entspannt und fröhlich da. Die Brünette am nächsten Tisch hatte ein pikantes Fleckchen Crème brûlée auf der Oberlippe. Sie wischte oder leckte es nicht ab, schien zu wissen, wie betörend, wie aufreizend das aussah. Um den Hals trug sie ein Geschmeide aus dunklem Metall, das einem Hundehalsband ähnelte – Kennzeichen lüsterner Triebe, wollüstiger Qualen, angelegt mit flattriger Schamlosigkeit fürs Restaurant hinter der Kirche.
Die Schwester der Brünetten, mindestens im achten Monat schwanger – das Kleid spannte sich über dem prallen Bauch, ließ ihre kräftigen Beine frei –, aß mit einem solchen Appetit gleichzeitig Schokoladenkuchen und Schnitzel, als wäre ihr ungeborenes Kind schon überreif und verlangte nun seinen Anteil am Festmahl.
Wyrin wollte gehen. Ihm war ein wenig übel: von der Erschöpfung, von den schweren Gerüchen, der Undurchdringlichkeit fremden Stimmengewirrs. Die Stadt war klein, hier waren alle dritten oder vierten Grades miteinander verwandt, was die stickige Schwüle des Inzests verbreitete und jemanden wie ihn verdrängte wie salziges Meerwasser einen Fremdkörper.
Dann aber bemerkte er den Zauber des verspielt glitzernden Lichts im Kastanienlaub, der hellblauen, gebügelten Tischdecken – keine einzige Falte! –, der langhalsigen Flaschen mit eiskaltem Wasser, des arglosen Geplauders an den Nachbartischen, der graziösen Bewegungen der Kellner, die auf ihren Schultern riesige Tabletts für sechs oder acht Teller trugen, auf denen über alle Köpfe hinweg zwischen kunstvoll zerzausten, wie von einem Friseur angerichteten Salatblättern – fettes Grün mit purpurner Äderung – goldgelb gebackene Schnitzel schwebten, die so aussahen wie die von einem glühenden Schmelzofen ausgespuckten Kupferkleckse.
Mmh, ist das lecker – sang die schwangere Frau flüsternd ihrem ungeborenen Baby zu. Über dem Hintereingang der Basilika blies ein Engel mit pausbäckigem Kalksteingesicht lautlos in eine goldene Trompete. Und Wyrin hatte das Gefühl, in diesem sorglosen, allumfassenden Sommer zu versinken.
Wyrin bestellte sich Bier und ein Steak. Der berauschende Geruch zog die Wespen an. Nicht die Reste von Süßspeisen auf den Tellern der Nachbarn, nicht diese Spuren von Honig und Schokolade betörten sie – nur der Rausch. Sie krochen den Rand des Glases entlang, wollten sich auf seiner Schulter, seiner Hand niederlassen, umkreisten ihn aufdringlich und hartnäckig. Er schlug sie weg, verschüttete fast sein Bier. Er war allergisch gegen Insektengift. Als er noch im Dienst war, hatten ihm die Ärzte gesagt, die Allergie werde sich mit fortschreitendem Alter verschlimmern, und vorgeschlagen, ihn aus gesundheitlichen Gründen auszumustern. Wespen, überall Wespen – er stellte das Glas weiter weg, schnipste eine nach der anderen vom Tisch und bedauerte, keine Jacke mitgenommen zu haben.
Ein Stich, ganz plötzlich, am unbedeckten Nacken. Schmerzhaft wie die Spritze von einer unerfahrenen Krankenschwester.
Er griff sich an die Stichstelle, aber die Wespe war schon weg. Er drehte sich um, im Bann dieses Schmerzes, und bemerkte mechanisch: Da geht ein Mann, steigt in ein Auto. Fremdes Nummernschild.
Ein Reißen im Nacken. Der Schmerz kroch in alle Richtungen, zur Schulter, über die Wange, zur Schläfe. In der Wunde spürte er mit den Fingern etwas mikroskopisch Kleines – wahrscheinlich der Stachel.
Verdunklung. Beschleunigter Atem. Trockene Hitze im ganzen Körper. Mit Mühe stand er auf, ging zur Toilette.
Waschen. Mit kaltem Wasser waschen. Die Pille schlucken. Aber erst waschen. Wie es im Hals drückt! Die Pille kriegte er wohl nicht mehr runter. Die Haut brannte.
Er konnte kaum noch stehen, stützte sich am Waschbecken ab, wusch ungeschickt sein Gesicht. Die Wespe hatte rechts im Nacken zugestochen, der rechte Arm ließ sich kaum beugen. Er schob, presste die Pille durch die Kehle. Sah im Spiegel sein graues, blutleeres, gleichzeitig aufgeblähtes Gesicht, als hätte jemand böswillig die Arbeit des Chirurgen zunichtemachen und ihm gewaltsam sein früheres Aussehen zurückgeben wollen.
Die Pille hätte längst wirken müssen. Ein brandneues Mittel.
Aber sie wirkte nicht.
Auf seiner grauen Haut blühte ein roter Ausschlag. Magenkrämpfe. Er sank zu Boden, starrte auf die Fliesen – und da wurde ihm alles klar. Der Mann war kein Gast des Restaurants gewesen. Dort, wo er geparkt hatte, stellten die Einheimischen nie ihre Autos ab.
Mit letzter Kraft stand er auf, ging, sich an den Wänden festhaltend, hinaus in den Flur. Der zugeschwollene Hals ließ kein Schreien, keine Hilferufe zu. Auf der Veranda stieß er auf einen Kellner, der ein Tablett mit Flaschen und Gläsern aus der Küche trug. Der dachte wohl, der Gast sei betrunken, ja, völlig besoffen, und trat beiseite. Da stürzte er, riss den Kellner mit, die Vortreppe hinunter, er hörte das laute Klirren von zerbrochenem Geschirr und hoffte, alle würden es merken, sich umdrehen, und er zischte, gurgelte direkt in ein fremdes Ohr:
»Notarzt … Polizei … Ein Anschlag … nicht betrunken … Gift … wurde vergiftet …«
Aber da war er schon in sich zusammengesackt, hörte immer noch die Geräusche der Welt, verstand aber nicht mehr, was sie bedeuteten.
Die beiden Generäle kannten sich, seit sie zusammen unter den roten Bannern mit Hammer und Sichel gedient hatten.
Der Generalleutnant war damals Vorsitzender des Parteikomitees gewesen. Inoffiziell hatte er eine nummerierte Einheit geleitet, die nicht einmal im streng geheimen Stellenplan aufgeführt gewesen war. Der Generalmajor war sein Stellvertreter, sein Nachfolger, sein Rivale. Das Parteikomitee war vor langer Zeit abgeschafft worden, die Diensteinheit jedoch geblieben. Sie hatte alle Behördenreformen, die Wechsel von Bezeichnungen und Leitern, Ausgliederungen und Zusammenlegungen überlebt. Nach wie vor wurde die Einheit nur mit einer Nummer bezeichnet und tauchte nicht im Dienststellenregister auf.
Sie unterhielten sich in einem abhörsicheren Raum, brauchten keine Angst vor Lauschern zu haben. Aber ihre spezifische Sprache – ausgeklügelt und voller berufsmäßiger Euphemismen – ermöglichte es ihnen, Sätze nicht zu Ende zu sprechen und so zu konstruieren, dass sie sowohl als Gewissheit wie auch als Zweifel ausgelegt werden konnten.
Beide waren sich bewusst, dass sich ihr heutiges Gespräch höchstwahrscheinlich zu einem Befehl verdichten würde, der von ganz oben sanktioniert, aber unausgesprochen bleiben und nicht im System der geheimen Schriftführung registriert werden würde. Beide Generäle wollten vermeiden, bei einem Misserfolg die Verantwortung übernehmen zu müssen, wollten bei einem Erfolg aber profitieren. Der eine wusste, was der andere dachte.
»Nach Angaben der Nachbarbehörde starb er vier Tage später im künstlichen Koma. Fast hätte sein Organismus die Kurve gekriegt, sozusagen. Nicht auszuschließen, dass die Dosis zu klein war. Oder die Art der Verabreichung falsch. Vielleicht konnte er noch ein blockierendes Mittel nehmen. Oder eine andere Fremdsubstanz hat die Wirksamkeit des Präparats herabgesetzt. Auch der Faktor Wetter könnte eine Rolle gespielt haben. Der Luftdruck. Er war in den Bergen, in großer Höhe. Bevor er das Bewusstsein verlor, schaffte er es noch, etwas von einem Anschlag zu sagen. Der Kellner war früher Polizist. Ein anderer hätte das kaum beachtet, es für das Gefasel eines Betrunkenen gehalten …«
»Also wollte unsere Nachbarbehörde nun diesen Aufruhr oder nicht?«
»Die Details werden uns natürlich nicht mitgeteilt. Möglicherweise werden sie gute Miene zum bösen Spiel machen und behaupten, die Aktion war so geplant, dass sie Aufsehen erregt.«
»Nun ja … Kommen wir zu unseren Informationen.«
»Es wurde dort ein abteilungsübergreifender Untersuchungsausschuss einberufen, es gelten die internationalen Protokolle. Die holen jetzt ausländische Chemieexperten dazu. Spezialisten mit der erforderlichen Qualifikation gibt es nur wenige. Geladen sind vier. Drei davon sind uns bekannt, in unsrer Kartei. Namhafte Leute. Der Vierte ist bei uns nicht aktenkundig. Keine Informationen verfügbar. Auf unsere Anfrage hin wurden sachkundige Vertrauensleute befragt. Niemand von ihnen hat je von diesem Wissenschaftler gehört. Wir setzen die Suche fort, die Residenturen im Operationsgebiet sind alarmiert.«
»Nun ja, wahrscheinlich irgendein Wald-und-Wiesen-Professor …«
Die beiden kicherten verhalten.
»Der Informant berichtet, dass dieser Professor nie zuvor an polizeilichen Aktivitäten beteiligt war. Vielleicht wurde er vom Militär benutzt, aber davon weiß der Informant nichts. Er ist nicht direkt an der Untersuchung beteiligt. Seine Möglichkeiten sind im Weiteren begrenzt. Er koordiniert nur die Zusammenarbeit seitens der Polizei seines Landes.«
Die beiden Generäle verstummten. Sie konnten sich sehr gut die bürokratische Strategie vorstellen, wenn es um ein besonderes Vorkommnis ging: kontrolliertes Chaos, einen Haufen Papiere, Genehmigungen sowie Dokumente, die anderen Diensteinheiten zur Verfügung gestellt werden müssen. Zwangsläufige Aufhebung der Geheimhaltungsvorschriften. Interimskommissionen. Externe Spezialisten, die man zu einem anderen Zeitpunkt nicht über die Schwelle lassen würde. Ob die Operation der Nachbarbehörde nun nach Plan verlaufen war oder nicht – sie bot ihnen ganz zufällig eine brillante Gelegenheit, von der die Kollegen dort nichts wussten.
»Es ist überaus wahrscheinlich, dass es sich bei diesem Professor um Kalitin handelt«, sagte der Stellvertreter schließlich.
»Ja, das ist wahrscheinlich. Es passt zu seiner wissenschaftlichen Spezialisierung. Haargenau. Und da der Verdacht offenbar auf unser Land fällt, wäre es plausibel, ausgerechnet ihn dazuzuholen. Falls er natürlich noch lebt. Und bei Sinnen ist.«
»Er ist erst siebzig. Ich gehe davon aus, dass er auf seine Gesundheit achtet. Sowohl die körperliche als auch die geistige.«
»Haben wir seine Adresse?«
»Vom Informanten.«
»Gefährden wir den damit?«
»Das lässt sich nicht mit Sicherheit sagen.«
»Ist der Informant wertvoll?«
»Nur mäßig. Wegen seiner DDR-Vergangenheit wurde er kaum befördert. Geht bald in Rente.«
»Verstehe. Wir müssen an die Residentur eine Anordnung senden. Die sollen Erkundigungen einholen. Die Besten schicken.«
»Sollte er sich anfinden, kann man eine Maßnahme vorbereiten. Und eine Genehmigung erwirken.«
»Interessant. Wenn es Kalitin ist, wird es sehr interessant.«
»Der Debütant …«
»Ja. Der Debütant. Sein Liebling.«
»Keiner der jetzigen operativen Mitarbeiter hat Erfahrung mit dem Debütanten.«
»Weiß ich.«
»Aber einen Kandidaten haben wir dennoch. Er hat früher mal eine Operation mit Kalitins Vorgängerpräparat durchgeführt. Allerdings fehlt es ihm an Auslandserfahrung, auch wenn er dort geboren wurde und aufgewachsen ist. Sein Vater diente in unserer Heeresgruppe. Er kann die Sprache gut. Hier ist seine Kaderakte.«
»Schau ich mir an. Schicken Sie sofort alle erforderlichen Anweisungen raus.«
»Zu Befehl.«
Der Stellvertreter verließ das Zimmer.
Der General schlug die Akte auf.
Schlange und Schale.
Manchmal kam es Kalitin so vor, als würde ihn dieses unauffällige, für andere alltägliche Emblem verfolgen.
Aushängeschilder an Apotheken. Allgegenwärtige Krankenwagen. Medikamentenverpackungen. Die Patientenaufnahme im Krankenhaus. Namensschilder des medizinischen Personals. Übrigens hatte er fast gelernt, sich fernzuhalten, nicht auf sie zu achten, die Bedeutung des Emblems nicht auf sich zu beziehen.
Was jetzt aber nicht möglich war.
Der Verdacht der Ärzte bestärkte seinen eigenen, von dem die Ärzte nichts wissen sollten. Die Veränderungen in seinem Organismus konnten eine Spätfolge früherer Experimente sein, das Aufplätschern einer Welle von vorgestern. Stets hatte er sich streng an die Sicherheitsbestimmungen gehalten, aber zu unberechenbar, ungezähmt und unverstanden waren sie damals gewesen, seine Substanzen. Seine Kinder. Sein Nachlass.
Einige Eingriffe der Ärzte erforderten eine örtliche Betäubung.
Das vom Anästhesisten gewählte Narkosemittel hatte eine unerwartete, aber harmlose Nebenwirkung von der Art eines schwachen, amateurhaften »Wahrheitsserums«. Kalitin erhaschte klare, gleichsam digitalisierte Erinnerungen, sentimentale Träume von vergangenen Dingen, an die er sich im Wachzustand längst nicht mehr erinnerte.
Wieder ist er ein kleiner Junge, ein Schüler, ein gefügiger Sohn, der seine Berufung noch nicht gefunden, seinen Mentor noch nicht getroffen hat. Er befindet sich in der Phase des Heranreifens, in der zwar die Grundlagen einer vernunftgesteuerten Biographie gelegt werden, aber dennoch die kindliche Gabe lebt, die Welt mit großen Geheimnissen zu besiedeln, Schrecken und Begeisterung vor dem Unerklärlichen zu empfinden; und aus diesem vitalen Widerspruch entstehen manchmal, nicht bei jedem, bestimmte Anziehungskräfte, Neigungen, Symbole, schicksalhafte Zeichen.
… Jedes Jahr zu Ostern fährt er mit seinen Eltern zu Onkel Igor.
Eigentlich weiß der Junge nicht, was das ist – Ostern. Zu Fastnacht bäckt man Pfannkuchen. Zu Ostern färbt man Eier in einem Zwiebelschalensud und macht ein Osterbrot. Soll das ein Feiertag sein? Im Abreißkalender gibt es ihn nicht. In der Schule redet niemand darüber. Anscheinend verstehen auch die Eltern kaum, warum man Ostern feiert. Sie hätten es wohl auch nicht getan. Aber da sie von Onkel Igor eingeladen sind, können sie nicht ablehnen. Er ruft an und setzt den Tag fest; in diesem Gespräch fällt kein Wort über Ostern, das scheint selbstverständlich zu sein.
Wer ist er, dieser Onkel Igor? Der Junge ahnt, dass er nicht sein leiblicher Onkel ist. Oder genauer gesagt, nicht ganz. Eine Blutsverwandtschaft gibt es ganz sicher, aber sie ist verworren, erfordert eine akribische, apothekerhaft penible Berechnung der Verwandtschaftsanteile, ein Durchblättern der abgegriffenen Fotoalben, die in einem entfernten Winkel aufbewahrt werden und ohne Erwachsene nicht angeschaut werden dürfen. Dort, zwischen unbekannten Gesichtern, befremdlichen Orten, Landschaften, Häusern, idyllischen Hintergründen in Fotoateliers der Provinz, scheint auf einmal eine Frau in einem weißen Kleid auf, die am anthrazitfarbenen Koloss eines Konzertflügels sitzt, in die aufgeschlagene Geheimschrift der Noten schaut. Sie ist es, die am Beginn einer rätselhaften Kette körperlicher Transformationen steht – vom Feinen zum Feisten, vom Hohen zum Niedrigen, vom Dunklen zum Hellen und umgekehrt –, in der Onkel Igor das letzte Glied ist.
Der Junge hat längst begriffen, dass er zu manchen Personen auf den Fotos keine Fragen stellen soll. Sie würden sowieso nicht beantwortet werden oder er bekäme irgendeinen Unsinn zu hören. Aber zu gegenwärtigen Personen, etwa den Nachbarn oder den Kollegen seines Vaters, kann er Fragen stellen.
Zu allen, außer zu Onkel Igor.
Sie leben im neuen Städtchen. Zehn Jahre zuvor war hier noch unbewohnte Taiga. Deswegen sind sie Neusiedler, Enthusiasten; so werden sie in feierlichen Reden tituliert. Das Städtchen ist von einem Schutzwall umgeben, einer grauen Betonmauer, über die Stacheldraht gespannt ist. Der Schutzwall wurde sozusagen auf Zuwachs gebaut: Zwischen ihm und den Wohnvierteln erstreckt sich gerodetes Ödland. Wegen des Schutzwalls bekommt die Familie keine Anrufe. Keine Briefe. Keinen Besuch. Ihr Städtchen ist auf keiner Karte, in keinem Telefonbuch oder Atlas verzeichnet. Hier fahren keine Personenzüge. Es landen auch keine gewöhnlichen Flugzeuge. In den Zeitungen steht nichts über das Städtchen. Auch im Rundfunk kein Wort. Das Städtchen wird nicht im Fernsehen gezeigt. Es heißt Sowjetsk-22. Und für diejenigen, die dort leben, nur Städtchen.
Soweit sich der Junge erinnert, ist er nie außerhalb des Schutzwalls gewesen. Trotzdem weiß er, von wo er und seine Eltern stammen – oft erinnert sich seine Mutter wehmütig an die Hauptstadt, wo seine Eltern geboren wurden, wo sie studiert und sich kennengelernt haben, wo seine Großmütter und seine Tante sind.
Aber Onkel Igor scheint hier geboren zu sein. Entstanden zusammen mit dem Städtchen, seiner Sechs-Zimmer-Wohnung im dritten Stock eines Gebäudes, das jeder in der Stadt kurz »Das Haus« nennt.
Wenn jemand sagt »Wir ziehen bald ins Haus«, versteht jeder neidvoll, was damit gemeint ist. Das in der »Straße der Revolution«. Das auffälligste in der Stadt. Neun Stockwerke. Säulen am Eingang und Stuckleisten unter dem Gesims. Bronzene Türgriffe am Vordereingang, wo Eintretende auf einen Wachmann treffen. Hohe Decken und riesige Wohnungen. Zwei Aufzüge in jedem Aufgang.
Man erzählt sich, es seien mehrere solcher Gebäude geplant gewesen. Aber aus irgendeinem Grund wurde nur das eine gebaut. Darin zu wohnen ist eine große Ehre. Sein Vater sagt manchmal, dass sie vielleicht auch eines Tages dort eine Wohnung bekommen. Dann setzt die Mutter ein schiefes, ironisches Lächeln auf.
Keiner seiner Klassenkameraden war je im Haus. Er aber schon. Doch noch beschäftigt ihn das Haus nicht sonderlich. Es ist nur eine äußere Hülle, wie die Schalen der Stuckmuscheln, die das Gesims des Hauses stützen – und darin ruhen die Geheimnisse von Onkel Igors Leben.
Für die Eltern ist es offenbar anders. Unangenehm für den Vater. Er würde lieber nicht mit ihm dorthin gehen. Fremde Kreise, sagt er. Aber Onkel Igor hat alle drei eingeladen, und der sture Vater muss sich fügen – warum eigentlich? Das würde der Junge gern wissen.
Und Mutter … Einmal hat der Junge mitbekommen, wie sie in Abwesenheit des Vaters das Geburtstagsgeschenk von Onkel Igor anprobierte, einen Morgenmantel. Der war überirdisch schön, aus weinroter, feiner Seide, mit Vögeln, Blumen und Drachen bestickt. Sie stand vor dem Spiegel, hüllte sich eng hinein, so dass sich ihre Figur abzeichnete, dann schlug sie den langen Saum auseinander. Das Mailicht sprühte aus dem Spiegel, die gelben Lotusblätter erzitterten. Drachen aus Silber und Gold mit smaragdgrünen Augen umwanden ihre Hüften, versprühten perlenden Rauch aus ihren violetten Nasenlöchern. Sie war bekleidet, doch so entblößt in ihrem Gefühl, dass der Junge verlegen wurde und die Tür schloss. Aber nicht Scham lenkte seine Hand, sondern enttäuschtes Verlangen: Er wollte ihre Nähe zu Onkel Igor, der durch dieses Geschenk präsent war, mit ihr teilen.
Als er den Morgenmantel kurz danach selbst anprobierte, ließ ihn der doppelte Frevel dessen, was er tat, erstarren – er hatte eine Grenze verletzt und etwas Feminines angezogen. Sofort warf er den Mantel wieder ab, betäubt vom widerlichen und quälenden Gefühl einer vulgären Verwandlung. Der Junge merkte sich jedoch den Vorgang, diese Methode, und bewahrte sie im Vorgefühl, sich ihrer eines Tages bedienen zu können.
Der Junge weiß längst, wie das Leben im Städtchen funktioniert, und hat alle ihm bekannten Menschen auf Schubladen verteilt. Dafür ist die Stadt glücklicherweise sehr gut organisiert. Im Zentrum, hinter einem zweiten Schutzwall, befindet sich das Institut, in dem sein Vater arbeitet. Die Einwohner – Wachpersonal, Reinigungskräfte, Schlosser, Fahrer, Wissenschaftler, Verkäuferinnen, Lehrer, die Mediziner im Krankenhaus wie seine Mutter –, alle dienen direkt oder indirekt dem Institut.
Nur Onkel Igors Position ist ihm unklar.
Weder militärisch noch zivil, lässt er sich nirgendwo einreihen. Steht allein. Für sich.
Er ist der Einzige, der so lebt, als gäbe es das alles nicht – das Städtchen, den Schutzwall, das Institut, die Kommandantur; rote Fahnen, Transparente, Demonstrationen, Plakate, die zur Wachsamkeit aufrufen, Beobachtungsposten.
Der Junge ahnt, dass er die wichtigsten Gründe für Onkel Igors Sonderstellung nicht kennt, und er ist sich sicher, dass Onkel Igors Tätigkeit geheim ist wie die seines Vaters. Vielleicht sogar noch geheimer. Jedoch haben alle Erwachsenen, die mit diesen Geheimnissen umgehen, dieselben Gewohnheiten und Scherzwörter, bestimmte Codes, die Onkel Igor nicht benutzt. Und das Wichtigste – sie alle leben wie sein Vater in dem Bewusstsein, dass ihre Bedeutung nur geliehen ist, ihnen einen Zutritt gewährt, den zu verlieren sie ständig fürchten. Nur Onkel Igor ist eigenständig. Und genau diese Existenz einer losgelösten Schwerelosigkeit will der Junge auch für sich.
Bei Onkel Igor ist zu Ostern der lange Tisch mit einer dünnen Leinentischdecke bedeckt, die mit Sprichwörtern in altrussischen Buchstaben bestickt ist. Darauf stehen ein zwölfarmiger Leuchter mit dunkelgrünen Kerzen und Weingläser mit Goldrand. Onkel Igor hat die alte Gitarre von der Wand genommen: In dem durch die Saiten vergitterten runden Fensterchen scheint in mattem Gold der Name des Instrumentenmachers auf.