TOM BELZ
und Friederike Moldenhauer
Do what you can't
Mit einem Bein auf den Kilimandscharo
FISCHER E-Books
»In meinen Vorträgen sitzen Menschen, die sich im Leben durch irgendetwas behindert fühlen – und das ist in der Regel keine körperliche Behinderung.« Tom Belz (geboren 1987) selbst lässt sich durch nichts aufhalten. Mit einem Bein spielt er Fußball und Schlagzeug in einer Metal-Band. 2017 wird er Markenbotschafter für Outdoor-Labels, hält Vorträge als Keynote Speaker auf Messen, Festivals und Lifestyle Events. 2018 besteigt er mit dem Kilimandscharo, den höchsten Berg Afrikas. 2019 läuft sein Film »Mbuzi Dume – Starke Ziege« weltweit in den Kinos. Tom Belz lebt in Seligenstadt.
Friederike Moldenhauer ist Autorin und Übersetzerin u.a. der Biografie von David Bowie und Robert De Niro.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
»Ich liebte es, mit meinen Kumpels während der Pausen auf dem Schulhof ein paar Bälle zu kicken. Selbst bei winterlichen Temperaturen taten wir das, auch an jenem Tag im November 1995, als ich zum ersten Mal Schmerzen in meinem linken Bein spürte. Es war ein Schmerz, wie wenn man sich den Musikantenknochen anstößt, nur ging er nicht mehr weg. Ich habe mir nichts daraus gemacht, aber das Bein tat weiter weh, deshalb erzählte ich nach drei Tagen meinem Vater davon. Mein Vater schmierte mir Sportsalbe auf die Stelle, doch es wurde nicht besser. Nach drei weiteren Tagen Behandlung mit der Salbe gingen wir zu unserem Hausarzt, weil die stechenden und pochenden Schmerzen nicht abebbten. Sofort schickte er uns zu einer Röntgenpraxis und sagte, wir sollten abends wiederkommen. Mit den Röntgenbildern kehrten wir zurück, weit nach achtzehn Uhr, der Hausarzt hatte auf uns gewartet. Er deutete auf dem Bild auf einen kleinen dunklen Fleck, der auf meinem Oberschenkel sichtbar war: In dem Hubbel über dem Knie verbarg sich ein Tumor. Abgesehen von einem Schnupfen war ich vorher nie krank gewesen.«
Originalausgabe
Erschienen bei FISCHER E-Books
© 2021 S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Covergestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-491233-2
… für all diejenigen, die immer noch in die falsche Schublade gesteckt werden.
Und eins und eins und eins und eins.
Ich konzentriere mich auf jeden Schritt. Auf jeden Schritt und jeden Atemzug. Regelmäßig jeden Schritt setzen, regelmäßig jeden Atemzug nehmen, nicht aus dem Rhythmus kommen. Nicht stehen bleiben, weiterlaufen. Jeder falsche Schritt, jedes Anhalten und wieder neu Ansetzen kostet wertvolle Energie, und die brauche ich, brauchen wir. Gleichmäßig durch die Nase ein- und durch den halbgeschlossenen Mund wieder ausatmen. Nicht den Kopf heben. Der Lichtstrahl meiner Stirnlampe ist auf den Boden gerichtet. Ich konzentriere mich voll auf die Spur meines Vordermannes. Wenn ich sehe, dass sein rechter Stiefel ein vollständiges Profil im Schnee hinterlässt, weiß ich, dass diese Stelle sicher ist und ich dort auftreten kann. Ist das nicht der Fall, muss ich mir eine Alternative suchen und tastend den nächsten Schritt setzen. Nicht ausrutschen, nicht kippen. Wieder aufstehen zu müssen braucht zu viel Kraft. Die nächsten Meter, die nächsten Schritte. Links und rechts die Krücken aufsetzen. Einen Schritt. Und den nächsten. Große Eisblöcke für die Krücken finden, um nicht abzurutschen. Ich sehe nichts außer dem Lichtkegel meiner Lampe, die Spur meines Vordermanns, Godlisten, und meinen Atem, der in kleinen weißen, regelmäßigen Schwaden aus meinem Mund strömt. Ringsherum ist es stockfinster, kein noch so winziges Licht erhellt die Nacht. Nur im Kreis des Lampenscheins wird das Licht ein wenig vom Schnee reflektiert, vor fünf oder sechs Stunden schluckte das dunkle Geröll auch das. Dort fiel das Gehen leichter, die Steine waren kleiner, und der Pfad zum Pass stieg nur leicht an. Hier weiter oben hat der Wind tiefe Furchen in den Schnee gefräst. Die vereiste Oberfläche ist von schmalen, chaotischen Gräben durchzogen, in die man fast bis zum Knie abrutschen kann. Das vermeiden. Das kostet Kraft, das schmerzt. Noch einen Schritt und noch einen. Und eins und eins und eins.
Von den anderen höre ich nichts, bis auf meinen Vordermann nehme ich sie kaum wahr, obwohl ich weiß, dass noch zwei Porter hinter mir sind. Seit der letzten kurzen Pause am Stella Point haben wir nur die nötigsten Worte gewechselt, der Wind weht unablässig, man müsste gegen ihn anschreien, aber das braucht zu viel Energie. Ich höre Musik. Während der Vorbereitung hatte ich mir viele Gedanken über meine Playlist gemacht. Jetzt läuft von Zack Hemsey »The Way«. Der Rhythmus trägt mich, treibt mich voran, obwohl ich schon längst keine Kraft mehr habe und meine Arme kaum noch spüre. Die Musik habe ich aufdrehen müssen, so laut ist der Wind. Er schneidet mir in die Wangen, reizt die Augen und lässt die Tränen auf meinem Gesicht gefrieren.
Ich konzentriere mich auf die Spur meines Vordermannes im Rhythmus der Musik. Wie in den letzten Stunden und wie in den nächsten, das Gefühl für Zeit habe ich schon längst verloren. Ich weiß nur: Es geht weiter voran, weiter nach oben und weiter durch die Nacht, während der Wind eiskalt bläst.
Aber dann wache ich aus meiner Trance auf, irgendetwas ist passiert. Die Kolonne hält an. Was ist los? Ich richte mich auf und hole Luft. Ich sehe zu Godlisten, der uns anführt. Er wendet sich zu uns um und wedelt mit den Armen. Es kommt Bewegung in die Gruppe, die anderen holen auf und kommen näher. Alle scheinen etwas zu schreien, ich ziehe meine Ohrstöpsel raus, um sie zu verstehen. Und erst dann sehe ich das Schild, nur wenige Meter direkt vor mir:
MOUNT KILIMANJARO.
CONGRATULATIONS
YOU ARE NOW AT
UHURU PEAK TANZANIA,
5895 M.
Wenig später geht die Sonne auf. Aus einem winzigen gelben Punkt am Horizont bahnt sich ein immer größer werdender Strahl wie ein Laser seinen Weg durch die Nacht. Und mit dem Aufsteigen der Sonne sieht man erst, dass wir über den Wolken sind. Nichts versperrt die 360-Grad-Sicht auf den Planeten Erde zu unseren Füßen.
Ich glaube, wir haben es tatsächlich geschafft. Ich hole tief Luft. Bin erst mal ganz still. Und ich denke an die anderen, die unten und zu Hause auf mich warten. Alle die, die mir geholfen haben, ganz hier oben anzukommen, auf dem Top of Africa. Und die ich doch zurücklassen und ohne die ich diese letzten Schritte auf den Kilimandscharo alleine machen musste.
Eine ganz normale Kindheit
Ich bin mit Kreuzworträtseln aufgewachsen, aber ich würde selbst nie auf die Idee kommen, in einer Zeitschrift nach einem zu schauen. Doch wenn ich meine Eltern besuche, dann setze ich mich mit Claus, meinem Vater, zusammen hin und rätsle. Er liebt es, Kreuzworträtsel zu lösen, und meine ganze Kindheit lang begleitete mich ein nach der richtigen Lösung suchender Vater. Das Fach unter dem Couchtisch meiner Eltern ist voller Zeitschriften, Stifte und Bücher von ihm. Früher lagen dort auch noch seine Packung Camel und sein Feuerzeug. In den Achtzigerjahren hat Rauchen ja dazugehört, und es wurde überall in der Wohnung gepafft, abgesehen von meinem Kinderzimmer.
Meine Mutter heißt Marion, aber ich nenne sie Mumie – das muss ich wohl erklären: Ich bin zweisprachig Deutsch und Englisch aufgewachsen, und da im Englischen Mami mommy heißt, aber auch wie mummy klingt, was im Englischen Mumie bedeutet, entstand der Name Mumie. Bis heute ist sie diesen Namen nicht losgeworden.
An meine Einschulung kann ich mich nicht mehr erinnern, wohl aber, dass es gleich in der ersten Woche Ärger gab. Meine Mutter bekam einen Anruf aus dem Sekretariat, ich hätte ein Mädchen geschlagen.
In einer der Pausen haben wir Fangen gespielt, unser Mal war ein großer alter Baum, der auf dem Schulhof stand. Wenn man dort also anschlug, war man safe. Außer uns Erstklässlern haben dort auch Kinder aus der dritten Klasse getobt. Ich wollte gerade anschlagen, da baute sich ein Mädchen, das einen Kopf größer war als ich, vor mir auf und sagte: »Du darfst nicht mitspielen!« Dann schubste es mich, ich stolperte über eine Wurzel und schlug rücklings auf den Boden. Ich war völlig übertölpelt! Ich kannte das überhaupt nicht, dass jemand zu mir sagt: »Das darfst du nicht« oder »Das ist unseres« oder »Du darfst nicht mitspielen«. Ich bin zwar Einzelkind, aber ich habe immer gelernt, zu teilen und andere mitmachen zu lassen. Das empfand ich als absolut ungerecht und konnte damit überhaupt nicht umgehen.
Jedenfalls bin ich wieder aufgestanden und habe dem Mädchen kräftig eins mit der Faust auf die Nase gegeben. So wütend war ich über diese Ungerechtigkeit! Sofort begann ihre Nase zu bluten, und es gab natürlich ein riesiges Theater, das in dem Anruf bei meiner Mutter gipfelte.
Schule an sich fand ich sehr cool. Erdkunde war ganz spannend und Mathe mochte ich auch. Jedenfalls zuerst, als ich noch gut in Mathe war, was sich mit der Zeit jedoch legte. Wir hatten einen sehr netten Klassenlehrer in der Grundschule. Herr Renkel kam aus dem Odenwald, trug einen Schnauzer und Birkenstockschuhe und unterrichtete uns in Deutsch. Ich weiß noch, wie er uns das ABC mit Tiernamen und Nahrungsmitteln beigebracht hat. Wir haben eine bunte Schlange mit den Buchstaben des Alphabets gebastelt und sie unter der Decke unseres Klassenzimmers aufgehängt.
Herrn Renkel mochte ich, denn er hat einem zugehört und sich voll auf einen konzentriert, wenn man drangenommen wurde. Einige Jahre später hat er mich auch während meiner Krankheit unterstützt, aber das war eben viel später.
Außerdem hatte er ordentlich Humor. Und ein Lehrer mit Humor ist natürlich immer cool. Wenn er Pausenaufsicht hatte, sind wir Kids aus meiner Klasse zu ihm hingerannt, haben ihn an seinen dicken Fingern genommen und zum Bolzplatz gezogen. Dann haben wir ihn lautstark bedrängt, er solle den Fußball ganz hoch in die Luft schießen. Wenn er dann den Ball ordentlich hochgeschossen hatte, ist seine Birkenstocklatsche weit durch die Luft geflogen. Das wusste er selbstverständlich und hat sich auch köstlich über uns und über sich selbst amüsiert.
Ein Buch aus dem Deutschunterricht fand ich super, und noch heute kann ich mich gut daran erinnern. Es ging um Indianer, und beim Lesen musste man Aufgaben erfüllen. Da hieß es beispielsweise an einer bestimmten Stelle: »Lies jetzt weiter auf Seite 23.« Und dann musste man im Text also hin- und herspringen. Oder manchmal musste man das Buch umdrehen oder einen Spiegel holen, um den nächsten Absatz lesen zu können, der spiegelverkehrt abgedruckt war. Als wir mit der Klasse das Buch durchhatten, durften wir mit Tonpapier, Bastelpappe und Wolle unsere Lieblingsszene nachbauen.
Einmal sollten wir im Unterricht von Herrn Renkel erzählen, wer unser Lieblingsheld war. Für mich war das keine Frage: natürlich Michael Jackson! Ich war großer Michael-Jackson-Fan und kann mich gut daran erinnern, wie ich gemeinsam mit meinen Eltern ein Konzert von ihm im Fernsehen angeschaut habe. Es war die Übertragung seines ersten Konzertes der Dangerous World Tour im Sommer 1992. Ich saß total aufgeregt vor dem Kasten und konnte fast alle Lieder mitsingen. So faszinierend wie unverständlich war für mich: Michael Jackson war in Deutschland und sang im Münchner Olympiastadion vor zweiundsiebzigtausend Zuschauern. Das war nicht gerade um die Ecke von Rodgau, aber immerhin schon ganz schön dicht dran an uns, jedenfalls näher als Neverland, so viel wusste ich schon. Aus dem Häuschen war ich natürlich, als er mein Lieblingslied von dem Album Dangerous, nämlich »Heal the World«, sang und dabei ganz viele Kinder auf die Bühne kamen und einen Kreis um ihn bildeten! Damals fragte ich mich: Warum war ich nicht dabei?
Nach der Schule wartete immer mein Vater zu Hause auf mich. Claus hat in Nachtschichten Computerteile, Laboreinrichtungen oder Krankenhausbedarf für einen großen IT-Konzern ausgeliefert. Nachts ist er gefahren, tagsüber war er zu Hause, während meine Mutter bei einer Fluggesellschaft in der Logistik tätig war.
Manchmal, wenn ich nach Hause kam, hat mein Vater noch geschlafen. Meist aber hatte er schon das Mittagessen vorbereitet. Ich mochte die Sachen, die er kochte: Sauerkraut mit Würstchen oder Rippchen, Spinat mit Spiegelei und Leberkäse. Claus macht übrigens noch heute einen unfassbar guten Kartoffelbrei. Diese ganz einfachen Gerichte habe ich von ihm als Erstes beigebracht bekommen und koche sie noch immer genau so.
Welches Essen macht dich glücklich? Welches Gericht erinnert dich an deine Kindheit, was hast du damals gern gegessen? Gut und mit Aufmerksamkeit zu essen ist superwichtig, und etwas für sich selbst oder gemeinsam mit Freunden und/oder der Familie zu kochen macht Spaß! Das ist in jeder Hinsicht »quality time« im besten Sinne.
Gleich nach dem leckeren Mittagessen ging es ans Hausaufgabenmachen. Ich saß am Küchentisch, und Claus hat mich machen lassen. Nur meine Mutter hat meine Aufgaben manchmal noch abends, wenn sie Feierabend hatte, kontrolliert. Dann hat sie sich mit mir eine halbe Stunde hingesetzt, und wir sind zum Beispiel die Matheaufgaben noch einmal durchgegangen.
Die Nachmittage verbrachte ich also mit meinem Vater oder mit meinen Kumpels aus der Nachbarschaft. In Rodgau, einem kleinen Städtchen südöstlich von Frankfurt am Main, haben wir in einer Wohnung in einem Mietshaus gewohnt. Direkt hinter unserem Haus floss die Rodau, ein kleiner Bach, und dahinter begann ein Wald. Mit den anderen Jungs, die in meinem Haus wohnten, habe ich viel Zeit verbracht. Und meistens war ich mit Patrick und Andi, die so alt waren wie ich, draußen unterwegs. Die beiden gingen auch in meine Schule und waren meine engsten Freunde – ich musste ja nur die Treppen hinunterrasen und klingeln:
»Kommst du spielen?«
»Ja!«
Dann im Erdgeschoss noch mal: »Kommst du spielen?«
»Nee, ich muss noch ’ne halbe Stunde Hausaufgaben machen.«
»Okay, dann geh ich mit dem Patrick schon mal vor, und dann kommst du nach.«
Sobald das Wetter im Frühjahr schön genug war, zogen wir los, um uns im Wald ein Baumhaus zu bauen. Wie die Affen sind wir in den Baumkronen herumgeturnt. Natürlich war das kein richtiges Baumhaus, was wir uns in irgendeinem Baum zusammengezimmert haben, eher eine Art schräger Hochsitz. Meinem Vater habe ich das Holz aus dem Keller geklaut, und die anderen haben das Werkzeug von zu Hause besorgt, und schon ging es los mit Hammer und Nagel. Einmal haben wir eine Plane mitgenommen, um uns auch bei Regen in unser Baumhaus setzen zu können. Meine Mutter habe ich ewig mit der Frage genervt, wie denn wohl das Wetter an diesem oder jenem Tag werden würde, damit wir – wenn es regnet – die Plane ausprobieren konnten. Und endlich war das Wetter dann schlecht genug. Bei strömendem Regen habe ich mich mit Andi und Patrick in den Wald verzogen, und wir haben uns stolz unter die Plane gesetzt.
Meist hat mein Vater meinen kindlichen Freigeist weitestgehend unterstützt – er hat mich laufen lassen. Er gehörte nicht zu den Vätern, die immer sagten: »Das ist gefährlich, seid vorsichtig!« Aber einmal ist er uns nachgekommen und hat sich unser Baumhaus angeschaut. Dann hat er uns Tipps gegeben, wie wir die Hütte stabiler machen konnten, und sägte uns Holzklötze zurecht, um sie unter die Leisten zu schieben, damit sie das Ganze tragen konnten.
Wasser faszinierte uns, und im Sommer waren wir ständig in der Rodau zugange. Mit den Jungs habe ich zusammen Dämme gebaut. Wir haben uns große Steine gesucht, sie mit all unserer Kraft zum Bach geschleppt und so aufgetürmt, dass sich der Wasserlauf staute. Doch ein Damm reichte uns nicht! Wir haben drei hintereinander gebaut, sodass die Rodau übergelaufen ist. Das Wasser wurde bis über die Straße geschwemmt und ist bis in die Nachbargärten geflossen. Da gab es dann mal wieder Ärger. Einmal haben wir sogar den Sandkasten, der bei uns hinten im Garten stand, unter Wasser gesetzt. Es war ein warmer Tag, aber unsere Eltern wollten nicht mit uns zum Badesee fahren. Folglich haben wir den Gartenschlauch genommen, das Wasser voll aufgedreht und den Sandkasten in einen kleinen Swimmingpool verwandelt. Wir haben das ganze Ding unter Wasser gesetzt und dabei einen irren Spaß gehabt.
Patrick und Andi waren über Jahre hinweg meine besten Buddys. Aber das hörte auf, als ich wegen meiner Erkrankung für so lange Zeit in die Klinik musste. Als ich dort war, durften mich meine Freunde nicht besuchen, um das Infektionsrisiko für mich und die anderen kranken Kinder so gering wie möglich zu halten. Spielen konnte ich dort nur mit den anderen kleinen Patienten. Und als ich wieder zur Schule gehen konnte, waren Andi und Patrick schon viel weiter, während ich aufgrund meiner Fehlzeiten die dritte Klasse wiederholen musste. Wir drifteten also auseinander. Heute habe ich zu den beiden nur noch lockeren Kontakt. Wenn ich mal in Rodgau bin und sie treffe, dann ist das immer schön. Oder wenn sie mich mal im Fernsehen sehen, schreiben sie mir eine WhatsApp-Nachricht. Ich freu mich immer darüber, die beiden wiederzusehen, weil wir gemeinsam viel erlebt haben.
Wäre es nicht genau jetzt an der Zeit, das zu tun, was du dir vielleicht schon seit ewigen Zeiten vornimmst? Leg das Buch zur Seite, nimm dein Handy und ruf jemanden an, von dem du lange Zeit nichts mehr gehört hast. Sei es eine alte Schulfreundin oder den netten Menschen, den du im Praktikum kennengelernt hast.
Wenn ich nicht gerade mit Andi und Patrick unsere Straße unter Wasser gesetzt habe, gab es noch eine andere Beschäftigung, die ich als kleiner Junge geliebt habe: mit meinem Vater nachmittags fernzusehen. Auf der Couch habe ich mich ganz dicht an ihn herangekuschelt, und dann haben wir gemeinsam überlegt, was wir gucken wollten. Die Auswahl an Fernsehsendern war Anfang der Neunzigerjahre im Vergleich zu heute – von Netflix war noch gar keine Rede – begrenzt. Immerhin gab es schon außer den drei öffentlich-rechtlichen Sendern Kabel1 und arte. Am liebsten habe ich Tierdokumentationen geschaut, und mein Held war der österreichische Tierfilmer Werner Fend. Seine Serie Mein Dschungelbuch lief nachmittags, und jede Folge dauerte eine halbe Stunde, die ich gebannt vor dem Fernseher verbrachte. Mit Filmen wie Ich jagte den Menschenfresser oder Tiere, Dschungel, Abenteuer machte er den Abenteuern, die ich hätte vor der Haustür erleben können, große Konkurrenz. Fend schlug sich beispielsweise durch Afrika auf der Pirsch nach gefährlichen Tieren. Das fand ich natürlich besonders spannend. So weit weg war das! Ich konnte mir nicht vorstellen, dass die Wildhüter, die von dem Kamerateam begleitet wurden, quasi in der direkten Nachbarschaft mit Löwen und Giraffen lebten – ganz ohne eingezäuntes Gehege. Wie faszinierend war das denn! Konnte das wirklich stimmen? Immer wieder habe ich meinen Vater gefragt: »Die Leute leben bei den wilden Tieren? Gibt es da wirklich keine Zäune?« Kaum zu glauben!
In vielen dieser Tierfilme ging es auch um den Kilimandscharo. Mein Vater erklärte mir, dass es einer der höchsten Berge der Welt sei. Das wollte ich damals ganz genau wissen und löcherte ihn mit Fragen:
»Wie hoch genau ist denn der?«
»Tommy, der ist richtig hoch.«
»Wie hoch?«
»Der Kilimandscharo ist wirklich ganz hoch, da muss man ewig laufen, bis man oben ankommt.«
Die Vorstellung, dass ein Berg so hoch sein kann, fiel mir als kleiner Junge schwer.
Manchmal ging es in den Dokus auch um Tiere in Deutschland oder in Europa. Mein Vater hat sich immer etwas ausgedacht, was wir zusammen am Nachmittag unternehmen konnten. Dann sind wir manchmal gleich am nächsten Tag in einen Wild- oder Tierpark gefahren, um uns die Tiere, um die es in der Fernsehsendung ging, unmittelbar anzuschauen. Hin und wieder habe ich mich morgens krank gestellt und die Schule geschwänzt, damit wir etwas später, wenn es mir plötzlich besser ging, losfahren konnten. Meine Mutter wusste das, hat aber nichts gesagt. Oder mein Vater hat mich nach dem Arbeiten von der Schule abgeholt, um mit mir in den Wildpark nach Klein-Auheim zu fahren. In der Alten Fasanerie gab es zwar keine Raubtiere, aber Wildkatzen, Luchse und sogar Elche.
Wenn ich dann über den Schulhof gerannt kam und zu ihm in das Auto sprang, lag auf dem Beifahrersitz unsere Proviantdose parat. Zu Hause hatte er schon morgens gefühlt einhundert Käsebrote geschmiert, und die gab es dann. Kamen wir frühabends von unseren Ausflügen zurück, waren wir oft total erledigt. Dann gab es nur noch Abendessen, und dann ab ins Bett.
Was mein Vater mit mir unternommen hat, hatte immer etwas mit Natur oder mit Tieren zu tun. Er wusste unheimlich viel und konnte mir viel erklären. Auch wenn etwas in den Fernsehdokus nicht ganz stimmte, merkte er das sofort. Diese ganzen Fakten muss er sich irgendwann mal angeeignet haben, denn er hat schon immer viel gelesen – was ich von mir nun nicht gerade behaupten kann.
Mit acht Jahren bekam ich einen Mischlingswelpen, eine Hündin, die Toby. Ein strubbeliges, wildes Ding. Den Hund habe ich total geliebt. Bist du mit Tieren aufgewachsen? An welche Geschichten mit ihnen kannst du dich erinnern?
Meist war es noch stockfinster, wenn um 5.30 Uhr morgens der Wecker klingelte – und das an einem Samstag oder Sonntag. Ich stand auf und tappte zu meiner Mutter in die Küche. Dort stand sie, schmierte uns Brote und füllte heißen Tee in die Thermoskanne. Unsere Sachen hatten wir schon am Abend zuvor in den Kofferraum geladen, und nach einer Katzenwäsche und einem Blitzfrühstück ging es los, während mein Vater noch schlief. Manchmal sind wir fast eine Stunde zu einem Flohmarkt in der Umgebung gefahren, um Sachen zu verkaufen. Meine Mutter ist eine Flohmarktfanatikerin, auch das habe ich von ihr geerbt. Ihre Philosophie lautet: Wenn man etwas Neues kauft, sollte man etwas Altes hergeben – was auch für meine Spielsachen galt. Wünschte ich mir etwa eine neue Actionfigur, die wir häufig auf unseren Reisen in die USA kauften, musste ich einige meiner alten Spielsachen aussortieren.
So half ich ihr also, auf dem Marktplatz einer x-beliebigen Stadt den Tapeziertisch aufzubauen, während andere Leute noch nicht einmal daran dachten, Brötchen holen zu gehen. Aber das machte mir nichts aus, denn ich war schon als kleiner Junge ein Frühaufsteher. Das passte auch gut, weil meine Mutter am Wochenende immer etwas mit mir unternahm: die Großeltern besuchen, an den Badesee fahren oder eben Flohmarkt machen. Früher durfte man den Wagen noch direkt hinter dem Stand parken, wenn ich also zwischendurch müde wurde, legte ich mich hinten ins Auto und holte etwas Schlaf nach.
Anfänglich habe ich bei diesen Gelegenheiten meine Duplosteine verkauft, weil ich mittlerweile eher mit Lego spielte. Als ich dann die Actionfiguren haben wollte, musste ich das Lego hergeben. So ging es meine ganze Kindheit immer weiter.
Als einmal ein Junge vor unserem Tisch stand und einen alten Plastikdinosaurier in die Hand nahm, um ihn genauer anzuschauen, versicherte ich ihm: »Nimm ihn, du kannst ihn haben, ich brauche ihn nicht mehr.« Das stimmte ja auch, ich spielte nicht mehr damit, und ich fand es völlig in Ordnung, wenn ein anderes Kind daran Freude hatte.
»Na, lass uns mal auf die Mama oder den Papa warten, dann reden wir erst einmal mit denen«, unterband meine Mutter meine altruistischen Anwandlungen. Ich musste wohl noch lernen, wie das geht mit dem Handeln. »Fuggeln« nannte meine Mutter das – feilschen, auch wenn es nur um Groschenbeträge ging. Aber das war ja auch der Sinn des Flohmarkts. So nebenher habe ich dann auch begriffen: »Der frühe Vogel fängt den Wurm.« Je früher wir auf dem Markt waren, desto weniger mussten wir am Ende wieder in unseren VW laden. Es ging aber auch darum, zu lernen, dass ich etwas dafür bekomme, wenn ich etwas gebe, also in diesem Fall Geld gegen Spielzeug. Meiner Mutter war es vor allem wichtig, dass ich zu Hause nicht alles hortete. Ich hatte zu viele Spielsachen, und irgendwann braucht man eine riesige Wasserpistole aus buntem Plastik wirklich nicht mehr.
Erst später habe ich realisiert, dass kein Kind der Welt so früh aufsteht, um zu verkaufen oder die besten Spielsachen zu bekommen: Ninja Turtles, Malblöcke, Power Rangers, Mäppchen, Brotdosen, Game-Boy-Spiele, Videofilme und so viel anderes cooles Zeug! Am wichtigsten jedoch war für meine Eltern, dass ich nichts bekommen habe, bevor ich nicht auch Spielzeug, mit dem ich nicht mehr gespielt habe, verkaufte.
Hortest du deine Sachen, oder fällt es dir leicht, dich von Dingen zu trennen?
Von dem Geld, das ich einnahm, habe ich mir neues Spielzeug gekauft oder habe es in meine Spardose getan, um mir später in Amerika etwas kaufen zu können. Bei meiner Tante Andrea gab es eh viel coolere Spielsachen als in Deutschland.
Außerdem fand ich an Flohmarkttagen toll, dass ich dort immer ein Matjes- oder Lachsbrötchen bekam. Alternativ gab es auch Würstchen vom Grill. Auf fast jedem Flohmarkt gibt es einen Stand mit gebackenen Hähnchen. Wir haben oft am frühen Nachmittag nach dem Abbauen ein Hähnchen für zu Hause gekauft, bevor wir wieder gefahren sind. Dann haben wir mit meinem Vater gegessen und noch etwas zu dritt gemacht. Meine Eltern haben sich immer liebevoll um mich gekümmert, es sind die besten Eltern, die ich mir nur wünschen konnte.
Eine meiner schönsten Kindheitserinnerungen ist das Fliegen. Ich liebe diesen Moment, wenn man ins Flugzeug einsteigt und sich auf seinen Platz setzt. Die Minuten, die man darauf wartet, dass die Motoren starten, die Maschine auf die Startbahn einbiegt und man irgendwann bei lautem Getöse und in den Sitz gedrückt endlich abhebt. Ich mag den Geruch von Kerosin und von dem Kaffee, wenn er in diesen winzigen Bordküchen gebrüht wird. Er riecht heute noch genauso wie damals, was echt verrückt ist. Natürlich hat sich das Essen etwas verändert, aber im Grunde ist es immer noch das gleiche abgepackte Zeug wie früher. Und so schlecht es auch sein mag, ich liebe es, weil es mich an meine Kindheit erinnert.
Meine Tante, die Schwester meiner Mutter, lebt in den USA, und da sowohl meine Mutter als auch sie bei Fluggesellschaften arbeiteten, hatten und haben wir immer die Möglichkeit, günstiger an Tickets zu kommen. Meine Mutter bekam die Flüge zum Angestelltentarif und konnte meinen Vater mitnehmen, und ich bin als kleiner Junge immer umsonst mitgeflogen. Damals war es noch nicht so preiswert zu fliegen, daher waren die Flugzeuge nicht so voll, und mit unserem Stand-by-Ticket konnten wir problemlos auf Abruf Plätze bekommen.
In den USA haben wir neben Verwandten wie Andrea auch viele Freunde. Als Kind habe ich fast alle Ferien mit meinen Eltern entweder in Detroit oder in Georgia verbracht. Weil ich schon seit meiner frühen Kindheit so häufig in den USA war, ist das Land wie eine zweite Heimat für mich. In Deutschland habe ich mich immer total wohl gefühlt, aber Amerika war das Nonplusultra für mich. Dort schien alles irgendwie viel mehr Spaß zu machen – klar, es waren ja auch Ferien, und ich musste nicht in die Schule. Ich fühle mich noch heute wie ein Fünf- oder Sechsjähriger, wenn ich zum Beispiel in Detroit am Flughafen ankomme – nach Amerika zu fliegen, ist für mich immer, wie nach Hause zu kommen.
Aufgrund der vielen Zeit, die ich in Amerika verbracht habe, bin ich zweisprachig aufgewachsen. Wir waren manchmal zwei-, manchmal sogar dreimal im Jahr dort: in den Sommerferien sechs Wochen lang, noch mal drei Wochen im Winter und im Frühjahr hin und wieder auch für zwei Wochen. Mit meinem Onkel konnte ich nur Englisch sprechen, und so habe ich die Sprache gelernt. Weit zurück in der Vergangenheit meiner Familie habe ich sogar amerikanische Wurzeln. Mein Großvater mütterlicherseits, den ich nie kennengelernt habe und zu dem auch kein Kontakt besteht, ist Amerikaner. Ehrlich gesagt, weiß ich noch nicht mal seinen Namen. Und der Bruder meiner Oma, mein Großonkel, war in Kriegszeiten nach Kanada geflüchtet.
USAUSAVHS